Frankreich und England. Drei Blätter – Das Thor von Calais

Frankreich und England. Drei Blätter – England W. Hogarth’s Zeichnungen, nach den Originalen in Stahl gestochen/Zweite Abtheilung (1840) von Franz Kottenkamp
Frankreich und England. Drei Blätter – Das Thor von Calais
Das Hahnengefecht
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Das Thor von Calais.
Oder:
Frankreich und England.


Drittes Blatt.
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DAS THOR VON CALAIS.
GATE OF CALAIS.

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Das Thor von Calais.


(The gate of Calais.)



Dies Blatt gehört eigentlich nicht zu den vorhergehenden Bildern, denn es wurde 1747 gemalt, wie bereits in der Lebensbeschreibung Hogarth’s erwähnt ist. Dort wurde auch die Veranlassung des unangenehmen Vorfalls erzählt, welcher den Dichter bewog, sich durch diese Composition zu rächen. Da dieselbe jedoch in der Darstellung des alten Frankreichs mit Hogarths „Invasion“ zusammentrifft, mag es unmittelbar nach derselben seine Stelle finden.

Die Scene der Darstellung ist der Raum zwischen dem inneren und äußeren Festungsthore der Stadt, jedoch mit der Perspective in eine Straße derselben, wo man Einwohner erblickt, die vor einer Prozession mit der Hostie und dem Kreuze niederknieen. Das Thor zeigt noch neben [614] dem französischen auch das englische Wappen mit einem Kranz von englischen Rosen, welches noch von der Zeit vor der Königin Maria herstammt, unter deren Regierung die Stadt Calais, der letzte Punkt der englischen Besitzungen in Frankreich, sich an den Herzog von Guise durch Capitulation ergab. Seitwärts vom Thore hat der Künstler seine Verhaftung dargestellt. Während er zeichnet, legt ihm ein Sergeant die Hand auf die Schulter. Von dem Körper desselben ist zwar die Hand nur sichtbar, man erkennt jedoch den Rang aus der hervorragenden Hellebarde.

Den wahren Mittelpunkt der Composition bildet „John Bull’s erhabene Panacee“ ein kolossaler Rinderbraten, welcher von England so eben gelandet, an Madame Grandsire adressirt ist, und von deren Koch zum Orte der Bestimmung getragen wird. Daß ihm die Ehre von so manchem Milor Anglais widerfährt, verdient er vollkommen, denn er ist Ritter und adelich und nach englischem Begriff von alter Familie. Als nämlich der muntere König Carl II. von seiner unfreiwilligen Reise zurückkehrte, woran er bis an sein Lebensende mit einem gewissen Schrecken dachte[1], und als ihm nach der Landung in Dover der erste altenglische Rinderbraten wieder vorgesetzt wurde, zog er voll Freude den Degen und schlug den Braten in aller Form zum Ritter (knighted it), weßhalb derselbe nicht mehr den Namen des bloßen Loin of beef (Lendenstück) sondern auch das aristokratische Sir[2] vor demselben führt. (Sir Loin oder Sirloin). Uebrigens verdient der Ritter seinen aristokratischen Rang auf diesem Blatte, denn die übrigen Nahrungsmittel sind, außer den Paar [615] Fischen, darauf berechnet, den Soldaten des grand monarque die schlanke und kriegerische Taille zu erhalten, Pastinacken, soupe maigre, Zwiebeln u. s. w. Der Koch mit dem eleganten Haarbeutel sinkt unter der Last beinah zusammen, ein Capuziner im höchsten Entzücken betrachtet und segnet den Ritter, zwei französische Soldaten gerathen in wehmüthiges Erstaunen. Der eine, welcher noch kriegerische Haltung zeigt, offenbart den Zustand der Armee unter Ludwig’s XV. Mätressen-Regierung zur Genüge. Der arme Teufel ist gegen die Zugbrücke des Thores so gestellt, daß es scheint, er hänge in Ketten; Strümpfe, Schuhe und Uniform sind zerrissen, die Beinkleider werden durch die Spitze eines Bratspießes zusammengehalten und bedürfen ohnedem noch der schützenden und mit papierner Manschette bewehrten Hand. Der andere Soldat, welcher sich seines Elends, so wie der Behandlung seiner Kameraden, vollkommen bewußt zu sein scheint, verschüttet in der Gemüthsbewegung sogar seine Wassersuppe. Von diesem berühmten Nahrungsmittel (der Soupe maigre,) für die damalige Canaille wird ein ganzer Topf in die Wachtstube getragen. Die Träger sind Figuren, welche der sogenannten alten Regierung (ancien regime) vollkommene Ehre machen, und die sich wahrscheinlich, durch den Anblick des Rinderbratens zur Rebellion aufgehetzt, von ihrem Glück unter der glorreichen Monarchie der Lilien unterhalten. Noch zwei andere Figuren hat der Ritter aufgeregt. Die eine ist ein kriegsgefangener Irländer, welcher, noch nicht nach Haus geschickt, seine Soupe maigre mittlerweile verspeist (das Blatt wurde unmittelbar nach dem Frieden von Aachen ausgegeben) aber dabei die Hoffnung hegt, er werde bald von dem Jammer derselben erlöst werden. Das Gesicht ist hinsichtlich der Nationalität so treffend ausgedrückt, und zeigt so besondere Anlage zum sogenannten Irish Bull, daß ein Jeder, welcher jemals Individuen aus der niedern Volksklasse der „Schwester-Insel“ (Sister Island) gesehen hat, Herrn Paddy auf der Stelle wiedererkennt. Dieser trägt auch die Livree der gemeinen Irländer, d. h. das zerlumpte Kleid. Hogarth hat übrigens den Irländern hier ein Compliment gemacht, nämlich über ihre Tapferkeit, die Niemand bezweifelt, obgleich Erin’s Söhne mitunter im Anpreisen derselben etwas stark [616] auftragen[3]. Pat hat einen von Kugeln durchlöcherten Hut. In ganz anderer Stimmung befindet sich unter dem äußern Festungsthor ein Schotte, mit vernarbtem Gesicht, an dem Tartan und an der Mütze kennbar; Ireland und andere Ausleger glauben auch dieser sei Kriegsgefangener, allein die Sache scheint sich anders zu verhalten. 1747 hatten nämlich die Engländer noch keine hochländischen Regimenter. Zwei Jahre früher hatte jedoch die durch Landung des Prätendenten aufgeregte Rebellion der schottischen Jacobiten stattgefunden, und flüchtige Schotten, besonders Hochländer, denen es nach der Schlacht bei Culloden gelang in’s Ausland zu fliehen, waren damals über ganz Europa, besonders aber über Frankreich verbreitet. Diese Flüchtlinge, meistens aus höherem Stande, theilten das Unglück aller politischen Emigranten; das Land, welches ihnen Zuflucht gewährte, bot ihnen zugleich Hunger und Elend. In mehreren englischen Schriftstellern jener Zeiten kann man ergreifende Schilderungen von der traurigen Lage dieser Flüchtlinge in Boulogne und Calais finden, wo sie sich in der Nähe ihres Vaterlandes vorzugsweise aufzuhalten pflegten, bis die Milde der englischen Regierung in dem Zeitraum, wo keine Gefahr von den Jacobiten mehr zu erwarten war, ihnen die Rückkehr allmählig erlaubte. Von dieser Art ist der Schotte auf vorliegendem Blatte. Ueber ihm hängt die Kette der Zugbrücke mit dem Ringe, als solle damit angedeutet werden, in England harre seiner der Tod des Hochverräthers. Sein Schmerz wird beim Anblick des Rinderbratens erhöht, denn sein Elend ist groß; sein Mittagmahl besteht in einem Stück Brod und einer Zwiebel; sogar die Herzstärkung des Schotten, der Schnupftaback (Scotch snuff) ist ihm ausgegangen, denn seine Dose liegt geleert neben ihm auf dem Boden. – An der andern Seite sieht man ein Fischweib und zwei Gemüseverkäuferinnen. Bei der ersteren scheint sich bereits jener gottlose Geist zu regen, welcher nach dreiundvierzig Jahren der hier dargestellten Canaille noch mehr in den Kopf [617] stieg, wie es der Künstler wenigstens bei einigen Figuren darstellt. Das Fischweib anticipirt bereits die Rolle ihrer Zunftgenossen, der Dames de la Halle, und weist spöttisch auf eine Glattroche. Ihr eines Auge ist zugedrückt, und sie gibt somit einen Wink, daß sie über das zugerundete Gesicht des Capuziners spotten will, welches sicherlich einige Aehnlichkeit mit dem Kopfe der Glattroche bietet. Bei diesem Capuziner hat Hogarth übrigens noch eine besondere Malice ausgeübt. Es ist nämlich das Porträt seines Reisegefährten auf der unglücklichen Tour, des Kupferstechers Pine, welcher zu jener Zeit durch seine Zeichnungen zu einer mit Kupferstichen erläuterten Ausgabe des Horaz bekannt war. Nachdem dieser Künstler, ohne es zu wissen, als Modell gedient hatte, wurde er auf dem Bilde sogleich erkannt, und erhielt den Spottnamen Friar Pine. Seine Bitten, Hogarth möge das Gesicht wenigstens unkenntlich machen, blieben vergeblich.

In der Biographie wurde bereits erwähnt, daß Hogarth in dem Originalgemälde an die Stelle des durch einen Zufall verdorbenen Kreuzes auf dem Thore eine halb verhungerte Krähe setzte. Auch diese war durch den in Frankreich ungewöhnlichen Duft des nahrhaften Rinderbratens angelockt, auf den sie eben so melancholisch blickte, wie der Soldat mit der Wassersuppe.

Der Rinderbraten, oder vielmehr ein bekanntes Volkslied, welches denselben betrifft, hat übrigens auch das Motto zu dem Bilde gegeben. Dasselbe heißt

Oh the roastbeef of old England.
Rinderbraten von Alt-England!




  1. Burnel erzählt, Carl habe während seiner letzten Regierungsjahre, wo ihn sein Bruder, der Herzog von York und der bald darauf vertriebene Jacob II. zu unpopulären Maßregeln fortwährend anreizte, bei einer solchen Gelegenheit gesagt: Brother I am too old for travelling now; You may do it after me. (Bruder, ich bin jetzt zu alt zum Reisen; Ihr mögt nach mir in’s Ausland gehen.)
  2. Sir, bekanntlich der Titel der Baronets, Knights u. s. w.
  3. So sagte vor einigen Jahren der große Wortführer der Irländer, O’Connell, natürlich nicht im Parlamente, sondern in einer Volksversammlung zu Dublin: die Schlacht von Waterloo sei vorzugsweise von Irländern gewonnen worden.