Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Das revolutionäre Petersburg

Die Teuerung Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution
von Oskar Grosberg
Zum Teufel ist der Spiritus
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Das revolutionäre Petersburg

In der Erinnerung der meisten Leser wird sich die gewesene Residenz an der Newa als eine etwas kalte, hochherrschaftliche und in einzelnen Partien hoheitsvolle Stadt erhalten haben, als die Stadt der prunkvollen Paläste, der gewaltigen Regierungsgebäude, des wunderbaren Holzpflasters, der geschwinden Iswoschtschiks und des ewig entweder frühstückenden oder am Kai und über den Newski flanierenden eleganten Publikums. Das arbeitende, schwer arbeitende, blutarme, verkommene und verlotterte Petersburg, das den kleinen glänzenden Kern wie eine aufgeschwemmte faule Schale umgibt, sieht der Fremde nur durch Zufall, und auch der Einheimische gelangt dorthin nur äußerst selten. Man kann sagen, daß die Hauptstadt die Typen aller russischer Städtegrade in sich vereinigt: das Zentrum ist eben die westeuropäisch übertünchte Hauptstadt, die nur nach anhaltendem Regenwetter einen Rückfall in das Asiatische erleidet. Den nächsten konzentrischen Kreis bildet der Typus der entsetzlich langweiligen, aber doch auf eine gewisse äußere Kultur Anspruch machenden russischen Gouvernementsstadt; an diesen Typus schließt sich der ausgedehnte Ring mit dem Charakter der Kreisstadt, die weder Kultur kennt, noch auch auf solche Anspruch erhebt, sondern sich mit aller Unbefangenheit als ein erweitertes, schmutzstarrendes Dorf gibt. Die äußersten Ausläufer der Hauptstadt tragen bereits den ausgeprägten Dorfcharakter. Sieben Werst vom Winterpalais kann man bereits ungepflasterte Straßen finden, die im [61] Sommer an die Sandsteppen Turkestans erinnern, während sie sich im Frühling und Herbst in ein Kotmeer verwandeln, in dem mitunter der eine oder andere Eingeborene oder auch einmal ein Pferd ertrinkt. An diesen „Straßen“ stehen kleine, halb in die Erde gesunkene Holzhütten, verseuchte, den primitivsten Begriffen von Hygiene hohnsprechende Spelunken, in denen die Ärmsten der Armen ihr elendes Dasein vertrauern, bis man sie hinausträgt auf die Armenfriedhöfe, die einem Schindanger ähnlicher sehen, als einer Begräbnisstätte menschlicher Wesen. Im Nachstehenden soll jedoch nicht von diesem dunkelsten Petersburg die Rede sein, sondern von dem stolzen „Nordischen Palmyra“, das von unzähligen russischen Dichtern gefeiert und verherrlicht worden ist.

Wenn jedoch diese Dichter ihre Gräber auf dem Lazarus-Friedhofe des Alexander Newski-Klosters verlassen und einen Blick auf das revolutionäre Petersburg werfen könnten, dann würden sie wohl nicht nur von aufrichtigem Schmerz, sondern von empörtem Entsetzen gepackt werden. Wie schändlich ist Petersburg von der Revolution zugerichtet worden! Wir wollen nicht von den zahlreichen Brandruinen reden, die die ersten Tage der Revolution geschaffen haben und von denen einige — welche absonderliche Geschmacksrichtung! — als „Denkmäler der Revolution“ für ewige Zeiten in ihrem gegenwärtigen Zustande den Nachfahren zum Andenken erhalten bleiben sollen. Man braucht nur eine Viertelstunde über den Newski zu gehen, um sich davon zu überzeugen, daß die von den Romanows im Laufe von zwei Jahrhunderten mühsam aufgetragene, immerhin recht dünne Kulturtünche von dem souveränen Proletariat in fabelhaft kurzer Zeit — es hat hierzu nur weniger Wochen bedurft — so gründlich entfernt worden ist, daß nun das Asiatentum in seiner vollen abstoßenden Gestaltung unverhüllt zutage tritt. Es ist, als ob eine Riesenfaust die konzentrischen Kulturkreise, von denen eingangs die Rede war, [62] zusammengeknittert, durcheinander geschachtelt und dann dem auf diese Weise gewonnenen Gebilde das Brandmal der trostlos verkommenen russischen Kreisstadt aufgedrückt hätte. Die Revolution hat Petersburg nicht etwa demokratisiert, sondern diese wunderbare Stadt verpöbelt, zu ihrem Ebenbilde gemacht.

Wer entsinnt sich nicht des unvergleichlich eleganten Bildes, das der Newski in den späten Nachmittagsstunden bot, wenn die Große Welt über die Granitquadern der Trottoirs flanierte, oder aber in Kraftwagen oder kostbaren Gespannen über das Holzpflaster dahinflog, zum Korso auf den Inseln oder auf dem Kai. In diesen Stunden begegnete man auf dem Newski dem ganzen Petersburg, allen, die Rang, Namen und Stellung hatten, oder schön und elegant waren. Das war ein Gewoge von Fahrzeugen aller Art, das sich nur zu oft an der Polizeibrücke oder an der Einmündung der Morskaja staute und sich zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammenzuballen drohte. Doch wozu wäre die Polizei dagewesen, wenn sie nicht Ordnung geschafft hätte! Und wie schaffte sie Ordnung, diese Polizei, der es in der Revolutionszeit nach so vielen herrlich und in Freuden verbrachten Jahren so furchtbar schlecht ergangen ist!

Da gab es an jeder Straßenkreuzung die gewichtigen Gorodowois, Kerle, wie auf Draht gezogen, Kerle, die jede Exzellenz salutierten und dabei die Absätze zusammenschlugen, daß es nur so krachte. Und dann die jungen, geschniegelten Polizeileutnants, die hoheitsvollen Pristaws und die beinahe unnahbaren Polizeimeister, denen man nicht weniger „geben“ durfte, als tausend Rubel. Nicht zu reden vom Herrn Stadthauptmann, der freilich nur bei besonderen Gelegenheiten auf der Bildfläche erschien, wie etwa bei einer der Ausfahrten der Majestäten. Dann erstarb der Newski; die Fuhrwerke durften nur hart am Trottoir fahren, die ganze Breite des Fahrdammes war den kaiserlichen [63] Wagen vorbehalten. Da jagten sie heran, diese prachtvollen Wagen mit ihren Insassen und den purpurrot livrierten Kutschern und Lakaien mit dem keck auf ein Ohr gerückten Zweispitz und den englisch glatt rasierten Gesichtern. Dann erstarrte der Newski und erstarrten die Polizisten aller Grade zu Salzsäulen, aber ihre Blicke flogen unruhig, denn wer mochte wohl wissen, was passieren konnte! Der kaiserliche Cortège brauste vorüber, verfolgt von den Hurrarufen der Menge, die hierzu von einigen tausend Spitzeln, die zu jeder Ausfahrt aufgeboten wurden, in unzweideutiger Weise animiert wurde.

Der Newski bekam wieder Leben, das in breitem Strome dahinfloß. In gewissen, streng vorgeschriebenen Zeiträumen erschienen die Hausknechte in ihrer wiederum streng vorgeschriebenen Tracht, und sie hatten dafür zu sorgen, daß kein Stäubchen auf der Straße lag. Der Newski und alle anderen Hauptstraßen blitzten und blinkten — dafür hatte die Polizei zu sorgen, und man muß ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie tat ihr Bestes. Freilich mußte ihre Allgewalt versagen, wenn es vom Himmel herabrieselte, oder wenn Tauwetter einsetzte und der schwammige Sumpfboden das allzureichliche Naß nicht aufzusaugen vermochte. Dann half alles Fluchen und Wettern der hohen Polizei nichts, gegen die entfesselte Naturgewalt vermochte sie nicht aufzukommen und man mußte es sich schon gefallen lassen, daß man von den kotschleudernden Gummirädern einer herrschaftlichen Equipage in einen wenig appetitlichen, geflecktn Leoparden verwandelt wurde. Doch war das nur die Ausnahme, während die Regel eben die Blitzblänke war, die von der Revolution endgültig abgeschafft worden ist.

Wer heute den Newski betritt, in dem wird vor allen Dingen der Glaube erweckt, daß alle Birkenwälder des Landes, die früher die Kehrbesen lieferten, ausgerottet seien. An das Kehren der Straßen denkt eben heute niemand mehr. Polizei, die darauf bestehen könnte, gibt es ja im freien [64] Rußland nicht mehr, an ihre Stelle ist die Volksmiliz getreten, die so enorme Gagen bezieht, daß sie keinerlei Pflichten auszuüben braucht; ihre Vertreter führen allenfalls, um in der Übung zu bleiben, hin und wieder einen besonders vorteilhaften Einbruch oder eine ausgiebige Haussuchung aus. Im übrigen wird das lediglich als Sport geübt, denn die Herren sind so glänzend gestellt, daß sie es wirklich nicht nötig haben. Man bedenke nur, daß zum Unterhalt der Polizei früher aus dem städtischen Säckel jährlich nur 300 000 Rubel hergegeben werden mußten, was sonst noch fehlte, verschafften sich die Polizisten in der in Rußland üblichen Weise — 1917 erforderte aber der Unterhalt der Volksmiliz die Lappalie von 17 Millionen Rubel. Was Wunder, daß die Stadt Petersburg das Jahr mit einem Unterschuß von runden 100 Millionen abschließen mußte!

Die Hausknechte haben keinerlei Veranlassung, ihren Funktionen nachzugehen, denn auch sie haben sich Ministergehälter gesichert, und es ist fraglos bei weitem vorteilhafter, Bestechungsgelder von Wohnungsuchenden entgegenzunehmen, als sich etwa mit dem Kehren der Straßen, das der Würde eines freien Bürgers wenig entspricht, zu befassen.

Der Newski und seine Leidensgenossen, will sagen, die anderen zentralen Straßen, sind daher sich selbst überlassen; das glänzende Publikum von einst ist natürlich verschwunden, denn man flaniert weder zu Fuß noch im Wagen; das eine wie das andere könnte dem souveränen Volke mißfallen, und es würde unbedingt gegen derartige bourgeoise Gepflogenheiten auftreten. Hier gibt es nun unbegrenzte Möglichkeiten, die sich zwischen dem Eintreiben eines Zylinderhutes und einem Raubmord abspielen können, es kommt ganz darauf an, inwieweit ein Bourgeois den gerechten Zorn des Volkes durch Aussehen oder Gebaren gereizt hat. Diesen Möglichkeiten will sich natürlich niemand aussetzen, und man befleißigt sich daher in Worten und Werken einer ausgeprägt demokratischen Schlichtheit, die [65] nicht aus dem heutigen Gesamttone der einstigen Prunkstraße fällt.

Die Hofequipagen sind natürlich restlos verschwunden. Es gibt keinen Hof und daher auch keine purpurnen Kutscher und Lakaien, keine wildbärtigen Kammerkosaken und bartlosen Jockeys. Der grandiose kaiserliche Marstall ist aufgelöst worden, die Equipagen und Pferde haben andere Besitzer gefunden, bis auf wenige Exemplare, die von den Ministern benutzt werden. Die herrlichen Kraftwagen des gewesenen Zaren benutzte u. a. Herr Kerenski bei seinen Fahrten durch Stadt und Land und hielt von den schwellenden Polstern herab seine unzähligen Reden an die Arbeiter und Soldaten.

Der Newski gehört nun dem Volke. Er gehört den Soldaten der einstigen kaiserlichen Garde, die die Revolution, wenn auch nicht, wie sie behaupten möchten, gemacht, sondern sich deren lediglich bemächtigt haben. Die Soldaten der einstigen kaiserlichen Garde, denen die Reichsduma sich in einem kurzen Augenblicke der Unentschlossenheit, das traurige Schicksal des Landes besiegelnd, in die Hände gegeben hatte, sind praktische Leute, sie vertreiben sich die überreichliche freie Zeit mit einem schwungvollen Handel mit aus Finnland eingeführten unverzollten Zigaretten und anderen Waren. Das ist ein einträgliches Geschäft, das fast gar keine Spesen zu tragen hat. Die Soldaten der Revolution fahren nach Finnland, wobei sie als freie Männer und Beherrscher des Landes natürlich keine Fahrkarte lösen. Die gekauften Waren verzollen sie ebenso natürlich nicht, denn welcher Zollbeamte würde es wohl wagen, an einen Soldaten der revolutionären Armee mit einem derartigen ebenso aufdringlichen wie nichtachtenden Ansinnen heranzutreten; wenn er es dennoch täte, dann würde ihm seine Fürwitzigkeit gewiß sehr schlecht bekommen. Mit den auf diese Weise erlangten wohlfeilen finnländischen Waren etablieren sich die Soldaten am Newski oder anderen Hauptstraßen und handeln [66] nun lustig darauflos. An Nachfrage fehlt es gewiß nicht, denn sie können jede Konkurrenz schlagen.

Man kann da Szenen von idyllischer Urwüchsigkeit erleben, denn viele Soldaten beziehen ihre Stände mit ihren Weibern oder sonstigen Gefährtinnen ihrer Freiheit, und sie richten sich mit der denkbar größten Gemütlichkeit ein. Während der Herr Gemahl seine Waren an den Mann zu bringen sucht, flammende Reden an das versammelte Volk hält, oder einem vorübergehenden Bourgeois den Standpunkt klar macht, beschäftigt sich die Gattin mit der Wartung ihrer Kinder, oder aber sie fertigt eine Handarbeit an. Man sitzt auf dem Bordrand und man hält auch dort sein Mittagsschläfchen. Jedenfalls geniert man sich in keiner Weise, denn was hätte wohl ein freies Volk zu verbergen!

Auch die Tausende von Leuten, die die an allen Ecken und Enden sichtbaren Polonaisen bilden, genieren sich nicht; sie lagern auf dem Bürgersteige, einzelne haben Stühle, andere wohl auch bequemere Sitzgelegenheiten mitgebracht, um gegebenenfalls auch eine Nacht unter freiem Himmel verbringen zu können. Und die Zeit wird den Wartenden wirklich nicht lang, denn auf dem Newski gibt es alleweil etwas zu sehen und zu hören. Jetzt ist es ein Aufzug der Bolschewiki, der die Aufmerksamkeit der Menge fesselt, dann prasselt aus einem Kraftwagen ein Regen von Proklamationen herab, dann hört man einem Redner zu, oder man trifft einen guten Freund, mit dem man ein Stündchen verplaudert.

Wie einst die Große Welt, so flaniert nun der Arbeiter mit dem Soldaten Arm in Arm über den Newski. Sie können es, denn der Soldat hat nichts zu tun als auf seinen in den ersten Revolutionstagen letzten Endes doch sehr wohlfeil errungenen Lorbeern zu ruhen, während der Arbeiter so viel Geld verdient, daß er ein Narr wäre, wenn er mehr als drei Tage in der Woche arbeiten wollte. Freilich hat es nicht jeder so gut wie die städtischen Kohlentrimmer, die mit 80 Rubel Tagesverdienst das Gehalt des Stadthauptes [67] hinter sich lassen, aber man kann doch auch mit weniger leben, wenngleich alles entsetzlich teuer ist. Zu Denaturat langt es immer, und das ist doch schließlich die Hauptsache!

Der Bourgeois kann sich schon längst nicht einmal annähernd das leisten, was der Arbeiter sich gestattet, trotzdem sieht man auf ihn scheel, denn man vermutet, daß er seine Schätze, die doch jeder Mensch, der eine Zahnbürste und Seife benutzt, unbedingt haben muß, heimtückisch verborgen hat.

Auch die berühmten Iswoschtschiks genießen das freie Leben in vollen Zügen. Sie können nun ungestört auf ihrem Kutschbocke dem Schlafe frönen, sich in den landesüblichen verwegenen Redensarten ergehen und vom Fahrgast verlangen, was sie wollen. Von dieser Freiheit machen die Iswoschtschiks den ausgiebigsten Gebrauch; eine Strecke, für die man früher 20 Kopeken zahlte, wird jetzt mit drei Rubeln bewertet; das ist überhaupt der niedrigste gültige Satz.

Neben den Soldaten haben sich unzählige chinesische Händler niedergelassen, auch diese machen gute Geschäfte, wenngleich sie mit wertlosem Plunder handeln, aber dieser Plunder ist wohlfeil und entspricht dem Geschmacke des den Newski bevölkernden Publikums, das sich dort Tag und Nacht herumstößt, Maulaffen feilhält, Sonnenblumenkerne kaut, dann und wann einen Skandal oder eine solenne Prügelei inszeniert und im übrigen danach auslugt, wo etwas locker liegen sollte. Hierin, d. d. im Auslugen wird das Arbeitsvolk, oder was sich so nennt, von den Hunderten von Bettlern, die den Newski als dankbare Arena ihrer Tätigkeit benutzen, unterstützt. Wenn alle Stricke reißen und wirklich nichts zu ergattern ist, dann veranstalten einige entschlossene Männer im nächstbesten Hause eine Durchsuchung, die stets positive Resultate ergibt und zum mindesten zu einigen Flaschen Denaturat verhilft. Freilich sind die Bourgeois in der letzten Zeit vorsichtig geworden, sie halten ihre Wertsachen in sicheren Verstecken, aber schließlich hat doch [68] beinahe jeder von ihnen einen Trauring, eine Uhr, oder sonst brauchbare Gegenstände, die sich in Denaturat verwandeln lassen, man darf nur suchen und man muß schließlich hierbei auch ein wenig Glück haben.

Das Volk, das in der Neuzeit den Newski bevölkert, ist natürlich über jede Anwandlung von Sauberkeit erhaben, es läßt die Abfälle seiner vielgestaltigen Wirksamkeit einfach liegen; wenn das irgend jemand nicht gefällt, dann mag er den Unrat fortschaffen oder in seinen vier Wänden bleiben. Es ist daher kein Wunder, daß man über einen dicken Teppich von Zeitungspapier, Sonnenblumenschalen, Papirosstummeln und tausend anderen Abfällen hinschreitet, und daß die ganze Straße einen Duft ausströmt, dem man früher allenfalls in einem Hinterhofe der fernen Vorstadt begegnete.

Das überaus bunte, im allgemeinen jedoch nichts weniger als reizvolle Bild wird durch die Meetings, die fast ohne Unterbrechung bald hier, bald dort zu jeder Tages- und Nachtzeit stattfinden, ergänzt. Man stimmt den Rednern zu oder protestiert gegen den von ihnen jeweilig vertretenen Standpunkt, wobei es nicht gerade selten passiert, daß ein mißliebiger Redner fürchterlich verprügelt wird. Fliegende Meetings finden in jedem Trambahnwagen statt, wobei jeder, dem der Himmel ein tüchtiges Maulwerk beschert hat, seine Weisheit zum besten gibt und je nach Umständen entweder Beifall oder Widerspruch findet. Es ist verwunderlich, wie viele ausgezeichnete Redner man zu hören bekommt, d. h. ausgezeichnete im Sinne einer vollendeten Sprechtechnik. Diese natürliche Begabung hat dem russischen Volke nicht zum Heile gereicht, denn vor lauter Reden kommt man nicht zum Handeln; die einfachsten Dinge werden in endlosen Debatten, zu denen jeder seinen Senf geben muß, behandelt, ohne daß man im Endergebnis zu bindenden Beschlüssen käme. Das ewige Reden und Debattieren führt dazu, daß die Leute in eine Art von Maultollheit [69] verfallen, die sie für die Realitäten des Lebens vollständig blind macht.

Wenn man solch einem fliegenden Meeting beigewohnt hat, dann glaubt man sich in wenigen Minuten in Gesellschaft wenn auch nicht von Tollhäuslern, so doch von Menschen zu befinden, die nicht mehr Herren ihrer Sinne und Handlungen sind und alle Anzeichen hoher Reife für ein Nervensanatorium aufweisen. Man fühlt sich in dieser Gesellschaft wie vor einem überhitzten Dampfkessel, der vielleicht den enormen Druck noch eine Weile aushalten, aber ebensogut auch in die Luft fliegen kann.

Aber noch unleidlicher als diese Volksredner, die sich gar nicht genug tun können, sind die zu Tausenden die Trams bevölkernden Soldaten und Matrosen, die in ihrem saloppen, aller militärischen Disziplin und Sauberkeit hohnsprechendem Aufzuge und durch ihr unsäglich freches und herausforderndes Gebaren insbesondere dann zu einer Plage werden, wenn sie sich, was zumeist der Fall zu sein pflegt, im Zustande mehr oder weniger intensiver Betrunkenheit befinden.

Die Demokratisierung hat sich jedoch nicht nur auf die Straße beschränkt. Das Volk hat auch von den Gärten und Parks Besitz ergriffen und ihnen seinen Stempel aufgedrückt. Ebenso verkommen und verschmutzt wie die Straßen sind nun auch die Parks, die hauptsächlich von Soldaten, Mob und ihrem weiblichen Anhang bevölkert und von diesen in der ungeniertesten Weise in wahre Kloaken verwandelt werden. Ganz besonders übel zugerichtet worden ist der einst so exklusive Sommergarten, der früher von Soldaten und einfach gekleideten Leuten überhaupt nicht betreten werden durfte; nicht besser ist es den wunderbaren Anlagen auf der Jelagininsel ergangen. Überall ist der Rasen zertreten und mit den Spuren von lustigen Picknicks besät, die Blumen werden abgerissen und Bäume und Sträucher in brutaler Weise verstümmelt. Mit ganz besonderer Vorliebe beschäftigt [70] sich das Volk mit der Verstümmelung von Statuen und Prunkvasen, die diese Anlagen schmückten. In gleicher Weise werden die Denkmäler verstümmelt und ihres Bronzezierats systematisch beraubt.

In greuliche Wüsteneien voll Unrat und Verkommenheit sind die historischen Parks von Gatschina, Zarskoje-Sselo und Pawlowsk verwandelt worden, obwohl Pawlowsk und Gatschina sich in großfürstlichem Privatbesitz befinden. Man hat die Forellenteiche geleert, das Wild vernichtet und verschiedene Bauwerke übel zugerichtet. Das Schlimmste aber ist, daß diese Barbareien nicht etwa in den ersten Tagen des revolutionären Paroxismus begangen worden sind, sondern daß sie täglich und stündlich fortgesetzt werden.

Wie es in den einstigen kaiserlichen und großfürstlichen Palästen, von denen mehrere Meisterwerke grandioser Baukunst sind, und die mit Kunstschätzen und Kostbarkeiten vollgepfropft waren und nun verschiedenen revolutionären Behörden eingeräumt worden sind, aussieht, kann man sich unschwer vorstellen, wenn man weiß, daß der Rat der Soldaten und Arbeiterdeputierten bei seinem Umzuge aus dem Taurischen Palast in das Smolnakloster nicht nur allerlei historische Reliquien, sondern auch das Tintenfaß des Reichsdumapräsidenten Rodsjanko, sowie sämtliche kostbaren Bronzetürklinken des Palastes hat mitgehen lassen. Man kann sich ungefähr denken, in welchen Zustand diese Edelsten der Nation das Smolnakloster, in dem sich seit 150 Jahren das vornehmste adelige Fräuleinstift des Landes befunden hatte und das eines der wunderbarsten Schöpfungen Rastrellis darstellt, versetzen werden. Freilich ist es einigen anderen Fräuleininstituten und dem einstigen kaiserlichen Pagenkorps beinahe noch schlimmer ergangen: sie sind als Hospitäler für geschlechtskranke Soldaten der revolutionären Armee eingerichtet worden.