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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Leben bei dieser Patriarchenseele? Sie weiß nicht bloß von dem eigenen Erdenleben, sie hat überhaupt die klarste Einsicht in die irdischen Zustände der Menschen, sie weiß von Menschen, die lange nach ihr auf Erden gewesen, von Mose und den Propheten; ja sie erscheint als völlig unterrichtet, nicht bloß von dem Leben und Thaten solcher Fürsten im Reiche Gottes, wie Moses und die Propheten waren, sie kennt Lazari Erdenleben, sie kennt das Erdenleben des verfluchten Reichen, sie kennt das Leben der noch auf Erden befindlichen Brüder des Reichen; sie hat also eine fortlaufende Kunde von dem, was hier geschieht, mag ihr nun dieselbe auf einem Wege zu Theil geworden sein, auf welchem es wolle. Zwar heißt es einmal Jes. 63, 16: „Abraham weiß von uns nicht und Israel kennet uns nicht“; aber es zeigt schon der Zusammenhang der Stelle das, was zumal aus unserm Texte gewis ist, daß nicht überhaupt von einem Wißen und Kennen der Zustände auf Erden, sondern von einem Wißen und Kennen zur Hilfe aus großen Erdennöthen die Rede ist. Welch ein Zusammenhang dieses und jenes Lebens erscheint in unserm Texte, welche Theilnahme der Heiligen Gottes in jener Welt an dem Ergehen derer, die noch hier streiten! Wahrlich, Angesichts dieses Textes ist es gar kein Wagnis, die Freude über einen Sünder, der Buße thut, welche vor Gott und Seinen Engeln ist, auch auf die Geister der vollendeten Gerechten auszudehnen, welche nach Ebr. 12. Eine und dieselbe Stadt, das himmlische Jerusalem, mit den heiligen Engeln bewohnen, und welche ohne Zweifel die Bekehrung eines Sünders näher berührt, als die Engel, da sie selbst Menschen und Sünder waren.


 5. Eine andere ängstliche Frage in Betreff des Lebens nach dem Tode ist die, ob man sich jenseits auch wieder erkennen werde, und zwar vor der Auferstehung und der Wiedererlangung des leiblichen Auges, im Zustande der Entkleidung vom Leibe, mit dem bloßen Seelenauge? Auch hierüber gibt unser Text einen vollkommen befriedigenden Aufschluß. Was so manch tiefbetrübter Mensch gewünscht hat, wenn die Seinigen in die ewige Herrlichkeit giengen und ihn im Elend zurückließen, das wird erfüllt und bejaht durch unser Evangelium. Ausdrücklich wird gesagt, daß der reiche Mann in der Hölle Lazarum im Schooße Abrahams erkannte. Wenn aber die Verfluchten die Seligen erkennen, warum sollen die Seligen einander selbst nicht erkennen? − Ja mehr, als das! Der reiche Mann erkennt nicht bloß Lazarum, den er hier gesehen, sondern auch Abraham, den er nicht gesehen, und Abraham seiner Seits erkennt Lazarum und den Reichen, die er beide im Leben nicht gesehen. Wenn man also die erkennt, die man im Leben nicht kannte, warum sollte man die nicht erkennen, die man kannte? Wenn eine Mittheilung vom Orte der Qual zum Friedensorte Statt hat, warum sollen die Bewohner des Vaterhauses nicht unter einander in Beziehung und Gemeinschaft stehen und sich also vor allen Dingen kennen und erkennen? Wie sichere Wurzeln hat also unser Glaube an eine Gemeinschaft und ein seliges Zusammenleben der erlösten Seelen in unserem Evangelium! Es kann niemand, der dem HErrn JEsus traut und glaubt, im Zweifel bleiben. Selbst wenn die ganze Geschichte von dem Loose des Reichen und des armen Lazarus bloß zur Belehrung erdichtet wäre (ein gesetzter Fall, der seinem Wortlaute nach mir kaum aus dem Munde gehen will, so sehr falsch und unrichtig scheint er mir); das was der HErr unter dem erdichteten Beispiele lehren würde, bliebe dennoch stehen und nichts könnte zur bloßen Ausschmückung gerechnet werden, was vom Jenseits handelt. Der HErr täuscht die Seinigen niemals in Seinen Reden, am wenigsten, wenn von ewigen Zuständen die Rede ist, welche den Menschen mehr angehen als alles, was diesseits ist.


 6. Wir erkennen schon aus dem bisher Gesagten, daß die Fähigkeiten der menschlichen Seele durch den Tod nicht abnehmen, sondern vielmehr zunehmen. Und die heilige Schrift zeigt uns noch mehr. Hier auf Erden gibt es viele Täuschungen, Benebelungen durch Leidenschaften, Irrtümer. Dort hört das alles auf. Die Täuschungen und Dunkelheiten frommer Seelen haben ein Ende; denn nachdem sie hier in einem dunkeln Spiegel und wie im Räthsel die Wahrheit erforschen mußten, werden sie dort erkennen, wie sie erkannt sind; an die Stelle des Stückwerks tritt das Vollkommene. Und auch die Täuschungen der Gottlosen werden dort aufgehoben. Das sehen wir am reichen Manne in dem Ort der Qual.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/353&oldid=- (Version vom 1.8.2018)