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Als in einer großen Stadt der gewaltige fiskalische Branntweinvorrat vernichtet wurde, — man ließ den in Fässern lagernden Branntwein ausfließen und zerschlug einige hunderttausend Flaschen —, da sah man nicht nur die Wachsoldaten einen eifrigen Handel treiben, sondern sie mußten sehr häufig gewechselt werden, weil sie gewöhnlich nach einer Stunde nicht mehr auf den Beinen stehen konnten. Das edle Naß strömte, mit Petroleum vermischt, aus dem Hofe der Niederlage in die Gosse und von dort in die städtische Kanalisation. An dieser Gosse lagen Tausende Menschen, und sie tranken gierig den auslaufenden Branntwein. Gleich am ersten Tage mußten drei Menschen tot davongetragen werden.

Später wunderte man sich im Laufe vieler Monate, daß in jener Gegend, wo die Niederlage sich befunden hatte, Betrunkene in Unmengen umhertorkelten. Erst durch einen Zufall kam man hinter das Geheimnis, — es erwies sich nämlich, daß ungeheure Massen Branntwein in einen tiefen Brunnen geflossen waren und ihn angefüllt hatten. Zu diesem Brunnen pilgerten nun die Leute aus der Umgegend, und sie mochten noch soviel trinken, der Brunnen wurde nicht leer; sie konnten sich nach Herzenslust betrinken und noch einen schwunghaften Handel betreiben. Erst nach monatelangen Beobachtungen gelang es der Polizei, den so reich sprudelnden Quell zu entdecken und ihn zu verstopfen.

Wir sehen somit, daß die Regierung sowohl des alten wie auch des neuen Rußlands redlich bestrebt gewesen ist, den verderblichen Branntweinteufel auszutreiben; wenn ihr das nicht in vollem Maße gelungen ist, dann trägt sie daran nur insofern Schuld, als sie es nicht verstanden hat, zuverlässige Aufsichtsorgane zu schaffen. Freilich muß gerechterweise darauf hingewiesen werden, daß die Bekämpfung des Alkohols selbst in weit höher kultivierten Ländern als Rußland stets mit großen Schwierigkeiten verknüpft gewesen ist.

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/84&oldid=- (Version vom 1.8.2018)