Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Kultpersonal in d. dionysischen Religion
Band III,1 (1897) S. 10131017
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2) Wie es in der Entwicklung der griechischen Religion eine Stufe gegeben hat, auf welcher das göttliche numen in leblosen Fetischen, in Steinen, Brettern und Klötzen gesucht und verehrt wurde, so ist in ihr auch die zweite Seite des Fetischismus, der sog. Totemismus noch deutlich erkennbar, die Stufe, auf der man sich die Götter und die Vorfahren des lebenden Menschengeschlechts in Tiergestalt vorstellte. Zahlreiche Spuren, deren Sammlung eine Erfolg verheissende Arbeit wäre, weisen daraufhin: die Epitheta der Götter, deren Ursprung von Tiernamen genommen ist (Zeus Lykaios, Hera Boopis), die heiligen Tiere, welche als Attribute der Gottheiten erscheinen (der Adler des Zeus, die Eule der Athene, die Schlange der unterirdischen Götter) und namentlich auch das Kultpersonal, das durch Tiernamen bezeichnet wird, wie die ἄρκτοι der brauronischen Artemis, die πῶλοι der lakonischen Demeter, die [1014] ταῦροι des ephesischen Poseidon, die ἵπποι des Dionysos der athenischen Iobakchen (Ed. Meyer Forschungen zur alten Gesch. I 60. 69). S. Wide Lakon. Kulte 79 (vgl. Athen. Mitt. XIX 281) hat namentlich auf diesen dritten Punkt hingewiesen, auf die Fälle, in denen im weiteren Verlaufe der Entwicklung das Tierische von den Göttern auf die Umgebung des Gottes übergegangen ist. So sind auch die B. ein Zeugnis für diese frühe Periode der griechischen Religion. Sie führen uns in den Kreis der dionysischen Religion und zwar in einen solchen Kult, in dem Dionysos ursprünglich in Tiergestalt verehrt wurde, als ἄξιος ταῦρος, zu dem die Frauen in Elis beteten (Preller-Robert Griech. Myth. I⁴ 695), und der in Thespiai (IGS I 1787) wahrscheinlich den Kultnamen Ταῦρος hatte. Ob diese Frauen selbst einmal als βόες bezeichnet worden sind, wissen wir allerdings nicht, und es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sich R. Schoell (Satura philologa in hon. H. Sauppii 177) und A. Dieterich (De hymnis Orphicis 5) mit ihrer Beurteilung der βοῦς in der Inschrift aus Ilion CIG II 3605 geirrt haben (Fraenkel Inschr. von Pergamon II 485). Aber dass es in dem Kult des Dionysos ein Personal gegeben hat, das den Namen βόες trug, dafür ist das priesterliche Amt der B. ein deutliches Zeugnis. Wenn der Dionysoskult Hirten kannte, denen eine sacrale Function zukam, dann hat es in ihm auch βόες gegeben, die den ἄρκτοι der Artemis Brauronia u. s. w. entsprochen haben werden.

In Ionien und am Pontos vor allem lassen sich B. in mystischen Dionysosdiensten nachweisen, wie es zusammenfassend bei Lukian περὶ ὀρχήσεως 79 heisst: ἡ μέν γε Βακχικὴ ὄρχησις ἐν Ἰωνίᾳ μάλιστα καὶ ἐν Πόντῳ σπουδαζομένη, καίτοι σατυρικὴ οὖσα, οὕτω κεχείρωται τοὺς ἀνθρώπους τοὺς ἐκεῖ, ὥστε κατὰ τὸν τεταγμένον ἕκαστοι καιρὸν ἁπάντων ἐπιλαθόμενοι τῶν ἄλλων κάθηνται δι’ ἡμέρας Τιτᾶνας καὶ Κορύβαντας καὶ Σατύρους καὶ βουκόλους ὁρῶντες· καὶ ὀρχοῦνται γε ταῦτα οἱ εὐγενέστατοι καὶ πρωτεύοντες ἐν ἑκάστῃ τῶν πόλεων οὐχ ὅπως αἰδούμενοι, ἀλλὰ καὶ μέγα φρονοῦντες ἐπὶ τῷ πράγματι μᾶλλον ἤπερ ἐπ’ εὐγενείαις καὶ λειτουργίαις καὶ ἀξιώμασι προγονικοῖς, und wie es vier in diesen Gegenden gefundene Inschriften bestätigen: a) aus Apollonia am Pontos CIG II 2052 neben λικναφόρος, κισταφόρος, ἀρχιμύστης, ἀρχιβασσάρα; b) aus Perinthos, Mommsen Ephem. epigr. III p. 236, 5. Kaibel Rh. Mus. XXXIV 211. Dumont Mélanges d’archéol. et d’épigraphie 396, 74 Z. 8; c) aus Pergamon (1. Jhdt. n. Chr.) Fraenkel Inschr. von Pergamon II 485—488 neben ὑμνοδιδάσκαλοι und Σειληνοί; d) aus Ephesos Inscr. of the British Mus. III 229 nr. DCII d, ο. Hinzu kommen noch einige von Dieterich a. a. O. 9 gesammelte Inschriften aus Rom (CIL VI 504. 510. IGI 2045) und ein in Paris befindlicher Zauberpapyrus aus Ägypten (Dieterich a. a. O.).

In den letzten Jahren hat die Ansicht mehr und mehr Anhänger gefunden, die in den B. speciell Beamte der orphischen Dionysos-Kulte sieht, und E. Maass Orpheus 188 ist soweit gegangen, in dem Orph. Hymn. I 10 und XXXI 7 erwähnten B. Orpheus selber als den heiligen Sprecher zu erkennen, wogegen sich schon E. Rohde Neue Heidelb. Jahrb. 1896, 13 gewandt hat. Die Stellung, [1015] welche man zu dieser Ansicht einnimmt, hängt von der Anschauung ab, die man von dem sog. orphischen Hymnenbuch gewonnen hat. Wer der Meinung ist, dass dies Buch für den liturgischen Gottesdienst einer orphischen Gemeinde gedichtet ist, wird geneigt sein, die B. so zu beurteilen, wie es jetzt Dieterich, Reitzenstein und Maass thun. Wer aber, wie ich, auf dem Standpunkt steht, dass wir in diesem Hymnenbuche ein aus Liedern der allerverschiedensten Kulte zusammengesetztes, in theogonischer Reihenfolge künstlich geordnetes Buch besitzen, dessen Redactor auch Interpolationen aus der alten rhapsodischen Theogonie des Orpheus vorgenommen hat, der wird lieber die B. im allgemeinen als Beamte mystischer Dionysosdienste gelten lassen, als sie nun überall als Vertreter eines specifisch orphischen Kultes aufzufassen. Denn wir kommen sonst leicht in die Gefahr, die Mannigfaltigkeit der mystischen Dionysosdienste zu unterschätzen. Gerade die beiden orphischen Hymnen, die sich in ihren Schlussversen an den B. wenden, sind frei von jeder Bezugnahme auf orphische Lehren; sie gehören beide nicht einmal in einen Dionysosdienst, sondern sind Kultlieder für Hekate (bei der man nicht wegen Paus. II 30, 2 an die aiginetische zu denken braucht) und die Kureten von Kreta, für das schon Euripides einen βούτας bezeugt. Nur ein einziges Zeugnis ist mir bekannt, in dem ein B. erwähnt wird, der mit einem orphischen Kult in Beziehung stehen kann, es ist das die von Cyriacus von Ancona in Perinthos abgeschriebene Inschrift (b), deren richtige Herstellung erst A. Dieterich a. a. O. 8 verdankt wird. Denn der Orakelspruch der Sibylle, welcher unter dem ἀρχιβουκόλος Σπέλλιος Εὐήθις gegeben ist, spielt in der unzweideutigsten Weise auf das bekannteste Dogma der orphischen Theologie an, auf die Lehre von der Entstehung des Menschengeschlechtes aus der Asche der von Zeus erschlagenen Titanen, an welche sich die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele anknüpfte. Aber diese eine wirklich sichere Anspielung auf die orphische Lehre berechtigt uns nicht, da überall von orphischen Vereinen zu reden, wo uns B. begegnen. Mit Recht haben Ο. Cr(usius) Lit. Centralblatt 1894, 727 und G. Knaack (Berl. philol. Wochenschr. 1895, 1160) hiegegen energischen Widerspruch erhoben (vgl. den Artikel Bukolik). Von einem irgendwie tief eingreifenden Einfluss der Orphik auf Theokrit kann nicht die Rede sein; am wenigsten sind dafür die Λῆναι ἢ Βάκχαι beweisend, die von Maass Herm. XXVI (1891) 178, Reitzenstein Epigr. und Skolion 217 und wohl auch von Knaack (vgl. oben S. 1006) unrichtig beurteilt werden; vgl. darüber Kern in Wendlands und Kerns Beitr. zur Geschichte der griech. Religion und Philosophie 97.

Während nun die Inschriften das Amt der B. lediglich für die römische Zeit und nur für die von Lukian genannten Gegenden erweisen, giebt es eine Anzahl litterarischer Zeugnisse, die uns nach Griechenland selber und in das fünfte vorchristliche Jahrhundert hinaufführen. Der Versuch Reitzensteins a. a. O. 207 schon aus Pindar. Ol. XIII 18 den Dithyrambus als Kultlied der B. zu erschliessen, scheint mir allerdings [1016] missglückt zu sein, trotzdem es sicher ist, dass die B. des Kratinos, unser ältestes Zeugnis, mit einem Dithyrambus begonnen haben (Kock FCA I 16), und wir also auch hier in den Kreis des Dionysos gewiesen werden, genau wie in Aristophan. Vesp. 10 (τὸν αὐτὸν ἄρ’ ἐμοὶ βουκολεῖς Σαβάζιον); denn der thrakisch-phrygische Gott Sabazios ist sehr früh mit Dionysos identifiziert worden. Auch Euripides, der genaue Kenner sacraler Institutionen, bezeugt die B. als Diener des Dionysos und zwar des thebanischen, wie das Bruchstück aus der Antiope Nauck FTG² p. 421 frg. 203 beweist, nach dem die Pflicht eines B. darin besteht, dass er die altheilige Säule des Dionysos mit Epheu bekränzt (Archaeol. Jahrb. XI [1896] 113; vgl. auch v. Wilamowitz Aristot. und Athen II 42, 13, nach dem die θάλαμοι βουκόλων [so v. Wilamowitz statt βουκόλον] dem athenischen Βουκολεῖον entsprechen). Von einem orphischen Kultus ist also auch hier nicht die Rede; es ist der grosse Gott von Theben, für dessen Kult Euripides einen B. anführt. Aber Euripides kennt auch bereits einen B. in Kreta; denn eine glänzende Emendation von H. Diels (Deutsche Litt.-Ztg. 1889, 1081) hat uns die Erwähnung eines νυκτιπόλου Ζαγρέως βούτας in den Kretern des Euripides (frg. 472 N.²) gelehrt. Aber bewiesen ist auch hier nicht, dass der von Euripides erwähnte kretische Zagreuskult ein orphischer Gottesdienst gewesen ist, wenn auch E. Maass Orpheus 103, 133 mit Recht gegen Ed. Meyer Gesch. des Altert. II § 460 betont hat, dass der βούτας des Zagreus von dem kurz vorher bei Euripides ebenfalls erwähnten Διὸς Ἰδαίου μύστης zu trennen ist, dass Euripides hier die Priester von zwei verschiedenen Kulten, dem des idaeischen Zeus und dem des Zagreus sprechen lässt.

Kratinos’ Komoedie bezeugt die B. für Athen. Wir kennen jetzt auch den Ort, an dem diese in Athen ihren Sitz hatten. Es ist das nach Aristot. Ἀθηναίων πολιτεία 2, 26 Kaib.-v. Wilamowitz in der Nähe des Prytaneions gelegene Βουκολεῖον, das seinen Namen von diesen priesterlichen Beamten des Dionysos (ἀλλ’ ὁ μὲν βασιλεὺς εἶχε τὸ νῦν καλούμενον Βουκολεῖον πλησίον τοῦ πρυτανείου· σημεῖον δέ· ἔτι καὶ νῦν γὰρ τῆς τοῦ βασιλέως γυναικὸς ἡ σύμμειξις ἐνταῦθα γίνεται τῷ Διονύσῳ καὶ ὁ γάμος) empfangen hat. Von diesem Βουκολεῖον wieder ist dann der in den Athen. Mitt. XIX (1894) 255, 122 von S. Wide publicierten Statuten der Iobakchen genannte βουκολικός abzuleiten, wie das zuerst W. Doerpfeld vorgeschlagen hat (vgl. auch Poland Griech. Studien für Herm. Lipsius 1894, 84). Maass Orpheus 56. 62 fasst den βουκολικός dagegen als den Priester des Orpheus auf, in dem er den B. κατ’ ἐξοχήν erkennen will. Letztere Ansicht ist bereits oben zurückgewiesen worden; und mit ihr fällt auch Maass’ Versuch, die Iobakchen als einen orphischen Dionysosverein zu erweisen (F. Dümmler Theolog. Litt.-Ztg. XX 1895, 458).

Der Schluss, zu dem diese Übersicht hindrängt, ist also der: B. sind sacrale Beamte im Dienst des Dionysos und erinnern in ihrem Namen an den ursprünglich in Stiergestalt verehrten Gott. Sie finden sich aber vereinzelt auch in anderen Kulten, z. B. in Kreta im Kult des unterirdischen Zagreus und der Kureten und im Dienst der [1017] Hekate. Einen ἀρχιβουκόλος des Apollon Sminthios aus mythischer Zeit erwähnte Polemon frg. 31 Preller. Über ihre sacrale Function wissen wir wenig: wir kennen aus den Inschriften einen ἀρχιβουκόλος und wissen, dass der Thyrsos auch βουκολικὸν κέντρον genannt wurde (Crusius Rh. Mus. XLV 1890, 265). In Theben haben sie nach dem angeführten Bruchstück aus Euripides’ Antiope die Pflicht, den alten Fetisch des Dionysos mit Epheu zu bekränzen, wie das die Archaeol. Jahrb. XI 1896, 115 veröffentlichte kleine Lekythos aus Rhodos illustriert. Über die strengen Vorschriften der Lebensführung, denen die B. in Kreta unterworfen waren, orientiert das Fragment aus den Kretern des Euripides (Reitzenstein 208). Litteratur: R. Schoell De communibus et collegiis quibusdam Graecorum in der Satura philologa Herm. Sauppio oblata 1879, 176. O. Crusius Rh. Mus. XLV 1890, 266. A. Dieterich De hymnis Orphicis capitula quinque, Marburger Habilitationsschrift 1891, 3. R. Reitzenstein Epigramm und Skolion 1893, 193. M. Fraenkel Inschriften von Pergamon II 485. E. Rohde Psyche 308, 2. E. Maass Orpheus 1895, 43. 180.

[Kern.]