Georg Herwegh (Die Gartenlaube 1875/19)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Marr
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Georg Herwegh
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 318–320
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[318]
Georg Herwegh.
Literarisches Stimmungbild.


Vierunddreißig Jahre sind jetzt verstrichen, seit im Verlage des literarischen Comptoirs in Zürich und Winterthur (Julius Fröbel) der erste Band der „Gedichte eines Lebendigen“ erschienen. Vom Jahre 1841 bis 1845 folgten die neuen Auflagen rasch und zahlreich aufeinander. Wenigstens die des ersten Bandes. Und heute? – Die „Gedichte eines Lebendigen“ sind aus dem deutschen Buchhandel so gut, wie verschwunden. Es giebt zwar Anthologien, in welchen „Ich möchte hingeh’n, wie das Abendroth“ und zwei oder drei nicht tendenziöse Sonnette unseres Sängers Aufnahme fanden, aber die Zahl derjenigen, welche den Namen Herwegh wirklich aus seinen Gedichten kennen, ist bei der neueren Generation eine verschwindend kleine geworden. Man weiß aus den politischen Tagesblättern, daß es einen Dichter Namens Herwegh giebt oder, richtiger gesagt, gab, denn nun ist er ja todt. Dieser Dichter veröffentlichte von Zeit zu Zeit und bei seltenen Gelegenheiten einige Verse, von denen man nicht ohne Recht sagen darf, sie seien das gereimte Phrasenprogramm einer Partei, welche nicht leben und nicht sterben konnte, weil sie genau nur das wußte, was sie nicht wollte, und das war Alles, was die Weltgeschichte producirte und in den Zeiträumen der Gegenwart mit Nothwendigkeit produciren mußte. Wir sind zu weit vorgeschritten, als daß uns Spott und Satire noch erbittern dürfte, und wir fühlen, daß wir noch nicht so weit vorgeschritten sind, um „ohne Sorgen für den lieben andern Morgen“ die Ideale nur im süßen Nichtsthun der absoluten Verneinungen zu suchen.

Die Herwegh’sche Gelegenheitsmuse fand die kühlste Aufnahme. Selbst Fritz Gerstäcker, der einmal so galant war, eine Lanze mit ihr zu brechen, konnte sie nicht davor retten, daß sie „sitzen blieb“, wie schlechte Tänzerinnen auf dem Balle.

Und doch war Georg Herwegh ein „Dichter von Gottes Gnaden“, ein poetischer Genius in des Wortes größter Bedeutung. Und doch gab es eine Zeit, wo er ganz Deutschland, wie ein Tyrtäus, elektrisirte und entflammte, und wahrlich nicht allein durch die Freiheitsphrasen, die er zündend hinauswarf, sondern auch durch den Reichthum der Gedanken und der ungezwungenen poetischen Bilder, sowie durch seine Formvollendung.

Ich habe den Dichter persönlich gekannt. Ich duzte mich mit ihm; seine Gedichte haben auf meine ganze Lebenslaufbahn einen entscheidenden Einfluß gehabt. Die Ereignisse trennten uns bald. Was ich über den Menschen Herwegh von Zeit zu Zeit vernahm, konnte keine Anziehungskraft ausüben, konnte mich aber auch nicht bestimmen, über den Menschen zu urtheilen, obgleich mir geistig und gemüthlich nahestehende Personen Partei waren. Ich sah nur die alte Erscheinung wieder einmal bestätigt, daß mit seltenen, seltenen Ausnahmen das Exil – und auch das Selbstexil – den Genius des Menschen demoralisirt, wenn mit dem Exil nicht die Resignation verbunden ist, vom alten Schauplatz abzutreten. Der Exilirte, welcher das nicht kann, bleibt auf dem Standpunkte stehen, den er einnahm, als er in’s Exil wanderte. Man sagt, die geblendete Nachtigall träume im Käfig stets vom Frühling, und deshalb sänge sie das ganze Jahr. Man glaubt aber nicht mit ihr an ihren Traum und an ihren Gesang.

So ist das Exil. Es ist ein Käfig, in welchem wir geblendet sitzen und träumen. Wir träumen das Leben weiter, welches unsere Phantasie im Wachen geträumt hat, ehe uns das [319] Exil jenes Leben nahm. Und was wir mit geschlossenen Augen im Traume sprechen, es klingt unverständlich und selten – schön. Wir bleiben im Traume Partei, ob auch die Parteigenossen geistig längst zu ihren Vätern versammelt sind, das heißt: die Irrthümer und Illusionen ihres Lebens längst eingesehen haben, und wenn Herwegh den Dichter „Prophet“ nennt, so hat am Ende Freiligrath auch nicht Unrecht, wenn er singt:

„Der Dichter steht auf einer höhern Warte
Als auf der Zinne der Partei.“

Was half die Herwegh’sche Antwort:

„Und meinen Lorbeer flechte die Partei!“

Die Partei ist todt, und der Lorbeer ihres Dichters ist mit ihr begraben worden.

Es war im Jahre 1841, als ich den Namen Herwegh zum ersten Male gedruckt las, und es war in der Residenz des damaligen Kaisers von Oesterreich, des Fürsten Clemens von Metternich, also in Wien. So stark der Druck der Censur auf jeder geistigen Bewegung lastete, so tolerant – für seine damaligen Verhältnisse – war das System gegen die gebildete Classe der Gesellschaft. Die Erlaubniß, in einem Cirkel von Lesern auswärtige Zeitschriften etc. cursiren zu lassen, vorausgesetzt, daß sie den Kreis nicht überschritten, wurde selten verweigert und so las ich zuerst in Wien Börne’s „Menzel, der Franzosenfresser“, Gutzkow’s „Wally“, Heine’s „Salon“ und eine Menge anderer Sachen, welche heutzutage ziemlich harmlos erscheinen, in jenen Tagen aber in den officiellen Regionen für Pulver und Schießgewehr galten, mit welchen Kinder und Staatsbürger nicht spielen sollen. Sogar Lewald’s „Europa“ genoß die Ehre, in Oesterreich noch zu den Artikeln zu zählen, die, wenn sie auch nicht von selbst explodirten, doch vor der Berührung mit Feuer und Licht behütet werden mußten.

Lewald’s „Europa“ war es, welche uns in Wien im Jahre 1841 den Namen Herwegh zuerst nannte, ohne von ihm weit mehr zu sagen, als daß er ein talentvoller, in Zürich lebender junger Dichter sei, dessen „Gedichte eines Lebendigen“ großes Aufsehen erregten. Die genannte Zeitschrift brachte gleichzeitig durch den Abdruck des Nachrufs an den jung gestorbenen Dichter Georg Büchner eine Probe der Herwegh’schen Muse, von welcher Probe ich nur die ersten sechszehn Verse hier anführen will.

„So hat ein Purpur wieder fallen müssen!
Hast eine Krone wiederum geraubt!
Du schonst die Schlangen zwischen deinen Füßen
Und trittst den jungen Adlern auf das Haupt!
Du läßt die Sterne von dem Himmel sinken
Und Flittergold an deinem Mantel blinken!
Sprich, Schicksal, sprich, was hast du diesen Tempel
So früh in Schutt und Asche hingelegt?
So rein und frisch war dieser Münze Stempel –
Was hast du heute schon sie umgeprägt?
O, theurer als im goldenen Pokale
Einst jene Perle der Kleopatra,
Lag eine Perle in dem Haupte da;
Der Mörder Tod schlich nächtlich sich in’s Haus,
Der rohe Knecht zerbrach die zarte Schale
Und goß den hellen Geist als Opfer aus.“

Es geht uns Lesern bei der Lectüre von Gedichten nicht selten wie bei der Musik. Die gedruckten Worte sind nur eine Partitur, und die Noten gehen nur dem Musiker, welcher Partituren zu lesen versteht, durch das Auge auch in’s Ohr. Die Melodie und die Harmonie der gebundenen Rede kommen dem Laien erst zum wahren Verständniß durch die Instrumentation, und diese ist in der Poesie das hörbare Wort, die Rhetorik. Möge der Leser also die oben citirten Verse laut lesen und die Frage gestatten, ob er in der ganzen deutschen poetischen Literatur ein Beispiel finden kann, welches in sechszehn Zeilen (ich gebrauche absichtlich das Wort „Zeilen“) einen solchen Reichthum an poetischen Bildern enthält. Dieser Reichthum ergießt sich über das ganze Gedicht. Wir brauchen uns nicht erst darüber zu verständigen, was den Werth einer Dichtung ausmacht. Es ist die Reinheit der Form, verbunden mit dem Reichthum der poetischen Gedanken und Bilder, und vor Allem die Zwanglosigkeit, die weiche, melodiöse Ungezwungenheit, mit welcher der Dichter die Bilder vor uns entrollt. Diese Aufgabe löste Herwegh in seinem Nachruf in einer so vollendeten Weise, daß er in der Form sogar den mitunter fast bis zur Pedanterie gewissenhaften Platen überflügelte und in der Phantasie eine fast dämonische Verschwendung zeigte. Der tiefe Eindruck, den das Gedicht auf uns Alle machte, ist um so maßgebender, als der Name Büchner in der Literatur in weiteren Kreisen kaum einen Klang hatte, folglich der Dichtung Herwegh’s nicht einmal eine „Reclame“ machen konnte. In solcher Weise durch Lewald’s „Europa“ introducirt, hatte also in unsern damaligen Kreisen in der österreichischen Hauptstadt die politische Tendenz der Herwegh’schen Muse, die ihm in Deutschland so rasch und mächtig Bahn brach, keinen Einfluß auf unser Urtheil, höchstens etwa die pantheistische Weltanschauung, welche sich wie ein rother Faden durch den ganzen Nachruf zieht und in den Worten ihren Glanz- und Höhepunkt findet:

„Dort in den Nachen wirft mit kalter Hand
Sein letztes Gold das herbstlich gelbe Land,
Und meine Seele schaut in süßer Ruh’
Der Perlen Träufeln von den Rudern zu,
Wie sie von Ringen hin zu Ringen tönen,
Ein fliegendes Symbol der Ewigkeit,
Und endlich sich, von jeder Form befreit,
Gestaltlos mit dem Element versöhnen.“

Versetze sich der Leser im Geist mit uns in die damalige Zeit zurück. Er braucht nicht in der Hauptstadt der Phäaken, welche im Anfange der vierziger Jahre Wien war, gelebt zu haben. Der Schnepper des Heine’schen Witzes, das Tuthorn des „politischen Nachtwächters“ (Dingelstedt) war so ziemlich Alles, was die Poesie auf dem Gebiete der politischen Tendenzlyrik geleistet hatte. Deutschland philosophirte in dem stehend gewordenen Sumpfe des Ultraconservatismus. Die Philosophen, welche auf Erden Nichts ausrichten konnten, banden mit dem Himmel an. David Strauß im „Leben Jesu“ wurde überflügelt von den „deutschen Jahrbüchern“ von Ruge und Echtermeyer. Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und Andere repräsentirten sich als diejenigen, welche Hegel besser „verstanden“ haben wollten, als dieser sich selbst verstanden haben konnte. Die „Jung-Hegelianer“, – so nannte man sie – suchten „dem Himmel den Blitz zu entreißen“. Nach dieser abstracten Prämisse sollte ja die Consequenz:

„den Tyrannen das Scepter“

der Menschheit wie die gebratene Taube von selbst in den Mund fliegen, und wir waren Alle sehr böse, als der frivole Heine diesen ungläubigen Glauben als ein „jung-hegelsches Strohdreschen“ bespöttelte.

Daß in einer solchen Zeit, wo auf der einen Seite der deutsche Genius die Erde per Schnellpost floh, um den lieben Engelein, welche auf kalten, feuchten Wolken sitzen und „Hallelujah“ singen, das Leben sauer zu machen, und wo auf der andern Seite neben dem bureaukratischen Zopfthume ein in Flanell eingewickelter Liberalismus glänzte, welcher heimlich nach dem Champagner der Revolution lechzte und öffentlich das Messer der „Gesetzlichkeit“ im Munde führte – ich sage, daß in einer solchen Zeit die Phrase der politischen Lyrik, keck auftretend, Sensation erregen mußte, war natürlich. Da sie aber in Herwegh in vollendeter Schönheitsform auftrat, so wurde die Phrase zur Sirene und selbst der hochbegabte Friedrich Wilhelm der Vierte war nicht in dem Grade ein Ulysses, um sich die Anerkennung des gefährlichen Sirenengesanges versagen zu können.

„Ich wünsche Ihnen von Herzen einen Tag von Damaskus, und Sie werden Großes leisten,“ sagte der König von Preußen persönlich zum Dichter Herwegh, einem Dichter, welcher von sich selber gesungen hatte:

„Ich bin kein froher, freud’ger Buhle,
Dess’ Wappen Rose und Pokal:
Ich sitz’ als Geist auf Banquo’s Stuhle
Bei jedem frechen Königsmahl.“

Wie es Erscheinungen in der Natur giebt, die wir fürchten und hassen, die wir aber anzustaunen und zu bewundern gezwungen sind, wie den Ausbruch eines Vulcans, den Orkan des Oceans, den Donner der Schlachten etc., so kann auch die Sprache der Dichtkunst durch die Schönheit der Form und die wenn auch negative Macht der Gedanken magnetisch auf den Geist der Menschen wirken. – Ulysses! Ulysses! die Sirenen singen! Stopfe dir selber Wachs in die Ohren; denn leihst du ein Ohr ihrem Gesange, so öffnen wir beide Ohren!

Das königliche Wort, obgleich es nach „Damaskus“ deutete, vollendete die Triumphe, welche Herwegh im Anfange der vierziger Jahre in ganz Deutschland feierte. Ein Band Gedichte eines [320] bis dahin völlig unbekannten Poeten war ein Ereigniß geworden. Die Ehrenbezeigungen, welche Herwegh auf seiner Reise durch Deutschland erhielt, schienen sich sogar officiös zu färben. Bekanntlich nahm er ein gleichzeitiges Wort des Königs: „Wir wollen offene Feinde sein“, etwas allzu wörtlich und machte von dieser „offenen Feindschaft“ in der Leipziger „Allgemeinen Zeitung“ einen so unhöflichen Gebrauch, daß die preußische Regierung ihn noch weiter zu gehen zwang, das heißt ihn Landes verwies.

Der schwache Mensch bleibt Mensch. Es war, genau genommen, kein Wunder, wenn einem jungen Poeten nach so vielen positiven und negativen Huldigungen der Kamm schwoll und er sich dem Wahne überließ, genug für die Unsterblichkeit gearbeitet zu haben. Herwegh ließ im Schaffen nach; er gab noch einen zweiten Band der „Gedichte eines Lebendigen“ heraus, aber – – –

Doch ja! das Urtheil der Welt ist oft ein ungerechtes. Die königliche Ungnade, die Ausweisung aus Preußen hatten dem loyalen Unterthanenverstande das Recht gegeben, nach dem neuen poetischen Gestirne mit Steinen und Koth zu werfen; dem Liberalismus der Philister flößte sie Furcht ein. Obgleich dieser zweite Band der „Gedichte eines Lebendigen“ Erzeugnisse enthielt, wie sie in wunderbarer Schönheit kaum der erste aufzuweisen hatte, so zerrte man jetzt bereits auch den Dichter von seinem Piedestal herunter. Gewiß, ich will die vielen wohlfeilen und verbissenen „Kalauer“ satirischer Xenien nicht vertheidigen, noch den thörichten Wahn des Poeten, der sich zum praktischen Politiker erhoben glaubte, aber es empörte nicht allein mich, sondern auch viele, viele Andere, welche zur Person und zu dem Standpunkte Herwegh’s eine ablehnende Stellung einzunehmen gezwungen waren, daß man den dichterischen Genius zum Prügeljungen für die Sünden und Irrthümer des Menschen und Politikers machte. Der Ausruf:

„Raum, Ihr Herr’n, dem Flügelschlag
Einer freien Seele!“

ist gleichwohl durch den zweiten Theil der Gedichte, trotz aller Neidhammelei, eine classische Sentenz geworden.

Liest man heute die „Gedichte eines Lebendigen“, so wird uns ihre tendenziöse politische Seite kalt lassen, aber doppelt so schön, wo uns die Programme todter Parteien nicht mehr am Gängelbande führen, wird der poetische Werth der Herwegh’schen Dichtungen hervortreten. Ihr Eindruck ist heute ein mehr künstlerischer. Die Phrasen sind wie die Posaunen des Orchesters in einer Ouverture. Sie nehmen Theil am Ganzen, doch wir geben ihnen heute nicht mehr das Vorrecht, daß wir sie als leitende Instrumente betrachten. Sie schildern uns in den Augenblicken, wo sie einsetzen, nur noch eine Zeitepoche, und wir gestehen uns selbst ein, daß ihr Geblase keine Mauern von Jericho umwerfen kann.

Die Posaunenstöße in den „Gedichten eines Lebendigen“ aber machten Schaaren von Finken und Zeisigen in dem deutschen Dichterwalde lebendig. Was zwitschern und piepsen konnte, zwitscherte und piepste „Tendenz“. Wenn Deutschland hätte mit Versen befreit werden können, es wäre eine Musterrepublik, deren Glanz bis in die vorsündfluthlichsten Zeiten hätte zurückstrahlen müssen. Und wenn die Verse der Nachtreter Herwegh’s Dolche gewesen wären, es lebte heute kein „Tyrann“ mehr auf Erden. Man muß den guten Willen für die That nehmen. Als nun später, im Gegensatz zu Herwegh, auch fromme und loyale Poeten das Schwert an die Leier schnallten, würgte man sich gegenseitig auf dem deutschen Parnaß und der poetische Bürgerkrieg verzehrte sich selbst, wie alle Bürgerkriege es thun.

Ich lernte Georg Herwegh im September 1841 in Zürich kennen. Damals war er in seiner äußeren Erscheinung noch der „arme Poet“, in seiner Toilette noch ein wenig Bär. Es fehlte ihm das „Loch im Aermel“ nicht. Er war ziemlich still in großer Gesellschaft, aber blitzend in der Conversation unter vier Augen und dabei von einer gewinnenden Gutmüthigkeit. In der Tasche trug er damals Spinoza’s Ethik mit sich. Es überraschte mich nicht wenig, als wir einst an einem schönen Herbstmorgen eine lange Spazierfahrt auf dem Zürichersee machten und Herwegh die Ruder führte, daß er mich bat, im Lesen laut fortzufahren, wo er am Abend vorher stehen geblieben war. Es war der zweiunddreißigste Satz des ersten Abschnitts: „Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nur nothwendige genannt werden“. Ich gestehe es, die in ihrer Form trockene Darlegung des großen Pantheisten in der uns umgebenden größeren pantheistischen Natur interessirte mich sehr wenig. Die „Perlen träufelten“ von den „Rudern“, und ihr „Tönen von Ringen zu Ringen“, ihr endliches gestaltloses Versöhnen mit dem „Element“ machte mir den ganzen Pantheismus klarer als die mathematische Kette von Beweisen Spinoza’s es konnte. Beim Glase Bier unweit Neumünster, wo wir an’s Land gingen, wanderte die speculative Philosophie wieder in die Rocktasche, und der Dichter und Weltschmerzler trat wieder in den Vordergrund in seiner ganzen idealistischen Natur.

Bald darauf machte Herwegh eine Reise nach Paris, besuchte Börne’s Grab und schloß intime Freundschaft mit Heinrich Heine, hingerissen von „dessen unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit“, wie er mir selbst erzählte. Er kehrte von Paris mit einer feinen Außenseite zurück; sein Geist war voll der widersprechendsten Richtungen, welche in der Seinestadt damals .Mode waren. Der Socialismus spielte darin keine Nebenrolle. Das melodramatisch ergreifende Gedicht „Die kranke Liese“ im zweiten Theile der „Gedichte eines Lebendigen“ ist ein auf dem Pariser Pflaster gereifter Vorwurf. Die naive Schwabennatur erlag der chaotischen Weltstädterei, und ein wunderbares Gemisch von Haß und Liebe für Paris, eine etwas petrolös angehauchte Weltstimmung zeigte sich schon damals. Die bittern, obschon selbstverschuldeten Erfahrungen in Deutschland, seine in Zürich bald darauf folgende Ausweisung, in welche unter vielen anderen Deutschen auch ich hineingerissen wurde, vollendeten den Proceß der Gemüthsverbitterung, und jedesmal, wenn ich in Zwischenräumen mit Herwegh zusammentraf, hatte er ein neues heroisches Mittel in petto, um den Lazarus Menschheit von seinen Wunden zu heilen. Die meisten dieser Mittel waren nach dem Recepte des Bären, welcher seinem schlafenden Herrn die Fliege von der Stirn jagen wollte und sich, in Ermangelung des Steins der Weisen, dazu eines schweren Feldsteins bediente.

Aber – ich komme immer wieder darauf zurück – jene seltsame Zeit, die weder Fleisch noch Fisch war, erklärt das Alles, wenn sie es auch nicht rechtfertigen kann. Herwegh war zu lange das verzogene Kind der theoretischen Revolution gewesen, um im praktischen Leben nicht ihr ungezogenes werden zu müssen. Dazu die, was wirkliches Arbeiten betrifft, etwas träge Natur, der hieraus folgende Müßiggang, der ja aller möglichen Dinge Anfang ist, ein Wollen, welches sich in Ermangelung von Können, im periodischen Sensationmachen gefiel, das aber, hinter den Thatsachen der Zeit zurückgeblieben, meistens spurlos vorüberging – das Alles bewirkte, daß der Mitwelt von dem schönen Dichtergenius wenig mehr bekannt geblieben ist, als einige politische und literarische Donquixoterien. Andere Leute haben sie auch begangen, aber sie konnten sie durch rastloses Arbeiten vergessen machen. Bei Herwegh dienten sie seinen Gegnern als Anhaltspunkte, und der Dichter mußte die Zeche bezahlen, wenn der Politiker und Mensch stolperte. Das Echo auf den Namen Herwegh antwortete zuletzt nicht mehr mit den „Gedichten eines Lebendigen“, sondern mit schreiendem Hinweis auf diesen oder jenen Streich, den er als Politiker und Mensch geführt hatte und meiner festen Ueberzeugung nach nicht geführt haben würde, wenn die poetisch naive Grundanlage seines Naturells nicht im schönsten Blühen erstickt worden wäre. – –

Herwegh ist todt – einst von Hunderttausenden auf den Schild gehoben und vergöttert, nur von Wenigen beweint, ein Meteor auf dem Wege zu den Sternen, in den Boden der abstractesten Parteialltäglichkeit gefallen. Aber trotz alledem war Herwegh ein Dichter, vollendet in der Form, berauschend durch die Gedanken, magnetisch fesselnd durch die Plastik und das Colorit seiner Gebilde. Jetzt, da er todt ist, werden die Parteizeitungen wohl weniger Anstand nehmen, den Dichter der Vergessenheit zu entreißen. Der strengste Richter darf ja jetzt, unbeschadet seiner Regulative, die Person von der Sache trennen. Wir schlagen uns ja nicht mehr. Der Soldat im Kriege begräbt seinen Feind mit militärischen Ehren und zergliedert nicht die individuellen Fehler und Schwächen desselben. Er begräbt in ihm den Kämpfer.

Und somit dürfen auch wir ohne jeden menschlich schwachen Hintergedanken dem Dichter auf den Leichenstein schreiben:

„Ein unvollendet Lied sank er in’s Grab;
Der Verse schönsten nahm er mit hinab.“

W. Marr.