Seite:Durch Indien ins verschlossene Land Nepal.pdf/142

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Fuß hoch aufsteigenden, schlank und edel geformten Torturm für einen der schönsten zu bezeichnen, die ich in Indien gesehen habe.

Die beiden Haupttempel in Kondscheweram, von denen der eine dem furchtbaren Schiwa, der andere dem gütigen Wischnu geheiligt ist, liegen volle fünf Kilometer weit voneinander, woraus am besten die Ausdehnung dieses Ortes erhellt, der in alten Zeiten die glanzvolle Residenz des Chola-Königreiches[WS 1] war, heute jedoch fast nur noch durch den Verkehr der Pilger und Wallfahrer besteht.

Als ich Kondscheweram besuchte, standen von dem letzten Tempelfeste her noch ein paar Tempelkarren in einer Straßenecke, deren Ausputz eben abgenommen wurde; die ungeheuren, grell bemalten oder vergoldeten aus Holz geschnitzten Pferde und Jali-Löwen, sowie die mit bunten Flitterkram besetzten Tücher wurden sehr sorgfältig fortgepackt, um bei dem Umzuge im nächsten Jahre wieder mitzuwirken. Nur ein scharfes Auge konnte dabei die dunklen Figuren der lebenden Tamulen zwischen den krausen, phantastischen Erscheinungen der Tiere und ihrer Reiter herausfinden, die das Brettergerüst des Karrens umgeben, auf dem während des Festzuges das Bild der Gottheit thront. Die Götterbilder werden für diesen Zweck aus dem Schlamm heiliger Ströme geformt, dann an der Sonne getrocknet und uralten Vorschriften gemäß angeputzt, um für die Dauer des Festes durch Zaubersprüche der Brahmanen Leben zu erhalten; nach Ablauf der Festtage bleibt das Idol nicht mehr Träger und Wohnsitz der Gottheit, sondern wird, als nunmehr wieder wertloser Ton, der auch von Nichtbrahmanen berührt werden darf, unter Musik und Lustbarkeiten in den Tempelteich geworfen, um darin zu zerfallen.

Es gibt kaum ein seltsameres Schauspiel, als solches Fest, wenn der plumpe Karren von der glaubenseifrigen Volksmenge an Tauen durch die weiten Tempelanlagen gezogen wird, wobei die Tempelelefanten nach Kräften mithelfen müssen. Bei dem ungeheuren Geräusch und Tumult während eines solchen Transportes ist es gar kein Wunder, daß unaufmerksame, aufgeregte oder alte hilflose Leute hinstolpern und unter die wuchtigen Wagenräder geraten und zerquetscht werden; die angeblich im Fanatismus begangenen absichtlichen Selbsttötungen unter den Rädern der Tempelkarren dürften zumeist auf derartige Unglücksfälle zurückzuführen sein. Dagegen schweben oder schwebten bis vor wenig Jahren bei solchen Festen tatsächlich Büßer mit Hilfe von langen Bambusstangen um die Karren herum, an deren Enden sie mittelst Stricken und eiserner, durch ihre Rückenmuskeln gebohrter Haken aufgehängt wurden. Zum Verdruß der brahminischen Hindus sucht die englisch-indische Polizei derartige Schwingfeste und· ähnliche Selbstquälereien mehr und mehr zu verhindern, um dadurch den Zulauf zu solchen Festen allmählich zu vermindern, der stets den Ausbruch oder ein Anschwellen ansteckender Seuchen im Gefolge hat.

Die dem Wischnu gewidmete Pagode in Kondscheweram ist durch eine

Halle mit 96 besonders sorgfältig aus Monolithblöcken gemeißelten Pfeilern

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Chola: vergleiche Chola
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/142&oldid=- (Version vom 1.7.2018)