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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Und wer wollte leugnen, daß diese Auffaßung des Textes eben so viel Recht hat, als jene, welche die Gemeinde am ersten Tage der Leidenswoche vorzieht? Diese Heimsuchung Jerusalems durch den HErrn ist ja nur eine recht augenfällige Darstellung, ein recht kenntliches Auftreten Deßen, auf den Israel und die ganze Welt so lange wartete; sie ist ja nur eine recht liebliche und herrliche Verkörperung derjenigen Gedanken, welche uns die Ankunft des Sohnes Gottes im Fleische erweckt. Vor uns sehen wir Jerusalem, eine Stadt, die ihres Königs wartet; sie ist ein Theil und zugleich ein Bild der ihres Königs und Erlösers sehnsüchtig wartenden Erde und Menschheit. Mit JEsu ziehen wir den Oelberg hinunter, Jerusalem zu − und es kommt uns dabei eine starke Erinnerung an jene wunderschöne Zeit der Erde, wo von den ewigen Höhen die Kraft des Allerhöchsten herniederstieg, um sich im Mutterleib der gebenedeiten Jungfrau eine ewige Hütte zu bereiten und von ihr eine untadelige Menschheit anzunehmen. Wir sehen an Den, der hinabreitet vom Oelberg − und es ist kein anderer, als Marien Sohn selber, Immanuel, „Gott mit uns“, „der Mann, der HErr“, JEsus, der Sein Volk selig macht von ihren Sünden: Sein Name ist wunderbar, Seine Person ist ohne Gleichen. Und Seine Erscheinung ist unaussprechlich schön! Man soll nicht immer diesen Einzug glanz- und prachtlos nennen, weil der HErr nicht auf einem stolzen Roß und prächtigen Sattel sitzt: es ist eine Majestät und eine Größe in dieser Offenbarung des verheißenen Königs, welche nicht bloß die Juden ergriff, sondern heute noch alle Leser des Textes ergreift oder doch ergreifen sollte. Wie groß ist dieser König, der so sanft einherzieht! Wie groß − und ja, wie sanft, wie ganz aufs Niedrige und Demüthige sehend, wie niedrig, − und wiederum, wir könnens nicht vergeßen, wir müßen es wiederholen: in aller Niedrigkeit wie erhaben ist Er, der unter den Lobgesängen Israels wohnt und einherzieht! Der wendet seine schrankenlose Macht nur zum Heilen, nur zum Helfen an: hier ist ein König, der nur Heiland ist, ein König, der Gottes Lamm ist, und uns erkauft mit Seinem Leib und Blute! So, grade so, zu einem solchen Manne mußte das Lämmlein werden, das wir an Weihnachten im Schooße der frömmsten Mutter sehen! Sehet Ihn an, wie er einherreitet: das ist der große König in Knechtsgestalt, der höchste Herrscher, bereit zu dienen, der von Sich selbst die Regel nahm, die er Andern gab: „der Größte unter euch soll sein, wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener!“ „Siehe, dein König kommt zu dir,“ ruft man da Jerusalem und der Welt zu. Man möchte gerne aller Augen weit öffnen und auf Ihn richten. Und Ihm selber möchte man ein schallendes Hosianna bringen aus tiefster Brust, wenn man nicht wüßte, daß man damit zu spät kommt. Hosianna heißt ja „Herr hilf“, und Dem ist lang schon geholfen und Er hat alles vollbracht, was Er vollbringen sollte und wollte.


 Das ists, meine Brüder! Wir kommen zu spät. Wir schauen zwar vorwärts auf die Gedächtnisfeier der Menschwerdung und Geburt des HErrn; aber die Menschwerdung und Geburt selber liegt rückwärts, ist längst geschehen. Nur unser betrachtender, anbetender Geist pflegt sich in der Adventszeit zurückzuversetzen in die Zeit vor der Geburt des HErrn, um die Geburt und den HErrn, der Mensch geboren wurde, als kommend zu denken, den Frühling der Welt mitfeiern zu können. Doch ist das auch, so süß es sein mag, nicht nothwendig. Wir können ganz in unsrer Gegenwart verharren und in unsre wahre Zukunft schauen, ohne daß uns das liebliche, heilige, heilsame Bild aus Aug und Herz zu verschwinden braucht, das wir heute im Evangelium sehen, ohne daß uns Christus, der König, ein anderer werden müßte, als wir Ihn heute erkannten und erkennen. Advent eröffnet die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, aber es ist auch die Pforte eines neuen Kirchenjahres, ein Fest, das in unsre nächste Zukunft schaut. Da schickt sichs wohl, Christum als einen König unserer Zukunft anzusehen und Ihm unser Hosianna für dieselbe darzubringen.

 Er ist nicht mehr, wie am ersten Palmensonntag und ist doch noch ganz derselbe. Nicht mehr eine Knechtsgestalt bedeckt Ihn; Sein leibliches Wesen dient nicht mehr zur Verhüllung der Gottheit, die in Ihm leibhaftig wohnt; vielmehr ist auch Seine Menschheit durchleuchtet, verherrlicht und eine Seiner ewigen Gottheit völlig würdige Offenbarung geworden. Vor Ihm beten an und jauchzen alle Creaturen, und alle Kniee im Himmel, auf Erden und unter der Erden beugen sich vor Ihm. Himmel und Erde erfüllt Er mit Seiner Herrlichkeit, alle Gewalt im Himmel und auf Erden ist

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/15&oldid=- (Version vom 14.8.2016)