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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)
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Advent 02 »
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Am ersten Sonntage des Advents.

Evang. Matth. 21, 1–9.
1. Da sie nun nahe bei Jerusalem kamen gen Bethphage an den Oelberg, sandte JEsus seiner Jünger zween, 2. und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; löset sie auf und führet sie zu mir. 3. Und so euch Jemand etwas wird sagen, so sprechet: Der HErr bedarf ihrer! sobald wird er sie euch laßen. 4. Das geschah aber alles, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5. Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. 6. Die Jünger giengen hin, und thaten, wie ihnen JEsus befohlen hatte, 7. und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. 8. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die andern hieben Zweige von den Bäumen, und streuten sie auf den Weg. 9. Das Volk aber, das vorgieng und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne David! Gelobet sei, der da kommt in dem Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe.

 ES ist in der heiligen Erzählung, welche wir so eben gelesen haben, etwas Besonderes und Außerordentliches, wir mögen nun das Benehmen des HErrn oder Seiner Jünger oder der Juden ins Auge faßen.

 Der HErr suchte während der Zeit Seiner Erniedrigung gerne Verborgenheit; oft verbot Er denen, an welchen Er Wunder gethan hatte, die lauten Dankbezeigungen und die Ausbreitung Seines Ruhmes, und wenn Ihm die Menschen willig die Ihm gebührenden Ehren entgegenbrachten, pflegte Er Sich ihren Augen und Händen nicht weniger zu entziehen, als wenn sie Ihn steinigen und tödten wollten. Hier aber ist es anders: Er entzieht Sich nicht, Er verbietet nicht Seinen Ruhm und Preis, vielmehr sucht Er einigen Glanz, verschafft Sich selbst das Eselsfüllen, auf welchem Er einreiten will, und begibt sich geflißentlich unter die feiernde, jubelnde Menge.

 Was die Jünger anlangt, so waren sie zwar allezeit bereit, ihren Meister zu ehren; sie hätten Ihn, da Er Davids Sohn war, gerne auf dem Throne Davids gesehen, und es mag ihnen zuweilen Seine Liebe zur stillen Verborgenheit ein wenig anstößig gewesen sein. Vielleicht war ihnen nichts angenehmer, als dieser Tag des Einzugs in Jerusalem, dieser Tag des Glanzes, an welchem ihre längst gehegten Hoffnungen in Erfüllung zu gehen schienen. Dennoch muß man sich über ihr Thun, wie es in unserm Texte dargestellt ist, hoch verwundern. Schon der Gehorsam ist außerordentlich, welchen sie dem Gebote des HErrn, die Eselin und ihr Füllen zu holen, geleistet haben. Da es eine fremde Eselin, ein fremdes Eselsfüllen war, so hätten sie nach pharisäischem Unglauben in diesem Gehorsam eine Uebertretung des siebenten Gebotes sehen können. Ihr Glaube wird auf die Probe gestellt, und sie bestehen die Probe. Noch außerordentlicher, ja wunderbar erscheint aber ihr übriges, ungeheißenes Thun; denn sie fahren fort in einem Tone und Geiste zu handeln, der ihnen gewis nicht natürlich und angeboren war. Kaum ist von des HErrn Lippen der erste Laut gekommen, der auf Seine Verherrlichung deutet, so findet alsbald ihre ahnungsreiche Seele ohne Belehrung, was ihr Herr und Meister vorhat, ihr ganzes Benehmen wird nun so, als gienge es zur ewigen Besitznahme des Thrones David.

 Und die Juden! Sie wollten zwar öfter den HErrn mit großen Ehren bekränzen, einmal ihn wirklich krönen; aber nun ist es doch ein ganz anderes.| Ihr Hosiannagesang, auf JEsum gesungen, ist der Ausdruck einer Erkenntnis, die ihnen, so wie sie waren und sich sonst benahmen, nicht zuzutrauen war. Nach ihren Worten erkennen sie in Ihm einen, der da kam „im Namen des HErrn“, wie Matthäus sagt. Sie erkennen, daß mit Ihm „das Reich ihres Vaters David komme“, wie Marcus (11, 9.) sagt. Nach Lucas (19, 38.) sagen sie, daß durch Sein Kommen „Friede im Himmel und Ehre in der Höhe“ gestiftet werde, − und nach Johannes (12, 12 ff.) nennen sie JEsum geradezu den verheißenen „König Israels“. Und alle diese Aeußerungen der Erkenntnis und Anerkennung JEsu geschahen in einer Weise, die eine hinreißende Gewalt sogar auf diejenigen ausübt, welche sie heut zu Tage lesen: der Jubel, die Palmen, die Darlegung der Kleider, − findet ihr es anders, lieben Brüder, so weiß ichs nicht, – mir däucht aber, es seien lauter Dinge, welche man ganz unwillkürlich nachzuahmen versucht wird, indem man sie liest.

 Es sind alle Thaten Jesu, auch die, welche Er in Seiner tiefsten Erniedrigung vollbracht hat, ja grade auch sie, weit über aller Menschen Maß und Weise hinaus; aber der Einzug nach Jerusalem hat doch wieder etwas ganz Besonderes und Außerordentliches, und man bekommt den Eindruck davon desto stärker, wenn man die Geschichte weiter verfolgt, als sie in unserm Evangelio steht, wenn man dem Zuge des HErrn vom Oelberg bis zum Tempel nachgeht, wenn man den Lobgesang der Kinder vernimmt und Zeuge wird von Seinen majestätischen Reden und Thaten im Tempel selber. Man merkt, daß man hier bei einem hervorragenden Punkte des Lebens JEsu angekommen ist.

 Einige Aufklärung über das Wunderbare und Außerordentliche im Benehmen der Jünger und der Juden geben uns Lucas und Johannes in ihren Erzählungen dieser Geschichte. Lucas sagt 19, 38., die Menge der Jünger sei hocherfreut gewesen und habe Gott gepriesen über die vielen Wunder JEsu, die sie gesehen hatten, und die Frucht dieser freudigen Verwunderung sei der Hosiannagesang gewesen. Johannes 12, 12 ff. berichtet, es habe insonderheit das Wunder der Auferweckung Lazari einen mächtigen Eindruck auf die zum Feste versammelten Juden hervorgebracht. Viele seien schon Tags vorher in Bethanien gewesen, um JEsum und Lazarum zu sehen, und das Gerücht der unerhörten That, welches sich ohne Zweifel durch die am Abend nach Jerusalem zurückkehrenden Juden unter den Festgästen noch mehr verbreitete, habe des andern Tags eine große Menge bewogen, dem HErrn mit Palmen und Lobgesang entgegenzugehen.

 Indes gibt uns doch auch das Alles nicht völliges Licht über das Benehmen der Juden und der Jünger, und warum JEsus selbst in den herrlichen Empfang gewilligt, warum Er ihn nicht vermieden habe, das wird ohnehin damit nicht erklärt. Es war eine Erfüllungsstunde gekommen: eine Weißagung des Propheten Sacharja sollte hinausgehen. Was im ewigen Rathe Gottes längst versehen war, mußte nun geschehen. Das wußte JEsus Christus, darum entzieht Er Sich nicht, darum bietet Er selbst die Hand, darum reitet Er, ob auch bittre Thränen der Wehmut über Seine Wangen rinnen, mitten unter jubelnden Haufen in die heilige Stadt. Ueber die Jünger und Juden aber kam eine starke Hand, daß sie zur Erfüllung der Weißagung halfen, ohne es zu wißen. Sie thaten unter einer höheren Leitung, sagten und sangen unter einer himmlischen Eingebung, was weit über ihr Wißen und Verstehen gieng. Darum sagt auch St. Johannes 12, 16. ausdrücklich, es sei den Jüngern erst nach der Verklärung des HErrn gegeben worden, zu erkennen, daß an jenem Palmensonntag der Geist der Weißagung eines Seiner Worte in Erfüllung gebracht hatte. −

 Eine Erfüllungsstunde war also gekommen, eine Weißagung gieng hinaus. Aber die Erfüllung dieser Weißagung war selbst nur wieder Vorbild, Weissagung und Angeld größerer Dinge, die erst kommen sollten. Daß unser HErr rechtmäßiger Erbe Seines Vaters David war, daß Er eine Fortsetzung des Reiches Israel stiften sollte, die kein Ende nähme und an Herrlichkeit Davids und Salomos Reich unendlich überträfe: das weiß man aus den Schriften der Propheten und aus dem Munde des Engels, der Seine Geburt ankündigte: wer weiß das nicht, wer glaubt es nicht? Aber es lagen zwischen dem Tage, an welchem Er nach Jerusalem einzog, und zwischen dem, an welchem Er den ewigen Thron Seines Königreiches bestieg, noch Thale der Schmerzen und des Todes von einer Tiefe, welche durch das Thal zwischen dem Oelberg und dem Tempelberge Moriah kaum leise angedeutet werden konnte, − und erst nach sieben und vierzig Tagen, wie sie die Erde nie zuvor| und nie seitdem erlebte, erst am Tage der Himmelfahrt wurde es mit der Thronbesteigung Christi völliger, vollendender Ernst; erst an jenem Tage hielt der HErr den Einzug, von welchem der in das irdische Zion, obschon auch er heilig und hehr ist, doch nur ein schwaches Bild genannt werden kann. Ja ein Bild des Einzugs Christi zu Seiner ewigen Herrlichkeit war dieser Einzug, und wir dürfen dazu setzen: er war ein Pfand davon, ein Pfand nicht für den HErrn, der keines Pfandes bedurfte, deßen heilige Seele keinen Zweifel herbergte, sondern für die Jünger, für die Getreuen unter den Hosiannasängern, bei welchen nach der Begeisterung des Tages noch ein Geist des Glaubens und der Wahrheit zurückblieb. Diese müßen einen Strahl der zukünftigen, ja bereits nahenden königlichen Herrlichkeit auf dem Haupte des von Gott erwählten Königs schauen, jetzt schon schauen, auf daß sie an Seine Herrlichkeit glaubeten, wenn nun der Strahl vergangen und die schmerzensreiche Nacht des Charfreitags gekommen sein würde. Ein Weniges von der Ihm gebührenden königlichen Ehre nimmt der HErr voraus − um Seines Volkes willen, damit es erkennen möchte, Er sei vor Seinem Leiden und Sterben, im Leiden und Sterben, nach demselben in Seiner Auferstehung und Auffahrt, ja allezeit, gestern und heute derselbe und derselbe in Ewigkeit, nemlich Zions anbetungswürdiger und angebeteter König.

 So viel von unserm Texte heute. Es wird aber im Verlauf des Jahres derselbe Text noch einmal gelesen und besprochen werden, nemlich am Palmensonntag, wie euch das bekannt ist. Dann wird er uns ganz anders klingen, als er uns heute geklungen hat. Die verschiedene Zeit wird einen verschiedenen Gesichts- und Standpunkt für denselben Text geben, und Gottes Wort beut uns zu jeder von den beiden Zeiten aus seiner reichen Fülle das, was je am meisten paßt und frommt. Am Palmensonntag beginnen wir die große Woche, in welcher jeder Tag seine eigenen Erinnerungen und seine eigenen Texte hat. Da durchleben wir, indem wir die besonderen Texte eines jeden Tages lesen, alles wieder, was einst in der großen Woche die Jünger mit dem HErrn durchlebten. Da durchleben wir denn auch am Palmensonntag die Geschichte wieder, die wir heute lasen, die Geschichte des Einzugs JEsu, und zwar ganz in dem Zusammenhang, in welchem sie geschehen ist. Sie war der Anfang und Eingang der Leidenswoche JEsu, und so ist sie uns dann auch der Anfang und Eingang der Gedächtniswoche Seiner Leiden. Dann sehen wir noch einmal den HErrn vom Oelberg feierlich hinabziehen ins Thal und hinauf in den Tempel; aber nicht am Hosianna, sondern an des HErrn Thränen haftet dann unser betrachtender Gedanke: schon vernimmt man das wilde „Kreuzige, kreuzige!“ als grellen Widerspruch des Jubelklangs − und was wir in dem HErrn erkennen, ist trotz der Pracht, die Ihn umgibt, doch nichts anderes, als die Gestalt des Passahlammes, welches sich rechtzeitig einstellt, um zur Schlachtbank geführt zu werden. Heute ist es ganz anders. Heut denkt man nicht an den Gegensatz von „Hosianna“ und „Kreuzige“, nicht an den geschichtlichen Zusammenhang des Einzugs Christi mit allen den Begebenheiten der nachfolgenden großen Woche; sondern die Geschichte des Einzugs Christi an und für sich selbst und ihr Zusammenhang mit der Weissagung Sacharjas ist es, was man ins Auge faßt. Die Weißagung Sacharjas aber redet von der Zukunft des HErrn JEsu Christi im Fleisch, von Seiner Erscheinung auf Erden zum Trost und Heile Seines Volkes, und sie beschreibt den heute verlesenen Einzug des HErrn in Jerusalem als einen herrlichen Zug aus dem verheißenen Erdenwandel des Menschgewordenen, als ein zu hoffendes Ziel und Siegel Seiner Menschwerdung. So sieht man denn auch heute die Geschichte an. Wer ist der, der hinabreitet von Bethphage, Jerusalem zu? Es ist der gottmenschliche Sohn Davids, der große, längst erwartete König Israels. „Siehe, dein König kommt zu dir“ diese Botschaft und ihre Freude; „Hosianna dem Sohne Davids, gebenedeiet sei, der da kommt im Namen des HErrn“ − dieser sehnliche Freudengesang machen sich besonders bemerklich und regieren die betrachtende Seele in dieser Vorbereitungszeit auf Weihnachten, auf das Fest der Geburt und offenbarten Menschwerdung Christi. Der Blick auf den, der sanft einherreitet auf dem Eselsfüllen − der Blick auf den, welcher zu Bethlehem in der Krippe liegt, − es ist einer, und eine Person ist es, auf welcher er ruht. Durchaus weihnachtsmäßig ist heute die Stimmung, in welcher wir unsern Text lesen.

|  Und wer wollte leugnen, daß diese Auffaßung des Textes eben so viel Recht hat, als jene, welche die Gemeinde am ersten Tage der Leidenswoche vorzieht? Diese Heimsuchung Jerusalems durch den HErrn ist ja nur eine recht augenfällige Darstellung, ein recht kenntliches Auftreten Deßen, auf den Israel und die ganze Welt so lange wartete; sie ist ja nur eine recht liebliche und herrliche Verkörperung derjenigen Gedanken, welche uns die Ankunft des Sohnes Gottes im Fleische erweckt. Vor uns sehen wir Jerusalem, eine Stadt, die ihres Königs wartet; sie ist ein Theil und zugleich ein Bild der ihres Königs und Erlösers sehnsüchtig wartenden Erde und Menschheit. Mit JEsu ziehen wir den Oelberg hinunter, Jerusalem zu − und es kommt uns dabei eine starke Erinnerung an jene wunderschöne Zeit der Erde, wo von den ewigen Höhen die Kraft des Allerhöchsten herniederstieg, um sich im Mutterleib der gebenedeiten Jungfrau eine ewige Hütte zu bereiten und von ihr eine untadelige Menschheit anzunehmen. Wir sehen an Den, der hinabreitet vom Oelberg − und es ist kein anderer, als Marien Sohn selber, Immanuel, „Gott mit uns“, „der Mann, der HErr“, JEsus, der Sein Volk selig macht von ihren Sünden: Sein Name ist wunderbar, Seine Person ist ohne Gleichen. Und Seine Erscheinung ist unaussprechlich schön! Man soll nicht immer diesen Einzug glanz- und prachtlos nennen, weil der HErr nicht auf einem stolzen Roß und prächtigen Sattel sitzt: es ist eine Majestät und eine Größe in dieser Offenbarung des verheißenen Königs, welche nicht bloß die Juden ergriff, sondern heute noch alle Leser des Textes ergreift oder doch ergreifen sollte. Wie groß ist dieser König, der so sanft einherzieht! Wie groß − und ja, wie sanft, wie ganz aufs Niedrige und Demüthige sehend, wie niedrig, − und wiederum, wir könnens nicht vergeßen, wir müßen es wiederholen: in aller Niedrigkeit wie erhaben ist Er, der unter den Lobgesängen Israels wohnt und einherzieht! Der wendet seine schrankenlose Macht nur zum Heilen, nur zum Helfen an: hier ist ein König, der nur Heiland ist, ein König, der Gottes Lamm ist, und uns erkauft mit Seinem Leib und Blute! So, grade so, zu einem solchen Manne mußte das Lämmlein werden, das wir an Weihnachten im Schooße der frömmsten Mutter sehen! Sehet Ihn an, wie er einherreitet: das ist der große König in Knechtsgestalt, der höchste Herrscher, bereit zu dienen, der von Sich selbst die Regel nahm, die er Andern gab: „der Größte unter euch soll sein, wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener!“ „Siehe, dein König kommt zu dir,“ ruft man da Jerusalem und der Welt zu. Man möchte gerne aller Augen weit öffnen und auf Ihn richten. Und Ihm selber möchte man ein schallendes Hosianna bringen aus tiefster Brust, wenn man nicht wüßte, daß man damit zu spät kommt. Hosianna heißt ja „Herr hilf“, und Dem ist lang schon geholfen und Er hat alles vollbracht, was Er vollbringen sollte und wollte.

 Das ists, meine Brüder! Wir kommen zu spät. Wir schauen zwar vorwärts auf die Gedächtnisfeier der Menschwerdung und Geburt des HErrn; aber die Menschwerdung und Geburt selber liegt rückwärts, ist längst geschehen. Nur unser betrachtender, anbetender Geist pflegt sich in der Adventszeit zurückzuversetzen in die Zeit vor der Geburt des HErrn, um die Geburt und den HErrn, der Mensch geboren wurde, als kommend zu denken, den Frühling der Welt mitfeiern zu können. Doch ist das auch, so süß es sein mag, nicht nothwendig. Wir können ganz in unsrer Gegenwart verharren und in unsre wahre Zukunft schauen, ohne daß uns das liebliche, heilige, heilsame Bild aus Aug und Herz zu verschwinden braucht, das wir heute im Evangelium sehen, ohne daß uns Christus, der König, ein anderer werden müßte, als wir Ihn heute erkannten und erkennen. Advent eröffnet die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, aber es ist auch die Pforte eines neuen Kirchenjahres, ein Fest, das in unsre nächste Zukunft schaut. Da schickt sichs wohl, Christum als einen König unserer Zukunft anzusehen und Ihm unser Hosianna für dieselbe darzubringen.

 Er ist nicht mehr, wie am ersten Palmensonntag und ist doch noch ganz derselbe. Nicht mehr eine Knechtsgestalt bedeckt Ihn; Sein leibliches Wesen dient nicht mehr zur Verhüllung der Gottheit, die in Ihm leibhaftig wohnt; vielmehr ist auch Seine Menschheit durchleuchtet, verherrlicht und eine Seiner ewigen Gottheit völlig würdige Offenbarung geworden. Vor Ihm beten an und jauchzen alle Creaturen, und alle Kniee im Himmel, auf Erden und unter der Erden beugen sich vor Ihm. Himmel und Erde erfüllt Er mit Seiner Herrlichkeit, alle Gewalt im Himmel und auf Erden ist| Sein; Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Und doch besucht Er aus Seiner Höhe und Seinem ewigen Zion noch alle Tage Sein irdisches Zion, Seine streitende Kirche mit derselben Sanftmuth, die man an Ihm am ersten Palmensonntag warnehmen konnte. Er ist überall zugegen und umfaßt mit Seiner göttlich-menschlichen Gegenwart alle, gnädig läßt Er sie predigen, freundlich öffnet Er achtsameren Hörern Aug und Herz für sie, − und indem wir Ihn dann inne werden, däucht uns als komme Er erst zu uns, obschon Er immer da ist, wir merken es oder nicht. Sein Kommen zu uns ist nur das Innewerden Seiner Gegenwart − und doch für uns ein wahrhaftiges Kommen, denn wir sahen und hörten Ihn zuvor nicht und dann sehen und hören wir Ihn immer kenntlicher und näher. Gesegnet sei Sein Kommen! Gelobt sei Er, der uns täglich heimsucht. Sanft, ohne Klage, ohne Thränen, wie Er sie bei Jerusalem weinte, kräftig, reich und gütig kommt Er zu uns in Seinem Worte und in Seinem Sacramente. − Glückselige neue Zukunft! Glückseliges neues Jahr, das wir heute feiern! JEsus kommt immerzu, bleibt immerfort bei uns! Bei uns hier und bei unsern Brüdern, die wir nie gesehen, − hier und so weit die Wolken gehen, hier und weiter als die Wolken gehen, hier auf Erden und dort im Himmel, in Zion hier, in Zion dort! Gelobet sei der sanftmüthige und starke König, der da war, der da ist und der da kommt, und unsre Herzen müßen in Seinem Lobe aller Freuden voll werden! – –

 Jetzt freuen wir uns in Seinem Lobe; aber wir wohnen noch nicht jenseits aller Anfechtung von Traurigkeit und Klage; Kummer und Jammer ist oft unser bescheidenes Theil und auch unsre Freude ist nicht vollkommen. Es muß erst kommen das Vollkommene. Es wird aber auch kommen. Wenn JEsus in unserm Tode zu uns kommt, dann kommt mit Ihm alles vollkommene Wesen. Er will, daß wir bleiben, bis daß Er kommt, wie Er zu Seinem Jünger Johannes gesagt hat. Wir harren Seiner und freuen uns einstweilen in Hoffnung. Wir wißen, daß Er jetzt schon bei uns ist und ohne Unterbrechung bei uns bleiben wird bis an unser Ende: es wird kein neues Kommen, aber eine neue Art des Kommens, eine zuvor nie gehabte Offenbarung Seiner gnädigen Nähe sein, wenn wir nun sterben werden. Wenn der Nebel und die Finsternis dieses Lebens von uns dahinfallen wird, werden wir Ihn sehen, wie Er ist, − und dann beginnt zu kommen das Vollkommene, dann stirbt das Unvollkommene, dann hört auf die seufzende Begier und wir werden mit ewiger Zufriedenheit gesättigt. Ich weiß nicht, welche unter uns, die wir glauben, in diesem Jahre sterben dürfen; aber wahrlich, glückwünschen müßte man ihnen, wenn man sie kennete: sie feiern heute ein Advent JEsu zum Tode. Wir wollen uns alle bereit halten und Hosianna dem sanftmüthigen Könige singen, der unsre Einsame heimsuchen wird und in Seine Stadt bringen.

 Jedoch, meine Freunde, so sehr dem Christen der Heimgang seiner Seele an der Hand JEsu erfreulich ist: er ist doch nur ein Anfang des Vollkommenen, − und mehr als nach ihm begehrt er nach der Wiederkunft des HErrn am jüngsten Tage. Im Tode wird die Seele Seines Anschauens theilhaftig und freut sich Seiner; an jenem Tage freut sich Leib und Seele in dem lebendigen Gott. Im Tode ist wohl eine Erlösung der Seele von allem Uebel; aber „des Leibes Erlösung“ ist nicht in ihm. Aber wenn der HErr kommen wird, dann wird auch der Leib erlöset von der Schmach des Todes und der Verwesung und wieder zusammengefüget mit der unsterblichen Seele. Dann ist das Ende da und das Vollkommene vorhanden. − Wir wißen nicht, wann Er kommen wird; aber Er kommt bald, denn Er hat es gesagt, und was Er gesagt hat, ist wahr zu aller Zeit, besonders in dieser Zeit. Er kommt! Zion, dein König kommt! Und für Zion kommt Er nicht als Richter. Zwar reitet Er dann nicht auf dem Füllen der lastbaren Eselin, sondern Er kommt mit den Wolken des Himmels, und mit Ihm alle Heerschaaren, die über Bethlehem sangen; aber sanftmüthig und als ein Helfer für Leib und Seele kommt Er auch dann. − Liebe Brüder, es wäre möglich, daß uns die Wiederkunft des HErrn mit diesem Jahre sehr nahe träte; doch weiß ichs nicht, niemand weiß es. Aber es mag nun sein, wie der HErr will: das weiß und sag ich für ganz gewis, daß es Zeit ist aufzustehen vom Schlafe, sintemal unser Heil jetzt näher ist, als zur Zeit unsrer Taufe, da wir anfiengen zu glauben. Es ist manch Jahr seitdem verronnen und mancher Schritt mehr ist zur Ewigkeit gethan. Darum laßt uns die Palmenzweige einstweilen zurichten und die Kleider ausbreiten auf Seinen Weg. Ja, die Vorbereitungen laßt uns treffen, ehe es zu spät| wird! Die Seelen laßt uns bereiten, der Welt und Sünde wollen wir uns entkleiden, um Palmen, um Frieden uns bekümmern, und frei von der Welt, versöhnt mit unsern Feinden wollen wir anfangen, den Gesang Israels anzustimmen:
Hosianna dem Sohne David! Gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe. (Matth.)

Hosianna, gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn! Gelobet sei das Reich unsers Vaters David, das da kommt! Hosianna in der Höhe! (Marc.)

Gelobet sei, der da kommt, der König, im Namen des HErrn: Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! (Luc.)

Hosianna!
Gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn,
ein König von Israel!
Amen. (Joh.)




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