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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

seiner Liebe nicht im mindesten die Innigkeit nehmen, wohl aber sie in der Demuth erhalten, vor Irrfahrt behüten, bräutlich und frisch machen. Frei von aller Furcht der Strafe, festgegründet in der Gewisheit des ewigen Lebens wird ein Christ am jüngsten Tage doch auch voll Furcht des HErrn und demüthiger Anbetung sein, die Furcht des Sünders wird ertödtet, die Furcht aber des Geschöpfes vor dem großen Gott und Schöpfer wird aufgerichtet werden. So gehen also die verschiedenen Stellen der Schrift zusammen und wir werden sagen dürfen: dem sicheren Weltmenschen ist die Furcht vor Gott zu wünschen, die Furcht vor dem Richter seiner Tage; der begnadigte Sünder verliert diese Furcht, die da Pein macht, aber er reift zur Furcht und Scheu des Allmächtigen und Allgegenwärtigen, welche das Geschöpf vor seinem Schöpfer bei der größten Liebe haben soll; an jenem großen Tage wird die höchste Offenbarung der Gnade alle peinigende Furcht austreiben, aber die höchste Offenbarung der Majestät des HErrn zur Liebe diejenige Furcht hinzufügen, welche kein Mensch entbehren kann, der vor Gott stehen soll.

 So gewis uns nun aus unserem Texte die Liebe in ihrer alle Qual zerstörenden Kraft erscheint, so bleibt es doch immerhin ein gewaltiger Gedanke, daß wir, die wir Staub und Asche, ja Sünde und Bosheit sind, den unermeßlichen, ewigen, heiligen Gott sollen lieben dürfen. Da wir selbst an uns nichts finden können, als Verderben, so ist es nicht abzusehen, was Er mit Seinem vollkommenen Auge an uns finden soll, wie wir Ihm liebenswürdig erscheinen können und Er Sein Herz uns zuneigen soll. Wir bedürfen, um Ihn zu lieben, einer hohen Ermuthigung, deren Erwähnung den ersten Theil unseres Textes beschließt. Die Ermuthigung liegt darin, daß uns Gott zuerst geliebt, den Vorgang der Liebe gemacht und uns zur Liebe eingeladen hat. „Laßet uns Ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebt.“ In dem Vorgang des Allmächtigen liegt nicht bloß die Erlaubnis, sondern auch ein Ruf zur Nachfolge; in der unaussprechlichen und unbegreiflichen Tiefe Seiner Liebe zu uns wurzelt unsere Gegenliebe; unsere ganze Liebe zu dem HErrn ist nur ein Erzeugnis Seiner Liebe, weshalb wir allerdings durch die zunehmende Erkenntnis Seiner Größe von der Liebe nicht abgehalten, wohl aber in derselben gefördert werden.

 Mit der Liebe Gottes zu Seinen Auserwählten hat der Text begonnen, zur Gegenliebe der Auserwählten zu ihrem Gotte ist er fortgeschritten, und unvermerkt sind wir im 19. Verse zu jener Fortsetzung der Liebe gekommen, die in der Bruderliebe besteht. So gewaltig dringt unsere Epistel auf diese Fortsetzung der Liebe, die Bruderliebe, daß eine jede Behauptung der Gottesliebe als Lüge hingestellt wird, welche nicht unter dem vorhandenen Zeugnis der Bruderliebe geschieht. „So jemand spricht: ich liebe Gott, und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner.“ Starke Worte des Jüngers der Liebe, nicht weniger stark, die Liebe zu fordern, als Anklage gegen diejenigen zu stellen, die der Liebe ermangeln. Dazu wird gesetzt: „Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet“. Dieser letzte Satz könnte wie eine Schwächung des ersteren, der Liebesforderung, erscheinen, und zwar deshalb, weil in der Erfahrung so manches gegen ihn zu sprechen scheint. Es werden ja viele sein, die da glauben behaupten zu dürfen, man könne Gott lieben, auch ohne daß man den Bruder liebe. Gott sei ja vollkommen, der Mensch aber unvollkommen, und es sei leichter, den frommen liebenswürdigen Gott zu lieben, als den Menschen, dem so viel zur Liebenswürdigkeit mangelt. Im Umgang mit den Menschen werde man immer aufs neue durch die an ihnen bemerkten Fehler gestört; es gebe ein jeder Mensch zu tragen und so oft er es thue, lege er ein Hindernis der Liebe. Man bleibe leicht in der Liebe zu den Entfernten, während man im Umgang mit den Nahen alle Augenblicke gestört werde, eine Reizung zu Unzufriedenheit und Haß finde. So urtheilt der Mensch und doch widersteht dies Urtheil ganz und gar dem göttlichen Worte. Gottes Urtheil ist ein ganz anderes und der heilige Apostel lehrt uns, daß die Fehler des Menschen den Menschen an der Bruderliebe weitaus nicht so sehr hindern, als er durch den Umstand an der Gottesliebe gehindert wird, daß Gott unsichtbar ist und sich Sein Wesen der sinnlichen Wahrnehmung entzieht. So sehr leben wir durch Vermittelung unserer Sinne, daß uns kaum wahr scheint, was durch sie nicht vermittelt

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/386&oldid=- (Version vom 1.8.2018)