Elisa von der Recke im Wonnemonat des Jahres 1790

Oeffentliche Sammlungen für Abgebrannte Elisa von der Recke im Wonnemonat des Jahres 1790 (1894) von Otto Richter
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896)
Gereimte Selbstbiographie des Diakonus M. Christian Richter 1645–1725
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Elisa von der Recke
im Wonnemonat des Jahres 1790.
Mittheilungen aus ihrem Tagebuche
von
Dr. Otto Richter.


Das freundliche Andenken, das auch unsere Zeit Elisen von der Recke noch bewahrt, gilt nicht der sinnigen Dichterin, nicht der talentvollen Schriftstellerin. Was sie als solche geschaffen, ist in dem unaufhörlich anschwellenden Strome unseres Schriftthums längst untergegangen. Wir schätzen in ihr – und das ist mehr – die Frau von ungewöhnlicher Charakterstärke und Gemüthstiefe, deren Seelenadel Jahrzehnte hindurch den besten Theil des gebildeten Deutschlands bezauberte. Nicht in ihren Schriften – in ihrem Wesen selbst liegt der noch fortwirkende Reiz ihrer Persönlichkeit. Bei ihren Schicksalen wird daher auch der gern einen Augenblick verweilen, den sonst der zu ihrer Zeit herrschende Ton rationalistischer Schönseligkeit fremd anmuthet.

Charlotte Elisabeth Konstantia Reichsgräfin von Medem war am 20. Mai 1756 im Herzogthum Kurland geboren. Im zarten Alter von 15 Jahren hatte man sie mit dem 32 jährigen Kammerherrn von der Recke verheirathet, einem rohen Wüstling, mit dem das feinfühlige Wesen eine äußerst unglückliche Ehe führte. Das Wenige, was sie von ihrem Manne erzählt, ist vollauf genug, um ihre Verachtung gegen ihn zu rechtfertigen. Und doch war es ihr, wie sie selbst sagt, von ihrer Kindheit an das höchste Bedürfniß, mit Innigkeit zu lieben und geliebt zu werden! Nach fünf leidensvollen Jahren, die ihre Gesundheit untergraben hatten, trennte sie sich 1776 von ihrem Gatten und ließ sich nach dem Tode ihrer einzigen Tochter im Jahre 1781 von ihm scheiden.

Durch die im Jahre 1779 erfolgte Verheirathung ihrer Stiefschwester Dorothea mit Peter Biron, dem letzten Herzog von Kurland, hatte Elisa eine hohe gesellschaftliche Stellung gewonnen; sie lebte seitdem meist am herzoglichen Hofe zu Mitau. Dort gelang es ihrer Klugheit, den berühmten Magiker Cagliostro zu entlarven; sie richtete 1787 eine in ganz Europa Aufsehen erregende Schrift gegen ihn, durch die sie den Betrüger vernichtete und sich zu einer gefeierten Persönlichkeit machte. Dieser Streitschrift ließ sie im Jahre 1788 eine zweite gegen den kryptokatholischen Oberhofprediger Starck in Darmstadt folgen.

In Deutschland war sie schon vorher durch mehrere Liedersammlungen bekannt geworden und mit den hervorragendsten Geistern in Beziehung getreten. Auf ihren Reisen durch Deutschland und besonders nach Karlsbad, wohin sie sich wiederholt mit ihrer Schwester und zur Wiederherstellung ihrer eignen Gesundheit begab, berührte sie mehrfach auch Dresden, zum ersten Male im August 1784; über diese Reise hat ihre Jugendfreundin und Begleiterin Sophie Becker ein anziehendes Tagebuch niedergeschrieben, das neuerdings veröffentlicht worden ist.[1] Dann kam sie wieder im Sommer und Herbst 1789 und im Mai 1790 nach Dresden. Nachdem das Herzogthum Kurland dem russischen Staate einverleibt worden, lebte sie seit dem Jahre 1797 ganz in Deutschland und großentheils in Dresden, wo sie die letzten 14 Jahre ununterbrochen, bekanntlich im engsten Freundschafts- und Geistesbunde mit Tiedge, dem Dichter [106] der „Urania“, zubrachte. Am 13. April 1833 schloß sie die Augen, die seltene Frau, die – ein wahres Muster zarter Weiblichkeit – doch den Geist und die Charakterstärke eines Mannes besaß.

So war Elisen von der Recke noch ein längeres Leben beschieden gewesen, als es ihre frühzeitig erschütterte Gesundheit hatte ahnen lassen. Ihre Seelenkraft war im Kampfe mit der Hinfälligkeit des Körpers immer Sieger geblieben. „Wer sich es zum Gesetz macht, sich selbst zu beherrschen“, schreibt sie, „wird seiner Leidenschaften Herr werden und es dann aus eigner Erfahrung bestätigt finden, daß man selbst bei körperlichen Schmerzen heitere Ruhe beizubehalten vermag. Wie oft litt ich Monate hindurch schmerzhafte Krämpfe und mußte auf dem Krankenlager liegen; nie hatten diese körperlichen Leiden Einfluß auf meine Laune. Mein denkendes Ich fühlte ich dann von meinem materiellen Wesen so abgesondert, daß ich mir es fühlbar bewußt wurde, daß ich aus Körper und Geist bestehe, und meine Seele gewann auf meine leidende Hülle mehr Einfluß als mein Körper auf meinen Geist. Oft haben Leiden der Seele meinen von der Natur so fest gebauten Körper durch Krankheit niedergebeugt, nie aber hat Krankheit den Gleichmuth, die Heiterkeit meiner Seele erschüttert.“

Zu den schmerzlichsten Ereignissen ihres Lebens gehörte es, als am 26. Oktober 1789 ihre Busenfreundin Sophie Becker, die Tochter eines kurländischen Pfarrers, seit zwei Jahren Gattin des Referendars Schwarz in Halberstadt, im Alter von 35 Jahren starb. Da zu dieser Zeit Elisens Verhältniß zu ihrer Schwester, der Herzogin, etwas erkaltet war, so hatte sie, die Liebebedürftige, nun keine Seele mehr, der sie sich rückhaltslos anvertrauen konnte, und mußte selbst ihre eigne Freundin werden. „Ich beschloß daher“, sagt sie, „ein Tagebuch zu führen, worin ich nun wie vor einem Gewissen von meinem innersten Leben Rechnung ablegte und meine Gedanken und Urtheile, so wie sie in mir aufstiegen, der Reihe nach zu meiner eignen Belehrung und Prüfung aufstellte. Man lernt sich nicht besser beurtheilen, als wenn man aus sich selbst heraustritt und gleichsam sein zweites Ich wird. So schöpfte ich Menschenkenntniß und Trost aus mir selbst. Zum heiligsten Pflichtgebot hatte ich mir die Regel gemacht, mich strenge, andre schonend zu beurtheilen: aber meinem Tagebuche war ich Wahrheit meiner Ansicht schuldig; daher es über Menschen, über Begebenheiten und deren Quellen sehr offenherzige Urtheile enthält, welche nie zu einer öffentlichen Kunde gelangen dürfen.“ Diese Tagebücher reichten vom 26. Dezember 1789 bis zum Jahre 1804 und umfaßten 18 Bände. Um jeden Mißbrauch mit diesen Gefühlsergüssen zu verhüten, fertigte Elisa daraus einen Auszug, in dem sie, ohne zu ändern oder anders zu färben, das zur Veröffentlichung Ungeeignete wegließ und nur „das Merkwürdigste und dasjenige aushob, was rathen, warnen und als Begebenheit interessiren kann“, und vernichtete dann die Urschriften.

Dieser Tagebuchauszug, der in der Königl. öffentlichen Bibliothek zu Dresden (Handschrift R. 256) aufbewahrt wird, erstreckt sich nur auf die Zeit vom 26. Dezember 1789 bis zum 8. Dezember 1790; es ist ihm aber als „Vorrede“ ein bis zum Beginn der Tagebücher reichender Lebensabriß vorausgeschickt, der zu „Leipzig, am 12. Januar 1810“ unterzeichnet ist. Den ganzen Inhalt des starken Oktavbandes hat Elisa mit eigner Hand im Jahre 1809 – auch der Einband trägt diese Zahl – niedergeschrieben, dann aber 1823 und in den folgenden Jahren, als ihre sonst so schöne und feste Hand zitternd geworden, noch mit erläuternden Bemerkungen versehen. Sie hat nicht beabsichtigt gehabt, die Auszüge weiter als über das Eine Jahr 1790 hinaus zu erstrecken, denn sie endet die Vorrede mit den Worten: „Mein Tagebuch ist geschlossen; ich habe vollendet und weihe den kleinen Rest meiner noch übrigen Stunden dem kleinen Kreise, der mich liebend umgiebt“; offenbar hielt sie das Werk in dem vorliegenden Umfange zu dem Zwecke, den sie im Auge hatte, für ausreichend. Zum Druck hat sie es wohl nicht bestimmt gehabt, während das Tagebuch ihrer Reise durch Deutschland und Italien in den Jahren 1804 bis 1806, das Hofrath Böttiger 1815 bis 1817 in Berlin hat erscheinen lassen, von ihr selbst für die Veröffentlichung angelegt war.

„Ihr Edleren, ach es bewächst
Eure Male schon ernstes Moos!
O wie war glücklich ich, als ich noch mit Euch
Sahe sich röthen den Tag, schimmern die Nacht!“

Mit diesen Versen, die sich an ihren 1778 im Alter von 20 Jahren verstorbenen Bruder und Vertrauten Friedrich Graf von Medem und ihre Freundin Sophie Becker richten, beginnt sie das Tagebuch des Jahres 1790. Es soll hauptsächlich der Erinnerung an Personen, seelischen Vorgängen gewidmet sein, während äußere Erlebnisse darin zurücktreten. Dies gilt namentlich auch von dem Abschnitte, der uns näher beschäftigt und unten im Wortlaut mitgetheilt ist: dem Tagebuche über ihren Aufenthalt in Dresden im Mai 1790.

Es war ein wahrer Wonnemonat für Elisa, dieser Mai 1790: er brachte ihr die Freuden einer neu aufkeimenden Liebe. Der Gegenstand ihrer schwärmerischen Neigung war ein Mann, der durch Rang und Geist im gesellschaftlichen Leben Dresdens damals eine hohe Stellung einnahm: Karl Graf von Geßler, preußischer Gesandter am sächsischen Hofe. Seine Freundschaft mit dem Hofkapellmeister Naumann und dem Appellationsrath Körner, bei dessen Sohne Theodor er später Pathenstelle [107] vertrat, brachte ihn mit allen nach Dresden kommenden künstlerischen und literarischen Berühmtheiten und so auch mit Elisa von der Recke in Berührung. Sie lernte ihn zuerst am 17. Juni 1789 auf Naumanns Weinberg in Loschwitz kennen, sah ihn dann fünf Wochen lang täglich in Karlsbad und blieb mit ihm in Briefwechsel bis zu dem neuen Zusammentreffen in Leipzig und Dresden im Frühjahr 1790. Ihre Niederschriften lassen keinen Zweifel über die Natur der Gefühle, die sie gegen ihn hegt, wenngleich sie sich selbst zu überreden sucht, daß es nur Freundschaft sei: schon die poetische Schilderung des Abends auf Körners Weinberg am 19. Mai redet eine zu deutliche Sprache. Graf Geßler scheint damals im Ernst an eine Verbindung mit Elisa gedacht zu haben, aber seine Liebe war nicht so beständig wie die ihrige. Schon im Herbst 1790 mußte sie dies fühlen; er hatte inzwischen seine Neigung ihrer weniger geistvollen, aber schöneren Schwester, der Herzogin von Kurland, zugewendet.

Elisa von der Recke.

Dieser zu Liebe gab er, wie Elisa erzählt, später seinen Gesandtschaftsposten in Dresden auf, um sich der Herzogin und ihren Kindern in St. Petersburg nützlich zu machen. Es gelang aber der Umgebung der Herzogin, sie von ihm zu trennen, und der Graf warf deshalb auf Elisa „einen sehr unwürdigen Verdacht.“ Sie konnte ihm den Aufschluß, den er zu ihrer Rechtfertigung verlangte, nicht geben, ohne nach ihrer Auffassung gegen ihre Schwester zu fehlen, und so trennte er sich 1793 von ihr mit den herben Worten: „Da ich mich in dem innern Seelenwerth zwei so interessanter Schwestern geirrt habe, so kehre ich zu meinem alten Glauben zurück, daß die Menschen nur Schauspieler sind; die hohe Elisa ist mir jetzt nur ein gewöhnlicher weiblicher Charakter!“ Seitdem sahen die Schwestern den zum Weiberfeind gewordenen Mann nur selten, wobei er sich kalt artig gegen sie benahm; aber im Stillen liebte er die Herzogin fort, so wie Elisa ihn auch ferner liebte. Während der Befreiungskriege hat sich Graf Geßler als Patriot hervorgethan; im Jahre 1813 war er Oberbefehlshaber des schlesischen Landsturms. Ernst Moritz Arndt, der zusammen mit dem großen Freiherrn vom Stein, Geßlers Jugendfreunde, längere Zeit bei ihm auf seinem Gute Reichenbach in Schlesien weilte, hat dem trefflichen Manne in seinen „Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein“ ein schönes Denkmal gesetzt. Er starb 1829, 76 Jahre alt und unvermählt, nicht ohne die engbefreundete Familie Körner, die auch wirthschaftlich durch den Krieg schwer geschädigt war, reich bedacht zu haben. Elisa äußert noch in einer Anmerkung vom Jahre 1826, die Erinnerung der mit ihm zugebrachten Tage sei ihr heilig.


Leipzig, den 2. Mai, Hotel de Saxe. Früh Morgens um 6. Der Gesang der Vögel, der aromatische Blüthenduft und Leipzigs lachende Gärten, die ich aus meinem Fenster sehe, geben meiner Seele einen Schwung, der nahe an jugendliche Heiterkeit grenzt, und dennoch schlägt mein Herz mit einer Unruhe, der ich nicht ganz Herr bin; Graf G. ist seit vorgestern hier, seine Freude mich wieder zu sehn, war höchst ausdrucksvoll. Er widmet mir fast alle seine Stunden, und schnell entflieht der Tag im Umgange dieses geistreichen Freundes. Es ist mir lieb, daß Freund Blankenburg[2] auch den ganzen Tag bei mir ist und daß Nicolai[3] mir jede Stunde schenkt, die er abmissen kann; dadurch sind die Gespräche immer lebhaft und interessant, ohne daß der eine mir zu interessant wird.

Den 4. Mai. Er ist fort, – aber in wenig Tagen seh’ ich ihn in Dresden wieder, und dennoch fühl’ ich es, daß er fort ist. Warum vermiß ich ihn so? – warum machte alles, was er gestern Abend in einer zahlreichen Gesellschaft von mehr als 30 Personen sprach, [108] so tiefen Eindruck auf mich? Nicolai gab einigen Gelehrten und ihren Frauen ein Souper; Graf G. und ich vermehrten diese Gesellschaft. Ich saß zwischen G. und Nicolai; Blankenburg und der alte Forster[4] mir gegenüber. G. wußte der Unterhaltung einen Schwung zu geben, so daß jeder durch seine Wissenschaft oder irgend einen Gedanken glänzen konnte, ohne daß blos Einer das Gespräch ganz an sich riß, dadurch fühlten alle Einzelnen sich erheitert und alle bewunderten den Reichthum der Kenntnisse, welche dieser geistreiche Mann sich erworben hat. Der Professorin Sprengel, geborne Forster, gab er Gelegenheit, durch witzige Repliken Aufsehen zu erregen, indessen er seine eigne Gabe, angenehm zu scherzen, in hellem Lichte zeigte. Die ehrfurchtsvollste Anhänglichkeit an mich gab er mit einer Zartheit zu erkennen, die ihn meinem Herzen noch werther machte. Als ich mich in der Portechaise nach Hause tragen ließ, fand er sich unerwartet an meiner Seite ein, das Fenster war offen; er rief mir mit dem innigsten Tone zu „ich mußte Sie noch wiedersehn! Diesen Abend überstand ich eine harte Probe! – ich fühlte die nahe Trennung von Ihnen, – und fühlte, was ich einer so geistreichen Gesellschaft schuldig war! – Nun! – in Dresden sehe ich Sie ja in wenigen Tagen wieder!“ Auch ich freue mich dieser Aussicht, war meine Antwort: aber kaum waren diese Worte meinem Herzen entschlüpft, so zog ich das Fenster zu! – „Elisa! so ganz ohne freundlichen Abschied lassen Sie Ihren Freund von sich?“ – Schnell ließ ich das Fenster hinunter, er griff nach meiner Hand, drückte sie an seine Lippen, an seine Brust, – ich fühlte die Schläge seines Herzens, und nun tönt mir sein – „Leben Sie wohl“ immer in die Ohren. Aber das Bild des edlen H.[5] steht dann so lebhaft vor meiner Seele, als warnte ein guter Genius mich, diesen interessanten Mann nicht zu lieb zu gewinnen.

Den 6. Mai. Mit Blankenburg und Nicolai machte ich einen Spaziergang im Rosenthale; wir hatten ein höchst interessantes Gespräch über den Unfug der Geisterseherei, durch welche schlechte Menschen sich des gutmüthigen Friedrich Wilhelms so zu bemächtigen wissen, daß für den preußischen Staat üble Folgen zu befürchten sind, weil der König durch diese Schwärmerei ein Werkzeug intriganter Leute wird; wir waren in diesen Betrachtungen vertieft, als ein Bettelknabe mit einem von Blatternarben zerrissenen Gesichte uns ansprach, und gleich war meine Aufmerksamkeit auf das Gespräch verschwunden, G.’s Gestalt, mit seinem seelenvollen, doch von Blatternarben zerrissenen Gesichte stand vor mir, und ich wurde den ganzen Abend dies mir theure Bild nicht mehr los. Dem Bettelknaben gab ich mehr, als ich nach meinen Grundsätzen Straßenbettlern zu geben pflege. Ich muß auf die Gefühle meines Herzens aufmerksamer wirken.

Dresden, den 12. Mai. Meine Tage sind zwischen meinem erprobten Freunde Naumann[6] und G. getheilt. Bei Naumann schwelg’ ich in musikalischen Genüssen und unbefangenen Herzensergießungen; wie tief fühlt der Edle meiner Sophie Tod! Ist es doch als vermindere sich das Schmerzgefühl, wenn unsere lebenden Freunde den Verlust unsrer Entschlummerten tief mit uns betrauern.

Den 15. Mai. Ein schöner Freudengenuß folgt dem andern. G. lud mich ein, mit ihm und Körners Familie eine Reise durch die Sächsische Schweiz zu machen; er hat um Dresden Felsengegenden aufgefunden, die bis jetzt noch unbesucht waren und denen er den Namen der Sächsischen Schweiz gegeben hat.[7] Um 4 Uhr morgens holte er und Körners Familie mich in [109] einem geräumigen Wagen ab. Ein schöner Frühlingsmorgen erfüllte die Gegend mit Blüthenduft; immer abwechselnde Landschaften gewährten einen reizenden Anblick. Zuerst stiegen wir bei Liebethal aus; kaum ein Maler vermag diese reizenden Baum-, Wasser- und Felsenparthien darzustellen; meine Feder ist zu schwach, die schauerliche Anmuth um Liebethal zu beschreiben. Es wurde mir schwer, mich von diesem reizenden Thale zu trennen; doch meiner warteten noch schauerlichere Gegenden, und so mußte ich mich vom rauschenden Wasserstrome der einsamen Mühle losreißen; wir fuhren unter geistreichen Gesprächen bis Lohmen: dort hatte G. ein wohlschmeckendes Mittagsmahl bereiten lassen, und nachdem wir unsern Hunger gestillt hatten, nahm uns ein schönes Fahrzeug auf, das leicht über die blauen Wellen der Elbe hinglitt; reizende Fernen und fruchtbare Nähen hatten wir zu beiden Seiten der Ufer. Neu war die Hypothese der Naturforscher mir, daß ein Theil von Böhmen einst ein großer Landsee gewesen sei, und bei Aussig, durch eine Revolution der Natur, das Wasser die Felsen zerrissen und den Elbstrom durch diesen gewaltsamen Durchbruch gebildet habe: so sei der große stehende See in der Folge in fruchtbares Land verwandelt worden. Graf G. machte uns durch scharfsinnige Bemerkungen diese Vermuthung sehr wahrscheinlich, merkwürdig ist es wenigstens, daß die beiden Seiten der Elbufer so gleich geschichtet sind, daß man vermuthen muß, nur eine gewaltsame Kraft konnte ihren Zusammenhang zerreißen. Der Eindruck, den die phantastisch geformten Felsengruppen in Wehlen auf mich machten, ist unbeschreiblich. In diesem romantischen Thale möchte ich, unbemerkt vom großen Haufen, mein Leben vollenden. Für alle meine Bekannten wünschte ich als todt zu gelten und nur von meinen liebsten Freunden bisweilen besucht zu werden.

Den 19. Mai nach Mitternacht. Nie fühlte ich mich so sonderbar bewegt, als diesen Abend auf Körners Weinberg; er liegt an der Elbe, Blasewitz gegenüber. Dort sah ich G. im verfloßnen Jahre am 17. Juni zum ersten Male in Naumanns Weinberg; der 17. Juni war der Geburtstag meiner seligen Tochter. Meine Seele war durch das Andenken dieses holden Kindes und meines ganzen Schicksals feierlich gestimmt. Naumann stellte mir damals G. als einen seiner verehrtesten Freunde vor. G. wußte sich gleich durch geistreiche Unterhaltung interessant zu machen. Und – ist er mir jetzt nur interessant? – noch kenn’ ich G. kein volles Jahr und immer schwebt nur sein Bild mir vor! Am heutigen Abend hat er sich mir noch werther gemacht, und doch sah ich eigentlich keine Handlung von ihm, die mein Herz so erwärmen könnte! Das Interesse, welches er an mir zu nehmen scheint, verdient freundschaftliche Erwiderung: aber was soll diese Unruhe in mir? – Kurz vor Untergang der Sonne bat G. mich und Körners Familie, wir möchten an diesem schönen Abende die Stube mit dem Garten verwechseln, und so bot er mir den Arm. G. führte mich zu der Gartenmauer auf eine Erhöhung, so daß ich die Aussicht auf die Elbe und ihre reich mit Weingärten besetzten Ufer hatte; hier, sagte G., wollen wir den Untergang der Sonne erwarten; sie spiegelte sich mit ihren blendenden Strahlen in der blauen Elbe und versprach ein schönes Abendroth. Die Luft war so rein, daß man auch die Formen der entfernten Bergketten, die hinter den Weinbergen liegen, am Horizonte scharf gezeichnet erblicken konnte. Kaum hatte ich mich einige Augenblicke dieses Schauspieles gefreut, so erscholl eine sanfte Musik von Blasinstrumenten, ich wollte mich dieser nahen, aber G. bat mich, ihm diese Stunde zu schenken; denn die andere Gesellschaft spazierte im Garten umher. G. lenkte das Gespräch auf den ersten Tag unsrer Bekanntschaft und sprach von dem Einflusse, den dieser auf seine Geistesstimmung habe. Er sagte mit tiefer Rührung, sein ganzes Leben würde Zeuge der Wahrheit sein, daß ich keinen treuern Freund als ihn hätte. Wunderbar fühlte sich mein Herz bewegt, und mit Innigkeit erwiderte ich, daß auch er auf meine Freundschaft rechnen könne. G. ergriff meine beiden Hände, sah mich zärtlich an und rief bewegt aus – „soll das Leben Interesse für mich gewinnen, so müssen Sie meine innigste Freundin werden.“ Die Sonne neigte sich in diesem Augenblicke zum Untergange: die Musik der Blasinstrumente wurde immer sanfter und ging zum heitern Allegro über, als die Sonne niedersank. Mit ihrem letzten Feuerstrahle wünschte G. mir zu meinem [110] Jahresschlusse (denn es war der Abend vor meinem Geburtstage) mit diesen Worten Glück – „möchten für Sie, edle Frau, mit diesem Sonnenuntergange alle Lebenssorgen schwinden oder nur so viele Ihr Loos sein, als zur Lebenswürze nöthig sind. Sie, theure Elisa, verloren in diesem Jahre viel – sehr viel! – und ich gewann noch in keinem so edle Lebensfreuden; denn, Sie lernte ich kennen! Möge der Abend Ihres Lebens so schön als diese Abendröthe sein, die es uns verspricht, daß die Natur den 20. Mai durch einen herrlichen Sonnenaufgang feiern wird.“ – Nun trat die übrige Gesellschaft zu mir und wünschte mir zum letzten Abend meines bald verfloßnen Jahres Glück. Die Musik wurde immer fröhlicher, und ich fühlte mich tief bewegt. Scherzend fragte die Körner mich, ob ich ein Kind des Tages oder der Nacht sei; ich erwiderte, mit der vierten Morgenstunde begrüßte mein erstes Weinen diese schöne Gotteswelt. Graf G. rief mit Entzücken aus, „unsere Elisa ist ein Kind des Lichtes!“ Halblaut sagte er, sich zu mir neigend – „mit heiligen Gefühlen feire ich in meiner Einsamkeit morgen die vierte Tagesstunde.“ Nun wurde das Gespräch allgemeiner. Wir speisten unter einer Linde, der hellbesternte Himmel glänzte über uns, heitere Geselligkeit würzte das Mahl, und unerwartet wurde mir zu Ehren von der ganzen Gesellschaft ein an mich gerichtetes Lied, bald im Chor, bald nur von einer einzelnen Stimme gesungen. Bis 11 Uhr blieben wir bei einander, Graf G. und Körner begleiteten mich über die Elbe: auf dieser blauen Fluth spiegelte sich der Sternenhimmel prachtvoll ab, und G. suchte beim Glanze der Sterne die Empfindungen der entflohenen Stunden in meinen Augen zu lesen. Als er mich aus dem Fahrzeuge hob und zu meinem Wagen führte, bat er mich, morgen mit Körner und Naumann bei ihm zu speisen.

Den 20. Mai nach Mitternacht. Mein Gemüth ist nicht mehr so unruhig bewegt, süßere Gefühle bemeisterten sich meiner Seele. In der siebenten Morgenstunde feierte ich im Brühlschen Garten einsam das Andenken meiner geliebten Todten und Entfernten. An der eisernen Ballustrade gelehnt, hatte ich vor 6 Jahren mit Sophien und Fritz Stollberg, als die Sonne sich zum Untergang neigte, ein interessantes Gespräch über Unsterblichkeit und das Wiedererkennen unserer Geliebten nach dem Tode. Da glänzten die sinkenden Strahlen der Abendsonne zwischen den Bogen der Brücke auf im Wasser sich spiegelnde Landschaftsgemälde und röthlich war die ganze Gegend angeleuchtet. Rollende Wagen, umherwandelnde Spaziergänger auf der Brücke störten uns in unsern ernsten Betrachtungen nicht, und wir fragten uns, was bleibt nach 80 Jahren von allem diesen bunten Leben und Treiben übrig? – Ich reichte Sophien und Stollberg eine Hand und erwiderte: das Andenken dieser feierlichen Stunde wird uns auch dann noch wohl thun, wenn wir unsere Raupenhülle ausgezogen haben. Meine Hand an sein pochendes Herz drückend, rief Stollberg aus – „Ja wohl! Elisa, versprechen Sie mir, nie diese Stelle zu betreten, ohne dieser feierlichen Stunde zu gedenken.“[8]

Redlich habe ich mein Wort seit dieser Zeit gehalten, und heute stellte ich dort eine ernstliche Selbstprüfung an, alles um mich her war in dieser einsamen Feierlichkeit stille. Blüthendüfte von den nahen Orangen wehten mich an, die Morgensonne spiegelte sich in majestätischer Pracht auf der ruhigen Fluth, mir war als fühlt’ ich mich der ewigen Quelle aller Wesen näher und als strömte die ewige Liebe mir heitere Ruhe in mein bewegtes Gemüth. Worte hatte ich nicht, um meine Seele zum Geiste der Welten zu erheben, aber mir war – als sei jede meiner Empfindungen ein Gebet! und mit ungetrübter Freude dachte ich an das nahe Wiedersehn meiner einzigen Schwester, die ich morgen erwarte.

Unser Mittagsmahl entfloh unter herzlichen Gesprächen bei Graf G. Mit Vergnügen verweilte er bei dem Andenken des ersten Abends unserer Bekanntschaft, die wirklich etwas Romantisches hatte. Er sagte mir, blose Neugier habe ihn den Abend zu Naumann nach Blasewitz getrieben, denn meine Schrift über Cagliostro und Starck und der Enthusiasmus, mit welchem meine Freunde immer über mich sprächen, hätten in seiner Seele ein sonderbares Ideal von mir entworfen. Für höchst interessant habe er mich gehalten, aber durch mein anspruchloses Wesen sei er so überrascht und zu mir hingezogen worden, daß er, als Naumann mich und meine Gesellschaft noch in der Mitternachtsstunde eine halbe Meile in einem Miethwagen auf dem Wege nach Töplitz begleitet hätte, er statt nach Dresden zurück zu reiten, dem Wagen habe folgen müssen: als dieser gehalten hätte und wir nun alle ausstiegen, von ihm und Naumann bei dem schönsten Mondenglanze Abschied nahmen, er mich da wie in einem verklärten Lichte gesehen habe, so hätte er unserem Wagen, als wir uns auf den Weg gemacht hätten, noch eine halbe Stunde nachfolgen müssen, und sein Entschluß, uns nach Karlsbad zu folgen, sei um so fester geworden, je mehr er meinen Umgang mit der Mutter und Tochter Nicolai beobachtet und gesehen habe, wie beide mich liebten und [111] wie ich Freundin zu sein wüßte. Ich muß es mir gestehen, daß diese lebhafte Darstellung unserer ersten Bekanntschaft mir Freude machte und daß auch meiner Seele diese ganze Vergangenheit oft vorschwebte. Den heutigen Abend feierte Naumann meinen Geburtstag in seinem Hause; er zauberte auf der Harmonika Töne hervor, die das Innere des Gemüthes tief bewegten und zu höheren Gefühlen erhoben. Zu dem morgenden Mittag bat Graf G. mich auf seinen Weinberg, um dort mit Körners zu speisen; doch wolle er dafür sorgen, daß ich vor der sechsten Abendstunde zu Hause sein solle, ob zwar meine Schwester nicht vor 9 Uhr Abend ankommen könne.

Den 21. Mai Abends nach 7 Uhr. Der Körner ihre Schwester[9] und Graf G. führten mich in des Grafen Wagen nach Hause, sie verließen mich nach einer Viertelstunde, um, da sie meine Schwester noch nicht kannten, unser erstes Wiedersehn nicht zu stören. Immer ruhiger schlägt mein Herz an der Seite des edlen G., den ich nun Freund zu nennen wage, da auch Naumann seinem Charakter ein schönes Zeugniß giebt. Heute las er uns auf seinem Weinberge einige Scenen aus Don Carlos vor: schöner hört’ ich nie lesen! –

Nach Mitternacht. Meine Schwester ist nicht gekommen, aber ihren Kammerdiener hat sie als Courier zu mir geschickt und mir auf morgen Mittag ihre Ankunft bestimmt.

Den 23. Mai. Wie süß sind die Bilder jugendlicher Geschwisterliebe, wenn man so glücklich ist, wieder an die Liebe einer so geliebten Schwester glauben zu können. Seit vorgestern Mittag lebt meine Seele ein neues Leben, denn mit größerer Innigkeit scheint meine durch den Tod ihres Sohnes tiefgebeugte Schwester jetzt an mir zu hängen. Sie hat die Bekanntschaft des Grafen G. und der Körnerschen Familie gemacht und fühlt sich durch den Umgang des geistreichen Grafen sehr erheitert. Auf den morgenden ganzen Tag sind wir bei G. eingeladen: weil meine Schwester Musik liebt, so werden die Virtuosen der Dresdner Kapelle, unter Naumanns Leitung, meine Schwester morgen Abend bei G. durch ein schönes Concert überraschen.

Den 24. Mai nach Mitternacht. Reich an Geistes- und Herzensgenüssen war der heutige Tag: aber ich verstehe mich selbst nicht recht. Fern von G. ist meine Seele so voll von seinem Werthe, daß mir es scheint, er könne meinem Herzen so lieb als H. werden: und diesen Abend, als er zärtlicher wie gewöhnlich gegen mich war, einigemal meine Hand mit Innigkeit küßte, da wurde mir, als stünde der edle, sanfte H. als warnender Genius zwischen mir und G. – ich erschrak vor dem Gedanken, daß er vielleicht den Wunsch äußern könne, sein Schicksal als Gatte mit mir zu verbinden. Mit Geist und Herz möcht’ ich ihn lieben, so von ihm geliebt werden, wie mein Fritz und Sophie mich liebten. Ueber alles gegen ihn laut denken zu können, dies fängt an Bedürfniß meiner Seele zu werden; und höre ich eine Aeußerung von ihm, die nicht zu meiner Denkart paßt, dann wird mein Herz körperlich schmerzhaft gepreßt: zum ersten Male machte ich heut diese Erfahrung: G. vertheidigte mit vielem Geiste das Sprichwort gegen mich: personne n’est grand devant son valet de chambre, und meine Behauptung, daß ich Charaktere kenne, die ihren strengsten Beobachtern im häuslichen Leben am größten erschienen, suchten meine Schwester und G. nur aus dem Enthusiasmus meiner Seele zu erklären, die so schön für Tugend schwärme und sich eben daher so leicht zu Extremen hinneige und die Menschen entweder für Engel oder für Teufel halte. – Ich erwiderte, gerne will ich glauben, daß ich Menschen bisweilen in meinem Herzen zu strenge beurtheile, mich zu schnell zurückziehe, wenn ich Grundsätze und Charakterfehler finde, die mich zu hart berühren. Daß ich meinen Freunden aber mehr Werth zugestünde, als sie besäßen, könne ich daher nicht glauben, weil meine Freunde mir immer lieber würden und noch bis jetzt nur der Tod mir die Lieblinge meines Herzens geraubt hätte; noch hätte sich aber nie ein durch mich geknüpftes Freundschaftsband durch das Schmerzgefühl aufgelöst, daß meine Phantasie meinen Freunden mehr Seelenwerth geliehen haben sollte, als sie besäßen, und die innere Würde meiner Freunde trotzte, in meiner Seele, dem Sprichworte, daß edle, erhabene Charaktere keine nahe Beleuchtung ertrügen. – Ich muß es mir gestehen, daß G. mir zwar unaussprechlich lieb geworden ist, aber die kleine Idee, die er von der Kraft im Menschen, edel zu handeln, hegt, schmerzt mich tief; denn nur derjenige, welcher ein hohes moralisches Ideal in der Wirklichkeit gefunden zu haben glaubt, wird von dem Muthe beseelt sein, einem solchen Vorbilde nach zustreben.

Den 25. Mai Morgens um 6 Uhr. Wie wachen alle Jugendbilder an diesem mir heiligen Tage in mir auf! – Dreizehn Jahre sind es schon, daß ich den Geburtstag meines liebsten Bruders zum letzten Male an seiner Seite auf väterlichen Fluren feierte! – wie ist mir alles noch so gegenwärtig! – Aus unserm irdischen Kreise ist diese Seele meiner Seele entnommen! aber im Universum reifen wir vereint der Ewigkeit entgegen! wir finden uns einst wieder! Wie mein Fritz und ich uns liebten, so liebt meine Schwester mich nicht! – – doch an diesem mir heiligen Tage, an welchem der Unvergeßliche zuerst das Licht der Welt [112] erblickte, gelobe ich es mir, ich will nicht rechnen, wie viel ich von meiner Schwester Liebe empfange, wie viel ich gebe! – Leben will ich für die Theure und ihr Leben erheitern, so viel meine Kräfte es erlauben. Auch das Herz der kalten, herrschsüchtigen, egoistischen V.[10] will ich zu gewinnen suchen; meiner Sophie war es ja gelungen, dies eigensüchtige Gemüth für sich zu erwärmen! – Ja! unsere geliebten Todten wirken auch selbst nach ihrem Dahinscheiden durch das Andenken ihrer Tugenden wohlthätig auf uns, sobald diese uns immer gegenwärtig bleiben.

Den 26. Mai. Wie schön feierte gestern Abend Naumann den Geburtstag meines seligen Bruders. Meine Schwester mit ihrem ganzen Gefolge, mich und G. hatte er zu einem kleinen Concerte zu sich gebeten. Naumann überraschte meine Schwester und mich durch ein Quartett, welches er für die Harmonika komponirt hatte. Die Flöte, die Laute und das Violoncell wetteiferten miteinander: die Harmonika und Flöte drückte himmlische Empfindungen aus, die mich über dieser Endlichkeit Schranken erhoben; die Laute und das Violoncell hatten etwas Irdischeres, aber die zärtlichste Melodie drang auch bei diesen beiden Instrumenten, von der vollkommensten Harmonie beseelt, tief in das bewegte Gemüth. Auf der Harmonika zauberte Naumann unnachahmlichen Wohllaut hervor! Dieser schien aus höheren Sphären zu uns hernieder zu tönen: nur die Flöte durfte mit der Harmonika wetteifern und konnte sie begleiten, ohne verdunkelt zu werden. Wagten aber die andern Instrumente sich neben die Harmonika, dann mußten sie ihren Weg allein gehen oder sich mit einander vereinigen, um einen gefälligen Eindruck zu machen. Trafen aber alle vier Instrumente zusammen, dann war das Aetherische mit dem Irdischen in einer entzückenden Harmonie vereint. Naumann sagte mir, er habe durch dies Quartett die hohe geistige und die zarte sinnliche Liebe darstellen wollen: durch die Harmonika und Flöte habe er die edelste Geschwisterliebe auszudrücken gesucht, und ich solle dies Quartett als die Geburtstagsfeier meines seligen Bruders betrachten.

Den 31. Mai. Morgen reist meine Schwester mit ihrem Gefolge nach Karlsbad: ich kann der guten Seele erst in drei Tagen nachfolgen; denn mein Quartier im Pomeranzenbaum wird nicht vor dem 7. Juni leer. Fast einen ganzen Monat habe ich nun wieder den interessanten Umgang des Grafen G. genossen, und täglich wurde er mir lieber, wenngleich die Bemerkung mich schmerzt, daß er von der Kraft menschlicher Würde sehr niedrige Begriffe hat. Freilich, er ist Diplomatiker und da stößt er oft auf Unredlichkeit in Verhandlungen der Kabinette. Ach! es muß für ein edles Gemüth ein trauriger Zustand sein, wenn es den Glauben an ächte Menschenwürde verliert. Auch habe ich in diesem Zeitraume an G. mehr Mißmuth und Hang zu übler Laune bemerkt, als in den fünf Wochen, die er verflossenen Sommer in Karlsbad mehrentheils in meiner Gesellschaft zubrachte: doch, ist G. auch einen Tag mißmuthig, dann ist er den nächsten wieder so zuvorkommend, so liebenswerth, so innig, daß man gedoppeltes Interesse an ihm nehmen muß. – Um meine Schwester zu erheitern, schlug er es vor, die Sächsische Schweiz zu besuchen. Noch innigeren Genuß als das erste Mal hatte ich in diesen romantischen Felsengegenden; denn meine Schwester freute sich mit mir dieser herrlichen Felsenparthien. Nur ein mich schmerzender Eindruck ist mir dennoch von diesem Tage zurückgeblieben. In einer der schauerlichsten Grotten des Lohmerthales las Graf G. uns Schiller’s „Resignation“ mit hoher Begeisterung vor. Ich kannte dies furchtbar schöne Gedicht noch nicht und erschrak über den Eindruck, den es auf alle Anwesende machte! Alle erschöpften sich in Lobsprüchen über den tiefen, philosophischen Sinn, über die Innigkeit des Gefühls und über die unnachahmliche Schönheit des poetischen Werthes dieses erhabenen Produktes der Dichtkunst. Man forderte mein Urtheil, und ich sagte – mit schmerzhaftem Grausen habe dies poetisch schöne Gedicht mich erfüllt: ich könne Schillern nur dann die so tief eindringenden Zweifel über Unsterblichkeit verzeihn, wann er nur sein hinreißendes Dichtertalent dazu anwenden würde, diese Zweifel mit eben der Kraft der Sprache philosophisch zu widerlegen. Die Gesellschaft sagte einstimmig – das kann er nicht, das kann kein Philosoph in Prosa! – schmerzhaft gerührt rief ich aus: dann hätte Schiller seine Resignation verbrennen müssen, ehe er nur irgend einer Seele seine finstre Ansicht mittheilte, denn wer den Glauben an Unsterblichkeit untergräbt, befördert die Immoralität der Menschen! – Ich hatte bei diesem Streite die ganze Gesellschaft, auch meine Schwester und G. gegen mich. Dortchen Stock sagte scherzend, wenn Minister Burgsdorff meine Aeußerungen gehört hätte, dann würde er noch größere Hoffnung haben, mich zur Herrnhuterin zu machen.[11] Ich erwiderte: meine Vernunft könne eben so wenig an meiner ewigen Fortdauer mit Bewußtsein [113] zweifeln, als daran glauben, daß das Verdienst eines andern mich seelig machen könne; aber ich wolle doch lieber mit Herrnhutern zu thun haben, als mit geistreichen Menschen, die Atheismus lehren. Einige aus der Gesellschaft sagten: Schillers Resignation enthalte keine atheistische Idee, und es sei zu anmaßend, von der Gottheit ewige Fortdauer unsrer Seele zu fordern. – Mit Rührung erwiderte ich: – Der ewige Geist der Welten, der uns für jedes physische Bedürfniß so weise und wohlthätig Befriedigung darreicht, wird gewiß das höhere Bedürfniß unsrer Seele nach ewiger Fortdauer nicht unbefriedigt lassen. Einige aus der Gesellschaft sagten – „wir fühlen dies Bedürfniß nicht!“ – Geßler drückte meine Hand und fiel ein, – „sehen Sie, liebe Elisa, Schiller hat Recht, – für diese ist der Genuß des Augenblickes, für Sie Hoffnung und Genuß; Sie sind also reicher!“ – Ich schwieg, denn mein Herz war zu gepreßt: auch habe ich erst heut wieder zu meinem Tagebuche meine Zuflucht nehmen können; aber es ist mir ein tiefes Wehgefühl, daß meine Schwester und Graf G. geneigter sind, unsre Unsterblichkeit zu bezweifeln, als anzunehmen. – Minister Burgsdorff und seine ganze Familie suchen meine Schwester eben so sehr zu gewinnen, als sie, seit der ersten Stunde meiner Bekanntschaft, bemüht waren, mich an sich zu ziehen. Auch muß ich der ganzen Familie die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie selbst jetzt sehr freundschaftlich gegen mich ist, ob zwar meine Schrift über Starck ihnen die Hoffnung, mich zur Herrnhuterin zu machen, ganz geraubt hat.[12]


  1. Collection Spemann Nr. 61.
  2. Christian Friedr. Blankenburg (geb. 1744, gest. 1796), bis 1777 Offizier, lebte seitdem als Aesthetiker und Popularphilosoph in Leipzig.
  3. Christoph Friedr. Nicolai (geb. 1733, gest. 1811), einflußreicher Schriftsteller und Buchhändler in Berlin, Herausgeber der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“.
  4. Johann Reinhold Forster (geb. 1729, gest. 1798), berühmter Naturforscher, 1772–1775 mit seinem Sohne Begleiter Cooks auf dessen Reise um die Welt, seit 1780 Professor in Halle.
  5. Herr von Holtei, ein kurländischer Gutsherr. Dieser hatte 1778, noch vor ihrer endgiltigen Scheidung von ihrem Gatten, um Elisens Hand geworben, aber sie hatte dem ihr angebotenen Glücke entsagt, um ihre Cousine, die ihn liebte, mit ihm vermählt zu sehen, was jedoch fehlschlug. Sie behielt ihn im Stillen lieb und bis an ihr Lebensende war es ihre Ueberzeugung, daß sie nur an seiner Seite das Ideal einer glücklichen Ehe gefunden haben würde. Er starb im Juni 1823, nachdem er bis auf die letzten Tage mit ihr im freundschaftlichsten brieflichen Verkehr gestanden. Jedesmal wenn ihr später ein Heirathsantrag gemacht wurde, trat Holteis Bild vor ihre Seele, und sie glaubte bei keinem Manne die hohe Reinheit des Charakters wiederzufinden wie bei ihm. – Es muß hier eine Bemerkung Julius Eckardts zurückgewiesen werden, der in der „Allgemeinen deutschen Biographie“ (Bd. 27, S. 502) behauptet, es sei auf Elisens Scheidung von ihrem Manne nicht ohne Einfluß gewesen, „daß sie an dem Professor des Mitauer Gymnasiums David Hartmann einen Verehrer im Wertherschen Stil gefunden hatte.“ Eckardt stützt sich dabei auf weiter nichts als einen im Goethe-Jahrbuch für 1888 (S. 132) abgedruckten Brief Hartmanns, aus welchem hervorgeht, daß Elisa mit diesem literarisch hochgebildeten Manne verkehrte und 1775 mit ihm „Werthers Leiden“ las. Hartmann drückt in dem Briefe seine Bewunderung für die geistig so bedeutende junge Frau aus, indem er sagt, er habe eine Bekanntschaft gemacht, „die ihm nahe gehe“ und indem er sie „eine ganz außerordentliche Dame“ nennt. Zugleich äußert er aber seine Sehnsucht nach der württembergischen Heimath, was doch gewiß nicht darauf hindeutet, daß er sich von Elisa innerlich gefesselt fühlte. Umgekehrt vollends liegt nicht die geringste Andeutung dafür vor, daß sie für Hartmann ein anderes Interesse hatte als das der Schülerin für den Lehrer: sie erwähnt ihn in ihren Erinnerungen gar nicht, und ihre tiefgehende stille Neigung für Holtei spricht aufs Entschiedenste dagegen. Aber selbst ihr Verhältniß zu diesem kann bei der im Jahre 1781 erfolgten Scheidung von ihrem Manne nicht mitgesprochen haben, da sie ja bereits 1778 seine Hand ausgeschlagen hatte. Die Bemerkung Eckardts erweist sich somit als eine oberflächliche und, da sie auf die charaktervolle Frau ein schiefes Licht wirft, etwas leichtfertige Vermuthung.
  6. Naumann hat im Jahre 1787 „Zwölf von Elisens geistlichen Liedern“ und 1799 „Vierundzwanzig neue Lieder von Elisa“, in Musik gesetzt, herausgegeben.
  7. Diese Stelle ist von besonderem Interesse, da sie das älteste literarische Zeugniß für die Entstehung des Namens „Sächsische Schweiz“ darstellt, der nach der bisherigen Kenntniß zuerst in den 1794 erschienenen „Mahlerischen Wanderungen durch Sachsen“ von Engelhard und Veith erwähnt wird. Wenn der bekannte Neustädter Pfarrer Götzinger im Jahre 1804 äußert, daß geborene Schweizer die ersten gewesen wären, die diese Gebirgsgegend besucht und ihr „vor beinahe 20 Jahren“ den Namen der Sächsischen Schweiz gegeben hätten, so ist diese Angabe doch ziemlich unbestimmt und besitzt kaum mehr Glaubwürdigkeit als die des Lohmener Pfarrers Nicolai, der in seiner Selbstbiographie die Erfindung des Namens für sich in Anspruch nimmt, was ihm bereits als Erzeugniß eines Gedächtnißfehlers nachgewiesen worden ist. (Vgl. den Aufsatz Theiles in „Ueber Berg und Thal“ Bd. 3, S. 102.) Es ist an sich schon wahrscheinlich, daß der Name in Dresden, von wo aus die Sächsische Schweiz doch zuerst besucht wurde, entstanden ist. Wenn sich Graf Geßler als seinen Urheber betrachtete – auf seine Aussage geht ja die Erzählung Elisens zurück – so kann man dem kaum widersprechen. Er hatte die Gegend vor 1790 offenbar schon öfter besucht und konnte bei seiner einflußreichen Stellung und seinen ausgebreiteten Bekanntschaften einem von ihm erfundenen Namen in der Dresdner Gesellschaft leicht Geltung verschaffen. Wahrscheinlich kannte er auch die wirkliche Schweiz; einer Familiensage nach sollte übrigens sein Geschlecht aus dem Schwabenlande am Bodensee gekommen sein, wenn nicht gar von dem fabelhaften Landvogt Geßler abstammen! (Vgl. Arndts Wanderungen S. 202.)
  8. [Nachschrift]: „Fritz Stollberg trat in seiner zweiten Ehe zur katholischen Religion über und seitdem hörte unser Briefwechsel auf; aber wenn wir uns auch nach seinem Religionswechsel sprachen, so war er stets sehr herzlich gegen mich; nur stockte unsre Unterhaltung dann oft. Nur wenn wir über Napoleon und unsre deutschen Fürsten sprachen, da waren wir gleichen Sinns und dann drückte Stollbergs Umgang mich nicht. Den 27. Juni 1823.“
  9. Dora Stock, die bekannte Malerin, zu der sich übrigens Elisa nicht hingezogen fühlte.
  10. Julie von Vietinghoff, eine Hofdame der Herzogin von Kurland. Sie hatte Elisa Jahre lang von dieser zu entfernen gesucht, sah aber später ihr Unrecht, sie verkannt zu haben, ein, wohnte als Wittwe ausgesöhnt mit ihr in ihrem Hause und starb in ihren Armen.
  11. [Nachschrift]: „Dresden, den 28. Juni 1825. Minister Burgsdorff war sehr bemüht, mich zur Herrnhuterin zu machen, aber er blieb mein Freund, auch nachdem er einsah, daß ich nach meinen Religionsansichten und festen Grundsätzen zu dieser Sekte nie treten könne“.
  12. Ueber den Minister von Burgsdorff vgl. Jahrg. 1893, S. 77 und 78.