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stellten und die Wichtigkeit der Heeresreform für die europäische Machtstellung Preussens übersahen, setzten sie sich in dem Augenblick ins Unrecht, wo ein weitblickender Staatsmann dem preussischen Staat auf friderizianischen Bahnen den Weg zur Höhe wies und damit endlich auch klar und zielbewusst die grosse deutsche Frage durch die Einigung Deutschlands unter Preussens ausschliesslicher Führung ihrer definitiven Lösung entgegenführen wollte. Dieser Staatsmann war Otto von Bismarck, den die Welt bis dahin freilich nur als kecken Junker kannte und daher in Wirklichkeit nicht kannte und nicht verstand. Er war vom König berufen worden, um die Heeresreform, an der diesem alles gelegen war, auch gegen den dawiderlaufenden Strom der öffentlichen Meinung und gegen die stetig wachsende Opposition der zweiten Kammer durchzuführen. Dahinter stand für ihn, der ein Konservativer war und die Stahl’sche Auffassung von dem Wesen des preussischen Königtums aus voller Überzeugung teilte, noch ein anderes Grösseres: ihm erschien es als eine Kraftprobe zwischen Krone und Parlament, zwischen königlichem Regiment und Parlamentsherrschaft. Die Führer der Kammermehrheit wollten aus Preussen einen konstitutionellen Staat nach dem Muster Englands machen, nach Bismarcks „institutioneller“ Anschauung sollte das Königtum selbständig regieren als eine Macht über den Parteien. Daran aber glaubten die Liberalen deswegen nicht und konnten nicht daran glauben, weil das Königtum unter Friedrich Wilhelm IV. für eine Partei, die der Rechten, selber Partei genommen und sich dadurch nur allzuwillig in den Dienst einseitig konservativer Interessen gestellt hatte.

So war der Konflikt von vornherein eine Machtfrage zwischen Königtum und Parlament und spielte sich dann auch wie eine Prinzipientragödie dramatisch bewegt und mit dem vollen Pathos der handelnden Personen hin und her ab. Das Parlament, in dem die Fortschrittspartei seit 1861 die Majorität hatte, erklärte jede nicht vom Abgeordnetenhaus genehmigte Ausgabe für verfassungswidrig. König Wilhelm und sein Minister bezeichneten die Aufrechterhaltung der inzwischen durchgeführten Heeresorganisation als eine Lebensfrage für Preussen und darum als ihre Pflicht, und beriefen sich für die Rechtmässigkeit ihres Beharrens auf § 99 und § 62 der Verfassung: nach dem ersteren wird der Staatshaushalt jährlich durch ein Gesetz festgestellt; nach dem zweiten kommt ein Gesetz zustande durch Übereinstimmung der Krone und der beiden Kammern. Was dagegen zu geschehen habe, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, darüber sage, so behaupteten sie, die Verfassung nichts, es sei also in dieser „eine Lücke“ vorhanden, die nun eben einstweilen durch eine Tatsache auszufüllen sei. Die Phasen dieses Kampfes zu erzählen, ist nicht die Aufgabe dieses Ortes. Auf beiden Seiten war Recht und Unrecht, Pathos und Leidenschaft, und der Streit spitzte sich immer mehr zu einer Machtfrage zu, die nur die Macht entscheiden konnte. Als vollends im Juni 1863 die Pressordonanz erschien, die die Presse der Verwaltungsbehörde unterstellte und die Existenz eines Blattes von seiner Gesamthaltung abhängig machte, schien der Konflikt unlöslich geworden, und das von der Stadt Cöln den fortschrittlichen Abgeordneten gegebene Fest erinnerte unheimlich an die französischen Reformbankette vor dem Ausbruch der Februarrevolution. Weder Bismarcks Erfolg gegen den widerspenstigen Kurfürsten von Hessen noch der meisterhaft geführte diplomatische Feldzug um Schleswig-Holstein mit samt den die Heeresorganisation in ihrer Richtigkeit und ihrem Werte bestätigenden Siegen von Düppel und Alsen vermochten den Konflikt und die Konfliktstimmung zu beseitigen, wenngleich sich der Umschwung der öffentlichen Meinung zu Gunsten Bismarcks doch allmählich anbahnte. Das Fernbleiben des Königs von Preussen vom Fürstentag in Frankfurt, auf dem der Kaiser von Österreich die deutsche Frage dualistisch lösen wollte durch ein fünfköpfiges Direktorium unter Österreichs Vorsitz und durch ein Delegiertenparlament von 300 Abgeordneten, unter denen nur 75 aus Preussen, brachte dieses seltsame Reformprojekt zum verdienten Scheitern, wurde auch von einem deutschen Abgeordnetentag unter Bennigsens Führung gewissermassen sanktioniert, blieb aber im Augenblick doch den meisten unverständlich und erweckte den Schein, als ob Bismarck auch der deutschen Frage gegenüber versage.

Erst der Krieg von 1866 brachte die Lösung, wie für das deutsche Problem im Grossen, so auch für den Konflikt zwischen Krone und Landtag im Innern. Die Wahlen zur zweiten Kammer vom 3. Juli, dem Tag von Königgrätz, zerstörten die fortschrittliche Majorität. Und nun tat Bismarck den entscheidenden Schritt, indem er es gegen die Mehrheit im preussischen Ministerium bei dem König

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/425&oldid=- (Version vom 21.8.2021)