Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Zum Teufel ist der Spiritus

Das revolutionäre Petersburg Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution
von Oskar Grosberg
Zwischenspiele
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[71]
Zum Teufel ist der Spiritus!

Rußland ist durch ein unglückliches Mißverständnis in den bösen Ruf des Landes nicht der Trinker, sondern der Säufer par excellence gekommen, währenddessen ist es statistisch nachweisbar, daß der Kopfverbrauch von Alkohol in Rußland weit geringer ist, als in den weitaus meisten Ländern Westeuropas, selbst in solchen, die als notorisch nüchtern gelten.

Zu dem bösen Rufe unmäßigen Trinkens hat uns jedenfalls der Umstand verholfen, daß der gemeine Mann in Rußland nicht regelmäßig kleinere Quantitäten Alkohol zu sich nimmt, sondern daß er im allgemeinen selten trinkt, wenn er aber trinkt, dann kein Maß kennt und in den weitaus meisten Fällen alles versäuft, was er an Barmitteln bei sich hat, Kleider und Stiefel draufgehen läßt, wohl auch noch das eine oder andere Stück seines Hausrates in die Schenke trägt.

Der Russe ist also eine Art von Quartalssäufer, der unter einem unwiderstehlichen Zwange steht, und wenn der Paroxysmus vorüber, wochen- und selbst monatelang vollkommen enthaltsam sein kann, ohne daß er auch nur den geringsten Drang nach Alkohol verspürte. Dieser exzessive Alkoholmißbrauch ist übrigens nicht nur in der Bauernschaft und bei den Arbeitern zu finden, sondern er grassiert auch in den gebildeten Kreisen; es ist bekannt, daß zahlreiche Männer der Wissenschaft und noch mehr Künstler dem Alkoholteufel verfallen sind, der sie geistig und körperlich zugrunde richtet.

[72] Diese Schwäche des russischen Volkes ist von der Regierung des Landes von jeher zur Füllung des Staatssäckels ausgenutzt worden, indem der Fiskus sowohl die Herstellung, als auch den Verbrauch von Alkohol mit hohen Steuern belegte. Die letzten Konsequenzen aus der russischen Trinkfreudigkeit zog der damalige Finanzminister S. J. Witte, indem er den gesamten Branntweinhandel in ein staatliches Monopol umwandelte, mit dessen Hilfe er jährlich etwa drei Milliarden Rubel in den stets dünnen Staatssäckel pumpte.

Gegen das von Witte geschaffene Monopol ist nicht wenig gewettert worden; in der Tat ist es kaum mit der Moral in Einklang zu bringen, daß der Staat aus einem bösen Laster seiner Untertanen riesige Einkünfte bezieht und diese Einkünfte zu steigern trachten muß. Freilich hatte der schlaue Witte sich ein sittliches Hintertürchen offen gelassen, durch das er immer, wenn man ihn und sein Monopol an die Wand zu drücken trachtete, entschlüpfte. „Ja, meine Herren,“ pflegte Witte in solchen Fällen mit dem ihm eigenen Brustton der Überzeugung zu sagen, „das Monopol ist nur eine Zwischenstation zur völligen Abstinenz, — dank dem Monopol hat der Staat den gesamten Branntweinbetrieb in der Hand und er kann daher in jedem Augenblick den Konsum regulieren oder, wenn er es für nötig halten wird, unterbinden.“

Ob Witte wirklich selbst daran geglaubt hat, daß der Staat je von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würde, darf billig bezweifelt werden, aber recht behalten hat er doch, denn dieser Moment traf wirklich ein, — freilich war er nicht von staatlich-sittlichen Erwägungen eingegeben, sondern er ergab sich aus dem Zwange der Umstände: gleich nach der Bekanntgabe der Mobilisation wurden die staatlichen Branntweinquellen verstopft, und zwar, wie es anfänglich hieß, nur zeitweilig.

Die Notwendigkeit des Verbots mußte jedem, der da weiß, daß der Russe sich auch aus „Trauer“ zu betrinken pflegt, [73] ohne weiteres einleuchten. Die zahlreichen Einberufungen schufen gewiß so viele „Trauerfälle“, daß man darauf gefaßt sein mußte, in den nächsten Tagen die halbe Stadt in sinnlos betrunkenem Zustande zu sehen. Man konnte doch nicht wissen, was die desperaten Kerls in ihrer Betrunkenheit, wo dem Russen nach einem Sprichworte das Meer ohnehin nur bis zum Knie reicht, alles angeben konnten. Die Stimmung der Arbeiterschaft war ja nichts weniger als friedlich, es war mehr als peinlich gewesen, daß sie gerade zur Ankunft des Präsidenten Poincaré[WS 1] in Petersburg Barrikaden errichtet und sich offenbar zu einem größeren Putsch gerüstet hatte. Man hatte es ja, abgesehen von diesen Gesichtspunkten, schwarz auf weiß, daß es sich lediglich um eine zeitweilige Maßnahme handle.

Das war tröstlich, denn auf die Dauer, so meinte man, wäre das Verbot des Branntweinausschankes doch nicht aufrecht zu erhalten gewesen. Einerseits kamen da natürlich die Interessen des Fiskus in Betracht, der nun mehr Geld brauchte als je, andererseits aber wäre es ja schlechterdings kaum möglich, das tägliche Schnäpschen beim Frühstück, Mittagessen, Abendbrot und auch zwischendurch auf die Dauer zu entziehen. Das hieße ja propter vitam vivendi causas perdere!

Aber das Vaterland forderte Opfer und man mußte sie bringen. Die Zeitungen wurden nicht müde darzulegen, wie wunderbar es sei, sich eines nüchternen Lebenswandels rühmen zu können, und sie durften mit allem Rechte darauf hinweisen, daß, wenn das Branntweinverbot nicht erlassen worden wäre, die Mobilisation der Armee sich gewiß nicht so glatt und ohne Zwischenfälle abgewickelt hätte, wie das der Fall gewesen war.

Die regierungsfrommen Blätter versäumten natürlich nicht, auf die weise Vorsorge der Regierung, die das Monopol geschaffen, hinzuweisen, und man tröstete sich im übrigen damit, daß es ja noch Wein und Bier gab, mit deren [74] Hilfe man sich über die voraussichtlich nur kurz bemessene branntweinlose, schreckliche Zeit würde hinwegsetzen können.

Die Wein- und Bierinteressenten sahen ihren Weizen blühen und begannen alsbald eine gewaltige Propaganda in der Presse, die sich gern bereitfinden ließ, mit Hilfe von fachmännisch gebildeten und sonstigen Federn nachzuweisen, daß Bier und Wein absolut unschädliche Getränke seien und daß ihr Verbot die Winzerei und die Landwirtschaft zugrunde richten und dem Lande unermeßlichen Schaden zufügen würde. Dasselbe hatte man übrigens früher auch von dem Branntweinverbot gesagt.

Die Wein- und Bierquellen sprudelten also reichlich, und zudem konnte sich jedermann, der gewisse Beziehungen hatte, Branntwein in beliebigen Mengen verschaffen, denn wenn die Vorräte auch unter staatlichem Siegel standen, so bildete das weiter kein Hindernis, — ein Siegel ist eben kein Schloß, und der Polizeibeamte, der die Aufsicht zu führen hat, ist kein fühlloser Klotz, — er hat ein Einsehen, namentlich wenn er kraft dieses Einsehens seinen eigenen Bedarf decken und dazu noch in den Besitz eines Drei- oder Fünf-, wohl auch Zehnrubelscheines gelangen kann.

Man wußte sich also zu helfen, immerhin empfand man aber die Abwesenheit des Schnäpschens im Restaurant doch schwer genug; denn ein Schnaps, den man zu Hause nimmt, ist doch eigentlich nur ein halber Genuß; er gelangt erst dann zur vollen Geltung, wenn man mit guten Freunden vor dem Sakuskatisch steht, unter den vielen leckeren Dingen mit Verständnis wählt und dann das gut gekühlte Feuerwasser in die Kehle gießt. Das alles, die reichliche Sakuska, die richtige Temperierung und vor allem die guten Freunde kann man zu Hause natürlich nicht haben. Inde ira!

Fortan standen nun die gewaltigen Branntweinbrennereien des Landes still und sind während des ganzen Krieges nicht wieder in Betrieb gesetzt worden. Nur zu bald sollte auch die Bierbrauereien dasselbe traurige Schicksal [75] ereilen. Man hatte nämlich konstatieren müssen, daß die Betrunkenheit in den Städten und auf dem flachen Lande sich trotz des Branntweinverbotes nicht vermindert hatte, sondern eher im Zunehmen begriffen war. Offenbar ersetzten die Leute die fehlenden Stärkegrade durch ein größeres Quantum des Getränkes.

Dem sei nun, wie es wolle, fest steht jedenfalls, daß Regierungskreise bald auch den Biergenuß für schädlich befanden; vielleicht kam diese Erkenntnis weniger aus den Quellen der tatsächlichen Sachlage, als daß sie auf den Wunsch des Kaisers Nikolai, die Trunksucht mit Stumpf und Stiel auszurotten, zurückzuführen ist.

Also auch das Bier verschwand von der Bildfläche, und Rußland verwandelte sich plötzlich in ein Weinland. Nun muß man aber wissen, daß man in Rußland im allgemeinen nur Sekt und die schweren Portweine und Madeira goutiert; Rhein- und Moselweine findet man „zu schwach“, da es jedoch Gelegenheiten gibt, bei denen man diese Weine trinken muß, — man würde sonst in den Ruf der Barbarei geraten, so präpariert man Rheinwein bis zu 20 Grad Alkoholgehalt, und in dieser Verfassung mag[WS 2] er denn zwischendurch hingehen.

Wein gab es in Hülle und Fülle und in allen Preislagen. Das war immerhin tröstlich, um so tröstlicher, als man glaubte annehmen zu dürfen, daß man dem Weine nicht zu Leibe rücken würde, denn einerseits befanden sich die größten Kellereien im Besitz einflußreicher Hofaristokraten und Großfürsten, andererseits war es aber offenes Geheimnis, daß das Apanagendepartement, aus dem die Großfürstlichkeiten ihre Einkünfte bezogen, gerade die allergrößten Kellereien besaß. Man kalkulierte also, daß die Herrschaften, ganz abgesehen davon, daß sie einem guten Tropfen nie abgeneigt gewesen waren, sich nicht ins eigene Fleisch schneiden würden.

Doch man hatte sich auch in dieser Beziehung getäuscht, [76] dasselbe Schicksal, das dem Branntwein und dem Biere beschieden gewesen war, ereilte auch den Wein. Allerdings wurde ihm nicht mit einem Male der Garaus gemacht, sondern man schuf zunächst einige Übergangsstufen.

Zuerst verschwanden alle ausländischen Weine von der Bildfläche, dann folgten ihnen die schweren russischen, so daß man sich nun mit den leichten Landweinen begnügen mußte, die überdies auch nur an einigen Tagen der Woche erhältlich waren, schließlich wurde noch die Zahl der Flaschen, die dem einzelnen Käufer abgelassen werden durften, genau limitiert. Man zog uns also den Riemen immer fester um den Leib, bis es mit einem Male hieß: nun ist der Verkauf von Wein völlig untersagt!

Da hatten wir den Salat! Freilich konnte man Wein aus Städten beziehen, auf die das Verbot noch nicht erstreckt worden war, aber dadurch wurde das edle Naß erheblich verteuert, und schließlich versiegten auch diese Quellen eine nach der anderen und wir standen endlich, soweit wir nicht im Besitz eines wohl assortierten Privatkellers uns befanden, dem Nichts gegenüber.

Es gab trinkfreudige Männer, die nach Finnland reisten, um dort dem heiteren Gotte Libationen darzubringen, — als aber das Verbot auch auf Finnland erstreckt wurde, da machten die Leute, die ein gütiger Gott mit irdischen Gütern gesegnet, dann und wann einen Abstecher nach Schweden, von wo sie in gehobener Stimmung zurückkehrten und nun vermeinten, die Unbill des Krieges leichter ertragen zu können.

Um solche Exkursionen machen zu können, mußte man natürlich über ein pralles Portemonnaie verfügen, das bekanntlich nur den wenigsten vom Geschick in die Wiege gelegt worden ist. Währenddessen nagt aber der Dämon, Durst genannt, am Eingeweide des Armen nicht weniger heftig, als an dem des reichen Kommerzienrates, der einen eigenen [77] Keller besaß, oder in der glücklichen Lage war, Kunstreisen nach Schweden unternehmen zu können.

Man mußte eben wieder einen Ausweg aus der Zwangslage suchen, und siehe da, man fand ihn, d. h. nicht einen Ausweg, sondern eine ganze Serie, ein förmliches engmaschiges Netz von Auswegen. Die städtische Bevölkerung wandte sich vertrauensvoll an die Apotheken, die bald einen derartigen Riesenumsatz in Spiritus zu verzeichnen hatten, daß die Aufsichtsbehörden sich veranlaßt sahen, den Ablaß von Spiritus aus den Apotheken fortan nur noch gegen ärztliche Rezepte zu gestatten. Nun begann für gewisse Ärzte eine unerhört reiche Erntezeit, ihre Praxis schwoll zu gigantischen Umfängen, und je weniger bekannt ein Arzt bisher gewesen war, um so beliebter war er mit einemmal bei der leidenden Menschheit geworden.

Soll ich berichten, daß man bald auch diesen Freunden der Menschheit das Handwerk legte, daß man den Verbrauch gewisser alkoholartiger Spezien verbot, den Handel mit Spirituslack und denaturiertem Spiritus stark einschränkte und überhaupt bemüht war, uns auf dem engen Dornenpfade eines nüchternen Lebenswandels zu erhalten?

Aber der menschliche Geist ist erfinderisch. Nachdem der dürstenden Menschheit sogar der Spirituslack und der vergällte Brennspiritus so gut wie ganz entzogen war, mußte man notgedrungenerweise sich nach Ersatz umschauen. In der Tat blühte bald der Hausbrand und die Hausbrauerei in ungeahnter Weise auf. Wenngleich die Strafen für die Eigner solcher, wahrscheinlich wohl nach Hunderttausenden zählenden Betriebe sehr hoch bemessen waren, so haben selbst die schwersten Strafen, ja sogar die Verschickung nach Sibirien, das Geschäft nicht wesentlich stören können, aus dem einfachen Grunde, weil der Gewinn enorm gewesen ist.

Der Unfug hätte natürlich nicht den gewaltigen Umfang erreichen können, den er tatsächlich annahm, wenn die Polizeiorgane bessere Aufsicht geübt hätten, doch das taten sie [78] nicht, denn sie erkannten nur zu bald, daß sich hier für sie eine neue und ungemein ergiebige Einnahmequelle erschlossen hatte. Die Polizei ist in Rußland eben nie darauf bedacht gewesen, Unordnung und Verstöße auszurotten, sondern ihr Bestreben ist immer darauf gerichtet gewesen, diese nur so weit zu verfolgen, als sie sich hierbei bereichern konnte. Sie hat denn auch die sich bietende Gelegenheit nach Kräften ausgenutzt und die Geheimbrennereien mit ganz bestimmten Steuern zu ihren Gunsten belegt. Es ist daher klar, daß alles Wettern gegen die neue Gefahr, die dem Volke drohte, vergeblich sein mußte, denn das Volk selbst war nicht imstande, zu beurteilen, was ihm drohte, während andererseits keine amtliche Stelle vorhanden war, die dem Treiben der Geheimbrennereien und -brauereien ein Ende hätte machen können.

Wenn der während des Krieges materiell am schwersten in Mitleidenschaft gezogene Mittelstand es doch fertig bekommen hat, zu besonderen Gelegenheiten Portwein zu 75 Rubel pro Flasche anschaffen zu können, wenn man in den großen Restaurants Petersburgs während der ganzen Dauer des Krieges Sekt, freilich zu märchenhaften Preisen, schlemmen konnte, so legte auch der Arbeitsmann am Sonnabend gern 15 und mehr Rubel für ein Fläschlein veredelten Denaturats oder Selbstbrand an.

Der Hausbrand blühte. Man fabrizierte nicht nur Spiritus, sondern auch Wein und Bier, und zwar aus den verschiedenartigsten Materialien und nach verschiedenen Methoden. Man hatte da beispielsweise ganz einfache Apparate, mit deren Hilfe man einen sehr brauchbaren Spiritus erbrannte; man fabrizierte aus Rosinen, Zucker und etwas Hefe einen ganz passablen Wein und man erzeugte aus Malzextrakt und Hopfen ein sehr süffiges Bier. Kurzum, die häusliche Gärungsindustrie gelangte zu ungeahnter Blüte.

Der größte Umsatz wurde aber doch in den Präparaten aus vergälltem Spiritus erzielt, denn er bildete für den [79] gemeinen Mann den Ersatz für das verlorene Paradies des fiskalischen Branntweinrausches. Man suchte vor allen Dingen den Bitterstoff zu entfernen, oder doch zum mindesten zu verdecken, zu welchem Behufe man sich zum Teil ganz scharfsinniger Methoden bediente. Freilich erblindeten nicht wenige Liebhaber dieses schrecklichen Gesöffs, und nicht Wenige verblichen eines jähen und unschönen Todes, doch das alles konnte die guten Leute nicht abhalten, sich dem Genusse des starken Trankes hinzugeben. Auch die Strafen, die Leuten, die sich betrunken hatten, drohten, verschlugen nur wenig, die Säufer waren froh, daß sie unter Dach und Fach ausschlafen konnten und daß man sie, wenn ihr Zustand gefahrdrohend erschien, ärztlich behandelte.

Großer Beliebtheit, namentlich bei Soldaten, erfreute sich Kölnisches Wasser, das in ungeheuren Massen gekauft und getrunken wurde, wenngleich der Preis hierfür bald auf Zwölf Rubel pro Pfund stieg.

Die Herren Offiziere hatten es freilich besser, denn auf die eine oder andere Art erhielten sie während des ganzen Krieges Spirituosen in mehr als ausreichenden Quantitäten. Zumeist wurde Spiritus aus Feldlazaretten bezogen, mitunter zum Schaden der Verwundeten, aber dieserhalb ließ man sich keine grauen haare wachsen.

Wenn sowohl die zarische als auch die revolutionäre Regierung stets darauf bedacht gewesen ist, den Alkohol von der Armee fernzuhalten und ihn an gewissen Punkten zu vernichten, so wußten die Herren von der Regierung nur zu gut, was sie taten, sie kannten eben ihre Pappenheimer ganz genau. Man weiß, welche verhängnisvolle Rolle der deutsche Branntwein bei der „Verbrüderung“ der russischen Soldaten mit deutschen Truppen gespielt hat. Man weiß ferner, daß so mancher gelungene Angriff doch zu keinem positiven Ergebnis führen konnte, weil die Soldaten sich an den vorgefundenen deutschen Alkoholvorräten sinnlos berauschten.

[80] Als in einer großen Stadt der gewaltige fiskalische Branntweinvorrat vernichtet wurde, — man ließ den in Fässern lagernden Branntwein ausfließen und zerschlug einige hunderttausend Flaschen —, da sah man nicht nur die Wachsoldaten einen eifrigen Handel treiben, sondern sie mußten sehr häufig gewechselt werden, weil sie gewöhnlich nach einer Stunde nicht mehr auf den Beinen stehen konnten. Das edle Naß strömte, mit Petroleum vermischt, aus dem Hofe der Niederlage in die Gosse und von dort in die städtische Kanalisation. An dieser Gosse lagen Tausende Menschen, und sie tranken gierig den auslaufenden Branntwein. Gleich am ersten Tage mußten drei Menschen tot davongetragen werden.

Später wunderte man sich im Laufe vieler Monate, daß in jener Gegend, wo die Niederlage sich befunden hatte, Betrunkene in Unmengen umhertorkelten. Erst durch einen Zufall kam man hinter das Geheimnis, — es erwies sich nämlich, daß ungeheure Massen Branntwein in einen tiefen Brunnen geflossen waren und ihn angefüllt hatten. Zu diesem Brunnen pilgerten nun die Leute aus der Umgegend, und sie mochten noch soviel trinken, der Brunnen wurde nicht leer; sie konnten sich nach Herzenslust betrinken und noch einen schwunghaften Handel betreiben. Erst nach monatelangen Beobachtungen gelang es der Polizei, den so reich sprudelnden Quell zu entdecken und ihn zu verstopfen.

Wir sehen somit, daß die Regierung sowohl des alten wie auch des neuen Rußlands redlich bestrebt gewesen ist, den verderblichen Branntweinteufel auszutreiben; wenn ihr das nicht in vollem Maße gelungen ist, dann trägt sie daran nur insofern Schuld, als sie es nicht verstanden hat, zuverlässige Aufsichtsorgane zu schaffen. Freilich muß gerechterweise darauf hingewiesen werden, daß die Bekämpfung des Alkohols selbst in weit höher kultivierten Ländern als Rußland stets mit großen Schwierigkeiten verknüpft gewesen ist.

[81] Immerhin ist nicht zu verkennen, daß die Bevölkerung Rußlands während des Krieges Gelegenheit gehabt hat, sich an einen Grad von Mäßigkeit zu gewöhnen, der hart an Abstinenz grenzte. Auf diese Weise hat die grandiose, aus dem Volke selbst erwachsene russische Mäßigkeitsbewegung eine starke Förderung erfahren, die dem Volke und dem Lande nur zum Heil gereichen kann.

Jedenfalls gehört der Kampf mit dem Alkohol zu den wenigen weisen Maßnahmen, die von der zarischen Regierung während des Krieges ergriffen worden und von der revolutionären Vertretung aufrechterhalten worden sind. Man hatte während des Krieges leider nur zu häufig Gelegenheit, von fürchterlichen Exzessen zu hören, die im Branntweinrausch begangen worden sind. Man weiß, welche Greueltaten von den fliehenden russischen Truppen in Kalusz und Tarnopol verübt worden sind; man weiß, daß der Pöbel in Moskau Branntweinzisternen plünderte, wobei einige hunderte von Menschen den Tod fanden, denn der Branntwein war vergällt gewesen. Marodierende Soldaten und die entfesselte revolutionäre Bauernschaft haben auf unzähligen Landgütern, die sie plünderten, unter dem Einflusse vorgefundenen Branntweins oder anderer Getränke die abstoßendsten Scheußlichkeiten begangen. Eine der unfreudigsten Erinnerungen habe ich in dieser Beziehung aus Riga mitgenommen, wo das Brauereigewerbe bekanntlich in hoher Blüte stand und in den ausgedehnten Kellereien verschiedener Brauereien große Biervorräte aufbewahrt wurden. Als die Freiheitswelle aus Petersburg auch nach Riga hinübergriff und die XII. Armee erfaßte, da beging diese eine Freiheitsfeier nach ihrer Art: die Soldaten erbrachen zunächst die Kellereien der Bierbrauerei Waldschlößchen und veranstalteten mit dem vorgefundenen Bier eine Zecherei von gigantischen Umfängen. Tausende von Soldaten pilgerten zu der genannten Brauerei und betranken sich bis zur Sinnlosigkeit. Man sah da Leute, die bis zum Halse in gewaltigen [82] Lagerfässern standen und tranken. Man benutzte Feldkessel, Mützen, Kannen und die hohle Hand als Trinkgefäße, oder man trank direkt aus einem Fasse, dessen Boden man eingeschlagen hatte. Das Gelände der Brauerei war besät mit Glassplittern, Holztrümmern und betrunkenen Menschen. Der Bierdampf hing über der ganzen Umgegend, und wenn man in den Wirbel der abströmenden Soldaten geriet, dann konnte man meinen, daß man sich im Münchner Hofbräu befände, — so stark rochen die Leute nach dem im Übermaß genossenen Bier.

Das Gelage drohte sich zu einer Katastrophe zuzuspitzen, denn es zogen nicht nur Tausende von Soldaten der in der Stadt stehenden Truppen zu der Bierbrauerei hinaus, sondern die Kunde war bis in die Laufgräben gedrungen, und nun waren auch die dort befindlichen Soldaten nicht mehr zu halten, — sie strömten in hellen Scharen herbei und tranken, bis sie zusammenbrachen. Welche Szenen sich dort abspielten, mag ich nicht weiter schildern, es sei nur gesagt, daß man den Eindruck erhielt, daß die ungeheure Menschenmenge, die sich auf dem ausgedehnten Gelände der Brauerei johlend oder stumpfsinnig betrunken umherschob, durch keine Gewalt der Erde von ihrem Tun abgehalten werden konnte.

In der Tat war hier guter Rat teuer, denn wenn die Leute sich noch weiter betranken, dann konnte man sicher sein, daß sie ganz unberechenbare Ausschreitungen begehen würden. Das Generalkommando der XII. Armee mußte zugeben, daß es in diesem Falle vollständig ohnmächtig war, denn kein Offizier hätte es gewagt, sich dorthin zu begeben, wo die Soldaten zechten, um den Versuch zu machen, die Leute zur Vernunft zu bringen, er wäre in Fetzen zerrissen worden. Von der Anwendung von Gewalt mußte gleichfalls abgesehen werden, denn man hatte eben die Freiheit und Gleichberechtigung aller Staatsbürger aus der Taufe gehoben, und nun sollten Staatsbürger, die sich einen lustigen Tag bereitet hatten, mit Gewalt daran verhindert werden? [83] Das wäre den höheren Kommandostellen übel bekommen, zudem war General Radko Dmitriew, der „Löwe von Przemysl“, ein vorsichtiger Mann, der es mit seinen Soldaten nicht verderben wollte. Er wandte sich daher an den Soldatenrat der XII. Armee, den „Iskosol“, mit der Bitte, auf die „Kameraden“ einwirken zu wollen. Der Soldatenrat war hierzu gern bereit, und zwar wollte er diese Einwirkung mit den „kulturellen“ Mitteln, die damals noch in hoher Achtung standen, durchsetzen. Er ordnete also einige seiner Mitglieder ab, die den Auftrag hatten, den Kameraden begreiflich zu machen, daß der Suff ein Übel sei, dem Soldaten der großen revolutionären Armee nicht frönen dürften.

Die Herren vom Iskosol gingen, aber sie kehrten nicht wieder, denn es erwies sich, daß auch sie der allzu lockenden Verführung unterlegen waren: ihre betrunkenen Leiber zierten den grünen Rasen des Gartens der Brauerei. Als auch andere Abgeordnete keine Erfolge aufzuweisen hatten und sich dem Zorne der Kameraden kaum hatten entziehen können, da beschloß man von den kulturellen Mitteln abzusehen und Maschinengewehre auffahren zu lassen. Diese mußten jedoch einige Zeit arbeiten, ehe die Betrunkenen den Schauplatz ihrer Tätigkeit räumten. Schließlich wurden die Kellereien gesprengt, und damit hatte das Bierfest sein Ende erreicht. Wie viele Opfer diese „Schlacht“ erfordert hat, habe ich leider nicht feststellen können. Das Generalkommando erklärte, die ganze Affäre gehe es gar nichts an, während der Iskosol sie diskret behandelte, offenbar, weil das gegen die Kameraden angewendete ausschlaggebende Mittel denn doch nicht so ganz „kulturell“ gewesen war.

In den nächsten Tagen wurden andere Brauereien geplündert, und die Bewegung griff auf andere Städte der Provinz über. Man machte den Ausschreitungen ein Ende, indem man alle Biervorräte im Werte von vielen Millionen auslaufen ließ.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Henri Poincaré, Vorlage: Poincarré
  2. Vorlage: mang