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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Ihr Hosiannagesang, auf JEsum gesungen, ist der Ausdruck einer Erkenntnis, die ihnen, so wie sie waren und sich sonst benahmen, nicht zuzutrauen war. Nach ihren Worten erkennen sie in Ihm einen, der da kam „im Namen des HErrn“, wie Matthäus sagt. Sie erkennen, daß mit Ihm „das Reich ihres Vaters David komme“, wie Marcus (11, 9.) sagt. Nach Lucas (19, 38.) sagen sie, daß durch Sein Kommen „Friede im Himmel und Ehre in der Höhe“ gestiftet werde, − und nach Johannes (12, 12 ff.) nennen sie JEsum geradezu den verheißenen „König Israels“. Und alle diese Aeußerungen der Erkenntnis und Anerkennung JEsu geschahen in einer Weise, die eine hinreißende Gewalt sogar auf diejenigen ausübt, welche sie heut zu Tage lesen: der Jubel, die Palmen, die Darlegung der Kleider, − findet ihr es anders, lieben Brüder, so weiß ichs nicht, – mir däucht aber, es seien lauter Dinge, welche man ganz unwillkürlich nachzuahmen versucht wird, indem man sie liest.

 Es sind alle Thaten Jesu, auch die, welche Er in Seiner tiefsten Erniedrigung vollbracht hat, ja grade auch sie, weit über aller Menschen Maß und Weise hinaus; aber der Einzug nach Jerusalem hat doch wieder etwas ganz Besonderes und Außerordentliches, und man bekommt den Eindruck davon desto stärker, wenn man die Geschichte weiter verfolgt, als sie in unserm Evangelio steht, wenn man dem Zuge des HErrn vom Oelberg bis zum Tempel nachgeht, wenn man den Lobgesang der Kinder vernimmt und Zeuge wird von Seinen majestätischen Reden und Thaten im Tempel selber. Man merkt, daß man hier bei einem hervorragenden Punkte des Lebens JEsu angekommen ist.

 Einige Aufklärung über das Wunderbare und Außerordentliche im Benehmen der Jünger und der Juden geben uns Lucas und Johannes in ihren Erzählungen dieser Geschichte. Lucas sagt 19, 38., die Menge der Jünger sei hocherfreut gewesen und habe Gott gepriesen über die vielen Wunder JEsu, die sie gesehen hatten, und die Frucht dieser freudigen Verwunderung sei der Hosiannagesang gewesen. Johannes 12, 12 ff. berichtet, es habe insonderheit das Wunder der Auferweckung Lazari einen mächtigen Eindruck auf die zum Feste versammelten Juden hervorgebracht. Viele seien schon Tags vorher in Bethanien gewesen, um JEsum und Lazarum zu sehen, und das Gerücht der unerhörten That, welches sich ohne Zweifel durch die am Abend nach Jerusalem zurückkehrenden Juden unter den Festgästen noch mehr verbreitete, habe des andern Tags eine große Menge bewogen, dem HErrn mit Palmen und Lobgesang entgegenzugehen.

 Indes gibt uns doch auch das Alles nicht völliges Licht über das Benehmen der Juden und der Jünger, und warum JEsus selbst in den herrlichen Empfang gewilligt, warum Er ihn nicht vermieden habe, das wird ohnehin damit nicht erklärt. Es war eine Erfüllungsstunde gekommen: eine Weißagung des Propheten Sacharja sollte hinausgehen. Was im ewigen Rathe Gottes längst versehen war, mußte nun geschehen. Das wußte JEsus Christus, darum entzieht Er Sich nicht, darum bietet Er selbst die Hand, darum reitet Er, ob auch bittre Thränen der Wehmut über Seine Wangen rinnen, mitten unter jubelnden Haufen in die heilige Stadt. Ueber die Jünger und Juden aber kam eine starke Hand, daß sie zur Erfüllung der Weißagung halfen, ohne es zu wißen. Sie thaten unter einer höheren Leitung, sagten und sangen unter einer himmlischen Eingebung, was weit über ihr Wißen und Verstehen gieng. Darum sagt auch St. Johannes 12, 16. ausdrücklich, es sei den Jüngern erst nach der Verklärung des HErrn gegeben worden, zu erkennen, daß an jenem Palmensonntag der Geist der Weißagung eines Seiner Worte in Erfüllung gebracht hatte. −

 Eine Erfüllungsstunde war also gekommen, eine Weißagung gieng hinaus. Aber die Erfüllung dieser Weißagung war selbst nur wieder Vorbild, Weissagung und Angeld größerer Dinge, die erst kommen sollten. Daß unser HErr rechtmäßiger Erbe Seines Vaters David war, daß Er eine Fortsetzung des Reiches Israel stiften sollte, die kein Ende nähme und an Herrlichkeit Davids und Salomos Reich unendlich überträfe: das weiß man aus den Schriften der Propheten und aus dem Munde des Engels, der Seine Geburt ankündigte: wer weiß das nicht, wer glaubt es nicht? Aber es lagen zwischen dem Tage, an welchem Er nach Jerusalem einzog, und zwischen dem, an welchem Er den ewigen Thron Seines Königreiches bestieg, noch Thale der Schmerzen und des Todes von einer Tiefe, welche durch das Thal zwischen dem Oelberg und dem Tempelberge Moriah kaum leise angedeutet werden konnte, − und erst nach sieben und vierzig Tagen, wie sie die Erde nie zuvor

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/13&oldid=- (Version vom 14.8.2016)