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ausgezeichnet, an deren Dachsims eine jener höchst merkwürdigen Steinketten kriegerischen Zerstörungsgelüsten entgangen ist, die mit dem ganzen Tempel, mit dem Dach und den Säulen aus einem einzigen soliden Felsblock herausgearbeitet und von den drawidischen Baumeistern in Ermangelung der Befähigung, religiöse Anschauungen in erhabener Formensteigerung kristallisieren zu lassen, als ganz besonders schwierige Künstelei für einen hervorragend würdigen Tempelschmuck gehalten wurden.

Kette am Dachfirst des Tempels in Kondscheweram, die aus demselben Felsen wie der ganze Tempel herausgearbeitet ist.

Während meiner Aufnahme dieser Mandapam-Halle tauchte als willkommene Belebung des Bildes zwischen ihr und dem Tempelteich ein hellgrauer Elefant auf, der mit herzzerreißenden Tönen um Opfermünzen bettelte, mich aber durch seine Zudringlichkeit fast in den Tempelteich drängte; nächst Benares[WS 1] gilt der Tempelteich von Kondscheweram für die gesuchteste von den sieben heiligen Badestätten Indiens, da ein Bad darin jeden Herzenswunsch des Menschen in Erfüllung gehen läßt: Entsündigung, Macht, Zufriedenheit und Gesundheit, Reichtum, Gelehrsamkeit und alle sonstigen Glückstore stehen dem gläubigen Badenden offen, vorausgesetzt, daß er es an den entsprechenden Opfergaben nicht fehlen läßt. Hätte mich der Elefant wirklich in das Wasser getrieben, so wäre ich gewiß in Verlegenheit gekommen, schnell zu sagen, was ich mir am innigsten wünsche. Jedenfalls ist es kein Wunder, daß bei solchen Gaben zu Festzeiten gleichzeitig bis zu dreimalhunderttausend Wallfahrer in diesem Teiche baden, wodurch das Wasser dann mehrere Zoll hoch steigt, was den mit schwachen physikalischen Kenntnissen ausgerüsteten Hindus natürlich nur ein Beweis mehr für die wunderbaren Eigenschaften dieses gottgeweihten Ortes wird.

Die Hindus sind das einzige Kulturvolk, das bei der uralten Vielgötterei verblieben ist, während Christen- wie Judentum, Buddhismus und Islam diese Religionen zum Monotheismus zu veredeln suchten; aber wenn auch den Indiern bereits tausend Jahre vor dem Entstehen des Christentums die Vorstellung von einer Menschwerdung der Gottheit nicht unbekannt war, muß doch die vielfach behauptete

wesentliche Ahnlichkeit des Christentums sowohl mit dem Buddhismus wie mit dem Brahminentum

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Benares: vergleiche Varanasi
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/145&oldid=- (Version vom 1.7.2018)