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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

selbst das Leben der abgeschiedenen Seelen beschreibt. − Nachdem Lazari Seele vom Leibe getrennt ist, wird sie von Engeln in Abrahams Schooß getragen. Wir denken uns ein Tragen nicht ohne irgend eine Last: die Seele denken wir uns als eine Art von körperlichem Nichts, welches gar nicht getragen werden könne; und hier finden wir nun, daß sie etwas sei, daß sie getragen werden konnte und getragen wurde, und zwar von Engeln, − daß also Engel die Seelen von dem Hier zum Dort, vom Jammerthal der Erde zum seligen Orte himmlischer Ruhe bringen. Man denke sich das so geistig man immer will, das bleibt doch: die abgeschiedene Seele verändert den Ort, ist also etwas im Raum, wird von Engeln erkannt, von Engeln auf ihrem Weg von hier nach dort gefördert. − Und wie wunderbar stimmt das Leben dort mit dem hiesigen in seiner Art und Weise zusammen! Die Seele des reichen Mannes in der Hölle sieht, hört, schmeckt, fühlt und spricht. Dinge, welche wir uns ohne Leib nicht zu denken wißen, finden wir hier im Seelenleben vor. Es will auch gar nicht von Statten gehen, wenn man sehen, hören, schmecken, fühlen bloß als verschiedene Worte für das eine Wort „Wahrnehmen“ − und „sprechen“ für gleichbedeutend mit „sich mittheilen“ nimmt. Verallgemeinerung der Begriffe paßt zu keiner Geschichte, welche der HErr erzählt. Es ist gar kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß diese Ausdrücke bildlich und bloß darum so gewählt seien, weil uns der HErr anders nicht verständlich sein würde. Warum sollte, wenn es anders wäre, sich nicht mindestens die Ausdrucksweise haben finden laßen, die man heut zu Tage beliebt hat? Der HErr und Sein Geist würden für Zustände, welche immerhin den Menschen betreffen, gewis leicht geeignetere, und treffendere Worte gefunden haben, wenn es solche gegeben hätte. Laßen wir doch alles, wie es ist, auch wenn wir es nicht faßen können! Trauen wir dem HErrn und Seinem Wort! Uebertroffen werden könnte allenfalls Sein Wort durch die volle Wesenhaftigkeit des von Ihm geschaffenen Seelenlebens; denn Seine Gnade und Erbarmung ist groß; aber hinter dem Worte zurück bleibt die Gabe des himmlischen Lebens nimmermehr. Laßen wir uns durch eitles menschliches Geschwätz nicht irre machen an den Reden JEsu! Wir möchten sonst von Stufe zu Stufe abwärts geführt und zu dem jämmerlichen Unglauben gebracht werden, der, indem er an den ewigen Verheißungen zweifelt und rüttelt, nur sich selbst quält. Was hat man davon, wenn man, wie es geschehen, der abgeschiedenen Seele alles Leben und alles Selbstbewußtsein abspricht? Der HErr sagt ja doch anders. Er schreibt den Seelen Selbstbewußtsein und zwar selbst in der Hölle unverlierbares, unaufhörliches zu, dazu ein Wahrnehmen und eine Mittheilungskraft, welche hinter dem leiblichen Leben nicht im mindesten zurückstehen. Will man mit dem HErrn streiten? Will man wider alles eigene Glück, wider die Bedingungen alles Lebens, auch des ewigen Lebens kämpfen? Das sei ferne! Des HErrn Wort bleibe stehen und von uns komme nicht heilloses Zweifeln, sondern Amen und Halleluja!


 4. Viele haben die bangen Fragen aufgeworfen, ob denn jenseits auch eine Erinnerung an das diesseitige Leben übrig bleibe, ob nicht eine Vergeßenheit eintrete, wenigstens bis zum Tage der Auferstehung, ob nicht das Seelenleben nach dem Tode, wenn auch selbstbewußt, doch ein ganz neues, mit diesem nicht zusammenhangendes, ein zweites sei? Bange Fragen, welche aus diesem Evangelium eine eben so gewisse, als freudige Antwort entnehmen können. Der reiche Mann weiß ganz gut, daß er ärntet, was er auf Erden gesäet hat; er erinnert sich seines Lebens und deßen seiner Brüder genau; sein jenseitiges Leben erscheint ganz als eine Fortsetzung des hiesigen und so völlig als ein Ganzes mit diesem, daß er für eine selige Nachfahrt der Seinigen Sorge trägt. − Und wenn etwa jemand Lust haben sollte, die genaue und peinigende Erinnerung an dieses Leben, welche wir bei dem Reichen finden, als Strafe auszulegen, dagegen aber den Zweifel, ob auch die Frommen die Erinnerung des zeitlichen Lebens übrig behalten, wie bisher ferner fest zu halten; so können wir einen solchen überwinden und ihm für die Erinnerung der Seligen vollen, genügenden Beweis geben. Ist denn nicht auch die Seele Abrahams, mit welcher der Reiche und welche selbst mit dem Reichen im Gespräch ist, eine abgeschiedene Menschenseele, ja eine Fürstin und Vorsitzerin der seligen Seelen, die nachkamen, und zu welcher sich alle andern sammeln? Und wie stehts mit der Erinnerung und Wißenschaft um das zeitliche

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 013. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/352&oldid=- (Version vom 1.8.2018)