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nun lustig darauflos. An Nachfrage fehlt es gewiß nicht, denn sie können jede Konkurrenz schlagen.

Man kann da Szenen von idyllischer Urwüchsigkeit erleben, denn viele Soldaten beziehen ihre Stände mit ihren Weibern oder sonstigen Gefährtinnen ihrer Freiheit, und sie richten sich mit der denkbar größten Gemütlichkeit ein. Während der Herr Gemahl seine Waren an den Mann zu bringen sucht, flammende Reden an das versammelte Volk hält, oder einem vorübergehenden Bourgeois den Standpunkt klar macht, beschäftigt sich die Gattin mit der Wartung ihrer Kinder, oder aber sie fertigt eine Handarbeit an. Man sitzt auf dem Bordrand und man hält auch dort sein Mittagsschläfchen. Jedenfalls geniert man sich in keiner Weise, denn was hätte wohl ein freies Volk zu verbergen!

Auch die Tausende von Leuten, die die an allen Ecken und Enden sichtbaren Polonaisen bilden, genieren sich nicht; sie lagern auf dem Bürgersteige, einzelne haben Stühle, andere wohl auch bequemere Sitzgelegenheiten mitgebracht, um gegebenenfalls auch eine Nacht unter freiem Himmel verbringen zu können. Und die Zeit wird den Wartenden wirklich nicht lang, denn auf dem Newski gibt es alleweil etwas zu sehen und zu hören. Jetzt ist es ein Aufzug der Bolschewiki, der die Aufmerksamkeit der Menge fesselt, dann prasselt aus einem Kraftwagen ein Regen von Proklamationen herab, dann hört man einem Redner zu, oder man trifft einen guten Freund, mit dem man ein Stündchen verplaudert.

Wie einst die Große Welt, so flaniert nun der Arbeiter mit dem Soldaten Arm in Arm über den Newski. Sie können es, denn der Soldat hat nichts zu tun als auf seinen in den ersten Revolutionstagen letzten Endes doch sehr wohlfeil errungenen Lorbeern zu ruhen, während der Arbeiter so viel Geld verdient, daß er ein Narr wäre, wenn er mehr als drei Tage in der Woche arbeiten wollte. Freilich hat es nicht jeder so gut wie die städtischen Kohlentrimmer, die mit 80 Rubel Tagesverdienst das Gehalt des Stadthauptes

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/70&oldid=- (Version vom 1.8.2018)