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ohne weiteres einleuchten. Die zahlreichen Einberufungen schufen gewiß so viele „Trauerfälle“, daß man darauf gefaßt sein mußte, in den nächsten Tagen die halbe Stadt in sinnlos betrunkenem Zustande zu sehen. Man konnte doch nicht wissen, was die desperaten Kerls in ihrer Betrunkenheit, wo dem Russen nach einem Sprichworte das Meer ohnehin nur bis zum Knie reicht, alles angeben konnten. Die Stimmung der Arbeiterschaft war ja nichts weniger als friedlich, es war mehr als peinlich gewesen, daß sie gerade zur Ankunft des Präsidenten Poincaré[WS 1] in Petersburg Barrikaden errichtet und sich offenbar zu einem größeren Putsch gerüstet hatte. Man hatte es ja, abgesehen von diesen Gesichtspunkten, schwarz auf weiß, daß es sich lediglich um eine zeitweilige Maßnahme handle.

Das war tröstlich, denn auf die Dauer, so meinte man, wäre das Verbot des Branntweinausschankes doch nicht aufrecht zu erhalten gewesen. Einerseits kamen da natürlich die Interessen des Fiskus in Betracht, der nun mehr Geld brauchte als je, andererseits aber wäre es ja schlechterdings kaum möglich, das tägliche Schnäpschen beim Frühstück, Mittagessen, Abendbrot und auch zwischendurch auf die Dauer zu entziehen. Das hieße ja propter vitam vivendi causas perdere!

Aber das Vaterland forderte Opfer und man mußte sie bringen. Die Zeitungen wurden nicht müde darzulegen, wie wunderbar es sei, sich eines nüchternen Lebenswandels rühmen zu können, und sie durften mit allem Rechte darauf hinweisen, daß, wenn das Branntweinverbot nicht erlassen worden wäre, die Mobilisation der Armee sich gewiß nicht so glatt und ohne Zwischenfälle abgewickelt hätte, wie das der Fall gewesen war.

Die regierungsfrommen Blätter versäumten natürlich nicht, auf die weise Vorsorge der Regierung, die das Monopol geschaffen, hinzuweisen, und man tröstete sich im übrigen damit, daß es ja noch Wein und Bier gab, mit deren

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Henri Poincaré, Vorlage: Poincarré
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/77&oldid=- (Version vom 1.8.2018)