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beseitigen. Hier gab es in den fünfziger Jahren eine wirkliche politische Partei, die Konservativen, denen eben damals Fr. Julius Stahl, der Berliner Staatsrechtslehrer, das geistige Kapital erarbeitete, mit dem sie von da an bis heute gewirtschaftet haben und wirtschaften. Nicht nur dass er als geschickter Debatter und bedeutender Redner im Herrenhaus das konservative Programm glänzend vertrat und als kluger Taktiker seine Partei ihre herrschende Stellung auszunützen anleitete, bekämpfte er auch theoretisch und mit geistigen Waffen den Liberalismus als das System der Revolution und wusste über dessen Prinzip, „die Intention der individuellen Freiheit“ und ihre zersetzenden Wirkungen manches Treffende zu sagen; auch den Fortgang vom Stadium des Liberalismus zu dem der Demokratie und weiter von dieser zum Sozialismus hat er schon richtig vorausgesehen. Was er aber der liberalistischen Naturrechtslehre und der plumpen Staatstheorie Hallers positiv entgegenstellte, war die „institutionelle“ Verfassungsform, deren Schwerpunkt er in einer wirklichen Monarchie sah, in der „der König nicht willenloses Werkzeug der parlamentarischen Majorität sei, nicht Minister eines Regierungssystems annehmen muss, das sie vorschreibt, sondern innerhalb der gesetzlichen Schranken selbständig nach eigenem Gewissen und Urteil regiert“. Durch Bismarck ist gerade dieser Teil des konservativen Programms in Preussen und im Reich verwirklicht worden, und auch seine schwächeren Nachfolger haben daran, soweit sie es vermögen, festzuhalten versucht. Hier liegt der tiefste Unterschied der Stellung von Monarchie und Parlament in Deutschland gegenüber dem englischen Parlamentarismus. Dagegen war die glückliche Formulierung Stahls „Autorität, nicht Majorität“ der Ausfluss eines alttestamentlich orientierten Gottesgnadentums, und auch sein Legitimitätsprinzip geht wohl auf seine jüdische Anschauungs- und Denkweise zurück. Das böse Wort aber, dass die Wissenschaft umkehren müsse, brachte die Konservativen von vornherein in einen übeln und völlig unnötigen Gegensatz gegen die fortschreitende Kultur überhaupt und hing überdies mit einer unprotestantischen, weil gesetzlich jüdischen Auffassung der Religion zusammen, die auch der preussischen evangelischen Landeskirche in ihrem Verhältnis zum Staat nicht gut bekommen ist, sie in das politische Parteigetriebe hineingerissen und ihr, auch als sie selber parlamentarisch wurde, den konservativen Parteigeist aufgeprägt hat.

Aber wirkliches Leben kam auch in Preussen in die Politik und speziell in den Landtag doch erst mit dem Ende Friedrich Wilhelms IV. und dem Eintritt einer neuen Ära. Es ist die einzige kurze Zeit gewesen, in der der Liberalismus in Preussen an der Regierung war. Auf die Absage des Prinzregenten an die Reaktion in seiner berühmten Ansprache vom 8. November 1858 an die neuen Minister gab das Land in den Wahlen zum Abgeordnetenhaus eine zustimmende Antwort, die Altliberalen schienen im Parlament und durch die Person des Regenten auch in der Regierung auf lange hin ans Ruder gekommen zu sein. Allein Prinz Wilhelm war viel konservativer, als man aus seinen Worten herausgelesen hatte, und die neuen Minister waren, wie Bismarck von ihnen sagte, „Mittelmässigkeiten und beschränkte Köpfe“. Das deutsche Problem aber fing in dem Augenblick, wo das politische Leben aus zehnjährigem Dornröschenschlaf aufwachte, nun an, auch die Partei der Liberalen alsbald wieder in zwei immer mehr auseinandergehende Parteien zu scheiden in die Grossdeutschen auf der einen Seite, die an den beiden Grossmächten Österreich und Preussen festhalten und jenem wie bisher die Führung überlassen wollten, und in die Kleindeutschen, die Preussen unter Ausschluss von Österreich an die Spitze von Deutschland stellen wollten, aber mit der Verkleinerung und dem Verlust von mehr als zehn Millionen Deutscher beginnend in Bayern vor allem und in Württemberg das Gros des Volkes nicht hinter sich hatten.

Und dazu kam nun noch der Militärkonflikt in Preussen, durch den dieses aufs neue in den Ruf eines reaktionären und antiparlamentarischen Landes kam und statt moralische Eroberungen zu machen, namentlich in Süddeutschland alle Sympathien verlor und Abneigung, ja Hass gegen sich heraufbeschwor. Bei der Mobilmachung anlässlich des österreichisch-italienischen Krieges im Jahr 1859 hatte sich die Notwendigkeit einer Heeresreform unzweifelhaft herausgestellt, in dem Sinn, dass die Landwehr den Linientruppen angenähert, Berufsoffizieren unterstellt und alle Waffenfähigen durch dreijährige Dienstzeit besser als bisher ausgebildet werden sollten. Diesen Forderungen des Königs als des obersten Kriegsherrn gegenüber hatten die Abgeordneten das Recht und die Pflicht, neben der militärischen auch die finanziellen und staatswirtschaftlichen Gesichtspunkte ins Auge zu fassen und zur Geltung zu bringen. Weil sie aber diese einseitig in den Vordergrund

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/424&oldid=- (Version vom 21.8.2021)