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durchsetzte, dass dieser in der Thronrede Indemnität begehrte für die ohne gesetzliche Unterlage gebliebene Finanzverwaltung der letzten vier Jahre, wie sie durch die Durchführung der Heeresreform nötig geworden war. Das sei keine Demütigung, meinte er, sondern ein nachträgliches Anerkennenlassen der Gründe der Regierung und ihrer Stichhaltigkeit. Am 3. September nahm das Abgeordnetenhaus die Indemnität mit 230 gegen 75 Stimmen an, das Herrenhaus folgte, wenn auch etwas widerstrebend, da es dieselbe nicht für notwendig hielt. Damit war der Friede zwischen Regierung und Parlament, zwischen dem König und seinem Volk, zwischen Bismarck und der öffentlichen Meinung wiederhergestellt. Die Liberalen aber, die den Frieden mitmachten, und die Mitglieder des Nationalvereins aus den annektierten Provinzen schlossen sich zu einer neuen Partei, der national-liberalen zusammen und wurden nun eine Zeitlang die Träger der parlamentarischen Arbeit erst im norddeutschen, dann seit 1871 im deutschen Reichstag.

Auf eine höhere Stufe erhob sich der deutsche Parlamentarismus, als endlich die Sehnsucht des Volkes gestillt und eine Gesamtvertretung auf breitester Basis gewählt nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht eingeführt wurde: zunächst vier Jahre lang für die im norddeutschen Bunde geeinigten Staaten, aber schon 1868 für Zollsachen wenigstens zu einem allgemein deutschen Zollparlament erweitert, und endlich seit Gründung des deutschen Reichs im Jahr 1871 für alle in diesem zur Einheit zusammengeschlossenen Staaten als deutscher Reichstag neben dem Bundesrat als dem obersten Regierungsorgan des Reichs. Jenen Modus des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts hatte Bismarck in den Zeiten des Konflikts in Preussen in der Meinung in sein Programm aufgenommen, dass er damit eine konservative Volksvertretung bekommen werde, nachdem der aus indirekten Wahlen hervorgegangene preussische Landtag ihm jahrelang eine fortschrittliche Opposition gebracht und gemacht hatte. Dass sich Bismarck darin getäuscht hat, hat die Geschichte der letzten vierzig Jahre gelehrt. Die Schöpfung des unorganischen, nach konfessionellen Rücksichten sich orientierenden Zentrums und die unter der Wandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse sich vollziehende Bildung einer vom bürgerlichen Liberalismus getrennten und rasch mächtig und machtvoll heranwachsenden sozialdemokratischen Partei liessen sich in den sechziger Jahren noch nicht voraussehen. Nicht getäuscht aber hat sich Bismarck im ersten Jahrzehnt des Reichstagsbestehens in der Erwartung, dass eine vom Willen des ganzen Volkes getragene Vertretung auch eine Elite desselben darstellen und an Arbeitsleistung und Geistentfaltung ihr bestes tun werde. Abgesehen von der exzeptionellen Eintagsversammlung in der Paulskirche stand nie eine Volksvertretung in Deutschland geistig höher und war nie eine in fruchtbarer Arbeit leistungsfähiger als der deutsche Reichstag in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die wichtigen Gesetze zur Konstituierung des Reichs, soweit sie nicht schon im Reichstag des norddeutschen Bundes oder gar in der Verfassung des Frankfurter Parlaments vorbereitet oder fertig gestellt waren, sind in dieser Periode durchberaten und verabschiedet worden. Und in den Kulturkampfdebatten wurden die grossen Gegensätze zwischen Staat und Kirche von Freund und Feind mit bemerkenswerter Sachkenntnis und erfreulicher prinzipieller Vertiefung gegen einander ins Feld geführt, mehr als einmal schärften sich die Verhandlungen zu wahrhaft dramatischen Konflikten zu. Freilich erstarkte im Gegensatz zu den Nationalliberalen, die damals die eigentlichen Stützen und Träger der Bismarckschen Politik waren, auch die Gegnerschaft des Zentrums, das immer mehr zu der wichtigsten Partei und zu einem unerschütterlichen Turm heranwuchs. Auch der Übergang der Wirtschaftspolitik vom Freihandel zum Schutzzoll und der Erlass eines Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie fallen noch in diese Periode. Aber damit begann auch der grosse Umschwung in der inneren Politik, der durch den Abbruch des Kulturkampfes und den allmählichen Verzicht auf die Falksche Maigesetzgebung charakterisiert wird; das Zentrum hörte auf „Reichsfeind“ zu sein; später hiess es sogar: Zentrum ist Trumpf, und an die Stelle der Nationalliberalen traten die Konservativen als eigentliche Regierungspartei. Diesen Vorgängen im Reich gegenüber verloren die Einzellandtage natürlich an Bedeutung und Interesse, soweit nicht der preussische im Kulturkampf dem Reichstag sekundierend zur Seite trat. Auch die gelegentliche Drohung Bismarcks, ihn gegen den Reichstag auszuspielen, änderte daran nichts; sie zeigte nur, dass das alte Problem vom Verhältnis zwischen Deutschland und Preussen nach wie vor ungelöst im Hintergrund geblieben war. Daraus versteht man vielleicht auch, warum sich Bismarck immer wieder der liberalen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/426&oldid=- (Version vom 21.8.2021)