Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Athener, Sohn d. Laches, eines Vetters d. Demosthenes
Band IV,2 (1901) S. 2863 (IA)–2867 (IA)
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6) Athener, Sohn des Laches, eines Vetters des Demosthenes, aus Leukonoë (vgl. die Urkunden bei Ps.-Plut. v. X orat. 850 F. 851 D, ohne Vaternamen CIA II 737, 34. 35) und der Schwester des Demosthenes (Ps.-Plut. a. a. O. 847 C), attischer Politiker, Redner und Geschichtschreiber. Die wichtigste Quelle für die Kenntnis seines Lebens ist das aus 271/70 stammende, an Rat und Volk gerichtete Gesuch seines Sohne Laches [2864] um Auszeichnung des Vaters, welches den ps.-plutarcheischen Biographien der zehn Redner angehängt ist (vgl. über dasselbe Unger Philol. XXXVIII 477ff. und besonders die überzeugende Auseinandersetzung von Ladek Wiener Stud. XIII 111ff.); die Überlieferung desselben ist, wie B. Keil Herm. XXX 210ff. wahrscheinlich macht, durch den Periegeten Heliodor von Athen vermittelt. Das Geburtsjahr des D. ist nicht überliefert, lässt sich jedoch mit annähernder Sicherheit auf die Zeit zwischen 355 und 350 bestimmen (Müller FHG II 445. Blass Att. Beredsamkeit III 2, 305. Susemihl Gesch. der griech. Litteratur in der Alexandrinerzeit I 552). Als Politiker trat D. durchaus in die Fussstapfen seines Oheims Demosthenes und hielt trotz der gründlich veränderten Zeitverhältnisse mit der grössten Zähigkeit an dem überkommenen demokratischen Glaubensbekenntnis fest. Im J. 322 soll er, als über den Frieden mit Antipater verhandelt wurde, mit dem Schwerte umgürtet in der Volksversammlung erschienen sein und gegen die Auslieferung der attischen Patrioten gesprochen haben (Plut. a. a. O. 847 D), eine wenig glaubliche Nachricht, welche, worauf der Wortlaut hindeutet (ἔστι δ’ αὐτοῦ εἰκὼν ἐν τῷ πρυτανείῳ εἰςιόντων πρὸς τὴν ἑστίαν ἐν δεξιᾷ ὁ πρῶτος περιεζωσμένος ἅμα τῷ ἱματίῳ καὶ ξίφος· οὕτω γὰρ δημηγορῆσαι λέγεται, ἡνίκα Ἀντίπατρος ἐξῄτει τοὺς ῥήτορας), wohl nur aus der Attitude seines Standbildes herausgesponnen war (vgl. auch Droysen Gesch. des Hellenismus² II 1, 79). Der Herrschaft des Demetrios von Phaleron war D. natürlich feindselig gesinnt, wie er sie in seinem Geschichtswerke auf das bitterste tadelt und ihr vorwirft, sie hätte nur die materiellen Interessen Athens gefördert (frg. 2 M.); eine active Rolle spielte er zu dieser Zeit nicht. Sein erstes beglaubigtes Auftreten in der Öffentlichkeit zeigt, ihn als entschiedenen und energischen Parteimann. Nach der Befreiung Athens durch Demetrios Poliorketes hatte Sophokles einen Volksbeschluss durchgesetzt (307/306), durch welchen die Philosophenschulen, welche makedonischer Sympathien verdächtig waren, aufgehoben wurden (Diog. Laert. V 38. Athen. XIII 610 E. F); da derselbe dem bestehenden Rechte widersprach (v. Wilamowitz Antigonos von Karystos 270ff.), wurde von Philon dagegen die Klage auf Gesetzwidrigkeit erhoben, während D. ohne Erfolg als Anwalt des Sophokles auftrat. Seine bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede (Bruchstücke bei Baiter-Sauppe Or. att. II 341ff., zu vermehren um Athen. XI 509 B, vgl. v. Wilamowitz a. a. O. 196) strotzte von gehässigen Schmähungen und Verleumdungen der Philosophen, besonders des Aristoteles und dessen Schüler.

Für die nun folgende Thätigkeit des D. bildet die Urkunde in den Vit. X orat. die Grundlage; der Versuch Droysens, die in ihr erwähnten Facten in die Zeitgeschichte einzuordnen (Ztschr. für Altertumswissenschaft 1836 nr. 20. 21), scheitert an der inneren Unmöglichkeit, da Droysen ein Durcheinander der Einzelheiten in dem Gesuch und eine zweimalige Verbannung des D. annehmen muss. Im besonderen ist die Bestimmung des bei Ps.-Plut. 851 E erwähnten ,vierjährigen Krieges‘ (τετραέτης πόλεμος) auf die J. 297–294 durch Droysen (wieder verfochten in seiner Gesch. des Hellenism.² II 2, [2865] 178. 246ff.) von der späteren Forschung (R. Schubert Herm. X 111ff. Ladek a. a. O. 112ff., auch Niese Gesch. der griech. und makedonischen Staaten I 333) als unrichtig erkannt worden, welche mit Recht zu der von Clinton aufgestellten Ansicht zurückkehrte, es sei damit der gegen Kassander und Polyperchon in den J. 306–302 geführte Krieg gemeint (ein anderer Ansatz für den vierjährigen Krieg, dem ich mich nicht anschliessen kann, bei De Sanctis in Belochs Studi di storia antica II 50ff.). D. entwickelte bei der Instandsetzung der Mauern der von Kassander bedrohten Stadt und bei der Herbeischaffung von Verteidigungsmitteln eine rastlose Thätigkeit; die darauf bezügliche Angabe bei Ps.-Plutarch wird durch die aus 306/305 und 305/304 stammenden Urkunden CIA II 735 B und 737 bestätigt (vgl. Koehler Athen. Mitt. V 277. 283 und zu CIA IV 2, 2,70). Vielleicht hat man es CIA II 250 ebenfalls mit einem von D. in dieser Zeit beantragten Volksbeschluss zu thun. Wahrscheinlich bekleidete D. damals auch die Stelle eines Strategen (Polyb. XII 13, 5. Susemihl a. a. O. I 556). Die in dem Gesuch unmittelbar darauf folgende Meldung, er habe den Frieden und ein Bündnis Athens mit Boiotien vermittelt, kann sich nur darauf beziehen, dass Athen zu gleicher Zeit (304) mit dem Bündnis, welches Demetrios mit den Boiotern abschloss (Plut. Dem. 23), einen Vertrag mit ihnen eingegangen sein wird (Ladek 116, anders v. Wilamowitz 190). Dem erneuten Regiment des Demetrios Poliorketes stand D. unfreundlich gegenüber, wie das Urteil in seinem Geschichtswerk über das damalige Treiben in Athen beweist (frg. 3. 4); als unabhängiger Charakter, der infolge seiner früheren Verdienste sicherlich Anhang hatte und zudem durch seine scharfe Zunge berüchtigt war (vgl. die FHG II 446 zusammengebrachten Stellen), muss er Demetrios unbequem geworden sein, so dass ihn dieser endlich (303 oder 302) aus der Stadt verbannte. In der Urkunde 851 E ist dies in der Auffassung der späteren Zeit durch ἀνθ’ ὧν ἐξέπεσεν ὑπὸ τῶν καταλυσάντων τὸν δῆμον ausgedrückt, vgl. Schubert a. a. O. 111ff. und Ladek 114ff.; die Begründung für die Verbannung bei Plut. Demetr. 24 ist anekdotenhaft.

D. blieb über ein Jahrzehnt in der Verbannung. Wo er sich aufhielt und was er während dieser Zeit trieb, ist nicht überliefert; vielleicht hat er damals begonnen, an seinem Geschichtswerk zu arbeiten. Erst unter dem Archontat des Diokles kehrte er zurück (Ps.-Plut. 851 E), welches von den Neueren in verschiedene Jahre gesetzt wird, noch immer aber am ehesten in 287/286 gehört (De Sanctis a. a. O. 52 und Rivista di filol. XXVIII 1900. 49ff. Köhler zu CIA IV 2, 309 b); aller Wahrscheinlichkeit und dem Ausdruck des Gesuches gemäss (καὶ ὡς κατῆλθεν ἐπὶ Διοκλέους ἄρχοντος ὑπὸ τοῦ δήμου im Gegensatz zu dem früher Gesagten) ist dies zugleich mit der Befreiung Athens von Demetrios Herrschaft erfolgt. Bald nach seiner Rückkehr ward er zum Mitglied des Collegiums der οἱ ἐπὶ τῇ διοικήσει gewählt (Ps.-Plut., dazu Unger a. a. O. 493), in welcher Eigenschaft er die Finanzen durch Sparsamkeit zu heben und die Einkünfte dadurch zu vermehren suchte, [2866] dass er nach damaliger Manier seiner Vaterstadt Spenden seitens der Machthaber zuwandte; er selbst ging als Gesandter zu Lysimachos, von dem er 30 und dann wieder 100 Talente erhielt, und zu dessen Schwiegersohn Antipater, Kassanders Sohn, der 20 Silbertalente schenkte; andrerseits wurde auf seinen Antrag an Ptolemaios von Ägypten eine Gesandtschaft geschickt, welche 50 Talente heimbrachte. Diese Gesandtschaften müssen in die nächste Zeit nach Athens Erhebung fallen (Ladek 121ff.), da Antipater noch 287/286 von Lysimachos ermordet ward (Unger a. a. O. 485. 486). Das letzte uns bekannte Verdienst des D. um Athen bestand darin, dass er Eleusis, welches seit 287 von Athen abgetrennt war, wieder erwarb (nach der richtigen Lesung Niebuhrs bei Ps.-Plut. 851 F καὶ Ἐλευσῖνα κομισαμένῳ τῷ δήμῳ; dieses Ereignis fällt vor den Sommer 285 (De Sanctis a. a. O. 49ff. Niese a. a. O. I 386. Dittenberger zur Syll.² nr. 192 Anm. 19). In welcher Weise D. dies bewerkstelligte, bleibt ungewiss (Vermutungen bei Niese a. a. O. I 386). Er lebte dann noch einige Jahre, wie daraus hervorgeht, dass er 280/279 ein Gesuch um Auszeichnung seines Oheims Demosthenes einbrachte (Ps.-Plut. 847 D); bald darauf muss er in hohem Alter gestorben sein, jedesfalls vor 271/270 (vgl. auch Ladek a. a. O. 72ff.), aus welchem Jahre das Gesuch seines Sohnes Laches stammt, infolge dessen seine Bildsäule errichtet ward (Ps.-Plut. 847 D. E).

D. war auch als Geschichtschreiber thätig (Susemihl a. a. O. I 558. FHG II 445ff.) und verfasste ein Werk Ἱστορίαι (Titel frg. 2. 3), das die Ereignisse hauptsächlich seiner Zeit umfasste; das älteste erhaltene Factum, das darin erwähnt ist, bezog sich auf Aeschines Schauspielerlaufbahn (Anonym, vita Aeschin. 269, dazu Vit. X orat. 840 E. Susemihl I 558, 189); nach frg. 6 war noch Agathokles Ende († 289) erwähnt. Frg. 4 zufolge umfasste es mindestens 21 Bücher. Wie Cic. Brut. 286 bemerkt, war es in rhetorischer Manier verfasst; auch in seinem geschichtlichen Urteil war D. wie als Redner von feindseliger Einseitigkeit, wie seine Äusserungen über Demetrios von Phaleron (frg. 2) und Demetrios Poliorketes (frg. 3. 4) zeigen. Dabei scheute er nicht vor Fälschung der historischen Wahrheit zurück, so dass er Demosthenes Selbstmord leugnete und dessen Tod im Lichte eines Wunders darstellte (frg. 1). Im allgemeinen scheint das Werk von den späteren nicht in grösserem Masse ausgeschrieben worden zu sein; Plutarch citiert es nur zweimal. Wenn Harp. s. Ἴσχανδρος von Διάλογοι des D. spricht, so liegt dabei wahrscheinlich ein Missverständnis vor (v. Wilamowitz a. a. O. 194, 16).

Das Urteil über D. schwankte schon im Altertum; während Timaios (vgl. Polyb. XII 13) gegen D.s Charakter entehrende Verdächtigungen erhob, benützte Polybios diese Gelegenheit, um D. in Schutz zu nehmen und Timaios etwas am Zeuge zu flicken. Die neuere Forschung war bis vor kurzem geneigt, D. in zu idealem Lichte, als ,würdigen Erben seines grossen Oheims‘ zu betrachten; so Grauert Histor. und philol. Analekten (Münster 1833) 331ff. 348ff. Westermann in der ersten Auflage dieser Realencyclop. II 945f. Grote Hist. of Greece² XII 202. 207. 213ff. Droysen [2867] Gesch. des Hellenism.² II 2, 175ff. Schäfer Demosth.² III 388. 395. Dem gegenübertrat v. Wilamowitz (Antigonos von Karystos 189ff.) in weit über das Ziel schiessender Weise auf, indem er D. als elenden Staatsmann, Redner und Menschen bezeichnete, eine Charakterisierung, für welche schon die Überlieferung nicht genügenden Anhalt bietet. Man ist daher bei D.s Beurteilung mit Recht dazu gelangt, einen mittleren Weg einzuschlagen (so Susemihl a. a. O. Niese a. a. O. I 335. Ladek a. a. O. G. De Sanctis a. a. O. II 24. Holm Gesch. Griechenlands IV 98. 110. Pöhlmann Grundriss der griech. Gesch.² 222). D. war sicherlich kein bedeutender Mann, als Politiker ohne Originalität und von schärfster Einseitigkeit, durchaus befangen in dem überlieferten demokratischen Programm, dabei von südlicher Leidenschaftlichkeit, welche vor hässlicher Verunglimpfung und Verleumdung des Gegners nicht zurückschreckte, worin er aber unter den attischen Politikern viele Vorgänger hatte. Allein seine Vaterlandsliebe und Überzeugungstreue, welch letztere mit Recht in Laches Gesuch hervorgehoben wird, sind nicht im geringsten anzuzweifeln, und was wir von ihm hören, lässt auch auf volle Uneigennützigkeit seines Gebarens schliessen; dabei wird man ihm ein gewisses Verwaltungstalent zuschreiben dürfen. Vielleicht mochte ihm, wie Pöhlmann (a. a. O.) annimmt, als Ziel vorschweben – was allerdings auf die Dauer nicht aufrecht zu halten war –, dass Athen eine selbständige Stellung zwischen den damaligen Mächten einnehmen sollte.

Litteratur: Zu den oben genannten Schriften William Scott Ferguson The Athenian Archons of the third and second centuries b. Ch. (SperrSchrift|Cornell Studies in cl. Phil. X) 15ff. und Blass Attische Beredsamkeit III 2, 304; über den Charakter von D.s Beredsamkeit ebd. 308ff. Über seine Reden Baiter-Sauppe Or. att. II 341ff.