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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wird. Da wir Gott nicht sehen, fehlt uns fast der Weg zu Seiner Liebe. Alle Hindernisse, welche die Bruderliebe in den entgegentretenden Fehlern der Brüder findet, werden leichter beseitigt und wirkungslos gemacht, als die Hindernisse, die unser Glaube in der Unsinnlichkeit des göttlichen Wesens findet. Wenn daher der heilige Apostel sagt, wer seinen Bruder nicht liebe, der könne auch seinen Gott nicht lieben, und dazu setzt: „Dies Gebot haben wir von Ihm, daß wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe,“ so deutet er damit ein doppeltes an, nemlich erstens, daß es hie nicht nach der Menschen Weise zugehe und nicht nach menschlicher Meinung, und etwas geboten werde, was in der menschlichen Macht und Fähigkeit nicht liegt, zugleich aber auch, daß der Gott, der solches wider aller Menschen Meinung und Fähigkeit gebietet, uns auch Wege zeigen werde und zeigen müße, auf denen Sein heiliger Wille vollzogen werden kann. Es muß dem Christen das Leichtere und das Schwerere gelingen, wenn ihm einmal die Liebe Gottes geoffenbart ist. Das leichtere, die Liebe zu dem unvollkommenen Bruder, und das Schwerere, die Liebe zu dem unsichtbaren und vollkommenen Gott, und der HErr, obwohl eine unermeßliche Person, muß dem begränzten und beschränkten Wesen des Menschen so nahe kommen und kommen können, daß der arme Mensch nicht bloß vor Ihm niedersinken und Ihn staunend anbeten, sondern auch kindlich und fröhlich lieben kann.

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 Vor den Thüren des reichen Mannes liegt der arme Lazarus. Ein armer, nackter, kranker, mit Schwären bedeckter Bettler hat keinen Liebreiz für einen Reichen, einen in Seide und köstlicher Leinwand im reichsten Ueberfluße und Lebensglück prassenden Reichen. Zwischen dem Unglücklichen und dem Glücklichen hebt sich das äußere irdische Geschick wie eine mächtige hohe Scheidewand, die von niemand überstiegen wird, als von demjenigen, dem die Liebe Gottes ins Herz gegoßen ist, und von keinem niedergerißen, als von demjenigen, deßen Herz von der heiligen Bruderliebe durchdrungen ist. Von solcher Kraft und Liebe weiß der reiche Mann nichts: es mangelt ihm die Bruderliebe, weil ihm die Gottesliebe mangelt, wie kann er das Auge haben, um in dem armen, wunden Bettler seinen Bruder zu erkennen, da er den gemeinschaftlichen Vater im Himmel nicht erkennt? So viel sieht man am Beispiel des reichen Mannes. Aber hat denn der reiche Mann nur einmal gelebt? Gibt es seines Gleichen nicht an allen Orten und in allen Zeiten? Findet er sich bloß unter denen, die herrlich und in Freuden leben, oder fehlt er auch nicht bei denen, denen ein bescheideneres Loos zu Theil geworden ist? Muß man in Seide und köstlicher Leinwand einhertreten, um lieblos gegen die Brüder zu sein, oder findet sich die Lieblosigkeit auch unter denen, welche im ganzen Leben kein seidenes Gewand zu tragen pflegten? Ihr merket wohl, meine lieben Brüder und Schwestern, wohin ich steuere. Mein Ziel ist euer Herz. Meine Fragen sind Prüfungsfragen für euch. Meine Befürchtung ist, ihr möchtet die Fragen nicht zur Befriedigung beantworten können. Mein Wunsch ist, euch zur Erkenntnis zu bringen, euch den Mangel eurer Bruderliebe zu zeigen und euch die Ursache des Mangels in einem größeren Mangel, in dem der Gottesliebe aufzuzeigen. Es steht nicht bei dem Menschen, in Betreff der Liebe nur einen Fehler, oder nur eine Tugend zu haben; er hat immer zwei. Nie hat oder fehlt ihm allein die Bruderliebe oder die Gottesliebe, immer hat er beide, oder es fehlen ihm beide. Das Gefühl des Menschen ist zuweilen ein anderes, aber es ist trügerisch; dagegen das Wort Gottes trüget nicht und die Wahrheit, die aus ihm fließt, kann nicht anders als treffend sein. Wohl dem, der dieß nach der vollen Schärfe auffaßt und sich nicht träumen läßt, daß er eine Ausnahme machen könne. Wohl dem, der sich in den Staub der Buße willig begibt, wenn ihn Gottes Wort dahin wirft, damit er auch seiner Zeit durch Gnade erhöht werde. Es ist nie jemand aufwärts gegangen zur Offenbarung der Liebe Gottes und zur Ermächtigung, die Brüder zu lieben, außer wer zuvor abwärts gieng, um seine Sünde und Missethat zu erkennen. Darum, meine lieben Brüder, folget auch ihr getrost dem Zug des heiligen Geistes, welcher euch durch die tiefe Demüthigung und durch die Erkenntnis eurer Mängel zu dem himmlischen Glücke der Liebe, zu Gott und Seinen Kindern führen will. Werdet ihr Ihm in der Buße widerstreben, so werdet ihr auch immer Noth und Mangel an Liebe haben. Werdet ihr euch aber der Buße weigern, so werdet ihr auch zurückbleiben in der Erfahrung der größten Seligkeit, das ist eben in der Liebe. Es liegt

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 011. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/387&oldid=- (Version vom 1.8.2018)