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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

haben.“ Den meisten Menschen, die jetzt leben, erscheint die Lehre von einem endlichen Brand und Untergang der Welt und einem jüngsten Gerichte wie ein altes erhabenes Mährchen, den Mährchen und Sagen anderer Religionen vergleichbar. Fast jedermann vertraut auf eine immerwährende Dauer der sichtbaren Welt, und die Mehrzahl spricht wie die Spötter, von denen St. Petrus im dritten Kapitel seines zweiten Briefes redet: „Nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Creatur gewesen ist.“ Läßt man aber auch hie und da die heilige Lehre gelten, so beschäftigt man sich doch so wenig mit ihr, daß sie im Grunde unserer Seele keine Wirkung hervorbringt. Man braucht nicht eben viel Phantasie zu haben, man darf sich ja nur vergegenwärtigen, was der Griffel des lebendigen Gottes selber vom jüngsten Tage in die heilige Schrift niedergelegt hat, um zu begreifen, wie die Kirche in ihrer Litanei unermüdlich betet: „In unserer letzten Noth, im jüngsten Gericht, behüte uns lieber HErre Gott.“ Wenn uns aller Boden der Materie unter den Füßen hinweggezogen wird, die ganze Welt verbrennt und vergeht und wir bei dem allgemeinen Aufruhr aller Dinge allein in der Macht und Gnade Gottes ruhen müßen, so ist das etwas so Außerordentliches und Großes, daß wir ohne Liebe zum HErrn und ohne tiefe Anerkennung Seiner großen Liebe zu uns es gar nicht denken können. Diese Liebe aber wird so groß und mächtig sein, daß sie nicht bloß Ruhe und Frieden, Glauben und Vertrauen in die bewahrende Gnade Gottes schaffen, nicht bloß im Aufruhr der untergehenden Welt die Seelen stille machen, sondern auch noch größeres thun wird.

 Wenn ich in Gott ruhen darf zur Zeit der größten Noth, wenn Er mein Freund ist in der Stunde des Untergangs aller Dinge, so kann ich ruhig sein. Mag mir es auch groß und schwer erscheinen, ich kann mir es doch denken, es glauben und hoffen. Aber was soll ich thun, wenn mir beim Bewußtsein des eigenen Unwerthes und zahlloser Sünden, gegenüber der herrlichen Erscheinung Seiner Majestät der Glaube dahinfällt und ich mich vor Ihm fürchte? Die Welt mag zerstäuben oder zerschmelzen, was liegt daran, wenn ich im Schooße Gottes ruhe; wohin aber soll ich fliehen, wohin mich wenden, wenn mich Sein Angesicht schreckt und ich mich vor Seinem reinen Hauche im schmutzigen Gewande der eigenen Gerechtigkeit finde? Schon dieser Gedanke könnte ein zagendes Herz im tiefsten Grunde erschrecken. Aber ich stehe ja nicht allein vor Ihm im Selbstgerichte, sondern der Allmächtige ruft mich zu Seinem Gericht an jenem großen Tage. Die Posaunen gehen, die Bücher werden aufgeschlagen, es gilt ein untrügliches Gottesgericht. Was soll mich, den Sünder, aufrecht erhalten, daß ich nicht versinke in der tiefen Höllenglut? Der Text lehrt michs: die Liebe, die Gott in Christo JEsu erwiesen hat, die mir gepredigt ist, die ich im Glauben faße, und die mich zur Gegenliebe erweckt, mir Muth und Kraft gibt, mich Ihm vertrauend zu nahen, die ist es, von der geschrieben steht, daß ihre Fülle und ihr größter Preis darinnen besteht, daß sie auch am Gerichtstage dem Richter gegenüber Freudigkeit verleiht. Wenn Er, der ewige Richter, von meinen Sünden redet, dann rede ich also in Kraft der Liebe von Seiner Liebe, erhebe wider die Anklage des Gesetzes den Preis Seiner Gnade, d. i. Seiner Liebe in Christo JEsu, und darf alsdann inne werden, daß das Evangelium größer ist, als das Gesetz und die Liebe größer, als das Gericht. Einen größeren Triumph der Liebe kann es nicht geben. Die Liebe verbindet uns mit Ihm und hebt uns über das Gericht hinüber, wie viel mehr wird sie uns im Aufruhr der ganzen Welt erhalten und stärken. Mag die sündenbeladene Welt vergehen, wir sind mit Gott vereinigt, und bei all unserem Schuldbewußtsein gehören wir doch Ihm, stehen auf Seiner Seite und „wie Er selbst ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Wir werden nicht gerichtet, wie die Welt gerichtet wird, sondern wir genießen wie Er den Frieden, Seinen göttlichen Frieden, wenn die ganze Welt verzagen muß. Er steht der Welt gegenüber, aber nicht den Seinen; diese stehen nicht Ihm gegenüber, sondern der Welt, mit Ihm sind sie vereinigt und nehmen in der Welt dieselbe Stellung ein, wie Er, nemlich die Stellung eines siegreichen Gegensatzes bei eigenem großen Frieden.

 Der 18. Vers, bei dem wir stehen, führt eigentlich den Gedanken des vorausgehenden 17. nur weiter aus. In Kraft der Liebe hat der Christ sogar am Tage des jüngsten Gerichtes und der allgemeinen Schrecken Freudigkeit oder Zuversicht zu seinem Richter. Hätte er aber die Liebe nicht, so würde ihn die

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/384&oldid=- (Version vom 1.8.2018)