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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sein; Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Und doch besucht Er aus Seiner Höhe und Seinem ewigen Zion noch alle Tage Sein irdisches Zion, Seine streitende Kirche mit derselben Sanftmuth, die man an Ihm am ersten Palmensonntag warnehmen konnte. Er ist überall zugegen und umfaßt mit Seiner göttlich-menschlichen Gegenwart alle, gnädig läßt Er sie predigen, freundlich öffnet Er achtsameren Hörern Aug und Herz für sie, − und indem wir Ihn dann inne werden, däucht uns als komme Er erst zu uns, obschon Er immer da ist, wir merken es oder nicht. Sein Kommen zu uns ist nur das Innewerden Seiner Gegenwart − und doch für uns ein wahrhaftiges Kommen, denn wir sahen und hörten Ihn zuvor nicht und dann sehen und hören wir Ihn immer kenntlicher und näher. Gesegnet sei Sein Kommen! Gelobt sei Er, der uns täglich heimsucht. Sanft, ohne Klage, ohne Thränen, wie Er sie bei Jerusalem weinte, kräftig, reich und gütig kommt Er zu uns in Seinem Worte und in Seinem Sacramente. − Glückselige neue Zukunft! Glückseliges neues Jahr, das wir heute feiern! JEsus kommt immerzu, bleibt immerfort bei uns! Bei uns hier und bei unsern Brüdern, die wir nie gesehen, − hier und so weit die Wolken gehen, hier und weiter als die Wolken gehen, hier auf Erden und dort im Himmel, in Zion hier, in Zion dort! Gelobet sei der sanftmüthige und starke König, der da war, der da ist und der da kommt, und unsre Herzen müßen in Seinem Lobe aller Freuden voll werden! – –

 Jetzt freuen wir uns in Seinem Lobe; aber wir wohnen noch nicht jenseits aller Anfechtung von Traurigkeit und Klage; Kummer und Jammer ist oft unser bescheidenes Theil und auch unsre Freude ist nicht vollkommen. Es muß erst kommen das Vollkommene. Es wird aber auch kommen. Wenn JEsus in unserm Tode zu uns kommt, dann kommt mit Ihm alles vollkommene Wesen. Er will, daß wir bleiben, bis daß Er kommt, wie Er zu Seinem Jünger Johannes gesagt hat. Wir harren Seiner und freuen uns einstweilen in Hoffnung. Wir wißen, daß Er jetzt schon bei uns ist und ohne Unterbrechung bei uns bleiben wird bis an unser Ende: es wird kein neues Kommen, aber eine neue Art des Kommens, eine zuvor nie gehabte Offenbarung Seiner gnädigen Nähe sein, wenn wir nun sterben werden. Wenn der Nebel und die Finsternis dieses Lebens von uns dahinfallen wird, werden wir Ihn sehen, wie Er ist, − und dann beginnt zu kommen das Vollkommene, dann stirbt das Unvollkommene, dann hört auf die seufzende Begier und wir werden mit ewiger Zufriedenheit gesättigt. Ich weiß nicht, welche unter uns, die wir glauben, in diesem Jahre sterben dürfen; aber wahrlich, glückwünschen müßte man ihnen, wenn man sie kennete: sie feiern heute ein Advent JEsu zum Tode. Wir wollen uns alle bereit halten und Hosianna dem sanftmüthigen Könige singen, der unsre Einsame heimsuchen wird und in Seine Stadt bringen.

 Jedoch, meine Freunde, so sehr dem Christen der Heimgang seiner Seele an der Hand JEsu erfreulich ist: er ist doch nur ein Anfang des Vollkommenen, − und mehr als nach ihm begehrt er nach der Wiederkunft des HErrn am jüngsten Tage. Im Tode wird die Seele Seines Anschauens theilhaftig und freut sich Seiner; an jenem Tage freut sich Leib und Seele in dem lebendigen Gott. Im Tode ist wohl eine Erlösung der Seele von allem Uebel; aber „des Leibes Erlösung“ ist nicht in ihm. Aber wenn der HErr kommen wird, dann wird auch der Leib erlöset von der Schmach des Todes und der Verwesung und wieder zusammengefüget mit der unsterblichen Seele. Dann ist das Ende da und das Vollkommene vorhanden. − Wir wißen nicht, wann Er kommen wird; aber Er kommt bald, denn Er hat es gesagt, und was Er gesagt hat, ist wahr zu aller Zeit, besonders in dieser Zeit. Er kommt! Zion, dein König kommt! Und für Zion kommt Er nicht als Richter. Zwar reitet Er dann nicht auf dem Füllen der lastbaren Eselin, sondern Er kommt mit den Wolken des Himmels, und mit Ihm alle Heerschaaren, die über Bethlehem sangen; aber sanftmüthig und als ein Helfer für Leib und Seele kommt Er auch dann. − Liebe Brüder, es wäre möglich, daß uns die Wiederkunft des HErrn mit diesem Jahre sehr nahe träte; doch weiß ichs nicht, niemand weiß es. Aber es mag nun sein, wie der HErr will: das weiß und sag ich für ganz gewis, daß es Zeit ist aufzustehen vom Schlafe, sintemal unser Heil jetzt näher ist, als zur Zeit unsrer Taufe, da wir anfiengen zu glauben. Es ist manch Jahr seitdem verronnen und mancher Schritt mehr ist zur Ewigkeit gethan. Darum laßt uns die Palmenzweige einstweilen zurichten und die Kleider ausbreiten auf Seinen Weg. Ja, die Vorbereitungen laßt uns treffen, ehe es zu spät

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 005. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/16&oldid=- (Version vom 14.8.2016)