Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kristall“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 228235
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Kristall. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 228–235. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kristall (Version vom 26.11.2021)

[228] Kristall (v. griech. krýstallos, „Eis“, zunächst auf den Bergkristall, den man für im höchsten Grad gefrornes Wasser hielt, übertragen und von diesem auf alle übrigen Kristalle), eine regelmäßige, den Körpern von bestimmter chemischer Zusammensetzung wesentlich zukommende, ebenflächig begrenzte Form. In den Fällen vollkommensten Zustandes, der unter besonders günstigen Verhältnissen der Bildung entsteht, ist die ebenflächige Begrenzung eine allseitige, wie sie (wenn auch nicht häufig) an den eingewachsenen natürlichen Kristallen und an sorgsam hergestellten künstlichen beobachtet werden kann. Genügender Raum (Bildung in einer nachgiebigen Matrix, freies Hängen in der die kristallisierende Substanz gelöst enthaltenden Flüssigkeit) und langsamer Verlauf des Kristallisationsprozesses sind im allgemeinen die zur Hervorbringung großer und vollkommener Kristalle günstigen Bedingungen. Von diesen allseitig ebenflächig begrenzten Körpern bis zu den kristallinischen Körnern, die oft nur noch einige, öfters gar keine gesetzmäßigen Flächen mehr erkennen lassen, kommen die mannigfachsten Übergänge vor, ebenso wie in Bezug auf die Dimensionen von metergroßen Kristallen bis zu mikroskopischer Kleinheit derselben (Kristallmehl). [229] Die Wesentlichkeit der Kristallgestalt drückt sich teils durch den Umstand aus, daß eine bestimmte Form einer bestimmten chemischen Zusammensetzung entspricht (vgl. Mineralogie, Heteromorphie, Isomorphie, Pseudomorphosen), teils durch den Zusammenhang der äußern Gestalt mit der innern Struktur (vgl. Mineralien, Spaltbarkeit), einen Zusammenhang, der sich bei mangelhafter Entwickelung der äußern Form zur Ergänzung der Beobachtung und Ausdeutung dieser äußern Form benutzen läßt. Die Regelmäßigkeit der Kristalle endlich erlaubt eine mathematische Behandlungsweise der Formen, wie sie Gegenstand einer besondern Wissenschaft, der Kristallographie (Kristallologie), ist. Die Fähigkeit, Kristalle zu bilden, besitzt eine große Mehrheit der anorganischen (natürlichen und künstlich dargestellten) und eine ebenfalls nicht unbedeutende Anzahl der organischen chemischen Verbindungen. Nur ist der Grad dieser Fähigkeit ein sehr verschiedener, so daß gewisse chemische Verbindungen fast nur, andre bloß selten in Kristallen zu beobachten sind. Körper, denen die Fähigkeit, Kristalle zu bilden, überhaupt mangelt, heißen amorph (s. d. und unter „Mineralien“). Kristalle können sich bilden bei jeder Art des Übergangs kristallisierbarer (kristallinischer) Substanzen aus dem flüssigen oder gasförmigen Aggregatzustand in den festen (durch Abkühlung von Dämpfen, Verdunstung oder Abkühlung von Lösungen; s. Kristallisation).

Die Kristallgestalten sind außerordentlich zahlreich; so kennt man an der einzigen Mineralspezies Kalkspat, allerdings einer der formenreichsten, gegen 200 verschiedene Formen, und ebenso kann die einzelne Form mitunter sehr flächenreich sein. Naumann beschreibt einen Flußspatkristall, der von 338 einzelnen Flächen eingeschlossen ist. Trotz dieser Mannigfaltigkeit gelingt es, die Kristalle in verhältnismäßig wenige Abteilungen, sogen. Systeme, zu gruppieren, deren Grundeigenschaften sich am leichtesten charakterisieren lassen, wenn man zunächst nur von den sogen. einfachen Formen ausgeht, d. h. von denjenigen, die von nur einerlei untereinander kongruenten Flächen eingeschlossen werden. Ferner wird für die folgende Betrachtung eine vollkommene Ausbildung und allseitig ebene Begrenzung der Form ohne Verzerrungen vorausgesetzt. Das Prinzip der kristallographischen Einteilung wird aus einem Vergleich der Fig. 1–9 leicht erkannt werden. Die zur ersten Horizontalreihe vereinigten Figuren sind in rein mathematischem Sinne nahe verwandt: lauter vierseitige Doppelpyramiden, nur mit dem Unterschied, daß Fig. 1 aus lauter gleichseitigen, Fig. 2 aus gleichschenkeligen, Fig. 3 aus ungleichseitigen Dreiecken gebildet ist; ebenso stehen in der zweiten Horizontallinie (Fig. 4, 5 u. 6) lauter nahe verwandte Formen: Parallelepipede mit geringen, leicht erkennbaren Unterschieden. Kristallographisch gehören aber vielmehr die in einer Vertikalreihe stehenden Körper zusammen, so das Oktaeder (Fig. 1) mit dem Würfel (Fig. 4), die quadratische Pyramide (Fig. 2) mit der quadratischen Säule (Fig. 5), die rhombische Pyramide (Fig. 3) mit der rhombischen Säule (Fig. 6), wobei bei den beiden Säulen (Fig. 5 u. 6) noch hervorzuheben ist, daß nur die den K. seitlich begrenzenden vier Flächen als zu der einfachen Form gehörig zu betrachten sind, da die obern und untern Flächen zwar untereinander, nicht aber mit den Seitenflächen kongruent sind. Bei dieser Art der Einteilung geht die Kristallographie von den Symmetrieverhältnissen aus, die ihrerseits den einfachsten und deutlichsten Ausdruck durch die Charakteristik bestimmter, innerhalb der Kristallformen gezogen gedachter Linien, der sogen. Achsen, nach Zahl, relativer Größe und gegenseitiger Lage findet. So lassen sich die beiden Figuren der ersten Vertikalreihe trotz äußerer Verschiedenheit auf dasselbe Achsensystem (Fig. 7) beziehen, d. h. auf drei untereinander gleiche und aufeinander senkrechte Achsen. Ähnlich

Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3.
Fig. 4. Fig. 5. Fig. 5.
Fig. 7. Fig. 8. Fig. 9.

sind die Figuren der zweiten Vertikalreihe auf ein System dreier aufeinander senkrechter Achsen beziehbar, von denen zwei gleich, die dritte ungleich (größer) ist (Fig. 8), die Figuren der dritten Vertikalreihe auf drei ungleiche, aufeinander senkrechte Achsen (Fig. 9). Im ganzen lassen sich nach diesem Prinzip der Beziehbarkeit verschiedener Formen auf einerlei Achsen sechs Systeme unterscheiden, deren charakteristische Merkmale aus folgender Übersicht erkennbar sind:

Drei Achsen, senkrecht, gleich: Tesserales System.
Drei Achsen, senkrecht, zwei gleich, eine ungleich: Quadratisches System.
Drei Achsen, senkrecht, ungleich: Rhombisches System.
Drei Achsen, von denen eine mit der zweiten einen schiefen Winkel bildet, während sie auf der dritten (ebensowohl wie die zweite und dritte untereinander) senkrecht steht: Monoklines System.

[230]

Drei Achsen, untereinander lauter schiefe Winkel bildend: Triklines System.
Vier Achsen, drei gleiche, eine ungleiche, die gleichen gleiche Winkel (60°) bildend, die ungleiche senkrecht zu den gleichen: Hexagonales System.

Diese zunächst nur von einer gewissen mathematischen Betrachtungsweise aus aufgestellten sechs Kristallsysteme erhalten nun gewissermaßen eine natürliche Bestätigung durch den Erfahrungssatz: Jede überhaupt kristallisierende (also nicht amorphe) Mineralspezies und sonstige chemische Verbindung bringt nur Formen eines und desselben Kristallsystems zur Entwickelung, niemals Formen, welche verschiedenen Kristallsystemen angehören. Im folgenden sind solche (zunächst nur einfache, s. oben) Formen der verschiedenen Kristallsysteme aufgeführt. Die Formen sind weiter durch die Lage ihrer Flächen zu den Achsen charakterisierbar, aufeinander zurückzuführen und aus einer einfachsten Form des Systems, der sogen. Grundform, ableitbar. Diese Betrachtungen, welche auch zu präzisen Bezeichnungsmethoden der Kristallgestalten führen, liegen aber jenseit der von unserm Werk einzuhaltenden Grenzen.

I. Tesserales (reguläres, isometrisches) System.

Fig. 10, Sechsflächner: Würfel (Hexaeder). Fig. 11, Achtflächner: Oktaeder. Fig. 12, Zwölfflächner: Rhombendodekaeder (Granatoeder).

Fig. 10. Fig. 11. Fig. 12. Fig. 14.
Würfel Oktaeder Rhombendodekaeder Pyramiden-Oktaeder
Fig. 13. Fig. 15. Fig. 16.
Pyramidenwürfel Trapezoeder Achtundvierzigflächner
Kristallformen des tesseralen Systems.

Fig. 13–15, Vierundzwanzigflächner: Pyramidenwürfel (Tetrakishexaeder), Pyramidenoktaeder (Triakisoktaeder), Trapezoeder (Ikositetraeder, fälschlich Leucitoeder; Leucit kristallisiert vielmehr im quadratischen System). Fig. 16, Achtundvierzigflächner: Hexakisoktaeder (Tesserakontaoktaeder). – Beispiele tesseral kristallisierender Körper: Die meisten schweren Metalle (Quecksilber nur in großer Kälte, bei gewöhnlicher Temperatur amorph), Diamant, Bleiglanz, Speiskobalt, Zinkblende, Fahlerz, Eisenkies, Flußspat, Steinsalz, Spinell, Granat; arsenige Säure, Alaun, Salmiak.

II. Quadratisches (tetragonales, monodimetrisches) System.

Die Figuren werden so gestellt, daß die ungleiche (Vertikal-, Haupt-) Achse senkrecht steht, die gleichen (Horizontal-, Neben-) Achsen also in die Augenebene fallen. Fig. 17, quadratische Pyramide (tetragonale Pyramide, quadratisches Oktaeder, Protopyramide, Pyramide erster Ordnung). Fig. 18, quadratische Säule (Prisma, Protoprisma, nur aus den vier Seitenflächen bestehend). Von diesen beiden (Pyramide und Säule erster Ordnung) durch die Stellung verschieden

Fig. 17. Fig. 18.
Quadratische Pyramide Quadratisches Prisma
Fig. 20. Fig. 19.
Achtseitiges Prisma  Achtseitige Pyramide
Kristallformen des quadratischen Systems.

sind die Pyramiden und Säulen zweiter Ordnung (Deuteropyramide, Deuteroprisma), bei denen die Nebenachsen nicht in den Ecken, resp. Kanten austreten, sondern in den Mittelpunkten der Kanten, resp. der Flächen. Fig. 19, achtseitige Pyramide (ditetragonale Pyramide, Dioktaeder). Fig. 20, achtseitige Säule (ditetragonales Prisma). Die in unsern Fig. 18 u. 20 den Körper nach oben u. unten begrenzende Form ist das Flächenpaar (Basis, Endfläche, Pinakoid). Beispiele quadratisch kristallisierender Körper: Kupferkies, Zinnerz, Rutil, Anatas, Zirkon, Leucit, Honigstein; Bor, Quecksilberjodid.

III. Rhombisches (orthorhombisches, anisometrisches) System.

Die Formen werden beliebig nach einer der Achsen (Vertikalachse, Hauptachse) aufrecht gestellt, wodurch sich die beiden andern als größere (Makrodiagonale) und kleinere (Brachydiagonale) Nebenachse unterscheiden lassen. Von der dargestellten Pyramide (Fig. 21) können sich andre durch spitzere, nach der Richtung der Hauptachse gestreckte Form (Pyramiden der Hauptreihe) unterscheiden, andre durch eine Streckung in der Richtung der Makrodiagonale (makrodiagonale [231] Pyramiden, Makropyramiden) und wieder andre durch eine Streckung in der Brachydiagonale (brachydiagonale Pyramiden, Brachypyramiden). Ferner kommen neben den aufrechten (Fig. 22) liegende Säulen

Fig. 21. Fig. 23.
Rhombische Pyramide Makrodiagonales Doma
Fig. 22. Fig. 24.
Rhombisches Prisma Brachydiagonales Doma
Kristallformen des rhombischen Systems.

(Domen, Plural von Doma) vor, und zwar werden teils makrodiagonale Domen (Makrodomen, Querdomen, Fig. 23), teils brachydiagonale Domen (Brachydomen, Längsdomen, Fig. 24) unterschieden. Endlich treten noch drei Flächenpaare auf, eins, den K. nach oben und unten begrenzend, das basische Pinakoid (Endfläche, Basis), eins, das rechts und links liegt, das brachydiagonale Pinakoid (Brachypinakoid, Längsfläche), und eins, das vorn und hinten auftritt, das makrodiagonale Pinakoid (Makropinakoid, Querfläche). Beispiele rhombisch kristallisierender Körper: Schwefel, Antimonglanz, Wismutglanz, Auripigment, Strahlkies, Arsenkies, Pyrolusit, Baryt, Cölestin, Anhydrit, Strontianit, Witherit, Aragonit, Andalusit, Topas, Kieselzink; Bittersalz, Kalisalpeter, Chlorbaryum, salpetersaures Silber, Weinstein.

IV. Monoklines (monoklinisches, monoklinoedrisches, klinorhombisches) System.

Die Figuren werden nach einer der beiden Achsen, welche untereinander den schiefen Winkel bilden, aufrecht gestellt (Hauptachse); dann unterscheiden sich die beiden übrigen dadurch, daß die eine, am Beschauer

Fig. 25. Fig. 26. Fig. 27.
Monokline Pyramide Orthodoma Trikline Pyramide
Kristallformen des monoklinen u. triklinen Systems.

vorüberstreichende Nebenachse senkrecht zur Hauptachse steht (Orthodiagonale), die andre einen schiefen Winkel mit derselben bildet (Klinodiagonale). Pyramiden, Prismen, Domen und Flächenpaare sind dann ähnlich wie im rhombischen System zu bezeichnen, nur daß die Adjektive „orthodiagonal“ und „klinodiagonal“ anzuwenden sind. Nur muß noch hervorgehoben werden, daß, den Achsenlagen entsprechend, weder Pyramiden (Fig. 25) noch Orthodomen (Fig. 26) dem Begriff der einfachen Formen entsprechen, indem nur je die Hälfte der begrenzenden Flächen untereinander kongruent ist. Sie zerfallen demnach in zwei Hälften (Hemipyramiden und Hemidomen, in den Figuren mit + und − bezeichnet), eine mathematische Konsequenz, der sich auch die Natur dadurch unterwirft, daß oft an Kristallen nur solche halbe Pyramiden und Domen entwickelt sind. Beispiele monoklin kristallisierender Körper: Realgar, Malachit, Kupferlasur, Gips, Epidot, Pyroxen, Hornblende, Orthoklas; Eisenvitriol, chlorsaures Kalium, Borax, Bleizucker, Oxalsäure, Weinsäure.

V. Triklines (triklinisches, triklinoedrisches, klinorhomboidisches, asymmetrisches) System.

Wie im rhombischen System ist die Aufstellung der Figuren eine willkürliche, und die zu Nebenachsen degradierten Achsen müssen auch wie dort als Makrodiagonale und als Brachydiagonale unterschieden werden. Da sich, der Achsenlage entsprechend, alle Figuren in Flächenpaare als einfache Formen auflösen (die Pyramiden in Viertelspyramiden, Tetartopyramiden, in Fig. 27 mit und bezeichnet) und die Natur auch hier häufig nur solche Teilformen zur Entwickelung bringt, so leiden die Kristalle des triklinen Systems häufig an einer großen Asymmetrie, welche der kristallographischen Interpretation oft Schwierigkeiten bereitet. Beispiele triklin kristallisierender Körper: Albit, Oligoklas, Labradorit, Anorthit; Kupfervitriol, Traubensäure.

VI. Hexagonales (monotrimetrisches) System.

Die Figuren werden nach der ungleichen (Vertikal-, Haupt-) Achse senkrecht aufgestellt, wodurch die

Fig. 28. Fig. 30.
Hexagonale Pyramide Hexagonales Prisma
Fig. 29. Fig. 31.
Zwölfseitige Pyramide Zwölfseitiges Prisma
Kristallformen des hexagonalen Systems.

drei gleichen (Horizontal-, Nebenachsen) in die Augenebene des Beschauers fallen. Hierdurch ergibt sich eine vollkommene Analogie mit den Gestalten des quadratischen Systems, die sich in der übereinstimmenden Unterscheidung von Pyramiden u. Säulen zweiter Ordnung von denen erster Ordnung durch eine veränderte Stellung zu den Achsen ausdrückt. Fig. 28, hexagonale Pyramide (hexagonales Dodekaeder). Fig. 29, zwölfseitige Pyramide (dihexagonale Pyramide, Didodekaeder). Fig. 30, hexagonale Säule [232] (Prisma erster Ordnung, Protoprisma). Fig. 31, zwölfseitige Säule (dihexagonales Prisma). Wie im quadratischen System kann ein Flächenpaar (Basis, Pinakoid) den Kristall nach oben und unten abgrenzen (vgl. Fig. 30 u. 31). Beispiele hexagonal kristallisierender Körper: Zinnober, Rotgüldigerz, Eis, Quarz, Roteisenstein, Korund, Apatit, Pyromorphit, Kalkspat, Bitterspat, Magnesit, Eisenspat, Turmalin, Smaragd; Magnesium, Zink, Tellur, Arsen, Antimon, Wismut.

Zu diesen einfachen Formen kommen weitere hinzu, welche zu den bisher besprochenen in dem Verhältnis stehen, daß ihre Flächen gegen die Achsen genau dieselbe Lage besitzen wie diejenige der bisher geschilderten, daß aber nur die symmetrisch um die Achsen verteilte Hälfte der Flächen oder das Viertel derselben zur Entwickelung kommt. Dadurch entstehen aus den bisher beschriebenen vollflächigen (holoedrischen, daher: Holoedrie, Pantoedrie) halbflächige (hemiedrische, daher: Hemiedrie) oder viertelflächige (tetartoedrische, daher: Tetartoedrie) Gestalten. Die Art und Weise der Ableitung der Hemieder aus ihren holoedrischen Stammgestalten mag aus den beiden Beispielen, die wir hier nebeneinander stellen, entnommen werden. Dadurch, daß in dem Oktaeder (Fig. 32) und in dem Pyramidenwürfel (Fig. 34) nur die schraffierten Flächen zur Entwickelung kommen, die unschraffierte Hälfte der Flächen verschwindet, entsteht im erstern Fall das Tetraeder (Fig. 33), im letztern Fall das Pentagondodekaeder (Fig. 35). Wir fügen einige Abbildungen

Fig. 32.
Fig. 33.
Fig. 34.
Fig. 35.
Ableitung zweier Tetraeder aus dem Oktaeder Tetraeder Ableitung zweier Pentagon­dodekaeder aus dem Pyramiden­hexaeder Pentagon­dodekaeder
Fig. 36.

Deltoid­dodekaeder
Fig. 37.

Trigon­dodekaeder
Fig. 38.

Hexakis­tetraeder
Fig. 39.

Dyakis­dodekaeder
Fig. 40.

Quadratisches Sphenoid
Fig. 41.

Quadratisches Skalenoeder
Fig. 42.

Rhombisches Sphenoid
Fig. 44.

Rhomboeder
Fig. 45.

Rhomboeder
Fig. 46.

Hexagonales Skalenoeder
Fig. 43.

Rhomboeder
Hemieder.

auf ähnliche Weise ableitbarer Hemieder samt der Angabe ihrer holoedrischen Stammgestalten bei.

  Holoeder: Hemieder:
Tesserales System: Oktaeder Tetraeder (Fig. 33)
Pyramidenoktaeder Deltoiddodekaeder (Fig. 36)
Pyramidenhexaeder Pentagondodekaeder (Pyritoeder, Fig. 35)
Trapezoeder Trigondodekaeder (Pyramidentetraeder, Fig. 37.)
Hexakisoktaeder Gebrochenes Pyramidentetraeder (Hexakistetraeder, Fig. 38)
Dyakisdodekaeder. (Gebrochenes Pentagondodekaeder, Fig. 39)
Quadratisches System: Pyramide Quadrat. Sphenoid (Fig. 40)
Achtseitige Pyramide Quadratisches Skalenoeder (Fig. 41)
Tritopyramide (Pyramide 3. Ordnung)
Achtseitige Säule Tritoprisma (Säule 3. Ordn.)

[233]

Rhombisches System: Pyramide Rhomb. Sphenoid (Fig. 42)
Hexagonales System: Pyramide Rhomboeder (Fig. 43–45)
Zwölfseitige Pyramide Skalenoeder (Fig. 46)
Tritopyramide (Pyramide 3. Ordnung)
Zwölfseitige Säule Tritoprisma (Säule 3. Ordnung)

Der große Flächenreichtum einzelner Kristalle entsteht durch die Erscheinung der Kombination. Es beteiligen sich nämlich sehr häufig an der Zusammensetzung einer Gesamtkristallgestalt nicht nur eine der bisher geschilderten Formen, sondern zwei, drei und mehr, wie es ja sogar einfache Formen gibt, die als den Raum nicht allseitig begrenzend (sogen. offene Formen), überhaupt gar nicht anders gedacht werden können als mit andern kombiniert: die Säulen, Domen und Flächenpaare unter den oben geschilderten einfachen Formen. Dabei bedingt nicht nur die Zahl der gleichzeitig entwickelten Formen den Charakter der Kombination, sondern auch das Vorwalten der einen oder andern Form gegenüber den zurücktretenden. Bei diesen Kombinationen ist es eine bloße Konsequenz des schon oben formulierten Satzes, daß jede Substanz nur Formen eines u. desselben Kristallsystems hervorbringe, wenn ausgesagt wird, daß auch die Kombination sich nur unter Formen eines und desselben Kristallsystems vollziehe u. verschiedenen Systemen angehörige Formen nie zusammentreten können. Je nachdem sich zwei, drei oder mehr Formen an einer Kombination beteiligen, spricht man von zweizähligen (binären), dreizähligen (ternären), allgemein von vielzähligen Kombinationen. Die folgenden Figuren geben Beispiele aus den verschiedenen Systemen.

Fig. 47. Fig. 48. Fig. 49. Fig. 50.
Tesserale Kombination: Oktaeder mit Würfel Tesserale Kombination: Würfel mit Oktaeder Tesserale Kombination: Oktaeder mit Würfel im Gleich­gewicht Tesserale Kombination: Oktaeder mit Pentagon­dodekaeder
Fig. 51. Fig. 52. Fig. 53. Fig. 54. Fig. 55.
Tesserale Kombination: Pentagon­dodekaeder mit Oktaeder im Gleich­gewicht Quadratische Kombination: Prisma mit Pyramide Quadratische Kombination: Prisma 2. Ordn. mit Pyramide Rhombische Kombination: Prisma, Brachy­prisma, Pyramide Monokline Kombination: Säule, Klino­pinakoid und Hemi­pyramide
Fig. 56. Fig. 57. Fig. 58. Fig. 59.
Hexagonale Kombination: Prisma, Pyramide, Basis Hexagonale Kombination: Prisma und Pyramide Hexagonale Kombination: Prisma und Rhomboeder Hexagonale Kombination: Prisma 2. Ordnung mit Rhomboeder
Kombinationen.

Fig. 47, 48 u. 49 sind Kombinationen (Bleiglanz) gleicher tesseraler Formen: Oktaeder und Würfel, einmal das Oktaeder vorwaltend (Fig. 47), das andre Mal das Hexaeder (Fig. 48), während Fig. 49, der sogen. Mittelkristall, beide Formen im Gleichgewicht aufweist. Gleiches gilt von Fig. 50 u. 51: beides sind Kombinationen von Oktaeder und Pentagondodekaeder (Eisenkies), erstere mit vorwaltendem Oktaeder, letztere im Gleichgewicht (sogen. Ikosaeder). Fig. 52 und 53 sind quadratische Kombinationen des Zirkon, Fig. 52 Pyramide und Säule erster Ordnung, Fig. 53 Pyramide erster und Säule zweiter Ordnung. Fig. 54 ist eine dreizählige rhombische Kombination des Topas (Prisma, brachydiagonales Prisma und Pyramide). Der Gipskristall Fig. 55 ist aus klinodiagonalem Flächenpaar, einer Hemipyramide und einer Säule zusammengesetzt. Hexagonale Säule, Flächenpaar und Pyramide bilden Fig. 56 (Apatit), hexagonale [234] Säule und Pyramide Fig. 57 (Quarz), während sich Fig. 58 u. 59 (beides Kalkspat) dadurch unterscheiden, daß zum Rhomboeder in Fig. 58 die Säule erster, in Fig. 59 die Säule zweiter Ordnung tritt.

Bei einzelnen Mineralspezies und bei künstlich dargestellten Kristallen stellt sich bisweilen häufiger

Fig. 60. Fig. 61.
Hemimorph ent­wickelter Kristall des Turmalins Hemimorph ent­wickelter Kristall des Kieselzinks
Hemimorphismus.

die Anomalie ein, daß die beiden Enden des Kristalls verschieden entwickelt sind. So tritt in der hexagonalen Kombination des Turmalins (Fig. 60) die Basis nur am untern Ende auf, während das obere rhomboedrisch entwickelt ist. An dem rhombischen Kieselzinkkristall Fig. 61 ist, abgesehen von sonstigen Verschiedenheiten, die Basis am obern Ende entwickelt, während ihre Parallelfläche am untern Ende fehlt. Die Erscheinung, die von der oben geschilderten Hemiedrie wohl zu unterscheiden ist, führt den Namen des Hemimorphismus.

Mehrere Einzelkristalle, seien es einfache Formen oder Kombinationen, können gesetzmäßig verwachsen sein (Zwillinge, Drillinge, Vierlinge; bei noch mehr einzelnen Kristallindividuen spricht man von „fortgesetzter Zwillingsbildung“ und „polysynthetischen Kristallen“). Die Gesetzmäßigkeit der Verwachsung liegt in der Möglichkeit, die Fläche, nach welcher sich die Verwachsung vollzogen hat (Zwillingsebene), kristallographisch auf eine in demselben Kristallsystem als Begrenzungselement auftretende Fläche zurückzuführen.

Fig. 62. Fig. 63.
Zwillingskristall des Spinells Zwillingskristall des Gipses
Fig. 64. Fig. 65.
Durch Kreuzungszwillinge aus zwei Pentagondodekaedern gebildet Durch Kreuzungszwillinge aus zwei Tetraedern gebildet
Zwillinge.

So sind in Fig. 62 zwei Oktaeder, beide stark verkürzt, nach einer Oktaederfläche miteinander verwachsen (Magneteisen, Spinell), in Fig. 63 zwei Individuen der oben (vgl. Fig. 55) geschilderten Gipskombination mit einer Fläche des orthodiagonalen Pinakoids. Weil man sich derartige Zwillinge auch so entstanden denken kann, daß ein Individuum nach der Verwachsungsfläche halbiert und dann eine Drehung der beiden Hälften gegeneinander um 180° vorgenommen wurde, nennt man solche Zwillinge auch Hemitropien. Beide Figuren stellen sogen. Juxtapositionszwillinge dar, d. h. die beiden Individuen berühren sich nur, während Fig. 64 (Eisenkies) und Fig. 65 (Fahlerz) Penetrations- oder Durchdringungszwillinge sind, der erstere aus zwei Pentagondodekaedern bestehend (sogen. eisernes Kreuz), der letztere aus zwei Tetraedern zusammengesetzt. Neuere Forschungen haben ergeben, daß mitunter ein K. von durchaus einheitlichem Ansehen aus sehr vielen, gewöhnlich sehr kleinen zwillingsartig verwachsenen Kriställchen (Subindividuen) besteht, die möglicherweise einem ganz andern Kristallsystem angehören, als dasjenige ist, welchem die große Form zugezählt werden muß; man hat solche polysynthetische Kristalle mimetische genannt.

Bei allen Betrachtungen im obigen wurde eine untadelhafte Ausbildung der Kristalle und eine allseitige ebene Begrenzung vorausgesetzt, eine Annahme, die sich in Wahrheit nur sehr selten verwirklicht findet. Es sind vielmehr die natürlichen und künstlich hergestellten Kristalle meist nur mit wenig Flächen entwickelt, sei es, weil sie aufgewachsen sind, sei es, weil sie bei ihrer Bildung sich gegenseitig hinderten. Ferner kommen ganz gewöhnlich Verzerrungen vor; kristallographisch gleichwertige Flächen sind nicht gleich groß, wodurch selbst die Bestimmung des Systems, zu dem der K. gehört, mit Schwierigkeit verknüpft sein kann. Bei allen diesen Abnormitäten bleibt aber Ein Element unberührt und ist deshalb zur Bestimmung und gesamten theoretischen Entwickelung von äußerster Wichtigkeit, das ist die gegenseitige Lage der begrenzenden Flächen und die Winkel, unter denen sie sich schneiden. Daher die enorme Wichtigkeit der Kristallmessung (Kristallometrie), welche sich einer Mehrzahl von Meßinstrumenten bedient (vgl. Goniometer). Als Hilfsmittel, namentlich zu einem vorbereitenden Studium der Morphologie der Kristalle, dienen außer den Kristallen selbst Modelle, die in Pappe, Holz oder auch (um die Achsenverhältnisse und die Ableitung der Hemieder aus den holoedrischen Stammformen zu zeigen) aus Glas hergestellt sind, und Zeichnungen der Kristallgestalten. Hinsichtlich der Methode, die bei der Herstellung der letztern angewandt wird, sei nur erwähnt, daß man sich nicht der gewöhnlichen perspektivischen Projektion bedient, sondern einer andern Methode, nach welcher die in der Natur als Parallellinien vorkommenden Kanten auch im Bild parallel erscheinen, wodurch die Ausdeutung der Formen außerordentlich erleichtert wird.

Der Morphologie der Kristalle (Kristallographie im engern Sinn) wird häufig eine Kristallochemie und eine Kristallophysik an die Seite gestellt. Ein engerer Bezug der äußern Gestaltung zur chemischen Zusammensetzung hat sich außer der allgemeinen Thatsache, daß einer bestimmten chemischen Zusammensetzung auch ein bestimmtes Kristallsystem entspricht, und außer dem Gesetz der Isomorphie (s. d.) bisher nicht auffinden lassen; desto zahlreicher sind die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Form und physikalischen Eigenschaften. Hierher gehören die Spaltbarkeit (s. d. und unter „Mineralien“), die besondern thermischen und elektrischen Eigenschaften der Kristalle, vor allem aber die optischen Eigenschaften derselben (Kristalloptik), hinsichtlich deren hier (vgl. Doppelbrechung) daran erinnert werden [235] soll, daß die Verschiedenheit der Kristallsysteme in der Verschiedenheit der optischen Eigenschaften einen einfachen und klaren Ausdruck erhält. Während alle tesseral kristallisierenden Substanzen, ebenso wie die amorphen, einfach brechend sind, ist die Doppelbrechung an alle übrigen Kristallsysteme geknüpft, mit dem weiter gehenden Unterschied, daß die Substanzen des quadratischen und hexagonalen Systems optisch einachsig (unter Zusammenfallen der optischen Achse mit der Richtung der kristallographischen Hauptachse), die der drei übrigen Systeme optisch zweiachsig sind. Es scheint, als ob sich alle diesem Gesetz widersprechenden Erscheinungen auf Spannungen, Einschlüsse, Zwillingsverwachsungen etc. zurückführen ließen. (Vgl. Mineralien und namentlich hinsichtlich der Geschichte der Kristallographie: Mineralogie.)