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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Forderung auf Errichtung verantwortlicher Reichsministerien versagte. Im Reich war er der einzige dem Reichstag direkt verantwortliche Beamte, in Preussen war er als Ministerpräsident der primus inter pares; und dass die Faktoren, die ihn hier bedrängten und beengten, auch auf das Reich übertragen werden, wünschte er sich nicht. Es war übrigens keine blosse Personen- und Machtfrage, um die es sich dabei handelte.

In den achtziger Jahren wuchs die Opposition gegen das Bismarcksche Regime und machte sich im Reichstag oft in recht schroffer Form geltend. Es war die Zeit des Sozialistengesetzes, über dessen Ausführung und Verlängerung die heftigsten Debatten geführt wurden, die der Reichstag gesehen hat. Sie liessen fast vergessen, dass seit der Novemberbotschaft von 1881 neben den Repressalien auch die positive Arbeit der Sozialreform und sozialen Gesetzgebung stand, worin der deutsche Staat hinfort die Führung übernahm: das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889 zeigte, dass dem deutschen Reich und seiner Gesetzgebung wirklich „ein paar Tropfen sozialen Öles im Rezept beigesetzt“ waren. Da musste sich auch der Reichstag von dem öden Manchestertum frei machen und mit dem richtig verstandenen Sozialismus Frieden schliessen: er hat es getan und zugelernt, und heute versagt sich keine Partei mehr den sozialen Gedanken und Aufgaben, selbst für die Reichsversicherungsordnung hat wenigstens ein Teil der alten Fortschrittspartei gestimmt, deren langjähriger Führer Eugen Richter gewesen ist. Dass dem Kanzler vom Reichstag das Tabaks- und Branntweinmonopol verweigert wurde, war ein Fehler, der sich in der Finanznot des Reiches bitter rächte und an dessen Folgen wir in der Hetze über die Reichsfinanzreform von 1909 und trotz der direkten Reichssteuern von 1913 auch heute noch zu tragen haben. 1887 kam es wieder über eine Heeresvorlage zwischen Bismarck und dem Reichstag zum Bruch. Dieser wollte die Erhöhung des Friedensstandes unserer Armee von 427- auf 468 000 Mann nur auf drei Jahre statt auf sieben bewilligen. Darin sah der Reichskanzler nicht nur den Bruch eines alten Kompromisses – Bewilligung des Friedensstandes auf immer, auf sieben oder auf drei Jahre: Äternat, Septennat, Triennat, – sondern noch einmal den Versuch, das Heer zu einem Parlamentsheer zu machen. So löste er den Reichstag auf und erhielt durch die „Septennatswahlen“ aufs neue eine Majorität für die Regierung, wie denn noch immer, wenn nationale Fragen auf dem Spiele standen, das Volk den ablehnend sich verhaltenden Reichstag rektifiziert hat.

Unter dem neuen Kaiser Wilhelm II, kam die Majorität ins Schwanken, das Sozialistengesetz, das seinen temporären Charakter verlieren sollte, wurde verworfen, und die Neuwahlen im Februar 1890 ergaben ein stark oppositionelles Parlament. Die Folge war der Sturz Bismarcks. Dass einer der Punkte, über die er fiel, sein Verkehr mit den parlamentarischen Parteiführern war, den der junge Kaiser einschränken und von seiner Zustimmung abhängig machen wollte, gehört in diesen Zusammenhang und gehört fast gar zum Treppenwitz der Geschichte. Traurig war, dass fünf Jahre nachher der deutsche Reichstag dem Gründer des Reichs, dem er also auch seine eigene Existenz verdankte, jede Ehrung zum achzigsten Geburtstag verweigerte. Es war das menschlich eine Roheit und politisch ein schwerer Fehler, den freilich das deutsche Volk durch den Jubel, mit dem es in weiten Kreisen diesen Tag feierte, und die deutsche Jugend, die sich voll dankbarer Begeisterung um den greisen Helden scharte, alsbald korrigiert hat.

Überhaupt sank das Niveau der Reichstagsverhandlungen in den letzten zwanzig Jahren, die noch nicht eigentlich der Geschichte angehören, sondern unsere Gegenwart sind, man kann fast sagen: von Stufe zu Stufe. Und im Zusammenhang damit sinkt auch das Interesse des Volks an diesen Verhandlungen und der Glaube an den Parlamentarismus überhaupt. Es zeigt sich dies auch darin, dass sich wiederholt die öffentliche Meinung stärker erwies als die Vota des Parlaments, so 1892 bei dem Scheitern des konservativ-klerikalen Schulgesetzes unter dem Grafen von Zedlitz-Trützschler als Kultusminister in Preussen, und 1900 bei dem misslungenen Ansturm gegen die deutsche Kunst und Literatur in der sogenannten lex Heinze durch den Reichstag. Immerhin hat sich dieser von hässlichen Lärmszenen und unwürdigen Obstruktionsversuchen fast durchweg rühmenswert frei gehalten, und auch die Einzellandtage sind diesem guten Beispiel gefolgt, mit Ausnahme des elsass-lothringischen Landesausschusses, der sich noch unmittelbar vor seinem unrühmlichen Ende unter einer unfähigen Leitung über alle Massen würdelos benommen hat. Auch das Zweikammersystem hat in Deutschland nirgends zu Konflikten schwererer Art geführt.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/427&oldid=- (Version vom 21.8.2021)