Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Beim Brahmanen

Die steinernen Wunder von Mawilipuram Durch Indien ins verschlossene Land Nepal
von Kurt Boeck
In der Neisamstadt
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[97]

Tanzende Tempelmädchen.

Achtes Kapitel.
Beim Brahmanen.

Etwa achtzig Kilometer westwärts von Madras, in Kondscheweram[WS 1], einem der sieben heiligsten Wallfahrtsplätze Indiens, hatte ich das Glück, einen Brahmanen in höherer Beamtenstellung kennen zu lernen, der die Freundlichkeit besaß, mich nach und nach über allerlei mir bis dahin rätselhafte Erscheinungen des Brahminentums aufzuklären.

Dies Kondscheweram mußte, gerade weil ich es unmittelbar nach Mahawalipur besuchte, einen überaus wirksamen lebendigen Gegensatz zu dem dortigen versteinerten Alt-Indien bilden.

Man braucht kein Architekt zu sein, um bei dem Betrachten der drawidischen Tempelanlagen immer neue, wenn auch oft nur kleinliche Baueigentümlichkeiten zu entdecken. Jedenfalls bedauere ich es nicht, daß ich mich durch die stehende Redensart vieler Europäer in Indien: „Ach was, ein indischer Tempel sieht aus wie der andere!“ nicht abschrecken ließ, möglichst viele derselben zu besuchen. Es geht dabei wie mit dem Ersteigen von Berggipfeln innerhalb ein und desselben Gebietes: die Aussicht von dem einen Gipfel ähnelt zwar der von einem anderen, ergänzt sie aber doch oft in überraschender Weise. So tritt z. B. wohl nur bei wenigen drawidischen Gopuras die Verwendung jener aus dem buddhistischen Baustil entlehnten länglichen, sargähnlichen Mönchszellen, die als Stilzeichen buddhistischer Felstempel-Friese in Mawilipuram ausfallen, so rein und deutlich wie in den Gopuras von Kondscheweram zu Tage, und ich stehe nicht an, den dort in neun Stockwerken 200 [98] Fuß hoch aufsteigenden, schlank und edel geformten Torturm für einen der schönsten zu bezeichnen, die ich in Indien gesehen habe.

Die beiden Haupttempel in Kondscheweram, von denen der eine dem furchtbaren Schiwa, der andere dem gütigen Wischnu geheiligt ist, liegen volle fünf Kilometer weit voneinander, woraus am besten die Ausdehnung dieses Ortes erhellt, der in alten Zeiten die glanzvolle Residenz des Chola-Königreiches[WS 2] war, heute jedoch fast nur noch durch den Verkehr der Pilger und Wallfahrer besteht.

Als ich Kondscheweram besuchte, standen von dem letzten Tempelfeste her noch ein paar Tempelkarren in einer Straßenecke, deren Ausputz eben abgenommen wurde; die ungeheuren, grell bemalten oder vergoldeten aus Holz geschnitzten Pferde und Jali-Löwen, sowie die mit bunten Flitterkram besetzten Tücher wurden sehr sorgfältig fortgepackt, um bei dem Umzuge im nächsten Jahre wieder mitzuwirken. Nur ein scharfes Auge konnte dabei die dunklen Figuren der lebenden Tamulen zwischen den krausen, phantastischen Erscheinungen der Tiere und ihrer Reiter herausfinden, die das Brettergerüst des Karrens umgeben, auf dem während des Festzuges das Bild der Gottheit thront. Die Götterbilder werden für diesen Zweck aus dem Schlamm heiliger Ströme geformt, dann an der Sonne getrocknet und uralten Vorschriften gemäß angeputzt, um für die Dauer des Festes durch Zaubersprüche der Brahmanen Leben zu erhalten; nach Ablauf der Festtage bleibt das Idol nicht mehr Träger und Wohnsitz der Gottheit, sondern wird, als nunmehr wieder wertloser Ton, der auch von Nichtbrahmanen berührt werden darf, unter Musik und Lustbarkeiten in den Tempelteich geworfen, um darin zu zerfallen.

Es gibt kaum ein seltsameres Schauspiel, als solches Fest, wenn der plumpe Karren von der glaubenseifrigen Volksmenge an Tauen durch die weiten Tempelanlagen gezogen wird, wobei die Tempelelefanten nach Kräften mithelfen müssen. Bei dem ungeheuren Geräusch und Tumult während eines solchen Transportes ist es gar kein Wunder, daß unaufmerksame, aufgeregte oder alte hilflose Leute hinstolpern und unter die wuchtigen Wagenräder geraten und zerquetscht werden; die angeblich im Fanatismus begangenen absichtlichen Selbsttötungen unter den Rädern der Tempelkarren dürften zumeist auf derartige Unglücksfälle zurückzuführen sein. Dagegen schweben oder schwebten bis vor wenig Jahren bei solchen Festen tatsächlich Büßer mit Hilfe von langen Bambusstangen um die Karren herum, an deren Enden sie mittelst Stricken und eiserner, durch ihre Rückenmuskeln gebohrter Haken aufgehängt wurden. Zum Verdruß der brahminischen Hindus sucht die englisch-indische Polizei derartige Schwingfeste und· ähnliche Selbstquälereien mehr und mehr zu verhindern, um dadurch den Zulauf zu solchen Festen allmählich zu vermindern, der stets den Ausbruch oder ein Anschwellen ansteckender Seuchen im Gefolge hat.

Die dem Wischnu gewidmete Pagode in Kondscheweram ist durch eine Halle mit 96 besonders sorgfältig aus Monolithblöcken gemeißelten Pfeilern [99] ausgezeichnet, an deren Dachsims eine jener höchst merkwürdigen Steinketten kriegerischen Zerstörungsgelüsten entgangen ist, die mit dem ganzen Tempel, mit dem Dach und den Säulen aus einem einzigen soliden Felsblock herausgearbeitet und von den drawidischen Baumeistern in Ermangelung der Befähigung, religiöse Anschauungen in erhabener Formensteigerung kristallisieren zu lassen, als ganz besonders schwierige Künstelei für einen hervorragend würdigen Tempelschmuck gehalten wurden.

Kette am Dachfirst des Tempels in Kondscheweram, die aus demselben Felsen wie der ganze Tempel herausgearbeitet ist.

Während meiner Aufnahme dieser Mandapam-Halle tauchte als willkommene Belebung des Bildes zwischen ihr und dem Tempelteich ein hellgrauer Elefant auf, der mit herzzerreißenden Tönen um Opfermünzen bettelte, mich aber durch seine Zudringlichkeit fast in den Tempelteich drängte; nächst Benares[WS 3] gilt der Tempelteich von Kondscheweram für die gesuchteste von den sieben heiligen Badestätten Indiens, da ein Bad darin jeden Herzenswunsch des Menschen in Erfüllung gehen läßt: Entsündigung, Macht, Zufriedenheit und Gesundheit, Reichtum, Gelehrsamkeit und alle sonstigen Glückstore stehen dem gläubigen Badenden offen, vorausgesetzt, daß er es an den entsprechenden Opfergaben nicht fehlen läßt. Hätte mich der Elefant wirklich in das Wasser getrieben, so wäre ich gewiß in Verlegenheit gekommen, schnell zu sagen, was ich mir am innigsten wünsche. Jedenfalls ist es kein Wunder, daß bei solchen Gaben zu Festzeiten gleichzeitig bis zu dreimalhunderttausend Wallfahrer in diesem Teiche baden, wodurch das Wasser dann mehrere Zoll hoch steigt, was den mit schwachen physikalischen Kenntnissen ausgerüsteten Hindus natürlich nur ein Beweis mehr für die wunderbaren Eigenschaften dieses gottgeweihten Ortes wird.

Die Hindus sind das einzige Kulturvolk, das bei der uralten Vielgötterei verblieben ist, während Christen- wie Judentum, Buddhismus und Islam diese Religionen zum Monotheismus zu veredeln suchten; aber wenn auch den Indiern bereits tausend Jahre vor dem Entstehen des Christentums die Vorstellung von einer Menschwerdung der Gottheit nicht unbekannt war, muß doch die vielfach behauptete wesentliche Ahnlichkeit des Christentums sowohl mit dem Buddhismus wie mit dem Brahminentum [100] bestritten werden, wobei natürlich unter Brahminentum nicht der götzendienerische Kultus und Aberglauben des modernen Hindutumes zu verstehen ist. Unter Brahminentum verstehe ich jene reine Lehre der arischen Eroberer Indiens, die den Teufels- und Schlangendienst der ersten Urbewohner Indiens verdrängte und die Grundlage jener alten Hierarchie von beispielloser Gewalt wurde, die sich zwar vor dem unwiderstehlichen Siegeszug des Indien reformierenden Buddhismus kurze Zeit beugte, ihn aber schließlich mit Hilfe der listigen Ausstreuung, der Reformator Buddha sei gar nichts anderes als eine Menschwerdung der brahminischen Gottheit Wischnu gewesen, überwand und überdauerte. Manche äußerliche Dinge der indischen Kulte, wie Rosenkranz und geweihtes Wasser, Weihrauch und Glockengeläut, mögen in die christlich-katholischen Religionsformen übergegangen sein, aber niemand kann die wichtigen Unterschiede der Lehren übersehen. Die brahminische Religion verlangt nicht, gleich der christlichen, den Glauben, daß sie selbst oder ihre heiligen Bücher, die Wedas und Puranas[WS 4], von Gott eingegeben seien; ebensowenig kennt sie einen Religionsstifter oder ein kirchliches Oberhaupt, ja, sie verlangt nicht einmal gemeinschaftliche gottesdienstliche Andachtsübungen und Gesänge, sondern überläßt es einem jeden, sich mit seinem Gotte privatim auseinanderzusetzen. Auch der Unterschied zwischen dem energielosen, fatalistischen Pessimismus, der das Wesen des aus dem Brahminentum hervorgegangenen Buddhismus ausmacht und dem rüstigen Wirkens- und Kampfesmut des Christentums fällt sofort in die Augen, obgleich das ethische Grundgebot des Buddhismus: stets Gutes zu denken, Gutes zu sprechen und Gutes zu tun den christlichen Lehrsätzen natürlich nicht widerspricht.

⅓.

¼.

In Kondscheweram glückte es mir, einer der wichtigsten, feierlichsten und geheimnisvollsten Kultushandlungen beizuwohnen, die der Schiwadienst kennt, und noch dazu an einer für Europäer im allgemeinen nicht zugänglichen Opferstätte dicht neben dem Tempelteich unter dem Schatten eines heiligen Bo-Baumes[WS 5]. Daß es sich hier um Schiwa-Verehrung handelt, zeigt das gewaltige Lingam-Idol, die abgerundete Steinsäule als Symbol der Schöpfernatur des Gottes Schiwa, der dadurch in seiner erhabensten Form als Mahadeva, d. h. als zwar zunächst zerstörende, aber zugleich mit der Gabe des Wiedererschaffens ausgestattete Gottheit verehrt wird; als Zeichen dieser gleichzeitig männlichen und weiblichen, aktiven und passiven Schaffenskraft ist das Lingam gewöhnlich, selbst bei den winzigen silbernen Lingams für den Hauskapellengebrauch, inmitten eines anderen Idols, der Yoni, angebracht, das als Symbol eben dieser gleichzeitig weiblich-produktiven Schaffensfähigkeit Mahadevas aufzufassen ist; aber nicht oft genug kann man sich daran erinnern, daß die Schöpfungen der bildenden Kunst der Indier in Bezug auf religiöse Dinge nur Symbole und Gleichnisse und nicht etwa die materiellen Erscheinungen selbst auszudrücken versuchen. Die Phantasie der Hindus ist lebhaft genug, selbst aus ganz zufälligen Naturspielen ein Lingam-Abbild herauszufinden; [101] so wird z. B. jeder Donnerkeil oder sonstiger, etwa durch Wassergewalt konisch abgeschliffener Stein von den Hindus als Lingam verehrt. Die große Masse hat freilich die eigentliche Bedeutung des Lingam vergessen, und für diese ist es tatsächlich zum toten Götzen geworden.

Das Lingam-Opfer eines Brahmanen.

Das Bild stellt den Augenblick dar, wo der Brahmane dem Lingam durch andächtiges Begießen desselben mit Ghi[WS 6], d. h. geklärter Butter, opfert, die bei allen Kultushandlungen der Hindus als ein von der heilig geachteten Kuh stammendes Produkt eine wesentliche Rolle spielt. In dem dargestellten Falle war demnach das Opfer nicht eine der alltäglichen Huldigungen, die das Lingam durch Übergießen mit heiligem Gangeswasser und durch Bestreuen mit Blumen und Reiskörnern erfährt, sondern es sollte dadurch den Wünschen und Hoffnungen der Angehörigen der beiden kleinen Mädchen Ausdruck gegeben werden, die sich auf deren kürzlich stattgefundene Vermählung bezogen; diese Wünsche gipfeln darin, daß der Ehebund dereinst in erster Linie mit männlicher Nachkommenschaft gesegnet werde, ein Wunsch, der seine Erklärung in dem zum Gesetz gewordenen Brauch findet, daß nur ein männlicher Nachkomme die Trauerfeierlichkeiten für abgeschiedene Verwandte leiten und den Scheiterhaufen, worauf deren Leichen verbrannt werden, in Brand setzen darf.

Vor, während und nach diesem feierlichen Schmücken und Begießen des Lingam und Yoni-Idoles muß der opfernde Brahmane halblaut Stellen aus den heiligen Schriften hersprechen, die sich auf ein glückliches Eheleben beziehen, wobei er, solange er nicht mit der Opferhandlung beschäftigt ist, mit in genau vorgeschriebener Weise untergeschlagenen Beinen, deren Fußflächen nach oben zeigen, niedersitzen und während der Rezitationen mit seinen Fingerspitzen die mehrerwähnten Idole nachbilden muß.

¼.

Selbst der Löffel und das Gefäß, womit die Opferflüssigkeit über das Lingam gegossen wird, erinnern an religiöse Vorstellungen; der Stil des ersteren stellt den auf Schlangen ruhenden Gott Wischnu dar, während die Einlage von Kupferstreifen in das Bronzegefäß die Vereinigung der Dschamna[WS 7] mit dem heiligen Ganges, also eine symbolisierte Vermählung bedeutet, die dem Kenner zugleich sagt, daß das Gefäß in Allahabad[WS 8] für seine Bestimmung geweiht wurde.

Bei einer solchen Kindervermählung handelt es sich zunächst nur um eine vorläufige Trauung, um eine allerdings unlösbare Verlobung der jungen Leute, die sich nach Beschluß der beiderseitigen Eltern und deren Berater zu heiraten haben, sobald sie erwachsen sind; über diese wichtigste Angelegenheit der indischen Kultur denke ich im sechzehnten Kapitel nähere Mitteilungen zu machen.

Im Lebenslauf jedes Hindus, und vor allem natürlich bei den Kultushandlungen der Brahmanen, ist jede Kleinigkeit durch uralte Vorschriften aufs [102] genaueste geregelt, und ein Verstoß gegen dies Zeremoniell ist undenkbar; selbst wenn Angehörige der Brahmanenkaste heutzutage nicht mehr dem Priesterberufe obliegen, sondern bürgerlichen Gewerben nachgehen, wie z. B. unter den Kaufleuten und Beamten Brahmanen zahlreich vertreten sind, gelten für diese die strengen Satzungen ihres Kastenrituals, deren genaue Befolgung den Vorzug sichert, die weiße Schnur um Schulter und Hüfte tragen zu dürfen, die allein den Brahmanen zukommt; dieses Abzeichen verleiht ihnen überall eine Ausnahmsstellung, selbst im Gefängnisse, wo die Speisen für gefangene Brahmanen in einer besonderen Küche von Brahmanen zubereitet werden und wo selbst die einem Brahmanen etwa verordneten Prügel nur von Kastengenossen verabreicht werden dürfen. Die indische Regierung mußte sich nämlich vor etwa 20 Jahren zur Wiedereinführung der Prügelstrafe entschließen, weil deren Abschaffung von Faulpelzen ausgebeutet worden war, um sich durch Verübung von Freveltaten auf Staatskosten beherbergen und füttern zu lassen.

Betender Brahmane.

Die Brahmanenkaste zerfällt gleich jeder der anderen drei Hauptkasten in zahlreiche, ebenfalls streng voneinander geschiedene Dschatis[WS 9], d. h. Gilden oder Sekten, die sich durch mehr oder weniger buchstäbliche Erfüllung der Kastengesetze unterscheiden. So wird z. B. von den vorgeschriebenen drei täglichen Religionsübungen nur die am frühesten Morgen tatsächlich von allen Brahmanen erfüllt, dagegen verzichten alle weniger streng Gesinnten am Abend und zu Mittag auf diese vier Stunden Zeit raubenden, höchst umständlichen Andachtsverrichtungen.

Ohne bis in die letzten Tiefen dieses großartigen, geheimnisvollen Zeremoniengebietes eindringen zu wollen, möchte ich wenigstens in aller Kürze einiges von den Kultushandlungen erzählen, die in frühester Morgendämmerung beginnen, aber in dem Augenblick beendet sein müssen, wo das junge Tagesgestirn am Horizonte emporsteigt. Viele Indienbesucher können hierüber von in Indien lebenden Europäern keine genauere Auskunft erlangen, [103] da diese häufig angesichts ihrer völligen Unwissenheit diesbezügliche Fragen mit der Bemerkung abfertigen: „Ach, das ist ja alles Humbug und verdrehtes Zeug und nicht wert, daß man sich damit beschäftigt!“

Schon die körperliche Reinigung, womit die Zeremonie aus den Stufen des Tempelteiches eingeleitet wird, und die daraus folgende Abtrocknung mit Asche von verbranntem Dünger heiliger Rinder muß mit feierlicher Ruhe vollzogen werden, wobei, wie stets für den Hindu, die Materie ganz gleichgültig und nur die damit verbundene religiöse Idee von Belang ist; das unsauberste Wasser ist für die Hindus rein, sobald es durch die Erinnerung an seinen Ursprung reine religiöse Vorstellungen erweckt! Auf diese körperliche Reinigung folgt die andächtige und nur Brahmanenhänden erlaubte Bemalung der Stirn und anderer Körperteile mit den Tilaks, Pundras und Namas[WS 10], den von mir bereits im fünften Kapitel ausführlich beschriebenen Abzeichen der betreffenden Gottheiten. Hierauf wird der Schädelspiegel glatt rasiert, wobei von den Schiwaiten jedoch in der Mitte ein langer Haarschopf ausgespart wird, der später zu einem dicken Knoten aufgetürmt wird, demjenigen ähnlich, den der Gott Schiwa auf bildlichen Darstellungen zu tragen pflegt, und der die Idee ausdrücken soll, daß der Brahmane nach seinem Ableben an diesem Haarbüschel vom Gotte Schiwa in dessen Bereich emporgezogen wird, ohne gleich den Hindus minderer Kasten nochmals irgend ein Erdendasein durchmachen zu müssen.

So vorbereitet, beginnt der Brahmane seine eigentlichen Andachtsübungen, die auf Nicht-Hindus, denen die Gründe und Beziehungen dieser symbolischen Handlungen unbekannt sind, befremdend, manchmal sogar drollig wirken.

Zunächst wird das heilige Badewasser mit der hohlen Hand geschöpft, zum Munde geführt und, falls z. B. der Badende ein Wischnuverehrer ist, in 24 winzigen Portionen gurgelnd ausgeschlürft, wobei jedesmal einer der Namen der 24 Inkarnationen ausgerufen wird, in denen dieser Gott auf Erden körperlich erschienen sein soll. Diese zahlreichen, ganz verschieden gestalteten Verkörperungen ein und derselben Gottheit trifft die Schuld, wenn dem flüchtigen Beschauer die indische Mythologie viel verworrener und schwerverständlicher vorkommt, als sie in Wirklichkeit ist, und wodurch manchem die Lust benommen wird, sich überhaupt in dies scheinbare Labyrinth zu begeben. Vor Beginn dieses rituellen Tropfen-Schluckens wird, aber ebenfalls stets mit gemessener Andacht, der Hals durch Gurgeln mit Wasser gesäubert und ebenso ruhig und sorgfältig die Reinigung des Näschens mittelst Durchblasens von Luft durch die Luftwege der Nase vorgenommen, wobei die Nasenflügel gravitätisch mit Daumen und Zeigefinger abwechselnd zusammengedrückt werden; hierauf schöpft der Brahmane eine vorgeschriebene Anzahl von Malen tief Atem, den er solange wie möglich in der Lunge zurückzuhalten sucht. Bei dieser vorbereiteten körperlichen Reinigung muß aber beständig die beschauliche Sitzweise des Religionslehrers mit untergeschlagenen Beinen beibehalten werden, und erst wenn alle diese Vorbereitungen erledigt sind, darf das geheimnisvolle, vieldeutige Wörtlein Aom![WS 11] über die Lippen des Brahmanen treten, das nicht [104] nur jede der Hauptgottheiten der dreigeteilten Einheit Trimurti[WS 12], nämlich Brahma, Schiwa und Wischnu, sondern auch das große, unbekannte, ewige, den gesamten Makrokosmus ausdrückende Wort „Es“ andeuten soll. Dieser gewichtigen Anrufung folgt die ebenso feierliche von Erde, Luft und Himmel.

Unter tiefen Verneigungen gegen Osten beginnt dann die Haupthandlung, die Begrüßung der Morgenröte, die mit den andachtsvollen Worten beginnt: „Ich verehre diesen Abglanz des alleinigen Schöpfers, der in mir fromme Betrachtungen entzündet!“ Selbst der Inhalt dieser eben genannten Redewendung, dieser Begriff der Gottesverehrung im Bilde der aufgehenden Sonne verkörpert sich für den Hindu zu einer eigenen Gottheit; diese Gajatri genannte Göttin[WS 13], wird unter der Gestalt eines schönen jungen Mädchens verehrt, das mit dem fortschreitenden Tage zur Greisin altert, wobei sich ihre helle Hautfarbe ständig dunkler schwärzt, und auch dieser Göttin widmet der Brahmane besondere „Sandya“[WS 14], Gebete oder Lobgesänge, indem er in seiner Rezitation folgendermaßen fortfährt: „Ich will jetzt die Sandya vollziehen und die Göttin Gajatri anbeten! Ich will mich dadurch dem höchsten Wesen, dem Brahma, dem Inbegriff alles Seins, angenehm machen, um Befreiung von meinen Sünden zu erlangen.“

Alte Lota aus Kupfer mit herausgehämmerken Tier- und Pflanzenornamenten. 3/10.

Es würde ein eigenes Buch geben, den weiteren Verlauf der religiösen Reinigung der Brahmanen sowie dessen schließliche Selbsttaufe mit bestimmten Güssen über Kopf, Brust, Rücken und Schulter aus einer „Lota“[WS 15] genannten Bronze-, Kupfer- oder Silberschale und andere mit dem Morgengottesdienst verbundene religiöse Handlungen durchzugehen; die sonderbarste, fast unglaublich klingende Maßregel dieser Art ist jedoch die Reinigungsförmlichkeit, die nötig wird, wenn ein streng denkender Brahmane das Unglück gehabt hat, von einem Kastenlosen oder, was ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer ist, von einem Europäer berührt zu werden. Wäscht sich selbst der mildestdenkende Brahmane sorglich die Hand, die wir ihm etwa beim Abschied in herzlicher Freundschaft gedrückt haben, so muß ein strenggläubiger Brahmane in seinem inbrünstigen Verlangen nach gründlicherer Reinigung eine ganz besonders wirksame Pille verfertigen und hinunterschlucken, für die ebenfalls nur Produkte der heiligen Kuh in Betracht kommen: rohe und geklärte Butter, weicher, weißer Kuhkäse und gedörrter, zerpulverter Kuhdünger nebst Asche von verbranntem Kuhdünger zum schließlichen Vestäuben der zierlich gedrehten Reinigungspille; diese Materialien trägt ein solcher Reinigungsfanatiker jederzeit in einer fünfteiligen, aus Bronze gearbeiteten Dose in den Falten seines Lendenschurzes bei sich. Auch mein bereits genannter Gastfreund Wiswanatha Aiyar[WS 16], einer der aufgeklärtesten Brahmanen, die ich kenne, empfing mich [105] niemals vor seinem Bade oder vor Beendigung seiner in streng ritualer Form eingenommenen ersten Mahlzeit und machte gar kein Hehl daraus, daß er, dem Kastenzwang folgend, nach meinem Abschied aus seinem Heim mit sich und seinem Hause allerlei religiöse Reinigungsprozeduren vornehmen müsse.

Die Entwertung von Nahrungsmitteln durch die Nähe von kastenlosen Parias oder Europäern geht erstaunlich weit; die ganze Mahlzeit eines Brahmanen wird ungenießbar und muß fortgeworfen werden, wenn auch nur der Schatten eines Europäers darüber hinglitt. Am weitesten gehen in dieser Hinsicht wohl die Mitglieder der besonders strengdenkenden Bikschu-Sekte[WS 17], die z. B. die ganze Reisladung eines Karawanenzuges als verunreinigt betrachten und den Parias schenken, wenn ein Kastenloser auch nur einen einzigen der auf die Kamelsrücken aufgepackten Reissäcke von außen angetastet hat! Kochgeschirre, Löffel, Gabeln oder gar Trinkgefäße zu allgemeinem Gebrauch, wie z. B. die bei uns üblichen Bierseidel, wären für den Hindu demnach ganz undenkbar; nicht der Gedanke an Unsauberkeit oder Ansteckung ist dabei maßgebend, sondern die Ungewißheit, ob sie nicht bereits von einem Menschen niederer Kaste oder gar von einem Europäer gebraucht worden sind. Selbst der bepackteste Kuli schleppt deshalb auch stets neben seiner Bürde noch seine zum Kochen, Speisen und zu den religiösen Begießungen erforderlichen schweren Bronzegefäße mit sich herum.

In der Wohnung des genannten Brahmanen durfte ich nicht zwanglos in alle Räume gehen, sondern mich nur in einer Halle im ersten Stockwerk aufhalten; sie stieß an einen gedeckten Gang, der rings um den offenen Hof des Gebäudes herumführte. Eine tamulische Dienerin, die mit ihrem allerliebsten kleinen Baby auf der Erde kauerte und auf einer der üblichen, aus zwei runden Mühlsteinen hergestellten tragbaren Handmühlen Weizen zerkleinerte, wollte natürlich, ebenso wie ein Töchterchen des Brahmanen und ein paar andere weibliche Wesen, bei meinem Erscheinen Reißaus nehmen, und sie waren nur schwer zu überreden, ihre Plätze beizubehalten .

Der Zweck meines Besuches in dem Brahmanenhause war etwas delikater Natur. Während der Brahmane mich in den Anlagen des Schiwatempels herumführte, hatte ich hie und da Gruppen von Tempelmädchen, von Dewa Dasis, erblickt, die mir zwar neugierig nachschautem aber stets die Flucht ergriffen, sobald ich mich ihnen zu nähern versuchte. Mein Brahmane versicherte mir, daß sie sehr in der Hochschätzung des Volkes sinken würden, wenn sie der von mir erbetenen Gefälligkeit entsprächen und sich von mir abkonterfeien ließen. Dreist und dickfellig, wie man es — ich weiß nicht, ob ich sagen soll „leider“ — durch Weltreisen wird, schlug ich dem gern zu jeder Hilfsleistung bereiten Brahmanen den höchst sinnreichen Ausweg vor, die gottgeweihten Tänzerinnen im geheimen in seine Privatwohnung kommen zu lassen, wo sie mir gegen annehmbares Honorar nicht nur einen ihrer heiligen Reigen zum besten geben, sondern auch ungestört zu einem Bilde sitzen konnten. Unbedachtsamerweise fügte ich scherzend hinzu, er möge aber so gut sein, die Besten [106] und Schönsten zu bestellen, die in dem Ballettkorps des Tempels aufzutreiben seien.

Hätte ich diesen begreiflichen Wunsch lieber nicht geäußert! Hätte ich wenigstens versucht, bei der Ausmusterung selbst zugegen zu sein! Wohl mit der Absicht, mir die taktfestesten und bewährtesten Vortänzerinnen zuzuführen, und entsprechend der bei Asiaten ziemlich verbreiteten Anschauung, daß zu weiblicher Schönheit rundliche Körperfülle gehört, erschienen nach langem Warten ein paar Tamulinnen, die bereits seit einiger Zeit „aus dem Schneider“ zu sein schienen und denen eine nachhaltige Kur in Marienbad gewiß recht zuträglich gewesen wäre. Mein Gastfreund, der etwas bestürzt über meine nicht verhehlte Enttäuschung schien, wies auf die kostbaren Fuß- und Handgelenkspangen und die reizend ziselierte Goldplatte hin, die das Haupt der auf dem Bilde (S. 97) links Tanzenden bedeckte, und auch aus der Würde, mit der die stattlichen Damen ihre Tanzschritte ausführten, konnte ich merken, daß ich es mit ein paar hochangesehenen Altmeisterinnen der Tempeltanzkunst zu tun hatte.

Brahmanenfamilie.

Diese feierlich schwungvollen Tanzvorführungen, mehr aber wohl noch mein Hantieren mit der photographischen Kamera, lockte nach und nach sämtliche Insassen des Brahmanenhauses herbei, und auch hinter dem Gitter eines Fensters in dem Frauengemach blitzte ab und zu das Feuer dunkler Augen hervor. Ich erriet, daß dort noch eine bedeutendere Person als die bereits anwesenden Töchter und Hausdienerinnen regen Anteil an den sich vor dem Fenster abspielenden unerhörten Vorgängen zu nehmen geruhte. Kurz entschlossen, bat ich auch um die Ehre, die hinter dem Gitter vermutete gnädige Frau Brahmanen-Gemahlin auf meine Platte bannen zu dürfen, erhielt aber von dem Brahmanen die betrübende Antwort: „Meine Frau ist kürzlich gestorben!“ Hierbei warf ich wohl unwillkürlich einen ziemlich vielsagenden fragenden Blick nach dem vergitterten Fenster, denn der Brahmane rückte alsbald, wenn auch etwas verlegen, mit dem Geständnis heraus, daß ihm zur Zeit [107] die Schwester seiner Frau die Wirtschaft führe, die er, sobald die Trauerzeit um sei, wahrscheinlich ebenfalls heiraten würde, da kein Hindumann unbeweibt bleiben solle; die Asketen-Sekten, die den Freuden der Ehe entsagen, bilden die einzige Ausnahme von dieser Regel.

Ich ersuchte den Brahmanen, der noch immer in dem Frauengemach versteckten Gemahlin in spe meine ergebensten Empfehlungen mit der Bitte zu übermitteln, mir zu einem Porträt zu sitzen, errang aber erst nach einem wahren Hagel von ablehnenden Körben die Erlaubnis, die braune Dame, jedoch nur inmitten der ganzen Familie, abbilden zu dürfen; vielleicht glaubte sie, daß eine drohende Gefahr in Gesellschaft leichter überstanden werden, kann als allein. Da die beiden Töchter des Brahmanen gerade bei einem Brettspiel mit Bohnen als Zahlmittel beschäftigt waren[WS 18], ergab sich die Gruppierung ganz von selbst.

Der Brahmane hatte für die Aufnahme einen blendendweißen Musselinschurz angelegt, und schickte sich an, seine Schwägerin aus ihrem Gemach zu mir herauszuführen. Ich war darauf gefaßt, daß das derzeitige Fräulein Vizefrau so sanft und ruhig auf der Bildfläche erscheinen würde, wie dies eine nordindische Hindufrau sicherlich getan hätte. Wie betroffen war ich deshalb, als durch die Tür, die der Brahmane kaum geöffnet hatte, eine nur mittelgroße, aber wahrhaft kraftstrotzende junge Tamulin wie aus einer Pistole geschossen auf mich losgerannt kam, dicht vor mir Halt machte und mich mit beinahe wilden Blicken fest ansah. So stand sie, da, wie aus Bronze gegossen, und ich fürchte, daß ich im ersten Augenblick vor lauter Verblüfftheit den Mund unziemlich weit aufgesperrt habe. Ich war tatsächlich von dieser Temperamentsprobe so überrascht, daß ich kaum auf die Einzelheiten der ungewöhnlichen Erscheinung zu achten vermochte, auf ihr dunkelrotes, reich mit Gold besticktes Jäckchen und ihr kurzärmeliges Gewand unter einem seidenen Tuch in hellerer roter Tönung; auch ihre Schmuckverzierungen, besonders die der Füße und Zehen, waren von hervorragender Schönheit.

Fast trotzig, aber ohne viel Umstände nahm die Dame den Platz ein, den ich ihr vorschlug, zuckte bei der Aufnahme mit keiner Wimper, sprang aber, sobald mein „fertig“ erklang, empor und eilte, ohne sich aufzuhalten oder noch einmal nach mir umzusehen, wie ein scheues Reh wieder in ihre Stube. Ob der Widerstreit zwischen grundsätzlicher Abneigung gegen jeden Europäer und Nachgiebigkeit gegen die Wünsche des Brahmanen, zwischen abergläubischer Scheu vor dem Photographiertwerden und der Neugier, auch einmal zu erfahren, wie dies Vergnügen schmecke, oder ob gar Mitleid mit meinem inständigen Gebettle ihr halb sprödes, halb freundliches Benehmen veranlaßt hat, vermag ich nicht zu enträtseln.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Kondscheweram: vergleiche Kanchipuram (früher Conjeevaram)
  2. WS: Chola: vergleiche Chola
  3. WS: Benares: vergleiche Varanasi
  4. WS: Wedas und Puranas: vergleiche Veda und Puranas
  5. WS: Bo-Baum: vergleiche Bodhi Tree (en) sowie Pappelfeige (Ficus religiosa)
  6. WS: Ghi: vergleiche Ghee
  7. WS: Dschamna: vergleiche Yamuna
  8. WS: Allahabad: vergleiche Allahabad
  9. WS: Dschati: vergleiche Kaste, Jati, besser Jāti (en)
  10. WS: Tilaks, Pundras und Namas: vergleiche Urdhva Pundra, sowie Anmerkung aus Kapitel 5
  11. WS: Aom!: vergleiche Om
  12. WS: Trimurti: vergleiche Trimurti
  13. WS: Gajatri: vergleiche Gayatri (Göttin)
  14. WS: Sandya: vergleiche Sandhyavandanam (en)
  15. WS: Lota: vergleiche Lota (vessel) (en)
  16. WS: Wiswanatha Aiyar: vergleiche Vishwanath (de, der Vorname) und Iyer (en, die Kaste)
  17. WS: Bikschu: vergleiche Bhiksu
  18. WS: Brettspiel mit Bohnen: im Bild ist ein Mancalabrett zu erkennen