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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

1797 in Breslau geboren; das bewegliche Naturell, die reiche Phantasie dieses Volksstammes[WS 1] waren ihm eigen. In Berlin besuchte er das Gymnasium, machte den Feldzug 1815 gegen Napoleon mit und studirte dann die Rechte in Breslau und Berlin. Nur kurze Zeit arbeitete er im juristischen Staatsdienst und widmete sich dann ganz der schriftstellerischen Laufbahn. Eine Zeit lang war er Mitredacteur der „Vossischen Zeitung“ in Berlin.

Wilibald Alexis war ein beweglicher, unruhiger Kopf, der nicht in der Literatur allein aufging; er war unternehmungslustig und behagte sich in allerlei praktischen Speculationen. Das Bad Häringsdorf an der Ostsee, das seinen Namen trägt, war eine Schöpfung dieses Trachtens, sich am Leben selbst zu bethätigen. Doch Dichter und Philosophen sind in der Regel keine guten Speculanten; ihre Phantasie geht mit ihnen durch! Da ist mir immer noch jener Berliner Philosoph Max Stirner in der Erinnerung, welcher den Egoismus zum Princip der Welt erhob; er gehörte jenem Kreise der Berliner Freien an, in welchem ein sehr vermessener cynischer Ton, eine Art von Wirthshausatheismus im Schwange war; seine Frau rauchte Cigarren und war emancipirt; sie war indeß dabei ganz gescheidt und gutmüthig und wenig gefährlich. Dieser Max Stirner, welcher eigentlich der weitverbreiteten Familie der „Schmidt“ angehörte und sich nur in jenes herausfordernde Pseudonym übersetzt hatte, war der Verfasser des Buches „Der Einzige und sein Eigenthum“; doch wie sehr er auch in demselben die Speculationen unserer großen Philosophen ironisch aufgelöst hatte, er selbst war der praktischen Speculation verfallen und betrieb mit Eifer eine Milchwirthschaft, eine sehr harmlose Beschäftigung für einen die Welt auf den Kopf stellenden Geist; doch hatte dies Unternehmen die unerwünschte Folge, daß er bald der „Einzige ohne Eigenthum“ wurde und seine Frau, welche ihren Geburtsnamen in den männlich stolzen Römernamen Marius Daenhardius übersetzt hatte, sich genöthigt sah, den Römerstolz aufzugeben und in England als Gouvernante sich ihr Brod zu verdienen.

Auch Wilibald Alexis ist nicht mit allen seinen Speculationen glücklich gewesen, und auch als Schriftsteller gehörte er in Bezug auf äußern Erfolg nicht zu den Glückskindern.

Phantasiereich, wie alle Romanschriftsteller aus dem Lande des Rübezahl, wie der Stadtrichter Van der Velde, der am Fuße des einsam ragenden Zobtenberges in dem kleinen gleichnamigen Städtchen von Cortez und Montezuma, von Karl dem Zwölften und Swedenborg dichtete, wie Spindler, der nie in Verlegenheit kam, wo es abenteuerliche Verwickelungen zu erfinden galt, wie Karl v. Holtei und Heinrich Laube, stand Wilibald Alexis, wie alle diese Landsleute, Holtei ausgenommen, unter dem Einflusse Walter Scott’s, ja Wilibald Alexis trat durchaus nicht mit originellen dichterischen Schöpfungen auf, sondern mit Nachdichtungen, welche bis in’s Einzelne so getreu waren, daß der Autor wagen durfte, den Namen des schottischen Romandichters an die Spitze des „Walladmor“ und des „Schloß Avalon“ zu setzen – eine der kühnsten Mystificationen, welche in der neuen Literatur vorgekommen sind. Der Poet von Abbotsford selbst soll die Treue dieser Copieen anerkannt haben. Doch dadurch, daß man Walter Scott durch das Fenster nachzeichnete, wird man kein bedeutender Schriftsteller, so groß auch das Nachahmungstalent sein mochte, das die Eigenheiten des Stils und der ganzen Darstellungsmanier so abzulauschen und wiederzugeben verstand. Wilibald Alexis schlug dann auch plötzlich einen gänzlich anderen Ton an; es war die Epoche jungdeutscher Zerrissenheit, der auch Schriftsteller wie Sternberg ihren Tribut abtrugen. Wilibald Alexis schrieb das „Haus Düsterweg“, in welchem sich alle die ungesunden Tendenzen der Zeit ablagerten, in einer düstern, unheimlichen Beleuchtung. Das Gemeinsame in diesen verschiedenartigen Richtungen war die Vorliebe des Dichters für die Nachtseiten der Seele und des Lebens, die bei seiner im Ganzen ruhigen Darstellungsweise um so auffallender hervortrat; er liebte die Anatomie jener abnormen Neigungen der Seele, aus denen das Verbrechen hervorgeht, er liebte die Beleuchtung fanatisch düsterer Epochen und Zustände. Seine juristischen Studien hatten in ihm eine starke criminalistische Ader entwickelt – so war er ganz geeignet zum Herausgeber des „Pitaval“, dieser Galerie merkwürdiger Verbrechen, welche einen so wichtige Beitrag zur Krankheitsgeschichte der Menschheit liefert. Der Verkehr mit Mördern und Giftmischerinnen war seiner Phantasie erwünscht, die sich in dem grausam Spannenden, dem grell Erschütternden behagte. Wenn es hierfür noch eines Beweises bedarf, so liefert ihn sein „Urbain Grandier“, ein Werk, in welchem die Foltern eines Criminalprocesses uns mit ihren psychologischen Daumenschrauben schonungslos zermartern. Nach dieser Seite hat Wilibald Alexis Aehnlichkeit mit Victor Hugo, dessen Werk „Les derniers jours d’un condamné“ in greller Darstellung der Seelenqual und in Erregung einer fieberisch schüttelnden Spannung wohl den Preis verdient. Sonst sind sich beide Dichter sehr unähnlich – Victor Hugo hat die Geste des Propheten, etwas Grandioses, das oft in’s Groteske übergeht; Wilibald Alexis hat einen gesunden Verstand, der seine Phantasie stets regulirt und nach der großen Thurmuhr stellt, nach welcher das Kirchspiel sich im Wachen und Schlafen achtet. Er schildert das Excentrische mit großer Ruhe, Victor Hugo mit phantastischer Erhitzung; er ist groß im Detail, in der Fülle und Genauigkeit einzelner Züge; Victor Hugo erhellt seine Gemälde blitzartig, aber er gebietet über den Blitz des Genies.

Etwas von jener Vorliebe für das Düstere und Grelle, sowie für das handfest Zugreifende der Criminalgerichte tragen auch die historische Romane an sich, denen vor allen der Schriftsteller seinen Ruf verdankt, jene brandenburgisch-preußischen Romane, in denen die Treue lebensvoller Schilderung des Natur- und Volkslebens wieder an Walter Scott erinnert. Kernhaft, gesund, oft alterthümlich angeflogen, bisweilen weitschweifig in gleichgültiger Detailschilderung, sorgfältig in der Charakteristik, welche zugleich ein anschauliches Bild des ganzen Menschen giebt, spannend mehr durch die Darstellungsweise als durch die dichterische Erfindung, haben diese Werke zugleich die Bedeutung eines großen geschichtlichen Cyklus, der uns ein Bild von dem Werden und Wachsen der preußischen Macht auf dem brandenburgischen Boden entrollt. Je glänzender sich gerade in neuerer Zeit diese Macht zur deutschen Großmacht entfaltet hat, desto interessanter ist es, ihren Anfängen, ihrer ersten schüchternen Entwickelung nachzugehen und die Wechselfälle des Schicksals zu verfolgen, das sie durch alle Niederlagen und Demüthigungen hindurch zu solcher Herrscherhöhe emporführte.

Gewiß, verehrte Freundin, werden Ihnen, wenn Sie die Romane dieses Autors lesen, die Fahrten mit der Postschnecke durch die kieferreiche Mark Brandenburg einfallen, bei welchen Sie Muße hatten, des römisch-deutschen Reichs Streusandbüchse in nächster Nähe zu betrachten und, während die Räder schläfrig durch den Sand dahinschleiften, den Flug der Krähen über die im Winde knarrenden Wipfel als die einzige Lebensregung in der todten Landschaft zu beobachten. Müssen die neun Musen nicht mit einschlafen in solcher Gegend? Und wo strömt hier der Castalische Quell, aus welchem die Dichtkunst ihre Begeisterung schöpfen könnte?

In der That steht Wilibald Alexis, was den landschaftlichen Hintergrund betrifft, sehr im Nachtheil gegen Walter Scott, welcher in die prachtvolle Naturscenerie des schottischen Hochlandes die Abenteuer und Erlebnisse seiner Helden verlegen konnte. Doch was eine des ganzen Details kundige Phantasie den Kieferwäldern und Sandsteppen, den Mooren und Haiden der Mark abgewinnen konnte, die sich hier und dort durch breite See- und Flußspiegel und duftige Fernblicke von Waldhügeln auch zu malerischer Schönheit erhebt: das war ein Pfund, mit welchem unser Autor wohl zu wuchern verstand, und – was die Hauptsache ist – diese einfache Natur paßte zu der Menschenwelt, die sich in ihr bewegte; diese ist knorrig und kernig, wild wie ihre Umgebung und führt, nicht abgezogen zu träumerischen Stimmungen durch den Reiz der Landschaft, ihre geschichtliche Sendung mit voller Thatkraft durch.

Ein großer Vorzug dieses Romancyklus ist es, daß der Dichter nirgends in die Fehler des Memoirenromans verfällt, sondern das Recht freier Erfindung einer abgeschlossenen Handlung aufrecht hält. Was er auch der Geschichte entlehnen mag, nirgends trägt er ihr die Schleppe, welche den archivarischen Staub aufwühlt; nirgends begnügt er sich damit, in ihr Gewand einige Phantasieblumen einzuwirken. Der Dichter steht in erster Linie; er gestaltet den Stoff und läßt sich nicht von ihm beherrschen.

Wenn „der falsche Waldemar“ oft in einen gespreizten alterthümlichen Chronikstil verfällt und überdies einen Stoff mit epischer Ausführlichkeit behandelt, dessen Hauptinteresse mehr

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Volsstammes
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_692.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)