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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Trinitatis 02 »
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Am ersten Sonntage nach Trinitatis.

1 Joh. 4, 16–21.
16. Und wir haben erkannt und geglaubet die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm. 17. Daran ist die Liebe völlig bei uns, auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt, 18. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein, Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. 19. Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebet. 20. So Jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet; wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? 21. Und dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebet, daß der auch seinen Bruder liebet.

 IHr erinnert euch, meine lieben Brüder, daß ich euch am vorigen Sonntag in der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit eine Bedingung nachgewiesen habe, ohne welche Gott nicht vollkommen sein könnte. Ein Gott, sagte ich, in deßen Einem Wesen keine Dreiheit sei, ermangele der Vollkommenheit, dieweil er keine Liebe habe, und weil keine Liebe, auch keine Seligkeit. Bei der Lehre von der allerheiligsten Dreieinigkeit sei die Einheit des Wesens mit der höchsten Vollkommenheit, auch der der Liebe und Seligkeit verbunden, weil die Beziehung des Vaters, Sohnes und Geistes zu einander die des unaussprechlichsten Wohlgefallens und der vollkommensten Zuneigung sei. Da konnte man also schon am vorigen Sonntag behaupten, was wir im heutigen Texte finden: „Gott ist die Liebe“. Allein so wahr das ist, so ist die Anwendung des Wortes „Gott ist die Liebe“ in diesem Sinne dennoch eine ganz andere, als diejenige, welche wir in der heutigen Epistel finden. Im ersteren Sinne redet man von der wesentlichen, der allerheiligsten Dreieinigkeit einwohnenden Liebe, von jener Liebe, die Vater, Sohn und Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit verbindet; in der heutigen Epistel aber geht den Worten „Gott ist die Liebe“ der Satz voran: „Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, welche Gott zu uns hat.“ So wäre also hier von einer Liebe Gottes zur Creatur die Rede. Weil Gott dreieinig ist, so ist Er von Ewigkeit zu Ewigkeit die Liebe, die Seinem Wesen einwohnende dreieinige Liebe. Er hätte, um die Liebe zu sein, nicht nöthig gehabt, eine Welt zu schaffen; Er ist die Liebe vor der Welt und ohne die Welt gewesen. Nachdem Er aber die Welt erschaffen hat, so ist Er die Liebe auch in Bezug auf diese Welt zu nennen; Er liebt Seine Creatur und kann nicht anders. Seine ewige wesentliche Liebe spiegelt sich in der Liebe zu allem, was Er geschaffen hat, wie sich der Himmel und die schöne Welt im kleinen Auge eines Menschen spiegelt. Die Liebe Gottes zur Creatur ist jedoch auch eine doppelte, eine allgemeine und eine besondere. Die erstere bezieht sich auf alle Creaturen, die andere aber auf die heilige Kirche. Wenn nun in diesem Texte behauptet wird, Gott ist die Liebe, so kann die Liebe, von welcher die Rede ist, nicht die allgemeine sein, weil der ganze Text, welchem der Satz eingefügt ist, nicht von den Creaturen im allgemeinen, sondern von der Kirche Gottes handelt. Es ist daher die Meinung keine andere, als daß Gott die Liebe zu Seinen auserwählten,| in Christo erlösten und durch Seinen Geist geheiligten Kindern sei. Man kann nicht sagen, daß der Sinn des Wortes „Gott ist die Liebe“ auf diese Weise allzusehr beschränkt werde. Gott ist die Liebe in jedem Sinn, im Sinne des Dreieinigkeitsfestes, im Sinne der allgemeinen und der besonderen Liebe, und Er hört deshalb nicht auf, die Liebe im Allgemeinen zu sein, weil in einem Texte, wie z. B. in dem heutigen epistolischen, nur von der Liebe im besonderen Sinn die Rede ist.

 Nun wir denn wißen, von welcher Liebe unser Text spricht, suchen wir die Worte desselben weiter zu verstehen. „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ So lesen wir und es drängt sich uns dabei eine doppelte Frage auf, nemlich erstens die: was heißt in der Liebe bleiben? und zweitens: was heißt bleiben in Gott? Die Liebe, von welcher die Rede ist, ist die Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten, also nicht die Liebe der Auserwählten Gottes zu Ihm. Das geht aus dem Verständnis der Liebe hervor, welches wir bereits gewonnen haben. Es ist daher von einem Verharren unserer Seelen in einer fremden Liebe die Rede. Dieses Verharren aber kann nichts anderes sein, als ein Verharren durch Betrachtung und Vertrauen. Man bleibt in der Liebe Gottes, wenn man sie in gläubigem Andenken und freudiger Verehrung behält. Aehnlich ist es mit dem Ausdruck „bleiben in Gott“. Es ist hier nicht von einem Bleiben in Gott die Rede, wie in jener Stelle des heiligen Paulus, in welcher es heißt: „In Ihm leben und weben und sind wir“. Diese Stelle bezieht sich nicht bloß auf die Christen, redet nicht von dem besonderen Verhältnis der Kirche zu ihrem ewigen HErrn, sondern vom Verhältnis der Creatur zu ihrem Schöpfer, von einem Verhältnisse, welches nicht einmal durch die Sünde aufgehoben wird, in welchem sogar die Teufel und verdammten Geister zu ihrem ewigen Ursprung verbleiben müßen. Unser Text hingegen redet von einem Verhältnis der Gemeinde zu Gott, das ihr völlig eigen ist, und seinen Grund nicht in der unabwendbaren und unvermeidlichen Allmacht Gottes, sondern in der Neigung und dem sittlichen Verhalten Seiner Gläubigen gegen Ihn hat. So wie das Bleiben in der Liebe nichts anderes sein kann, als ein Verharren im gläubigen Vertrauen auf die Liebe, die Gott zu uns hat, so ist auch das Bleiben in Gott nichts anderes, als ein Verharren im gläubigen und betrachtenden Andenken an Ihn. Wenigstens kann es unsererseits nichts anderes sein, wenn auch schon der HErr dem gläubigen Verharren des Menschen in seinem Andenken und seiner Anbetung den Segen Seiner besonderen Nähe verleihen und für die Seinen auf diesem Wege näher treten kann und mag, als auf jedem andern. Wir bleiben in Gott durch die Erkenntnis und Erfaßung Seiner Liebe. Wenn wir uns mit dieser Liebe beschäftigen, beschäftigen wir uns mit Ihm; wenn wir sie verehren, verehren wir Ihn selbst; hangen wir gläubig an ihr, so hangen wir an Ihm. Gelingt uns aber das, so ist der HErr Selbst in uns und bleibt in uns in einer andern Weise, als Er in und bei allen Creaturen bleibt, nemlich durch die besondere Ein- und Beiwohnung persönlicher Gnade. So lehrt uns der heilige Johannes, und wenn uns durch dieß sein Wort eine besondere Offenbarung deshalb gegeben wird, so erkennen wir daraus, daß wir, ohne solche Offenbarung dieß herrliche Verhältnis unserer Seele zu Gott selbst dann nicht nothwendig wißen müßten, wenn wir es bereits erfahren. Man kann in der Liebe sein und bleiben, ohne zu wißen, daß man damit in Gott ist und Gott in uns. Wird uns aber darüber eine göttliche Mittheilung gemacht, so empfangen wir über unsere eigene Herrlichkeit und Gnade den rechten Aufschluß, und lernen unseren eigenen Zustand größer ansehen und höher schätzen. Im Lichte des göttlichen Wortes erkennen wir unsere Nähe bei Gott und Gottes Nähe in uns, und wenn auch unser natürlicher Mensch davon nichts fühlt und inne wird, so ruht doch unser Geist in der gläubigen Ueberzeugung, die er aus Gottes eigenem Worte schöpft. Er weiß und erkennt daraus den reichen Segen des Verharrens in der Liebe Gottes.

 Doch ist in dem 16. Vers unseres Textes dieser reiche Segen nicht vollständig vorgelegt, sondern es beschäftigen sich noch die nächsten Verse mit demselben Thema. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt nicht allein in Gott und Gott in ihm, sondern er genießt den Segen seines Zustandes auch dann, wenn der gesammten übrigen Welt unendlich wehe und leid geschieht, nemlich in der Zeit und Stunde des Gerichts. „Darin ist die Liebe bei uns vollendet, daß wir am Tage des Gerichtes Freudigkeit| haben.“ Den meisten Menschen, die jetzt leben, erscheint die Lehre von einem endlichen Brand und Untergang der Welt und einem jüngsten Gerichte wie ein altes erhabenes Mährchen, den Mährchen und Sagen anderer Religionen vergleichbar. Fast jedermann vertraut auf eine immerwährende Dauer der sichtbaren Welt, und die Mehrzahl spricht wie die Spötter, von denen St. Petrus im dritten Kapitel seines zweiten Briefes redet: „Nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Creatur gewesen ist.“ Läßt man aber auch hie und da die heilige Lehre gelten, so beschäftigt man sich doch so wenig mit ihr, daß sie im Grunde unserer Seele keine Wirkung hervorbringt. Man braucht nicht eben viel Phantasie zu haben, man darf sich ja nur vergegenwärtigen, was der Griffel des lebendigen Gottes selber vom jüngsten Tage in die heilige Schrift niedergelegt hat, um zu begreifen, wie die Kirche in ihrer Litanei unermüdlich betet: „In unserer letzten Noth, im jüngsten Gericht, behüte uns lieber HErre Gott.“ Wenn uns aller Boden der Materie unter den Füßen hinweggezogen wird, die ganze Welt verbrennt und vergeht und wir bei dem allgemeinen Aufruhr aller Dinge allein in der Macht und Gnade Gottes ruhen müßen, so ist das etwas so Außerordentliches und Großes, daß wir ohne Liebe zum HErrn und ohne tiefe Anerkennung Seiner großen Liebe zu uns es gar nicht denken können. Diese Liebe aber wird so groß und mächtig sein, daß sie nicht bloß Ruhe und Frieden, Glauben und Vertrauen in die bewahrende Gnade Gottes schaffen, nicht bloß im Aufruhr der untergehenden Welt die Seelen stille machen, sondern auch noch größeres thun wird.

 Wenn ich in Gott ruhen darf zur Zeit der größten Noth, wenn Er mein Freund ist in der Stunde des Untergangs aller Dinge, so kann ich ruhig sein. Mag mir es auch groß und schwer erscheinen, ich kann mir es doch denken, es glauben und hoffen. Aber was soll ich thun, wenn mir beim Bewußtsein des eigenen Unwerthes und zahlloser Sünden, gegenüber der herrlichen Erscheinung Seiner Majestät der Glaube dahinfällt und ich mich vor Ihm fürchte? Die Welt mag zerstäuben oder zerschmelzen, was liegt daran, wenn ich im Schooße Gottes ruhe; wohin aber soll ich fliehen, wohin mich wenden, wenn mich Sein Angesicht schreckt und ich mich vor Seinem reinen Hauche im schmutzigen Gewande der eigenen Gerechtigkeit finde? Schon dieser Gedanke könnte ein zagendes Herz im tiefsten Grunde erschrecken. Aber ich stehe ja nicht allein vor Ihm im Selbstgerichte, sondern der Allmächtige ruft mich zu Seinem Gericht an jenem großen Tage. Die Posaunen gehen, die Bücher werden aufgeschlagen, es gilt ein untrügliches Gottesgericht. Was soll mich, den Sünder, aufrecht erhalten, daß ich nicht versinke in der tiefen Höllenglut? Der Text lehrt michs: die Liebe, die Gott in Christo JEsu erwiesen hat, die mir gepredigt ist, die ich im Glauben faße, und die mich zur Gegenliebe erweckt, mir Muth und Kraft gibt, mich Ihm vertrauend zu nahen, die ist es, von der geschrieben steht, daß ihre Fülle und ihr größter Preis darinnen besteht, daß sie auch am Gerichtstage dem Richter gegenüber Freudigkeit verleiht. Wenn Er, der ewige Richter, von meinen Sünden redet, dann rede ich also in Kraft der Liebe von Seiner Liebe, erhebe wider die Anklage des Gesetzes den Preis Seiner Gnade, d. i. Seiner Liebe in Christo JEsu, und darf alsdann inne werden, daß das Evangelium größer ist, als das Gesetz und die Liebe größer, als das Gericht. Einen größeren Triumph der Liebe kann es nicht geben. Die Liebe verbindet uns mit Ihm und hebt uns über das Gericht hinüber, wie viel mehr wird sie uns im Aufruhr der ganzen Welt erhalten und stärken. Mag die sündenbeladene Welt vergehen, wir sind mit Gott vereinigt, und bei all unserem Schuldbewußtsein gehören wir doch Ihm, stehen auf Seiner Seite und „wie Er selbst ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Wir werden nicht gerichtet, wie die Welt gerichtet wird, sondern wir genießen wie Er den Frieden, Seinen göttlichen Frieden, wenn die ganze Welt verzagen muß. Er steht der Welt gegenüber, aber nicht den Seinen; diese stehen nicht Ihm gegenüber, sondern der Welt, mit Ihm sind sie vereinigt und nehmen in der Welt dieselbe Stellung ein, wie Er, nemlich die Stellung eines siegreichen Gegensatzes bei eigenem großen Frieden.

 Der 18. Vers, bei dem wir stehen, führt eigentlich den Gedanken des vorausgehenden 17. nur weiter aus. In Kraft der Liebe hat der Christ sogar am Tage des jüngsten Gerichtes und der allgemeinen Schrecken Freudigkeit oder Zuversicht zu seinem Richter. Hätte er aber die Liebe nicht, so würde ihn die| Furcht verzehren vor Dem, der da kommt und mit Ihm sein Lohn. In diesem Sinne sagt nun unser Vers: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.“ Es ist hier allerdings nicht die Rede von der Furcht, die ein Mensch in seinem Leben hat oder haben kann, sondern von der Furcht am jüngsten Gericht. In dem gewöhnlichen Leben hat der Mensch keine Furcht vor Gott; wer Furcht hat, der hat sie entweder in Folge krankhafter Zustände seines natürlichen Lebens, oder aber, und das ist ein seltener Fall, er steht unter der Einwirkung des heiligen Geistes. Auch die Furcht ist eine Wirkung des heiligen Geistes. Wer sich bei gesundem Leben vor Gott fürchten kann, der hat Ursache, Gott für Seine Nähe und Wirkung zu danken. Wenn der heilige Sänger spricht: „ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schauert“, so ist das eine Aeußerung, die ihm viele Tausende mit Wahrheit nicht nachsagen können. Man kann auch nicht einmal sagen, daß Furcht immer die erste und geringste Wirkung des heiligen Geistes sei. Die Furcht des HErrn ist wohl, wo überall sie eintritt, der Weisheit Anfang, der Anfang aller wahren Lebensweisheit, aber auf den besondern Wegen, die Gott mit den einzelnen Seelen geht, ist die Furcht oft nicht der Anfang, sondern vielmehr ein Ende und die Vollendung des geistlichen Lebens zu nennen; es sterben viele Christen dahin, ohne auch nur einmal recht lebendig zum Gefühle der Furcht Gottes gekommen zu sein. Schon aus diesen meinen Sätzen, so ferne sie nemlich wahr sind, kann entnommen werden, daß der heilige Johannes die Furcht nicht in jedem Sinne des Wortes verwerfen und mit der Liebe unvereinbar finden kann. Für diese Behauptung gibt es aber noch andere und beßere Beweise. Die Auslegung eines jeden Gebotes in unserem lutherischen kleinen Catechismus beginnt mit den Worten: Wir sollen Gott fürchten und lieben. Während also St. Johannes die von ihm gemeinte Furcht mit der Liebe nicht für vereinbar hält, lebt unsere Kirche der Ueberzeugung, daß wir im Gegentheil Furcht und Liebe vereinigen müßen. Auch ist das nicht bloß eine Ueberzeugung der Kirche, sondern eine Lehre der Schrift, sonst würden wir in derselben sicher nicht Stellen finden, wie die: „Fürchtet den HErrn, ihr Seine Heiligen.“ Wenn die Heiligen Gott fürchten sollen, so sollen Ihn die fürchten, die Ihn lieben, weil nur die Liebe heilig macht. Ist es nun aber so, warum sagt dann der heilige Johannes, daß Furcht nicht in der Liebe sei, sondern die völlige Liebe die Furcht austreibe? Man könnte sagen, es sei ja nur von jenem großen Tage die Rede, die Vereinigung der Furcht und Liebe sei nur für jenen Tag aufgehoben. Es sei eben der Triumph der Liebe, gerade unter den furchtbarsten Umständen die Furcht nicht aufkommen zu laßen, sondern zu ertödten. Andererseits aber kann man sich doch auch wieder nicht denken, daß alle und jede Furcht gerade an dem Tage soll aufgehoben werden, an welchem sie am allermeisten Berechtigung findet, an welchem die Majestät des HErrn sich in ihrer ganzen Größe vor aller Welt entfaltet. Es wird daher hier wie an anderen Stellen der heiligen Schrift und bei unzähligen Stellen gewöhnlicher, menschlicher Schriftsteller gehen, daß man eine Vereinigung der verschiedenen Aussprüche über eine und dieselbe Sache nur auf dem Wege der Anerkennung eines verschiedenen Gebrauches eines und desselben Wortes finden kann. Es muß eine Furcht geben, in Anbetracht welcher der heilige Johannes vollkommen Recht behält, wenn er sagt: „die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Es muß aber auch eine Furcht geben, welche sich mit der Liebe nicht bloß verbinden läßt, sondern deren Verbindung mit ihr eine von Gott befohlene Sache ist. Unser Text geht uns bei dieser Unterscheidung an die Hand, indem er sagt: „Die Furcht hat Pein, die völlige Liebe treibet die Furcht aus.“ Die Furcht, welche Pein hat, ist mit der Liebe nicht vereinbar; wo die Liebe waltet, muß sie verschwinden. Die Furcht aber, welche Pein hat, ist keine andere, als die Furcht vor Strafe, die Furcht des unversöhnten Gewißens und unreinen Herzens. Dagegen aber wird der Mensch, der von der unendlichen Liebe Gottes in Christo JEsu gezogen und überwältigt ist, nichts desto weniger den Sinn für das majestätische göttliche Wesen nicht verlieren, sondern im Gegentheil wird er je länger je mehr bei der fortschreitenden und sich mehrenden Innigkeit seiner Verbindung mit dem göttlichen Wesen die Tiefe der Heiligkeit Gottes erkennen und sich in immer größerer Ehrfurcht vor seinem HErrn und Gott neigen. Diese Ehrfurcht und Furcht des HErrn wird| seiner Liebe nicht im mindesten die Innigkeit nehmen, wohl aber sie in der Demuth erhalten, vor Irrfahrt behüten, bräutlich und frisch machen. Frei von aller Furcht der Strafe, festgegründet in der Gewisheit des ewigen Lebens wird ein Christ am jüngsten Tage doch auch voll Furcht des HErrn und demüthiger Anbetung sein, die Furcht des Sünders wird ertödtet, die Furcht aber des Geschöpfes vor dem großen Gott und Schöpfer wird aufgerichtet werden. So gehen also die verschiedenen Stellen der Schrift zusammen und wir werden sagen dürfen: dem sicheren Weltmenschen ist die Furcht vor Gott zu wünschen, die Furcht vor dem Richter seiner Tage; der begnadigte Sünder verliert diese Furcht, die da Pein macht, aber er reift zur Furcht und Scheu des Allmächtigen und Allgegenwärtigen, welche das Geschöpf vor seinem Schöpfer bei der größten Liebe haben soll; an jenem großen Tage wird die höchste Offenbarung der Gnade alle peinigende Furcht austreiben, aber die höchste Offenbarung der Majestät des HErrn zur Liebe diejenige Furcht hinzufügen, welche kein Mensch entbehren kann, der vor Gott stehen soll.

 So gewis uns nun aus unserem Texte die Liebe in ihrer alle Qual zerstörenden Kraft erscheint, so bleibt es doch immerhin ein gewaltiger Gedanke, daß wir, die wir Staub und Asche, ja Sünde und Bosheit sind, den unermeßlichen, ewigen, heiligen Gott sollen lieben dürfen. Da wir selbst an uns nichts finden können, als Verderben, so ist es nicht abzusehen, was Er mit Seinem vollkommenen Auge an uns finden soll, wie wir Ihm liebenswürdig erscheinen können und Er Sein Herz uns zuneigen soll. Wir bedürfen, um Ihn zu lieben, einer hohen Ermuthigung, deren Erwähnung den ersten Theil unseres Textes beschließt. Die Ermuthigung liegt darin, daß uns Gott zuerst geliebt, den Vorgang der Liebe gemacht und uns zur Liebe eingeladen hat. „Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebt.“ In dem Vorgang des Allmächtigen liegt nicht bloß die Erlaubnis, sondern auch ein Ruf zur Nachfolge; in der unaussprechlichen und unbegreiflichen Tiefe Seiner Liebe zu uns wurzelt unsere Gegenliebe; unsere ganze Liebe zu dem HErrn ist nur ein Erzeugnis Seiner Liebe, weshalb wir allerdings durch die zunehmende Erkenntnis Seiner Größe von der Liebe nicht abgehalten, wohl aber in derselben gefördert werden.

 Mit der Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten hat der Text begonnen, zur Gegenliebe der Auserwählten zu ihrem Gotte ist er fortgeschritten, und unvermerkt sind wir im 19. Verse zu jener Fortsetzung der Liebe gekommen, die in der Bruderliebe besteht. So gewaltig dringt unsere Epistel auf diese Fortsetzung der Liebe, die Bruderliebe, daß eine jede Behauptung der Gottesliebe als Lüge hingestellt wird, welche nicht unter dem vorhandenen Zeugnis der Bruderliebe geschieht. „So jemand spricht: ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner.“ Starke Worte des Jüngers der Liebe, nicht weniger stark, die Liebe zu fordern, als Anklage gegen diejenigen zu stellen, die der Liebe ermangeln. Dazu wird gesetzt: „Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet“. Dieser letzte Satz könnte wie eine Schwächung des ersteren, der Liebesforderung, erscheinen, und zwar deshalb, weil in der Erfahrung so manches gegen ihn zu sprechen scheint. Es werden ja viele sein, die da glauben behaupten zu dürfen, man könne Gott lieben, auch ohne daß man den Bruder liebe. Gott sei ja vollkommen, der Mensch aber unvollkommen, und es sei leichter, den frommen liebenswürdigen Gott zu lieben, als den Menschen, dem so viel zur Liebenswürdigkeit mangelt. Im Umgang mit den Menschen werde man immer aufs neue durch die an ihnen bemerkten Fehler gestört; es gebe ein jeder Mensch zu tragen und so oft er es thue, lege er ein Hindernis der Liebe. Man bleibe leicht in der Liebe zu den Entfernten, während man im Umgang mit den Nahen alle Augenblicke gestört werde, eine Reizung zu Unzufriedenheit und Haß finde. So urtheilt der Mensch und doch widersteht dies Urtheil ganz und gar dem göttlichen Worte. Gottes Urtheil ist ein ganz anderes und der heilige Apostel lehrt uns, daß die Fehler des Menschen den Menschen an der Bruderliebe weitaus nicht so sehr hindern, als er durch den Umstand an der Gottesliebe gehindert wird, daß Gott unsichtbar ist und sich Sein Wesen der sinnlichen Wahrnehmung entzieht. So sehr leben wir durch Vermittelung unserer Sinne, daß uns kaum wahr scheint, was durch sie nicht vermittelt| wird. Da wir Gott nicht sehen, fehlt uns fast der Weg zu Seiner Liebe. Alle Hindernisse, welche die Bruderliebe in den entgegentretenden Fehlern der Brüder findet, werden leichter beseitigt und wirkungslos gemacht, als die Hindernisse, die unser Glaube in der Unsinnlichkeit des göttlichen Wesens findet. Wenn daher der heilige Apostel sagt, wer seinen Bruder nicht liebe, der könne auch seinen Gott nicht lieben, und dazu setzt: „Dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe,“ so deutet er damit ein doppeltes an, nemlich erstens, daß es hie nicht nach der Menschen Weise zugehe und nicht nach menschlicher Meinung, und etwas geboten werde, was in der menschlichen Macht und Fähigkeit nicht liegt, zugleich aber auch, daß der Gott, der solches wider aller Menschen Meinung und Fähigkeit gebietet, uns auch Wege zeigen werde und zeigen müße, auf denen Sein heiliger Wille vollzogen werden kann. Es muß dem Christen das Leichtere und das Schwerere gelingen, wenn ihm einmal die Liebe Gottes geoffenbart ist. Das leichtere, die Liebe zu dem unvollkommenen Bruder, und das Schwerere, die Liebe zu dem unsichtbaren und vollkommenen Gott, und der HErr, obwohl eine unermeßliche Person, muß dem begränzten und beschränkten Wesen des Menschen so nahe kommen und kommen können, daß der arme Mensch nicht bloß vor Ihm niedersinken und Ihn staunend anbeten, sondern auch kindlich und fröhlich lieben kann.
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 Vor den Thüren des reichen Mannes liegt der arme Lazarus. Ein armer, nackter, kranker, mit Schwären bedeckter Bettler hat keinen Liebreiz für einen Reichen, einen in Seide und köstlicher Leinwand im reichsten Ueberfluße und Lebensglück prassenden Reichen. Zwischen dem Unglücklichen und dem Glücklichen hebt sich das äußere irdische Geschick wie eine mächtige hohe Scheidewand, die von niemand überstiegen wird, als von demjenigen, dem die Liebe Gottes ins Herz gegoßen ist, und von keinem niedergerißen, als von demjenigen, deßen Herz von der heiligen Bruderliebe durchdrungen ist. Von solcher Kraft und Liebe weiß der reiche Mann nichts: es mangelt ihm die Bruderliebe, weil ihm die Gottesliebe mangelt, wie kann er das Auge haben, um in dem armen, wunden Bettler seinen Bruder zu erkennen, da er den gemeinschaftlichen Vater im Himmel nicht erkennt? So viel sieht man am Beispiel des reichen Mannes. Aber hat denn der reiche Mann nur einmal gelebt? Gibt es seines Gleichen nicht an allen Orten und in allen Zeiten? Findet er sich bloß unter denen, die herrlich und in Freuden leben, oder fehlt er auch nicht bei denen, denen ein bescheideneres Loos zu Theil geworden ist? Muß man in Seide und köstlicher Leinwand einhertreten, um lieblos gegen die Brüder zu sein, oder findet sich die Lieblosigkeit auch unter denen, welche im ganzen Leben kein seidenes Gewand zu tragen pflegten? Ihr merket wohl, meine lieben Brüder und Schwestern, wohin ich steuere. Mein Ziel ist euer Herz. Meine Fragen sind Prüfungsfragen für euch. Meine Befürchtung ist, ihr möchtet die Fragen nicht zur Befriedigung beantworten können. Mein Wunsch ist, euch zur Erkenntnis zu bringen, euch den Mangel eurer Bruderliebe zu zeigen und euch die Ursache des Mangels in einem größeren Mangel, in dem der Gottesliebe aufzuzeigen. Es steht nicht bei dem Menschen, in Betreff der Liebe nur einen Fehler, oder nur eine Tugend zu haben; er hat immer zwei. Nie hat oder fehlt ihm allein die Bruderliebe oder die Gottesliebe, immer hat er beide, oder es fehlen ihm beide. Das Gefühl des Menschen ist zuweilen ein anderes, aber es ist trügerisch; dagegen das Wort Gottes trüget nicht und die Wahrheit, die aus ihm fließt, kann nicht anders als treffend sein. Wohl dem, der dieß nach der vollen Schärfe auffaßt und sich nicht träumen läßt, daß er eine Ausnahme machen könne. Wohl dem, der sich in den Staub der Buße willig begibt, wenn ihn Gottes Wort dahin wirft, damit er auch seiner Zeit durch Gnade erhöht werde. Es ist nie jemand aufwärts gegangen zur Offenbarung der Liebe Gottes und zur Ermächtigung, die Brüder zu lieben, außer wer zuvor abwärts gieng, um seine Sünde und Missethat zu erkennen. Darum, meine lieben Brüder, folget auch ihr getrost dem Zug des heiligen Geistes, welcher euch durch die tiefe Demüthigung und durch die Erkenntnis eurer Mängel zu dem himmlischen Glücke der Liebe, zu Gott und Seinen Kindern führen will. Werdet ihr Ihm in der Buße widerstreben, so werdet ihr auch immer Noth und Mangel an Liebe haben. Werdet ihr euch aber der Buße weigern, so werdet ihr auch zurückbleiben in der Erfahrung der größten Seligkeit, das ist eben in der Liebe. Es liegt| hier alles an der Erfahrung, ein wenig Erfahrung gibt Lust und Muth. Wer einmal den Weg betreten hat, von dem wir reden, der weicht nicht mehr von ihm. Die immer neue Führung in die Erkenntnis tiefen Mangels und von dieser zur Erfahrung immer neuer Kräfte der Liebe Gottes ist wie eine Einkehr in ein himmlisches Vaterland, in dem es einem je länger je lieber und je länger, je wohler wird. So helfe uns Gott und laße uns genesen von des reichen Mannes Art und erstarken in der Liebe, die ein göttliches Leben und himmlische Freude ist. Amen.




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