Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 01

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Am ersten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 16, 19–31.
19. Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und köstliche Leinwand, und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20. Es war aber ein Armer, mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thür voller Schwären. 21. Und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären. 22. Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schooß. Der Reiche aber starb auch, und ward begraben. 23. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hub er seine Augen auf und sahe Abraham von ferne und Lazarum in seinem Schooß, 24. rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Waßer tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. 25. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet und du wirst gepeiniget. 26. Und über das Alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestiget, daß die da wollten von hinnen hinab fahren zu euch, können nicht und auch nicht von dannen zu uns herüber fahren. 27. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28. Denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29. Abraham sprach zu ihm: Sie haben Mosen und die Propheten; laß sie dieselbigen hören. 30. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham; sondern wenn einer von den Todten zu ihnen gienge, so würden sie Buße thun. 31. Er sprach zu ihm: Hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob jemand von den Todten auferstünde.

 ALle Offenbarungen Gottes in Christo JEsu sind uns nun seit Advent gezeigt und gepredigt worden. Das Evangelium des heutigen Sonntags öffnet uns den Blick in die Ewigkeit und gibt uns den Beweis, daß alle Offenbarungen Gottes nichts anderes als unser ewiges Heil beabsichtigen, daß ewig wohl geschieht dem Menschen, der ihrer in seinem hiesigen Leben achtet, und ewig wehe dem, welcher sie verachtet. − Was uns in solcher Absicht unser Text erzählt, wurde von vielen als ein Gleichnis angesehen, obschon gar kein Vergleichungspunkt und kein einziger Umstand da ist, welcher diese Ansicht rechtfertigte. Gewis ist es nichts anders, als eine Geschichte, mitgetheilt von dem, der da weiß, wie es im Himmel und wie es in der Hölle hergeht, − reich an Lehre für uns alle und an Blicken hinein ins Leben der abgeschiedenen Seelen. Gewis, wenn wir über das Leben nach dem Tode weiter gar nichts hätten, als diese eine Geschichte, so würde es schon eine Lüge sein zu sagen, daß uns Gott unsere ewige Zukunft verhülle, daß man über das Land der Todten keinen Bescheid habe.

 Es ist nicht möglich, daß man im kurzen Zeitraum einer halben Stunde den vollen Inhalt dieses Evangeliums darlege. Ich hoffe aber, es werde euch| auch ein kurzer Abriß deßen, was am meisten hervorragt, eine Befriedigung gewähren. Erlaubet mir, daß ich gemäß dem Evangelium in kurzen Sätzen vom Jenseits rede und zuletzt vom Wege dahin.

 1. Namentlich wieder in unsern Tagen reden viele von drei Orten der Ewigkeit, von einem Orte seligen Friedens, von einem Orte der Qual und von einem dritten, wo diejenigen zur Entscheidung kämen, welche hier gestorben sind, ohne für Himmel oder Hölle reif geworden zu sein. Sie werden durch dieses Evangelium vollständig widerlegt, welches durchaus nur von zwei Orten weiß, vom Schooße Abrahams und vom Orte der Qual. Im Schooße Abrahams ruht der fromme Arme, im Orte der Qual befindet sich der gottvergeßene Reiche; zwischen den beiden Orten ist eine Kluft, die von niemand bewohnt, für die Seligen, wie für die Verfluchten gleich unübersteiglich ist. Es ist diese Scheidung des Aufenthalts aller abgeschiedenen Geister um so bedenklicher für alle Liebhaber eines dritten Ortes, als gerade der Reiche gar nicht wie ein ausgesuchter Bösewicht, sondern als ein Mensch geschildert wird, dem man allenfalls gerne den dritten Ort, wenn es einen gäbe, anweisen würde. Denn was wird von ihm und seinem hiesigen Leben im Evangelium Uebles erzählt? Nicht einmal auffallende Unbarmherzigkeit gegen Lazarus wird ihm Schuld gegeben. Das Wort hat er überhört, wie viele Tausende, das ist alles, − und das konnten ja, wie bei Tausenden, die jetzt leben, seine Verhältnisse mit sich gebracht haben, und eben deshalb könnte man eben geneigt sein, ihn in einen dritten Ort zu schicken.


 2. Manche in unsern Tagen haben sich Mühe gegeben, zu beweisen, daß die Seele im Sterben noch Zeit habe, sich zu entscheiden, − daß man auf der Schwelle zwischen Zeit und Ewigkeit noch einholen könne, was man im langen Leben versäumte. Sie haben den Zustand des Sterbens ausgedehnt und gesucht, ihn aus einem Thale des Todesschattens in eine stille Abgeschiedenheit der Seele zu verwandeln, während deren die Kräfte des heiligen Geistes mächtiger eindringen und wirken könnten. Das heißt gewaltsam Hoffnungspforten öffnen wollen − und gewis gibt zu einer Lehre dieser Art unser Evangelium gar keinen Anlaß. Im Gegentheil legt es aber nahe, daß der Tod ein Augenblick, ein kurzes „Nun“ sei, ein rascher Schritt zwischen Zeit und Ewigkeit, eine dunkle Kluft, über die man durch eine gewaltige Hand hinübergeführt werde. „Er starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schooß“, so heißt es von dem armen Lazarus, und das predigt gewis nicht anders, als wie wir sagten, nämlich von einem schnellen, unaufhaltsamen Wechsel zwischen Zeit und Ewigkeit, von einer dunklen Kluft, über die man durch eine gewaltige Hand hinübergeführt werde. Wir begehren die Hand des Allmächtigen nicht zu verkürzen, wollen auch gar nicht leugnen, daß er einen oder den andern im Todesthale aufhalten und auf dem Scheidepunkte zwischen hier und jenseits zur Besinnung bringen könne; aber wir haben keine Ursache, solcher Fälle viele zu machen und unsere armen Seelen mit vergeblichen, grundlosen Hoffnungen aufzuhalten. Es ist am besten, man sieht von allen Ausnahmen, die Gott machen könnte, völlig ab und bleibt bei der gemeinen Wahrheit, welche keinen betrügt, nemlich dabei, daß jenseits kein Ort der Entscheidung mehr ist, und auf der Schwelle zwischen hier und dort auch keiner, daß der Tod eine schnelle „Veränderung“ ist, wie ihn Hiob nennt, ein Wechsel, in den sich der am getrostesten begeben kann, der Herz und Haus zuvor bestellt hat.


 3. Viele stellen sich das Leben der Seele nach dem Tode so ganz verschieden von diesem Leben vor, als hätten beide gar nichts Gleiches. Man denkt sich dasselbe wie eine Art von bloßem Gedankenleben; den Wegfall des Leibes nimmt man für einen Grund, die Seele ohne alles Organ und Werkzeug zu denken, damit sie sich kund geben und mittheilen könnte. Man hat zwar gar keine Erfahrung und Kunde von einem solchen Leben; man sucht es sich auch nicht recht klar zu machen; man läßt gerne im Nebel und im Ungewissen, was allerdings als ein pur menschliches Gedicht keine beßere Würdigung verdient. Der Mensch im Fleisch geräth auf gespenstige Gedanken, wenn er sich das Seelenleben nach dem Tode vorstellen will; in den Offenbarungen des HErrn aber ist alles anders und man erstaunt wie ganz dem zeitlichen Leben ähnlich der untrügliche Mund JEsu Christi| selbst das Leben der abgeschiedenen Seelen beschreibt. − Nachdem Lazari Seele vom Leibe getrennt ist, wird sie von Engeln in Abrahams Schooß getragen. Wir denken uns ein Tragen nicht ohne irgend eine Last: die Seele denken wir uns als eine Art von körperlichem Nichts, welches gar nicht getragen werden könne; und hier finden wir nun, daß sie etwas sei, daß sie getragen werden konnte und getragen wurde, und zwar von Engeln, − daß also Engel die Seelen von dem Hier zum Dort, vom Jammerthal der Erde zum seligen Orte himmlischer Ruhe bringen. Man denke sich das so geistig man immer will, das bleibt doch: die abgeschiedene Seele verändert den Ort, ist also etwas im Raum, wird von Engeln erkannt, von Engeln auf ihrem Weg von hier nach dort gefördert. − Und wie wunderbar stimmt das Leben dort mit dem hiesigen in seiner Art und Weise zusammen! Die Seele des reichen Mannes in der Hölle sieht, hört, schmeckt, fühlt und spricht. Dinge, welche wir uns ohne Leib nicht zu denken wißen, finden wir hier im Seelenleben vor. Es will auch gar nicht von Statten gehen, wenn man sehen, hören, schmecken, fühlen bloß als verschiedene Worte für das eine Wort „Wahrnehmen“ − und „sprechen“ für gleichbedeutend mit „sich mittheilen“ nimmt. Verallgemeinerung der Begriffe paßt zu keiner Geschichte, welche der HErr erzählt. Es ist gar kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß diese Ausdrücke bildlich und bloß darum so gewählt seien, weil uns der HErr anders nicht verständlich sein würde. Warum sollte, wenn es anders wäre, sich nicht mindestens die Ausdrucksweise haben finden laßen, die man heut zu Tage beliebt hat? Der HErr und Sein Geist würden für Zustände, welche immerhin den Menschen betreffen, gewis leicht geeignetere, und treffendere Worte gefunden haben, wenn es solche gegeben hätte. Laßen wir doch alles, wie es ist, auch wenn wir es nicht faßen können! Trauen wir dem HErrn und Seinem Wort! Uebertroffen werden könnte allenfalls Sein Wort durch die volle Wesenhaftigkeit des von Ihm geschaffenen Seelenlebens; denn Seine Gnade und Erbarmung ist groß; aber hinter dem Worte zurück bleibt die Gabe des himmlischen Lebens nimmermehr. Laßen wir uns durch eitles menschliches Geschwätz nicht irre machen an den Reden JEsu! Wir möchten sonst von Stufe zu Stufe abwärts geführt und zu dem jämmerlichen Unglauben gebracht werden, der, indem er an den ewigen Verheißungen zweifelt und rüttelt, nur sich selbst quält. Was hat man davon, wenn man, wie es geschehen, der abgeschiedenen Seele alles Leben und alles Selbstbewußtsein abspricht? Der HErr sagt ja doch anders. Er schreibt den Seelen Selbstbewußtsein und zwar selbst in der Hölle unverlierbares, unaufhörliches zu, dazu ein Wahrnehmen und eine Mittheilungskraft, welche hinter dem leiblichen Leben nicht im mindesten zurückstehen. Will man mit dem HErrn streiten? Will man wider alles eigene Glück, wider die Bedingungen alles Lebens, auch des ewigen Lebens kämpfen? Das sei ferne! Des HErrn Wort bleibe stehen und von uns komme nicht heilloses Zweifeln, sondern Amen und Halleluja!
 4. Viele haben die bangen Fragen aufgeworfen, ob denn jenseits auch eine Erinnerung an das diesseitige Leben übrig bleibe, ob nicht eine Vergeßenheit eintrete, wenigstens bis zum Tage der Auferstehung, ob nicht das Seelenleben nach dem Tode, wenn auch selbstbewußt, doch ein ganz neues, mit diesem nicht zusammenhangendes, ein zweites sei? Bange Fragen, welche aus diesem Evangelium eine eben so gewisse, als freudige Antwort entnehmen können. Der reiche Mann weiß ganz gut, daß er ärntet, was er auf Erden gesäet hat; er erinnert sich seines Lebens und deßen seiner Brüder genau; sein jenseitiges Leben erscheint ganz als eine Fortsetzung des hiesigen und so völlig als ein Ganzes mit diesem, daß er für eine selige Nachfahrt der Seinigen Sorge trägt. − Und wenn etwa jemand Lust haben sollte, die genaue und peinigende Erinnerung an dieses Leben, welche wir bei dem Reichen finden, als Strafe auszulegen, dagegen aber den Zweifel, ob auch die Frommen die Erinnerung des zeitlichen Lebens übrig behalten, wie bisher ferner fest zu halten; so können wir einen solchen überwinden und ihm für die Erinnerung der Seligen vollen, genügenden Beweis geben. Ist denn nicht auch die Seele Abrahams, mit welcher der Reiche und welche selbst mit dem Reichen im Gespräch ist, eine abgeschiedene Menschenseele, ja eine Fürstin und Vorsitzerin der seligen Seelen, die nachkamen, und zu welcher sich alle andern sammeln? Und wie stehts mit der Erinnerung und Wißenschaft um das zeitliche| Leben bei dieser Patriarchenseele? Sie weiß nicht bloß von dem eigenen Erdenleben, sie hat überhaupt die klarste Einsicht in die irdischen Zustände der Menschen, sie weiß von Menschen, die lange nach ihr auf Erden gewesen, von Mose und den Propheten; ja sie erscheint als völlig unterrichtet, nicht bloß von dem Leben und Thaten solcher Fürsten im Reiche Gottes, wie Moses und die Propheten waren, sie kennt Lazari Erdenleben, sie kennt das Erdenleben des verfluchten Reichen, sie kennt das Leben der noch auf Erden befindlichen Brüder des Reichen; sie hat also eine fortlaufende Kunde von dem, was hier geschieht, mag ihr nun dieselbe auf einem Wege zu Theil geworden sein, auf welchem es wolle. Zwar heißt es einmal Jes. 63, 16: „Abraham weiß von uns nicht und Israel kennet uns nicht“; aber es zeigt schon der Zusammenhang der Stelle das, was zumal aus unserm Texte gewis ist, daß nicht überhaupt von einem Wißen und Kennen der Zustände auf Erden, sondern von einem Wißen und Kennen zur Hilfe aus großen Erdennöthen die Rede ist. Welch ein Zusammenhang dieses und jenes Lebens erscheint in unserm Texte, welche Theilnahme der Heiligen Gottes in jener Welt an dem Ergehen derer, die noch hier streiten! Wahrlich, Angesichts dieses Textes ist es gar kein Wagnis, die Freude über einen Sünder, der Buße thut, welche vor Gott und Seinen Engeln ist, auch auf die Geister der vollendeten Gerechten auszudehnen, welche nach Ebr. 12. Eine und dieselbe Stadt, das himmlische Jerusalem, mit den heiligen Engeln bewohnen, und welche ohne Zweifel die Bekehrung eines Sünders näher berührt, als die Engel, da sie selbst Menschen und Sünder waren.

 5. Eine andere ängstliche Frage in Betreff des Lebens nach dem Tode ist die, ob man sich jenseits auch wieder erkennen werde, und zwar vor der Auferstehung und der Wiedererlangung des leiblichen Auges, im Zustande der Entkleidung vom Leibe, mit dem bloßen Seelenauge? Auch hierüber gibt unser Text einen vollkommen befriedigenden Aufschluß. Was so manch tiefbetrübter Mensch gewünscht hat, wenn die Seinigen in die ewige Herrlichkeit giengen und ihn im Elend zurückließen, das wird erfüllt und bejaht durch unser Evangelium. Ausdrücklich wird gesagt, daß der reiche Mann in der Hölle Lazarum im Schooße Abrahams erkannte. Wenn aber die Verfluchten die Seligen erkennen, warum sollen die Seligen einander selbst nicht erkennen? − Ja mehr, als das! Der reiche Mann erkennt nicht bloß Lazarum, den er hier gesehen, sondern auch Abraham, den er nicht gesehen, und Abraham seiner Seits erkennt Lazarum und den Reichen, die er beide im Leben nicht gesehen. Wenn man also die erkennt, die man im Leben nicht kannte, warum sollte man die nicht erkennen, die man kannte? Wenn eine Mittheilung vom Orte der Qual zum Friedensorte Statt hat, warum sollen die Bewohner des Vaterhauses nicht unter einander in Beziehung und Gemeinschaft stehen und sich also vor allen Dingen kennen und erkennen? Wie sichere Wurzeln hat also unser Glaube an eine Gemeinschaft und ein seliges Zusammenleben der erlösten Seelen in unserem Evangelium! Es kann niemand, der dem HErrn JEsus traut und glaubt, im Zweifel bleiben. Selbst wenn die ganze Geschichte von dem Loose des Reichen und des armen Lazarus bloß zur Belehrung erdichtet wäre (ein gesetzter Fall, der seinem Wortlaute nach mir kaum aus dem Munde gehen will, so sehr falsch und unrichtig scheint er mir); das was der HErr unter dem erdichteten Beispiele lehren würde, bliebe dennoch stehen und nichts könnte zur bloßen Ausschmückung gerechnet werden, was vom Jenseits handelt. Der HErr täuscht die Seinigen niemals in Seinen Reden, am wenigsten, wenn von ewigen Zuständen die Rede ist, welche den Menschen mehr angehen als alles, was diesseits ist.


 6. Wir erkennen schon aus dem bisher Gesagten, daß die Fähigkeiten der menschlichen Seele durch den Tod nicht abnehmen, sondern vielmehr zunehmen. Und die heilige Schrift zeigt uns noch mehr. Hier auf Erden gibt es viele Täuschungen, Benebelungen durch Leidenschaften, Irrtümer. Dort hört das alles auf. Die Täuschungen und Dunkelheiten frommer Seelen haben ein Ende; denn nachdem sie hier in einem dunkeln Spiegel und wie im Räthsel die Wahrheit erforschen mußten, werden sie dort erkennen, wie sie erkannt sind; an die Stelle des Stückwerks tritt das Vollkommene. Und auch die Täuschungen der Gottlosen werden dort aufgehoben. Das sehen wir am reichen Manne in dem Ort der Qual.| Sein Leben liegt vor ihm wie ein fertiges und aufgeschlagenes Buch, seine Schuld wird ihm klar; was ihn zur Verdammnis geführt hat, erkennt er im Lichte, und es durchdringt ihn seine Reue und seine Strafe dermaßen in der innersten Seele, daß er keinem Menschen sein Loos gönnt und jegliche Gesellschaft, so viel an ihm ist, abwehrt. Bei all der hellen Einsicht bleibt aber eins merkwürdig. Gleichwie er selbst den Lebensweg verfehlt hat, weiß er ihn auch für seine Brüder nicht. Von der Religion, die mit Gott vereinigt, weiß er dort nicht mehr als hier. So gar nicht wird ihm, dem Unwißenden, beim Eingang in die Ewigkeit der Weg des Friedens bekannt gemacht, daß er ihn vielmehr erst aus dem Munde Abrahams vernimmt, nachdem er schon hoffnungslos in der Qual ist. Daraus können sich diejenigen unterweisen, welche in Hoffnung zukünftiger Erfahrungen in der Ewigkeit es hier auf Erden mit der Erkenntnis der Wahrheit nicht genau nehmen. Hier ist der Ort, wo alle heilsame, seligmachende Wahrheit ihren Anfang nehmen muß. Wer hier nicht den Anfang macht, zum ewigen Leben weise zu werden, wird auch dort weder Weisheit noch Leben erlangen, und alle Erkenntnis, welche er dort erlangt, wird nur die Reue und den Jammer über den Misbrauch der Zeit vermehren. Es wird gehen, wie wir singen: „Wer seiner Seelen Heut verträumet, der hat die Ewigkeit versäumet“.

 7. Schon am Anfang dieser kurzen Reden über das Seelenleben im Jenseits war davon die Rede, daß manche außer Paradies und Ort der Qual noch einen dritten Ort lehren, in welchem die hier bis zum Tode schwankenden und unbekehrt Gebliebenen Unterweisung und Hoffnung fänden. Es wurde dagegen auf die Abwesenheit eines solchen dritten Ortes in unserem Texte hingezeigt. Wohl aber könnte man, wenn man wollte, doch auf einen dritten Ort hindeuten, nemlich auf die Kluft zwischen dem Paradiese und dem Orte der Qual. Ein dritter Ort ist die Kluft allerdings, aber von ganz anderer Art als jener erträumte dritte Ort derjenigen, welche ihres Herzens unheilige, ungerechte Liebe gerne möchten schalten laßen, wo Gottes heilige, gerechte Liebe längst alles für immer geordnet hat. Der erträumte dritte Ort ist ein Ort, der, nicht Paradies, nicht Qual, ein Vorhof beider genannt werden kann; ein Ort der Entscheidung, in welchem es wimmelt. Die Kluft ist ein unbewohnter, leerer, grausiger Ort, über welchen keine Brücke, kein Schiff, kein Flug führt, rein erbaut, um Selige und Unselige von einander ewig zu trennen; sie ist ein gewaltiges Zeugnis des allerhöchsten Gottes für die Unabänderlichkeit des einmal gefallenen ewigen Looses. Bis zum letzten Hauche geht die Gnadenfrist; jede Stunde bis zum Tode kann im allgemeinen eine Gnadenstunde genannt werden. Niemand kann und darf die Gnadenfrist verengern oder verkürzen. Aber mit dem letzten Hauche dieses Lebens verweht auch der letzte Augenblick der Gnaden. Von ihm geht jeder unwiderruflich seinen Weg, und die hier nicht zusammengehen, gehen nie mehr zusammen. Wer ins Leben eingeht, hat ewig ausgeweint; und wer zu der Höllen Pforten kommt, liest eine Aufschrift: „Die ihr hier eingehet, laßet alles Hoffen.“


 8. Ist nun das Loos eines Gottlosen entschieden, so wäre eine Art von Trost darin zu suchen, wenn er sich in dasselbe zu ergeben vermöchte. Aber auch dieser letzte Trost „Ergebung“ ist in der Hölle nicht. Dort hat man Erkenntnis des Beßeren, man sieht die Seligen in ihrer Herrlichkeit und ihrem Glück, man wird dran inne, was man entbehrt, man leidet innerlich den ungeheuern Schmerz einer hoffnungslosen Reue und der verscherzten Seligkeit und äußerlich des Feuers Pein. Nur ein wenig Hoffnung, und die Hölle wäre nicht mehr Hölle. Aber es ist gar keine Hoffnung und doch ein ewiges Sehnen. Wer dies recht bedenkt − und sich gegenüber die sichere, stolze, unsterbliche Ruhe der erlösten Seelen in der himmlischen Stadt denkt, der könnte wohl erschrecken vor der ihm vielleicht ganz nahen letzten Stunde auf Erden. Er könnte es und sollte es auch, und sollte sich aufraffen, alles stehen und liegen laßen und vor allem sich die Frage lösen: „Wie vermeid ich den Ort der Qual? Und wie komme ich zu der versuchungslosen, vollkommenen Ruhe der erlösten Seelen eines Abraham und eines armen Bettlers Lazarus?


 9. Und diese Frage ist es, deren Lösung uns ungebeten, um unserer furchtbaren Seelengefahr willen der HErr zuletzt in diesem Evangelium gibt. Achtet,| meine Brüder, auf meine Worte und prüfet sie an unserem Texte. Es ist mein ehrlicher Vorsatz, euch weder mehr noch anderes zu sagen, als wir lesen und aus dem Worte Gottes lernen.

 Alle Religionen, liebe Brüder, haben die gemeinschaftliche Absicht, dem Menschen den Weg zum ewigen Leben zu zeigen. Alle versuchen es, aber keine einzige vermag es, als die christliche. In allen finden sich Anklänge der Wahrheit, aber die Wahrheit selber findet sich allein bei Dem, der gesagt hat: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Wer darum selig werden will, muß sich in den Schooß des Christentums flüchten; wo nicht, so ist nicht bloß die Furcht, sondern die Gewisheit des ewigen Todes vorhanden und der Sinn des ewigen Klagelieds, das man singen wird, ist schon gefunden. Es heißt: „Wir Thoren, wir haben des rechten Weges verfehlt!“

 Es gibt heut zu Tage eine Sekte, die sich Universalisten nennt, deren Lehre dahinaus geht, daß alle selig werden, sie mögen einer Religion zugethan sein, welche es auch sei. Eine vollkommene Gleichgiltigkeit gegen alle Gnadenmittel, falsche und wahre, ist Grund und zugleich Folge einer solchen Gesinnung. Manche treiben auch unter uns diesen Universalismus so weit, daß sie nicht bloß den Religionen, sondern auch dem gesammten Verhalten des Menschen allen Zusammenhang mit der Ewigkeit und allen Einfluß auf das ewige Loos der Menschen abschneiden. Die heilige Schrift aber ist von dem ersten bis zum letzten ihrer Blätter geradezu auf die entgegengesetzte Lehre gebaut. Ihr allgemeiner Grundsatz lautet: „Was der Mensch säet, das wird er ärnten“; hier ist nach ihr die Saat und dort die Aernte, das hiesige Leben steht im genauesten Zusammenhang mit dem jenseitigen und hat den größten Einfluß auf dasselbe.

 Es kommt nun nur darauf an, was im Erdenleben für die Ewigkeit wichtig und entscheidend ist. Wie unser Text zeigt, ist es weder Glück noch Unglück. Abraham, Isaac, Jakob, David und andere waren reich und glücklich in dieser Welt, und ihr Reichtum und gesammtes Glück hat ihnen ihr ewiges Leben dennoch nicht geraubt. Lazarus war arm, krank, voller Leiden, und seine Leiden haben ihm eben so wenig den Himmel geraubt. Umgekehrt war der Mann, welchen Christus im heutigen Evangelium Lazaro gegenüberstellt, reich, lebte alle Tage herrlich und in Freuden − und gieng verloren. Und viele tausend Arme, Kranke, Leidende gehen auch verloren. Das Recht, welches der Arme um seiner Armut, der Kranke und Leidende um ihrer Plage willen an den Himmel haben, ist nicht größer, als das des Reichen und Glücklichen. Es haben alle Menschen um ihres äußern Ergehens willen einerlei Anspruch an den Himmel, nemlich keinen.

 So gewis das ist, so gewis ist es aber auch, daß diejenigen Dinge, welche wir fürs ewige Leben nöthig haben, hier auf Erden gefunden werden und zu finden sein müßen, daß sie nicht von jenseits heruntergeholt werden müßen. Der reiche Mann war anderer Meinung. Ein Bote aus jener Welt, Lazarus soll zu seinen Brüdern gehen und sie auf beßere Gedanken und zu einem beßeren Leben bringen. Abraham widerspricht ihm und behauptet, weder abgeschiedene Geister, noch auferstandene Menschen würden durch ihre Erscheinungen und Worte die gehoffte, sichere Wirkung hervorbringen. Und wie wahr ist das! Petrus sah Eliam und Mosen auf dem Berge der Verklärung: half ihm das zum ewigen Leben? Er und viele andere sahen Engel − und wurden sie dadurch selig und heilig? Und wie viele Tausende, die in der Hölle ewiglich wehklagen, sahen Gott im Fleisch, unsern HErrn JEsum Christum! Ach, das Sehen macht es nicht, und es ist eine eitle, oft und viel widerlegte Thorheit, wenn jemand meint, irgend eine Erscheinung eines Geistes, Engels oder Auferstandenen würde ihn aus allen seinen Sünden reißen, zu einem Gotteskinde und zu einem Heiligen machen können.

 Ganz einfach sagt es Abraham dem armen Manne: „Sie haben Mosen und die Propheten, laß sie diese hören. Hören sie die nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob einer von den Todten auferstünde.“ Sie haben Mosen und die Propheten, laß sie die hören und glauben: − so lautet der alttestamentliche Himmelsweg. Moses und die Propheten wurden nicht mehr vernommen, wie zu ihren Lebzeiten; ihre Personen und deren Eindruck fehlte; aber ihre Schriften waren vorhanden und wurden gelesen − und aus dem Munde der Vorleser und Ausleger vernahm man Mosen und die Propheten, − und wer hörte und glaubte, der wurde selig, der vermied den Ort der Qual, der kam ins selige Paradies. Hier haben wir den Aufschluß über das ewige Schicksal Lazari und des Reichen. Lazarus, obwohl ein Bettler voller Schwären, wußte er| es möglich zu machen, daß er Mosen und die Propheten hörte; er hörte und glaubte und wurde selig. Der reiche Mann hingegen überhörte die Stimme der Lesenden und Auslegenden, die Stimme Mosis und der Propheten: er verstand, wußte, glaubte nichts − drum gieng er verloren.

 Im alten Testamente hörte man Mosen und die Propheten, und wie ist es im Neuen? „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat Er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, welchen Er gesetzt hat zum Erben über alles, durch welchen Er auch die Welt gemacht hat.“ Demselben hat Er Zeugnis vom Himmel gegeben und gesprochen: „Den sollt ihr hören.“ Und nun ist Er zwar, dieser geliebte und hochgelobte Sohn, gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe, wir sehen Sein Angesicht nicht, und den Ton Seiner Lippen hören wir nicht. Aber Sein Wort ist doch wahrhaftig unter uns, wie das Wort Mosis und der Propheten unter den Juden war zu Christi Zeit. Wir lesen es ja vor euern Ohren und ihr vernehmt es von unsern Lippen Jahr aus, Jahr ein. Dazu höret ihr in gleicher Weise das Wort der heiligen Apostel, zu denen der HErr spricht: „Wer euch höret, der höret Mich; wer euch verachtet, der verachtet Mich!“ denen Er verheißen hat: „Der heilige Geist wird euch in alle Wahrheit leiten!“ denen Er geboten hat, Sein Wort an allen Orten und unter allen Völkern zu predigen. Von uns sagt also Abraham nicht bloß: „Sie haben Mosen und die Propheten,“ sondern auch: „Sie haben den Sohn und Seine Apostel; laß sie die hören. Hören sie die nicht; so werden sie auch nicht glauben, ob einer von den Todten auferstünde.“

 Lieben Brüder! Wenn der Lebensweg im alten Testamente ein einsamer, nächtlicher von Mond und Sternen beleuchteter Pfad war; so ist der im neuen Testamente ein heller, von der Sonne, die JEsus Christus heißt, erleuchteter, seliger Weg, an deßen Seiten die Denkmale von achtzehnhundert Jahren und die Zeugnisse vieler Tausende von Gläubigen stehen und uns Lust und Muth machen, den Weg zu betreten und auf ihm geduldig bis ans Ende zu verharren. Es ist ein hochberühmter, viel gepredigter und allbekannter Weg: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium“; er ist bei weitem nicht so schwer und steil, als der des alten Testamentes, denn hie ist Christus, der mehr ist, als Moses und die Propheten, − und vor ihm her diese alle, Moses und die Propheten, hinter ihm die Apostel und alle Zeugen der Kirche von Anfang an. So laßt uns des Weges achten, meine Brüder, und im Hören und Glauben verharren bis ans Ende. Das wird uns nicht irregehen laßen, das werden wir ewig nicht bereuen. Der Rath Abrahams, den wir annehmen, wird uns gute Frucht bringen, uns zu ihm versammeln, dem Vater der Gläubigen, und uns vor dem Orte der Qual behüten, den wir fürchten. Das helf uns Gott in Gnaden! Amen.




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