Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland

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Autor: Theobald Ziegler
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Titel: Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, Abschnitt 28, S. 399−408
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[399]
c) Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland.
Von
Dr. Theobald Ziegler,
o. Professor an der Universität Strassburg.


Literatur: Bearbeiten

Georg v. Below, Die Anfänge einer konservativen Partei in Preussen. (Internat. Wochenschrift Sept. 1911).
Karl Biedermann, Erinnerungen aus der Paulskirche. 1849.
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Hans Blum, Die deutsche Revolution 1848–1849. 1897.
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Constantin Bulle, Geschichte der Jahre 1871–1877. 1878.
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Gottlob Egelhaaf, Bismarck, sein Leben und sein Werk. 1911.
Gustav Freytag, Karl Mathy. 1870.
Heinrich Friedjung. Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859–1866. 1898.
Hellmuth v. Gerlach. Das Parlament (Bd. XVII. von „die Gesellschaft“).
R. Haym. Das Leben Max Dunckers. 1890.
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Heinrich Leo, Meine Jugendzeit. 1880.
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Friedrich Naumann, Die politischen Parteien 1910.
Hermann Oncken, Rudolf v. Bennigsen 1910.
Gustav Rümelin, Aus der Paulskirche, her. v. Schäfer. 1892.
Walther Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung. 1913.
H. Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1860 ff.
Alfred Stern, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden. 1894 ff.
Heinrich v. Sybel, Die Begründung des deutschen Reichs durch Wilhelm I. 1889/94.
Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 1879–1894.
Heinrich v. Treitschke, Politik. 2. Bd. 1898.
A. Wahl, Beiträge zur Deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert (Hist. Ztschrft. Bd. 104). 1910.
Theobald Ziegler. Die geistigen u. sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts. Volksausgabe 1911.

In Deutschland ist der Parlamentarismus nicht autochthon: er kam zu uns von England und noch direkter von Frankreich herüber. Und er ist bei uns verhältnismässig jüngeren Datums, erst eine Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts. Wohl gab es noch von früher her in einzelnen deutschen Landschaften „Stände“ mit dem Recht der Geldbewilligung und des Konsenses zu Gesetzen; aber sie waren, was ihr Name besagt, nicht Volks-, sondern Ständevertretungen und waren fast überall mehr oder weniger verkümmert. Jedenfalls knüpft nicht an sie der Parlamentarismus des neunzehnten Jahrhunderts an, das zeigt am deutlichsten der Kampf der Württemberger für ihr „gutes altes Recht“ und gegen die neue Verfassung, in der sie vielmehr den Bruch mit jener alten Ständeverfassung sahen. Ein solches Anknüpfen wäre schon deswegen schwierig, um nicht zu sagen: unmöglich gewesen, weil die zum deutschen Bund vereinigten Fürstentümer und Republiken fast durchweg neue Gebilde waren, die keine einheitliche Vergangenheit und Tradition besassen. Deutschland als solches aber war schon vorher kein Staat mehr gewesen, und seit 1806 gab es überhaupt keinen Kaiser und kein Heiliges Römisches Reich deutscher Nation mehr, es war tatsächlich ein Vakuum eingetreten.

Neben der Einheit und jeglichem Einheitsband fehlte aber auch die Freiheit, „die grundgesetzliche Rechtssicherheit,“ und beide Mängel waren unter dem Einfluss der über den Rhein herüberwirkenden französischen Revolution und der Siege Napoleons dem Volk zum Bewusstsein gekommen. [400] Das Bevormundungssystem des Absolutismus wie das des aufgeklärten Despotismus hatte versagt, folglich hatte es auch den Anspruch auf Autorität und Pietät verwirkt. Das hatten Friedrich Wilhelm III. und Alexander I. in ihrem Kalischer Aufruf an die Deutschen vom 25. März 1813 anerkannt und eine Verfassung versprochen, die „aus dem ureigenen Geist des deutschen Volkes heraustreten“ sollte. Daraufhin ist das Volk in Preussen unter dem Ruf: „Mit Gott für König und Vaterland!“ ins Feld gezogen und hat Gut und Blut an die Befreiung von der Napoleonischen Fremdherrschaft gesetzt. Das war nicht Sache einer Partei, sondern die Sache des ganzen Volkes; und es waren keine radikalen Hoffnungen und Wünsche, die das Volk erfüllten, die Wortführer, ein Dahlmann im Norden, ein Anselm Feuerbach im Süden, bürgten für Masshaltung und Beschränkung innerhalb bestimmter nicht allzuweit gezogener Grenzen.

Aber der Friedensschluss und was darauf folgte, die Neugestaltung Deutschlands durch den Wiener Kongress und die durch ihn festgestellte Bundesakte, entsprach nicht einmal den bescheidensten Forderungen. Weder wurde das alte deutsche Reich mit seiner kaiserlichen Spitze wiederhergestellt, noch Preussen, das sich als der „Schirmvogt“ Deutschlands bewährt hatte, die Führung übertragen, sondern der Bundestag in Frankfurt a. M. eingesetzt, der nur ein Schatten der Einheit, ein loses Bundesverhältnis darstellte und sich rasch noch viel macht- und rechtloser den einzelnen Bundesgliedern gegenüber erwies, als man erst gefürchtet hatte. Der Partikularismus und, was fast noch schlimmer war, der Dualismus von Österreich und Preussen hatte einen traurigen Sieg davon getragen und verurteilte nun fünfzig Jahre lang Deutschland zu kläglicher Ohnmacht. Und der Bundestag war eine Vertretung lediglich der Regierungen, das Volk blieb völlig unvertreten, von einem deutschen Parlament war keine Rede.

So war der Parlamentarismus vom Ganzen absolut ausgeschlossen. Dagegen enthielt die Bundesakte in ihrem § 13 die Bestimmung: „In allen Bundesstaaten wird eine landesständische Verfassung stattfinden“. Allein was hiess das: „wird stattfinden“? War das eine Verpflichtung oder eine Forderung oder gar, wie man bald genug spottend meinte, eine blosse Prophezeiung? Prophezeiungen aber brauchen ja nicht in Erfüllung zu gehen. Und wirklich dachte in Österreich Metternich keinen Augenblick an die Einlösung dieses in der Bundesakte niedergelegten Versprechens, und auch in Preussen wusste er trotz wiederholter Erneuerung der Zusage durch den König, dass „die Repräsentation des Volkes werde gebildet werden“, die Erfüllung erst zu verzögern, dann definitiv zu hintertreiben. Über Provinzialstände, in deren Zusammensetzung dem Grossgrundbesitz der Löwenanteil zufiel und deren Rechte und Tätigkeitsbereich kümmerlich eng begrenzt waren, liess sich die preussische Regierung vorläufig nicht hinausdrängen. Eine von Görres dem König überreichte Bitte um Erlass einer Verfassung wurde ungnädig zurückgewiesen, und das Versprechen, die Provinzialstände sich zu einer „Repräsentantenkammer“ auswachsen zu lassen, noch einmal nicht gehalten.

Dagegen beeilte man sich in einzelnen der kleineren deutschen Staaten, allen voran in Weimar unter Karl August, jene Zusage der Bundesakte einzulösen, „eingedenk der Vorschrift und des Sinnes des deutschen Bundesvertrages“. In Süddeutschland folgte man 1818 und 1819 nach. Dabei kam es in Württemberg zu jenen schweren Kämpfen um die Vertragsidee und um das „gute alte Recht“, das in Wirklichkeit freilich kein Recht und vor allem kein gutes Recht mehr war. Trotz der wundervollen Gedichte Uhlands war der ganze Inhalt dieses Kampfes, wie Hegel richtig sagte, doch nur „auf die unfruchtbare Behauptung eines formellen Rechts mit Advokateneigensinn beschränkt, dem Eigensinn, da sich in dem Formalismus des positiven Rechts und dem Standpunkt des Privatrechts zu halten, wo es sich vom vernünftigen und vom Staatsrecht handelte“. Nachdem aber die Verfassungen einmal gegeben waren, entwickelte sich im Süden ein reges parlamentarisches Leben, das nur leider von Anfang an darunter litt, dass es eben der kleine und enge Boden dieser Partikularstaaten war, auf dem es sich abspielte: es fehlten ihm die grossen Gesichtspunkte und es fehlte ihm das volle Verantwortungsgefühl, wie jene nur in grossen Staaten und wie dieses nur in mächtigen und durch ihre Macht weltgeschichtlich bedeutungsvollen Staaten gewonnen werden kann. Man sieht dies vielleicht am deutlichsten daraus, dass die dreissigjährige parlamentarische Schulung der Süddeutschen im Frankfurter Parlament ihnen keinen Vorsprung und kein Übergewicht verschafft hat, und dass die Verhandlungen des vereinigten Landtags in [401] Preussen von vornherein höher standen als alle die Kämpfe und Wortgefechte in den kleinen deutschen Landtagen der vormärzlichen Zeit. Immerhin schulten sich in diesen drei Jahrzehnten vor 1848 die parlamentarischen Wortführer, die sich mit Vorliebe die französischen Kammerredner zum Muster nahmen; und der liberalen Opposition, die sich gleich nach den Befreiungskriegen und der Enttäuschung aller nationalen und freiheitlichen Hoffnungen gebildet hatte, wurden hier von Welcker und Rotteck, von Pfizer und Uhland erstmals die Waffen zum Kampfe geschmiedet, hier bereiteten sich die politischen Probleme der Jahre 1848, 1866 und 1871 vor und hier fand man für sie auch schon die handlichen Formeln und die wirksamsten Schlagworte. Denn nicht bloss die „vaterländischen Gedichte“ Uhlands und die Tendenzpoesie des jungen Deutschland, auch die Kammerreden dieser liberalen Oppositionsmänner fanden in ganz Deutschland jubelnden Widerhall. Und auch um wichtige parlamentarische Rechte wurde hier gestritten: die Behandlung Uhlands, dem die Regierung den zur Ausübung seiner parlamentarischen Tätigkeit notwendigen Urlaub verweigerte und die darauf hin begehrte Entlassung aus dem Staatsdienst „sehr gerne“ gewährte, zeigte, wie es geradezu eine Lebensfrage für den Parlamentarismus war, sich und seine Träger mit gesetzlichen Garantien zu umgeben.

Mit seinen beiden Forderungen der nationalen Einheit und der verfassungsmässigen Freiheit hatte der Liberalismus gewiss nur recht. Aber es war doch verhängnisvoll, dass ihm von vornherein ein partikularistischer Zug anhaftete, weil er wesentlich süddeutsch und kleinstaatlich war. Natürlich gab es auch im Norden Liberale; aber weil ihnen die Möglichkeit des öffentlichen Hervortretens und die Resonanz im Volke fehlte, so blieb der Liberalismus dort auf Einzelne oder auf kleine Kreise beschränkt und nahm dadurch etwas Esoterisches, fast könnte man sagen : eine aristokratisch steife und zugeknöpfte Art an. Und weil in Süddeutschland vielfach Professoren und Advokaten an der Spitze der Opposition standen, so bekam er hier einen stark doktrinären Zug, der wohl auch mit dem Geiste der Aufklärung zusammenhing, die den gebildeten Bürgerstand noch immer beherrschte; und aus diesem rekrutierte sich ja natürlich der oppositionelle Liberalismus zumeist.

In den Kleinstaaten waren die Gegner der Liberalen einfach gouvernemental, eine konservative Partei gab es hier nicht. Sie finden wir zuerst in dem „Vereinigten Landtag“ von 1847 in Preussen, in dem freilich auch wieder Liberale wie Vincke die geistige Führung hatten. Auch die Einberufung dieses ersten preussischen Parlaments litt an dem Fehler aller Massregeln Friedrich Wilhelms IV., sie kam zu spät und sie brachte nichts Ganzes; selbst die gesetzlich geregelte periodische Einberufung liess sich der König nur mühsam abringen. Und doch stand die Versammlung sofort auf einer solchen geistigen Höhe, dass alle Welt sah, einem Volk mit solchen Männern werde die längst zugesagte Verfassung ganz unberechtigterweise vorenthalten. Und auch das war bedeutsam und zeugte von einem neuen Faktor und Geist in unserem Staatsleben, dass ein Eisenbahnanlehen, also ein modernes Verkehrsinteresse, den Hauptanstoss zu ihrer Einberufung gegeben hatte.

Aber nicht nur in Preussen, auch in den kleinen Staaten wurden in den vierziger Jahren die Geister lebendig und wach. Die Opposition gegen den Romantiker auf dem Throne der Cäsaren und die Enttäuschung, die der mit so grossen Erwartungen aufgenommene König der Welt bereitete, die schrillen Töne der Tendenzpoeten wie Heine und Freiligrath, die nationale Bewegung bei der Bedrohung der Rheingrenze durch Thiers und dem Erlass des „Offenen Briefs“ durch König Christian VIII. von Dänemark, der sich über die verbrieften Rechte der Elbherzogtümer zu Gunsten eines unverletzlichen dänischen Gesamtstaates hinwegsetzte, – alles das brachte die Gemüter mehr und mehr in fieberhafte Revolutionsstimmung. Zur Aussprache und zu Beschlüssen verdichteten sich solche Wünsche und Forderungen vor allem in der badischen Kammer, wo Karl Mathy einen Antrag auf Beseitigung der dort besonders unerträglichen Zensur und Bassermann unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution einen Antrag auf Einsetzung eines deutschen Parlaments einbrachte.

Und dieses kam nun sofort, als von Paris her der revolutionäre Sturm auch über die deutschen Länder alle hinwegbrauste. In den kleinen Staaten fielen überall die reaktionären Minister und machten den bisherigen Führern der Opposition, also in parlamentarischen Kämpfen wohl geschulten und erprobten und überdies fast durchweg ganz gemässigten Männern Platz. Zu den Märzerrungenschaften aber gehörten immer zuerst Pressfreiheit und Abschaffung der Zensur, Versammlungsrecht und Geschworenengerichte, Ablösung der Zehnten und Fronen u. dgl. m.

[402] Allem voran aber erhob sich mit besonderem Nachdruck der Ruf nach einem einheitlichen deutschen Parlament, das dann auch über den Kopf des plötzlich nachgiebig gewordenen Bundestags hinweg unverhofft rasch und leicht in der Paulskirche zu Frankfurt a. M. zusammentrat. Der Jubel und die Freude des Volkes war unbeschreiblich; ihr gab die Inschrift über dem Präsidentenstuhl den charakteristischen Ausdruck in den Worten:

Des Vaterlands Grösse, des Vaterlands Glück,
schafft sie, o bringt sie dem Volke zurück!

Zur Erfüllung dieser grossen Aufgabe hatte man nur leider versäumt, der sich souverän fühlenden konstituierenden Versammlung eine starke Zentralgewalt zur Seite zu stellen, und damit fehlte ihr, wie sich bald herausstellte, die Macht zur Durchführung ihrer Beschlüsse. Auch das hing mit der parlamentarischen Entwicklung in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten zusammen. In den Zeiten der Reaktion hatte man sich gewöhnt, Volksvertretung und Regierung als Gegensätze oder gar als Feinde zu betrachten und darüber ähnlich wie einst in Frankreich vergessen, dass sich ein Land wohl ohne Parlament, aber niemals ohne Regierung regieren und verwalten lässt. So konnte man es jetzt versuchen, ohne eine solche fertig zu werden. Als man dann, zu spät, die Lücke ausfüllte und die Nationalversammlung durch den „kühnen Griff“ ihres ersten Präsidenten den Erzherzog Johann als Reichsverweser an die Spitze stellte, da war er ein Johann ohne Land und ohne Macht, die Regierungen der Einzelstaaten hatten sich von ihrem ersten Schrecken bereits wieder erholt; und so widersetzte sich namentlich Preussen mit Nachdruck jedem Eingriff dieser machtlosen Zentralgewalt. Das Problem, wie sich auch abgesehen vom Dualismus zwischen den beiden Grossmächten Preussen und Deutschland zueinander stellen und ineinander verschmelzen sollten, hatte sich damit aufgerollt, es war nicht das am leichtesten zu lösende. Aber so nahe es liegt, angesichts solcher Machtlosigkeit über den Doktrinarismus dieses um die „Grundrechte“ sich streitenden „Professorenparlaments“ zu spotten, so wäre das doch im höchsten Grad ungerecht und oberflächlich geurteilt. Gemessen an unserem Reichstag oder selbst an der französischen Konstituante von 1789 ist es eine Versammlung von Rittern des Geistes gewesen, auf die wir allen Grund haben stolz zu sein und heute noch und heute mehr denn je sehnsuchtsvoll wie auf ein entschwundenes Ideal zurückzublicken. Niemals war der Ernst und das Verantwortlichkeitsgefühl, wie die Zahl bedeutender Menschen nach Talent und Rednergabe, nach Charakter und Patriotismus in einer Versammlung grösser, hier war wirklich die Elite des deutschen Volkes versammelt. Und auch sachlich ist es nicht so, wie man oft sagt: dass was diesem ersten deutschen Parlament misslungen sei, erst zwanzig Jahre später Bismarck sozusagen aus dem Nichts heraus geschaffen habe. Vielmehr, ohne das Frankfurter Parlament zwanzig Jahre nachher kein Bismarck und kein deutsches Reich.

Denn um was handelte es sich in der Paulskirche? Freilich auch um die Grundrechte der Einzelnen und des Volks im ganzen, aber vor allem doch um die gar nicht individuelle, sondern um die grosse nationale Frage der Einheit und der Gestaltung des deutschen Volks zu einem Ganzen. 1815 hatte man eine Lösung versucht, die keine war: man hatte für zwei Grossmächte Platz gelassen, wobei notwendig die eine – es war Preussen – zu kurz kommen musste, und man hatte die Einheit aller so lose als möglich gestaltet, damit ihr zu lieb keiner das Opfer der Souveränetät zu bringen habe. Wollte man eine bessere Lösung und ein strafferes Band – und das wollte man 1848 wirklich – , so gab es nur eine Lösung, die Einigung unter Preussens Führung und, entgegen dem ersten der Nationalversammlung vorgelegten Verfassungsentwurf, die völlige Hinausdrängung Österreichs aus dem deutschen Staatenverband; denn nur jenes war eine wirklich deutsche, dieses eine zu zwei Dritteilen fremdländische Macht. Von dieser Lösung wollten freilich die Parteien zur Rechten und zur Linken aus den entgegengesetztesten Gründen nichts wissen, und so kam es zur Scheidung in die beiden grossen Gruppen der Grossdeutschen und der Kleindeutschen. Allein trotz aller Antipathien gegen Preussen und seinen damaligen König siegte in der Versammlung der politisch kühle Verstand über das romantisch oder religiös oder freiheitlich fühlende Herz, und nach mancherlei Schwankungen wurde, freilich mit der geringen Majorität von nur 4 Stimmen, das Erbkaisertum akzeptiert und darauf von 290 Stimmen gegen 248, die sich der Wahl enthielten, der König von Preussen zum deutschen Kaiser gewählt. Dieser König war Friedrich Wilhelm IV., und er versagte. [403] Als er durch die Deputation des Frankfurter Parlaments, die ihm am 3. April 1849 die Kaiserkrone überbrachte, vor ein klippes klares Ja oder Nein gestellt wurde, da brachte er es nicht über sich Ja zu sagen: er wollte die Krone nicht annehmen aus den Händen einer Versammlung, die der Revolution ihren Ursprung verdankte und deren Ansprüche auf einem Akt der Revolution beruhten.

Mit dieser Ablehnung der Kaiserkrone war die Mission der Nationalversammlung zu Frankfurt erledigt. Daher taten die Gemässigten ganz recht, ihr Mandat als erloschen zu betrachten und auszutreten; und ebenso tat die württembergische Regierung nur ihre Pflicht, als sie den nach Stuttgart übergesiedelten radikalen Rumpf mit seinen fünf Reichsverwesern ohne Reich und ohne Macht, ohne Autorität und ohne Legitimation auseinandersprengte. Freilich auch die Radikalen hatten nachträglich Recht bekommen, dass mit den Fürsten die Einheit nicht zu schaffen sei, dass man eine Revolution nicht mit Grundrechtsberatungen und Mehrheitsbeschlüssen durchführen könne und dass die Herkunft des Parlaments aus der Revolution sich nicht vergessen machen lasse. Daher die Verhandlungen in der Paulskirche wie blutige Arabesken umspielenden Aufstände in Baden und in der Pfalz, in Dresden und in Frankfurt selber.

Den Gemässigten aber, die den König von Preussen nicht wegen, sondern trotz seiner Persönlichkeit zum Oberhaupt hatten machen wollen, ist es nicht hoch genug anzuschlagen, dass sie als „Gothaer“ in dem seltsamen Unionsparlament zu Erfurt es noch einmal versuchten, mit und durch Preussen zur Einigung Deutschlands zu gelangen. Dort standen sie auf der Linken und kreuzten die Waffen nicht mit den Grossdeutschen, deren es hier nur ganz wenige gab, sondern mit den in Frankfurt kaum vertretenen preussischen Junkern. Und von diesen der Keckste, Otto von Bismarck, erkannte auch alsbald die ganze Schwere jenes anderen Problems, wenn er erklärte, sich „nicht denken zu können, dass in Preussen und in Deutschland zwei Verfassungen auf die Dauer neben einander bestehen können.“ Dafür wussten auch die Gothaer damals keine Lösung; aber ihr Verdienst war es doch, dass sie im deutschen Volk den Gedanken der preussischen Spitze lebendig erhalten und ihn über die Revolutions- und Reaktionszeit hinüber in eine bessere Zukunft hinein gerettet haben.

Jenes Problem aber war in den beiden Sturmjahren auch praktisch bedeutsam geworden. Friedrich Wilhelm IV. hatte seinem preussischen Volk die lange vorenthaltene Verfassung endlich gegeben, – oktroyiert, nachdem er zuerst versucht hatte, sie mit einer zu diesem Zweck berufenen konstituierenden Nationalversammlung zu vereinbaren. Und auch sie wurde erst noch einmal im konservativen Sinn revidiert mit einer bereits auf Grund des Dreiklassenwahlgesetzes einberufenen zweiten Kammer. So tagten eine Zeitlang das deutsche und ein preussisches Parlament nebeneinander, ohne dass man sich über ihre gegenseitige Stellung zu einander und über die Abgrenzung der Rechte und der Pflichten beider klar geworden wäre.

Doch das war damals nur eine Episode. An Stelle der Reichsverfassung, um deren Durchführung man in den kleinen Staaten teilweise blutig rang, kam die Reaktion, an die Stelle des deutschen Parlaments trat der alte Bundestag, und die Landtage der Mittel- und Kleinstaaten wagten sich mit freieien Gedanken, Reden und Anträgen kaum mehr hervor. Für Freiheit und ein einheitliches deutsches Vaterland zu schwärmen wurde in den fünfziger Jahren wieder gefährlich, viele von den Vorkämpfern für diese Ideen lebten in der Verbannung oder gar im Gefängnis; der politische Idealismus aber stand niedrig im Preis und in der Schätzung der Zeit, man schämte sich seiner und fürchtete sich vor ihm und zog es vor, die materiellen Interessen zu pflegen, die sich auch die Regierungen ausschliesslich angelegen sein liessen. Im übrigen aber suchten die reaktionären Nachfolger der Märzminister deren freiheitliche Errungenschaften zu beseitigen oder möglichst zu beschränken und vor allem „den demokratischen Schmutz des Jahres der Schande“ aus den deutschen Verfassungen hinauszurevidieren. Die Reichsverfassung von 1849 wurde, wo sie bereits proklamiert war, stillschweigend oder ausdrücklich ausser Kraft gesetzt, die Grundrechte durch Bundestagsbeschluss für ungültig erklärt, und durch Verordnungen und Polizeimassregeln auch über das gesetzlich Zulässige hinaus die Volksrechte schnöde missachtet und mit Füssen getreten.

Regeres parlamentarisches Leben fand sich nur in Preussen, wo Friedrich Wilhelm IV. ausdrücklich der Versuchung widerstand, durch Staatsstreich die von ihm beschworene Verfassung wieder zu [404] beseitigen. Hier gab es in den fünfziger Jahren eine wirkliche politische Partei, die Konservativen, denen eben damals Fr. Julius Stahl, der Berliner Staatsrechtslehrer, das geistige Kapital erarbeitete, mit dem sie von da an bis heute gewirtschaftet haben und wirtschaften. Nicht nur dass er als geschickter Debatter und bedeutender Redner im Herrenhaus das konservative Programm glänzend vertrat und als kluger Taktiker seine Partei ihre herrschende Stellung auszunützen anleitete, bekämpfte er auch theoretisch und mit geistigen Waffen den Liberalismus als das System der Revolution und wusste über dessen Prinzip, „die Intention der individuellen Freiheit“ und ihre zersetzenden Wirkungen manches Treffende zu sagen; auch den Fortgang vom Stadium des Liberalismus zu dem der Demokratie und weiter von dieser zum Sozialismus hat er schon richtig vorausgesehen. Was er aber der liberalistischen Naturrechtslehre und der plumpen Staatstheorie Hallers positiv entgegenstellte, war die „institutionelle“ Verfassungsform, deren Schwerpunkt er in einer wirklichen Monarchie sah, in der „der König nicht willenloses Werkzeug der parlamentarischen Majorität sei, nicht Minister eines Regierungssystems annehmen muss, das sie vorschreibt, sondern innerhalb der gesetzlichen Schranken selbständig nach eigenem Gewissen und Urteil regiert“. Durch Bismarck ist gerade dieser Teil des konservativen Programms in Preussen und im Reich verwirklicht worden, und auch seine schwächeren Nachfolger haben daran, soweit sie es vermögen, festzuhalten versucht. Hier liegt der tiefste Unterschied der Stellung von Monarchie und Parlament in Deutschland gegenüber dem englischen Parlamentarismus. Dagegen war die glückliche Formulierung Stahls „Autorität, nicht Majorität“ der Ausfluss eines alttestamentlich orientierten Gottesgnadentums, und auch sein Legitimitätsprinzip geht wohl auf seine jüdische Anschauungs- und Denkweise zurück. Das böse Wort aber, dass die Wissenschaft umkehren müsse, brachte die Konservativen von vornherein in einen übeln und völlig unnötigen Gegensatz gegen die fortschreitende Kultur überhaupt und hing überdies mit einer unprotestantischen, weil gesetzlich jüdischen Auffassung der Religion zusammen, die auch der preussischen evangelischen Landeskirche in ihrem Verhältnis zum Staat nicht gut bekommen ist, sie in das politische Parteigetriebe hineingerissen und ihr, auch als sie selber parlamentarisch wurde, den konservativen Parteigeist aufgeprägt hat.

Aber wirkliches Leben kam auch in Preussen in die Politik und speziell in den Landtag doch erst mit dem Ende Friedrich Wilhelms IV. und dem Eintritt einer neuen Ära. Es ist die einzige kurze Zeit gewesen, in der der Liberalismus in Preussen an der Regierung war. Auf die Absage des Prinzregenten an die Reaktion in seiner berühmten Ansprache vom 8. November 1858 an die neuen Minister gab das Land in den Wahlen zum Abgeordnetenhaus eine zustimmende Antwort, die Altliberalen schienen im Parlament und durch die Person des Regenten auch in der Regierung auf lange hin ans Ruder gekommen zu sein. Allein Prinz Wilhelm war viel konservativer, als man aus seinen Worten herausgelesen hatte, und die neuen Minister waren, wie Bismarck von ihnen sagte, „Mittelmässigkeiten und beschränkte Köpfe“. Das deutsche Problem aber fing in dem Augenblick, wo das politische Leben aus zehnjährigem Dornröschenschlaf aufwachte, nun an, auch die Partei der Liberalen alsbald wieder in zwei immer mehr auseinandergehende Parteien zu scheiden in die Grossdeutschen auf der einen Seite, die an den beiden Grossmächten Österreich und Preussen festhalten und jenem wie bisher die Führung überlassen wollten, und in die Kleindeutschen, die Preussen unter Ausschluss von Österreich an die Spitze von Deutschland stellen wollten, aber mit der Verkleinerung und dem Verlust von mehr als zehn Millionen Deutscher beginnend in Bayern vor allem und in Württemberg das Gros des Volkes nicht hinter sich hatten.

Und dazu kam nun noch der Militärkonflikt in Preussen, durch den dieses aufs neue in den Ruf eines reaktionären und antiparlamentarischen Landes kam und statt moralische Eroberungen zu machen, namentlich in Süddeutschland alle Sympathien verlor und Abneigung, ja Hass gegen sich heraufbeschwor. Bei der Mobilmachung anlässlich des österreichisch-italienischen Krieges im Jahr 1859 hatte sich die Notwendigkeit einer Heeresreform unzweifelhaft herausgestellt, in dem Sinn, dass die Landwehr den Linientruppen angenähert, Berufsoffizieren unterstellt und alle Waffenfähigen durch dreijährige Dienstzeit besser als bisher ausgebildet werden sollten. Diesen Forderungen des Königs als des obersten Kriegsherrn gegenüber hatten die Abgeordneten das Recht und die Pflicht, neben der militärischen auch die finanziellen und staatswirtschaftlichen Gesichtspunkte ins Auge zu fassen und zur Geltung zu bringen. Weil sie aber diese einseitig in den Vordergrund [405] stellten und die Wichtigkeit der Heeresreform für die europäische Machtstellung Preussens übersahen, setzten sie sich in dem Augenblick ins Unrecht, wo ein weitblickender Staatsmann dem preussischen Staat auf friderizianischen Bahnen den Weg zur Höhe wies und damit endlich auch klar und zielbewusst die grosse deutsche Frage durch die Einigung Deutschlands unter Preussens ausschliesslicher Führung ihrer definitiven Lösung entgegenführen wollte. Dieser Staatsmann war Otto von Bismarck, den die Welt bis dahin freilich nur als kecken Junker kannte und daher in Wirklichkeit nicht kannte und nicht verstand. Er war vom König berufen worden, um die Heeresreform, an der diesem alles gelegen war, auch gegen den dawiderlaufenden Strom der öffentlichen Meinung und gegen die stetig wachsende Opposition der zweiten Kammer durchzuführen. Dahinter stand für ihn, der ein Konservativer war und die Stahl’sche Auffassung von dem Wesen des preussischen Königtums aus voller Überzeugung teilte, noch ein anderes Grösseres: ihm erschien es als eine Kraftprobe zwischen Krone und Parlament, zwischen königlichem Regiment und Parlamentsherrschaft. Die Führer der Kammermehrheit wollten aus Preussen einen konstitutionellen Staat nach dem Muster Englands machen, nach Bismarcks „institutioneller“ Anschauung sollte das Königtum selbständig regieren als eine Macht über den Parteien. Daran aber glaubten die Liberalen deswegen nicht und konnten nicht daran glauben, weil das Königtum unter Friedrich Wilhelm IV. für eine Partei, die der Rechten, selber Partei genommen und sich dadurch nur allzuwillig in den Dienst einseitig konservativer Interessen gestellt hatte.

So war der Konflikt von vornherein eine Machtfrage zwischen Königtum und Parlament und spielte sich dann auch wie eine Prinzipientragödie dramatisch bewegt und mit dem vollen Pathos der handelnden Personen hin und her ab. Das Parlament, in dem die Fortschrittspartei seit 1861 die Majorität hatte, erklärte jede nicht vom Abgeordnetenhaus genehmigte Ausgabe für verfassungswidrig. König Wilhelm und sein Minister bezeichneten die Aufrechterhaltung der inzwischen durchgeführten Heeresorganisation als eine Lebensfrage für Preussen und darum als ihre Pflicht, und beriefen sich für die Rechtmässigkeit ihres Beharrens auf § 99 und § 62 der Verfassung: nach dem ersteren wird der Staatshaushalt jährlich durch ein Gesetz festgestellt; nach dem zweiten kommt ein Gesetz zustande durch Übereinstimmung der Krone und der beiden Kammern. Was dagegen zu geschehen habe, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, darüber sage, so behaupteten sie, die Verfassung nichts, es sei also in dieser „eine Lücke“ vorhanden, die nun eben einstweilen durch eine Tatsache auszufüllen sei. Die Phasen dieses Kampfes zu erzählen, ist nicht die Aufgabe dieses Ortes. Auf beiden Seiten war Recht und Unrecht, Pathos und Leidenschaft, und der Streit spitzte sich immer mehr zu einer Machtfrage zu, die nur die Macht entscheiden konnte. Als vollends im Juni 1863 die Pressordonanz erschien, die die Presse der Verwaltungsbehörde unterstellte und die Existenz eines Blattes von seiner Gesamthaltung abhängig machte, schien der Konflikt unlöslich geworden, und das von der Stadt Cöln den fortschrittlichen Abgeordneten gegebene Fest erinnerte unheimlich an die französischen Reformbankette vor dem Ausbruch der Februarrevolution. Weder Bismarcks Erfolg gegen den widerspenstigen Kurfürsten von Hessen noch der meisterhaft geführte diplomatische Feldzug um Schleswig-Holstein mit samt den die Heeresorganisation in ihrer Richtigkeit und ihrem Werte bestätigenden Siegen von Düppel und Alsen vermochten den Konflikt und die Konfliktstimmung zu beseitigen, wenngleich sich der Umschwung der öffentlichen Meinung zu Gunsten Bismarcks doch allmählich anbahnte. Das Fernbleiben des Königs von Preussen vom Fürstentag in Frankfurt, auf dem der Kaiser von Österreich die deutsche Frage dualistisch lösen wollte durch ein fünfköpfiges Direktorium unter Österreichs Vorsitz und durch ein Delegiertenparlament von 300 Abgeordneten, unter denen nur 75 aus Preussen, brachte dieses seltsame Reformprojekt zum verdienten Scheitern, wurde auch von einem deutschen Abgeordnetentag unter Bennigsens Führung gewissermassen sanktioniert, blieb aber im Augenblick doch den meisten unverständlich und erweckte den Schein, als ob Bismarck auch der deutschen Frage gegenüber versage.

Erst der Krieg von 1866 brachte die Lösung, wie für das deutsche Problem im Grossen, so auch für den Konflikt zwischen Krone und Landtag im Innern. Die Wahlen zur zweiten Kammer vom 3. Juli, dem Tag von Königgrätz, zerstörten die fortschrittliche Majorität. Und nun tat Bismarck den entscheidenden Schritt, indem er es gegen die Mehrheit im preussischen Ministerium bei dem König [406] durchsetzte, dass dieser in der Thronrede Indemnität begehrte für die ohne gesetzliche Unterlage gebliebene Finanzverwaltung der letzten vier Jahre, wie sie durch die Durchführung der Heeresreform nötig geworden war. Das sei keine Demütigung, meinte er, sondern ein nachträgliches Anerkennenlassen der Gründe der Regierung und ihrer Stichhaltigkeit. Am 3. September nahm das Abgeordnetenhaus die Indemnität mit 230 gegen 75 Stimmen an, das Herrenhaus folgte, wenn auch etwas widerstrebend, da es dieselbe nicht für notwendig hielt. Damit war der Friede zwischen Regierung und Parlament, zwischen dem König und seinem Volk, zwischen Bismarck und der öffentlichen Meinung wiederhergestellt. Die Liberalen aber, die den Frieden mitmachten, und die Mitglieder des Nationalvereins aus den annektierten Provinzen schlossen sich zu einer neuen Partei, der national-liberalen zusammen und wurden nun eine Zeitlang die Träger der parlamentarischen Arbeit erst im norddeutschen, dann seit 1871 im deutschen Reichstag.

Auf eine höhere Stufe erhob sich der deutsche Parlamentarismus, als endlich die Sehnsucht des Volkes gestillt und eine Gesamtvertretung auf breitester Basis gewählt nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht eingeführt wurde: zunächst vier Jahre lang für die im norddeutschen Bunde geeinigten Staaten, aber schon 1868 für Zollsachen wenigstens zu einem allgemein deutschen Zollparlament erweitert, und endlich seit Gründung des deutschen Reichs im Jahr 1871 für alle in diesem zur Einheit zusammengeschlossenen Staaten als deutscher Reichstag neben dem Bundesrat als dem obersten Regierungsorgan des Reichs. Jenen Modus des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts hatte Bismarck in den Zeiten des Konflikts in Preussen in der Meinung in sein Programm aufgenommen, dass er damit eine konservative Volksvertretung bekommen werde, nachdem der aus indirekten Wahlen hervorgegangene preussische Landtag ihm jahrelang eine fortschrittliche Opposition gebracht und gemacht hatte. Dass sich Bismarck darin getäuscht hat, hat die Geschichte der letzten vierzig Jahre gelehrt. Die Schöpfung des unorganischen, nach konfessionellen Rücksichten sich orientierenden Zentrums und die unter der Wandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse sich vollziehende Bildung einer vom bürgerlichen Liberalismus getrennten und rasch mächtig und machtvoll heranwachsenden sozialdemokratischen Partei liessen sich in den sechziger Jahren noch nicht voraussehen. Nicht getäuscht aber hat sich Bismarck im ersten Jahrzehnt des Reichstagsbestehens in der Erwartung, dass eine vom Willen des ganzen Volkes getragene Vertretung auch eine Elite desselben darstellen und an Arbeitsleistung und Geistentfaltung ihr bestes tun werde. Abgesehen von der exzeptionellen Eintagsversammlung in der Paulskirche stand nie eine Volksvertretung in Deutschland geistig höher und war nie eine in fruchtbarer Arbeit leistungsfähiger als der deutsche Reichstag in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die wichtigen Gesetze zur Konstituierung des Reichs, soweit sie nicht schon im Reichstag des norddeutschen Bundes oder gar in der Verfassung des Frankfurter Parlaments vorbereitet oder fertig gestellt waren, sind in dieser Periode durchberaten und verabschiedet worden. Und in den Kulturkampfdebatten wurden die grossen Gegensätze zwischen Staat und Kirche von Freund und Feind mit bemerkenswerter Sachkenntnis und erfreulicher prinzipieller Vertiefung gegen einander ins Feld geführt, mehr als einmal schärften sich die Verhandlungen zu wahrhaft dramatischen Konflikten zu. Freilich erstarkte im Gegensatz zu den Nationalliberalen, die damals die eigentlichen Stützen und Träger der Bismarckschen Politik waren, auch die Gegnerschaft des Zentrums, das immer mehr zu der wichtigsten Partei und zu einem unerschütterlichen Turm heranwuchs. Auch der Übergang der Wirtschaftspolitik vom Freihandel zum Schutzzoll und der Erlass eines Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie fallen noch in diese Periode. Aber damit begann auch der grosse Umschwung in der inneren Politik, der durch den Abbruch des Kulturkampfes und den allmählichen Verzicht auf die Falksche Maigesetzgebung charakterisiert wird; das Zentrum hörte auf „Reichsfeind“ zu sein; später hiess es sogar: Zentrum ist Trumpf, und an die Stelle der Nationalliberalen traten die Konservativen als eigentliche Regierungspartei. Diesen Vorgängen im Reich gegenüber verloren die Einzellandtage natürlich an Bedeutung und Interesse, soweit nicht der preussische im Kulturkampf dem Reichstag sekundierend zur Seite trat. Auch die gelegentliche Drohung Bismarcks, ihn gegen den Reichstag auszuspielen, änderte daran nichts; sie zeigte nur, dass das alte Problem vom Verhältnis zwischen Deutschland und Preussen nach wie vor ungelöst im Hintergrund geblieben war. Daraus versteht man vielleicht auch, warum sich Bismarck immer wieder der liberalen [407] Forderung auf Errichtung verantwortlicher Reichsministerien versagte. Im Reich war er der einzige dem Reichstag direkt verantwortliche Beamte, in Preussen war er als Ministerpräsident der primus inter pares; und dass die Faktoren, die ihn hier bedrängten und beengten, auch auf das Reich übertragen werden, wünschte er sich nicht. Es war übrigens keine blosse Personen- und Machtfrage, um die es sich dabei handelte.

In den achtziger Jahren wuchs die Opposition gegen das Bismarcksche Regime und machte sich im Reichstag oft in recht schroffer Form geltend. Es war die Zeit des Sozialistengesetzes, über dessen Ausführung und Verlängerung die heftigsten Debatten geführt wurden, die der Reichstag gesehen hat. Sie liessen fast vergessen, dass seit der Novemberbotschaft von 1881 neben den Repressalien auch die positive Arbeit der Sozialreform und sozialen Gesetzgebung stand, worin der deutsche Staat hinfort die Führung übernahm: das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889 zeigte, dass dem deutschen Reich und seiner Gesetzgebung wirklich „ein paar Tropfen sozialen Öles im Rezept beigesetzt“ waren. Da musste sich auch der Reichstag von dem öden Manchestertum frei machen und mit dem richtig verstandenen Sozialismus Frieden schliessen: er hat es getan und zugelernt, und heute versagt sich keine Partei mehr den sozialen Gedanken und Aufgaben, selbst für die Reichsversicherungsordnung hat wenigstens ein Teil der alten Fortschrittspartei gestimmt, deren langjähriger Führer Eugen Richter gewesen ist. Dass dem Kanzler vom Reichstag das Tabaks- und Branntweinmonopol verweigert wurde, war ein Fehler, der sich in der Finanznot des Reiches bitter rächte und an dessen Folgen wir in der Hetze über die Reichsfinanzreform von 1909 und trotz der direkten Reichssteuern von 1913 auch heute noch zu tragen haben. 1887 kam es wieder über eine Heeresvorlage zwischen Bismarck und dem Reichstag zum Bruch. Dieser wollte die Erhöhung des Friedensstandes unserer Armee von 427- auf 468 000 Mann nur auf drei Jahre statt auf sieben bewilligen. Darin sah der Reichskanzler nicht nur den Bruch eines alten Kompromisses – Bewilligung des Friedensstandes auf immer, auf sieben oder auf drei Jahre: Äternat, Septennat, Triennat, – sondern noch einmal den Versuch, das Heer zu einem Parlamentsheer zu machen. So löste er den Reichstag auf und erhielt durch die „Septennatswahlen“ aufs neue eine Majorität für die Regierung, wie denn noch immer, wenn nationale Fragen auf dem Spiele standen, das Volk den ablehnend sich verhaltenden Reichstag rektifiziert hat.

Unter dem neuen Kaiser Wilhelm II, kam die Majorität ins Schwanken, das Sozialistengesetz, das seinen temporären Charakter verlieren sollte, wurde verworfen, und die Neuwahlen im Februar 1890 ergaben ein stark oppositionelles Parlament. Die Folge war der Sturz Bismarcks. Dass einer der Punkte, über die er fiel, sein Verkehr mit den parlamentarischen Parteiführern war, den der junge Kaiser einschränken und von seiner Zustimmung abhängig machen wollte, gehört in diesen Zusammenhang und gehört fast gar zum Treppenwitz der Geschichte. Traurig war, dass fünf Jahre nachher der deutsche Reichstag dem Gründer des Reichs, dem er also auch seine eigene Existenz verdankte, jede Ehrung zum achzigsten Geburtstag verweigerte. Es war das menschlich eine Roheit und politisch ein schwerer Fehler, den freilich das deutsche Volk durch den Jubel, mit dem es in weiten Kreisen diesen Tag feierte, und die deutsche Jugend, die sich voll dankbarer Begeisterung um den greisen Helden scharte, alsbald korrigiert hat.

Überhaupt sank das Niveau der Reichstagsverhandlungen in den letzten zwanzig Jahren, die noch nicht eigentlich der Geschichte angehören, sondern unsere Gegenwart sind, man kann fast sagen: von Stufe zu Stufe. Und im Zusammenhang damit sinkt auch das Interesse des Volks an diesen Verhandlungen und der Glaube an den Parlamentarismus überhaupt. Es zeigt sich dies auch darin, dass sich wiederholt die öffentliche Meinung stärker erwies als die Vota des Parlaments, so 1892 bei dem Scheitern des konservativ-klerikalen Schulgesetzes unter dem Grafen von Zedlitz-Trützschler als Kultusminister in Preussen, und 1900 bei dem misslungenen Ansturm gegen die deutsche Kunst und Literatur in der sogenannten lex Heinze durch den Reichstag. Immerhin hat sich dieser von hässlichen Lärmszenen und unwürdigen Obstruktionsversuchen fast durchweg rühmenswert frei gehalten, und auch die Einzellandtage sind diesem guten Beispiel gefolgt, mit Ausnahme des elsass-lothringischen Landesausschusses, der sich noch unmittelbar vor seinem unrühmlichen Ende unter einer unfähigen Leitung über alle Massen würdelos benommen hat. Auch das Zweikammersystem hat in Deutschland nirgends zu Konflikten schwererer Art geführt.

[408] 1909 erlebte der Reichstag noch einmal einen ungeahnt grossen Erfolg. Während bis dahin wie in Preussen so im Reich an dem Grundsatz festgehalten worden war, dass der König und Kaiser die Minister ganz unabhängig von der Parlamentsmehrheit und von Parlamentsabstimmungen als Männer seines Vertrauens berufe, entlasse oder festhalte, fiel Fürst Bülow, als ihn Konservative und Zentrum bei der Reichsfinanzreform im Stich liessen und die geforderte Erbschaftssteuer ablehnten. Er hatte freilich vorher schon durch sein Auftreten in den Novemberverhandlungen des Jahres 1908 über das persönliche Regiment des Kaisers und durch die diesem abgenötigte Zusage grösserer Zurückhaltung, um die „Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmässigen Verantwortlichkeiten zu sichern“, das Vertrauen des Kaisers verloren. Und die Berufung des Herrn von Bethmann Hollweg, der in der Reichsfinanzreformfrage der Mitarbeiter Bülows gewesen war, bewies, dass es mit dem Parlamentarismus im englischen Sinn des Worts bei uns noch immer gute Wege hat. Von einem Parteiministerium ist gerade unter dem gegenwärtigen Reichskanzler am allerwenigsten die Rede; sein Grundsatz, mit dem er sein Amt antrat, war: über den Parteien zu stehen; und dass er ihn auch praktisch betätigt, beweist die ganz verschiedene Zusammensetzung der Majoritäten für die beiden grossen Gesetze des Sommers 1911, die elsass-lothringische Verfassung, die gegen die Konservativen vom Zentrum und der ganzen Linken mit Einschluss der Sozialdemokraten angenommen wurde, und die Reichsversicherungsordnung, bei der die Konservativen das Heft in der Hand und Zentrum und Nationalliberale zu Bundesgenossen hatten; und beweist sein Konflikt mit dem Führer der Konservativen anlässlich der Verhandlungen über den Marokkovertrag im November 1911. Und auch im neuen Reichstag ist die Deckungsfrage bei der grossen Heeresvorlage, durch deren Annahme im Sommer 1913 lange Versäumtes nachgeholt und die allgemeine Wehrpflicht endlich zur Wahrheit wurde, wieder ohne die Konservativen und mit Zustimmung der Sozialdemokraten gelöst worden. Jener Vertrag mit Frankreich über die Abtretung am Kongo hat übrigens, ganz abgesehen von seinem sonstigen Wert oder Unwert, auch noch den Anstoss gegeben zu einer Erweiterung des Rechtes des Reichstags, in Fragen der auswärtigen Politik mehr als bisher mitreden zu dürfen, einer Erweiterung, die freilich auch neue höhere Anforderungen an das Verantwortlichkeitsgefühl der Reichstagsmitglieder stellen wird, als sie gerade bei diesem Anlass an den Tag gelegt haben. Dagegen hat die Bestimmung, dass nach Interpellationen im Reichstag die Billigung oder Missbilligung der Antwort der Regierung durch Abstimmung zum Ausdruck gebracht werden darf, bei dem über Gebühr aufgebauschten und ungerecht verallgemeinerten „Fall Zabern“ gezeigt, dass dadurch zwar immer noch nicht „der Parlamentarismus“ eingeführt ist, aber doch eine starke Erschütterung der Autorität des Reichskanzlers herbeigeführt werden kann.

Die nächste grosse Frage für den deutschen Parlamentarismus aber wird sich ohne Zweifel nicht im Reich, sondern im Einzelstaat Preussen abspielen. Hier handelt es sich darum, ob es bei dem bisherigen indirekten und öffentlichen Dreiklassenwahlmodus verbleiben oder ob an seine Stelle das geheime und direkte und jedenfalls ein erheblich allgemeineres Wahlrecht als bisher, nach den Forderungen der Linken am liebsten wie in Süddeutschland das Reichstagswahlrecht treten solle; und das heisst nicht mehr und nicht weniger als: es wird sich entscheiden müssen, ob Preussen der konservative Staat, der er ist, bleiben oder ob auch er liberalisiert und demokratisiert werden soll. Der Reichskanzler hat durch Gewährung des Reichstagswahlrechts an Elsass-Lothringen die Versagung desselben in Preussen schwer oder wie manche meinen: unmöglich gemacht. Und doch ist auf der anderen Seite nicht abzusehen, wie das aus dem Dreiklassenwahlrecht hervorgegangene preussische Abgeordnetenhaus, um vom Herrenhaus ganz zu schweigen, sich darauf einlassen sollte. Hier droht ein parlamentarischer Konflikt der schwersten Art, und hinter ihm steht die Geschichte und stehen die Geschicke Preussens und des Reichs mit ihm in ihrer ganzen Grösse und Schwere. Vielleicht zeigt aber die Ablehnung des Gedankens, durch einen Massenstreik die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preussen zu erzwingen, auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Jena (1913), dass wir der Lösung dieser Aufgabe überhaupt noch nicht so nahe stehen, wie manche fürchten oder hoffen. Jedenfalls ist es eine Zukunftsfrage, deren Beantwortung glücklicherweise nicht in dieses historische Kapitel gehört und nicht von mir gefordert wird.