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und Schönsten zu bestellen, die in dem Ballettkorps des Tempels aufzutreiben seien.

Hätte ich diesen begreiflichen Wunsch lieber nicht geäußert! Hätte ich wenigstens versucht, bei der Ausmusterung selbst zugegen zu sein! Wohl mit der Absicht, mir die taktfestesten und bewährtesten Vortänzerinnen zuzuführen, und entsprechend der bei Asiaten ziemlich verbreiteten Anschauung, daß zu weiblicher Schönheit rundliche Körperfülle gehört, erschienen nach langem Warten ein paar Tamulinnen, die bereits seit einiger Zeit „aus dem Schneider“ zu sein schienen und denen eine nachhaltige Kur in Marienbad gewiß recht zuträglich gewesen wäre. Mein Gastfreund, der etwas bestürzt über meine nicht verhehlte Enttäuschung schien, wies auf die kostbaren Fuß- und Handgelenkspangen und die reizend ziselierte Goldplatte hin, die das Haupt der auf dem Bilde (S. 97) links Tanzenden bedeckte, und auch aus der Würde, mit der die stattlichen Damen ihre Tanzschritte ausführten, konnte ich merken, daß ich es mit ein paar hochangesehenen Altmeisterinnen der Tempeltanzkunst zu tun hatte.

Brahmanenfamilie.

Diese feierlich schwungvollen Tanzvorführungen, mehr aber wohl noch mein Hantieren mit der photographischen Kamera, lockte nach und nach sämtliche Insassen des Brahmanenhauses herbei, und auch hinter dem Gitter eines Fensters in dem Frauengemach blitzte ab und zu das Feuer dunkler Augen hervor. Ich erriet, daß dort noch eine bedeutendere Person als die bereits anwesenden Töchter und Hausdienerinnen regen Anteil an den sich vor dem Fenster abspielenden unerhörten Vorgängen zu nehmen geruhte. Kurz entschlossen, bat ich auch um die Ehre, die hinter dem Gitter vermutete gnädige Frau Brahmanen-Gemahlin auf meine Platte bannen zu dürfen, erhielt aber von dem Brahmanen die betrübende Antwort: „Meine Frau ist kürzlich gestorben!“ Hierbei warf ich wohl unwillkürlich einen ziemlich vielsagenden fragenden Blick nach dem vergitterten Fenster, denn der Brahmane rückte alsbald, wenn auch etwas verlegen, mit dem Geständnis heraus, daß ihm zur Zeit

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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/154&oldid=- (Version vom 1.7.2018)