Die deutsche Landwirtschaft (1914)

Textdaten
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Autor: Hans von Schwerin-Löwitz
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Titel: Die deutsche Landwirtschaft
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 20–35
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[468]
Die deutsche Landwirtschaft
Von Dr. Graf von Schwerin-Löwitz;
Wirklicher Geheimer Rat, Präsident des Deutschen Landwirtschaftsrats


Rückblick.

Der Regierungsantritt unseres gegenwärtigen Kaisers fällt in eine Zeit, in welcher − durch die landwirtschaftliche Erschließung weiter fruchtbarer Neuländer in fernen Erdteilen − bei einer verhältnismäßig noch schwachen Bevölkerung dieser Länder und einer gleichzeitigen beispiellosen Verbilligung aller Seefrachten − dem deutschen Getreidebau eine so übermächtige Konkurrenz erwachsen war, wie nie zuvor. − An den maßgebendsten Stellen − ja in der landwirtschaftlichen Verwaltung selbst − bin ich damals der Ansicht begegnet, daß gegenüber einer so übermächtigen Konkurrenz − einem so massenhaften und billigen Getreideangebot aus allen Weltteilen (Nord- und Südamerika, Indien, dem südlichen Rußland, den Balkanstaaten usw.) − wie es damals unseren Markt überschwemmte, − der deutsche Getreidebau sich in dem bisherigen Umfange nicht werde aufrechterhalten lassen. − Auch auf dem viel fruchtbareren und klimatisch begünstigten Boden Englands sei dies nicht möglich gewesen. Es werde auch der deutschen Landwirtschaft auf die Dauer nichts anderes übrig bleiben, als den Getreidebau nur auf die besten und ertragreichsten Böden zu beschränken, − in den feuchteren Lagen sich auf eine intensive Viehzucht zu verlegen, die leichteren Böden des Ostens aber wieder der Kiefer zu überlassen, für welche sie von der Natur bestimmt seien.

Dies, wie gesagt, die Meinung weitester und maßgebenster Kreise nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck! − Der zweite Reichskanzler war logisch vollkommen berechtigt, aus dieser bei ihm besonders festgewurzelten Anschauung heraus, den Landwirten den Rat zu erteilen, sich mit der veränderten Weltlage abzufinden und in Konsequenz dieser Sachlage den Wert ihres Bodens und ihrer Betriebe entsprechend „herunterzuschreiben“.

Was wäre aus der deutschen Landwirtschaft − ja! was wäre aus dem Deutschen Reich − aus seiner Volksernährung und aus seiner Verteidigungsfähigkeit bei der heutigen Weltlage geworden, wenn die deutschen Landwirte diesen − gewiß ehrlich gemeinten − Ratschlägen gefolgt wären?

Unsere Lage im Herzen Europas − umgeben von mißgünstigen Feinden, würde heute aufs Haar der einer ausgehungerten oder − trotz aller militärischer Mittel − der sicheren Aushungerung verfallenen Festung gleichen.

Nun, glücklicherweise war die Liebe der deutschen Landwirte zu ihrer angestammten Scholle und ihre Zähigkeit − auch in schwerster Notlage − stärker als die wirtschaftspolitische [469] Weisheit der damaligen Zeit. Wohl wurden viele Tausende − namentlich kleinerer kapitalsschwacher Landwirte − an den Rand des Verderbens gebracht oder mußten ihre Scholle preisgeben. Wohl fehlte es der ganz überwiegenden Zahl aller Landwirte zunächst nicht nur an dem Mut, sondern namentlich auch an dem erforderlichen Kapital, um die als notwendig erkannten technischen Verbesserungen durchführen zu können. Aber dennoch ist die Landwirtschaft in ihrer großen Gesamtheit niemals auch nur einen Augenblick in dem Entschluß wankend geworden, durch eine verdoppelte Anspannung aller Kräfte − wirtschaftlicher Sparsamkeit, technischer Vervollkommnung, festen genossenschaftlichen wie berufsständigen Zusammenschlusses und allerdings auch wirtschaftspolitischen Kampfes − die gewaltigen Schwierigkeiten der Gegenwart zu überwinden − und sich zugleich für die Zukunft bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen.

Neue Errungenschaften.

Eine wesentliche − vielleicht entscheidende − Unterstützung in diesem Verzweiflungskampf um ihr Dasein und ihre Zukunft hat dann allerdings die deutsche Landwirtschaft in dem günstigen Umstande gefunden, daß gerade dem kritischen letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts eine Reihe sehr bedeutender neuer agrikulturwissenschaftlicher Errungenschaften vorangegangen war.

Die Lehren des großen Reformators unserer ganzen Agrikulturwissenschaft, Justus von Liebigs, waren allmählich zum Gemeingut nicht nur unserer Lehrstühle, sondern auch aller gebildeteren Landwirte geworden. Denkende Praktiker hatten − in Anwendung und Weiterverfolgung der neuerkannten Naturgesetze – ganz neue Bewirtschaftungsarten – namentlich der geringwertigsten Böden −, des Sandes und des Moores – herausgefunden und als praktisch durchführbar erwiesen.

Schulz-Lupitz schuf ein neues System, durch den Anbau stickstoffsammelnder Pflanzen unter ausreichender Zugabe von Phosphorsäure und Kali die leichtesten, stickstoffärmsten Sandböden derart an Pflanzennährstoffen zu bereichern, daß sie zu den höchsten Erträgen – namentlich von Roggen und Kartoffeln – befähigt wurden.

Rimpau-Cunrau fand umgekehrt ein System, unsere sehr stickstoffreichen Niederungsmoore durch Verbesserung ihrer physikalischen Beschaffenheit (Entwässerung und Sandbedeckung) bei gleichfalls starker Anreicherung mit Phosphorsäure und Kali in höchste Kultur zu bringen und ihnen Erträge – nicht nur von Futtergewächsen und Hackfrüchten, sondern auch an allen Getreidearten abzugewinnen, welche hinter denen der besten Ackerböden kaum zurückstanden.

Scharf und sorgsam beobachtende Praktiker – wie Beseler, Heine, Paulsen, Cimbal und später namentlich von Lochow – erkannten, in wie hohem Grade sich die Ertragsfähigkeit – nicht nur unserer Nutztiere, sondern auch aller unserer Kulturpflanzen durch eine zweckmäßige Zuchtwahl steigern lasse.

Neue Getreide- und namentlich Kartoffelzüchtungen lieferten bei zweckmäßiger Auswahl nach Boden und Klima oft die doppelten Erträge wie früher die alten Sorten.

Die ganze Art der Ackerbestellung hatte auf Grund besserer Erforschung der [470] physikalischen Gesetze für die Erhaltung der Bodenfeuchtigkeit eine Umgestaltung erfahren. An die Stelle veralteter Ackergeräte waren überall moderne Schälpflüge zur Erhaltung der Bodenfeuchtigkeit und Vorbereitung der nachfolgenden Tiefkultur getreten. Drillmaschinen an die Stelle der Breitsaat, Mäh- und Dreschmaschinen an die Stelle der Sense und des Dreschflegels usw.

Der ganze landwirtschaftliche Betrieb gestaltete sich – alles auf Grund der besseren wissenschaftlichen Erkenntnis der Naturgesetze – mehr und mehr zu einem Veredlungsgewerbe im kaufmännisch-industriellen Sinne, d. h. zu einer Verarbeitung gegebener oder käuflich zu beschaffender Rohstoffe oder Halbfabrikate (Kunstdünger, Futtermittel) in hochwertigere Halb- oder Ganzfabrikate – wobei nun namentlich auch ein rationeller Bodenhaushalt, d. h. der Gesichtspunkt, den Boden an Pflanzennährstoffen – an dem Rohmaterial für die Pflanzenerzeugung – nicht auszuplündern, sondern möglichst immer reicher zu speisen, erst zu seinem vollen Recht gelangte. Der Verbrauch allein an Handelsdünger stieg dabei von etwa 16 Millionen dz im Jahre 1890 auf rund 70 Millionen dz im Werte von etwa 500 Millionen M. im Jahre 1912.

Diese gewaltige Entwickelung konnte sich aber naturgemäß auf allen Gebieten nur bei dem engsten Zusammenwirken, der innigsten gegenseitigen Unterstützung von Wissenschaft und Praxis vollziehen. Deshalb muß als ein besonders günstiger Umstand für die Überwindung der kritischen Lage unserer Landwirtschaft am Ende des vorigen Jahrhunderts die bereits im Jahre 1885 durch Max Eyth nach dem Vorbild der Englischen Ackerbaugesellschaft erfolgte Gründung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft betrachtet werden. Diese Gesellschaft, welche unter der Leitung ihres genialen Führers das englische Vorbild sehr bald völlig überholte, bildete auf dem Gebiet rein technischer Vervollkommnung bald den Mittelpunkt einer gewaltigen geistigen Zusammenarbeit oder richtiger eines ständigen Widerspieles wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erprobung.

Berufsständische Organisation.

Von nicht minder großer, ja vielleicht von noch größerer Bedeutung als die D. L. G. aber wurde in dem Kampf um die Gesundung der deutschen Landwirtschaft deren berufsständische Organisation auf gesetzlicher Grundlage, wie sie sich beginnend im Jahre 1894, mit dem preußischen Gesetz über die Errichtung von Landwirtschaftskammern in jeder einzelnen preußischen Provinz[1], schließlich fast über das ganze Deutsche Reich auf den gleichen Grundlagen wie in Preußen ausgebreitet hat.

Wohl hatte schon vorher die Not der Zeit die Landwirte in immer wachsender Zahl zu freien landwirtschaftlichen Lokalvereinen – und diese wieder zu Provinzial- oder Landesvereinen zusammengeschlossen. Aber hierbei handelte es sich doch immer nur um einen freien Zusammenschluß einzelner arbeitsfreudiger und opferwilliger Mitglieder zu gemeinnütziger Arbeit in beschränkterem Umfange. Und wenn diese vorausgehende Vereinstätigkeit bei der umfassenderen gesetzlichen Organisation des ganzen Berufsstandes auch keineswegs entbehrt werden konnte, sondern sorgfältig [471] in die letztere hinübergeführt werden mußte, so zeigte sich doch sehr bald, wie unendlich viel wirksamer die mit einem – wenn auch beschränkten – Besteuerungsrecht ausgestatteten und den gesamten Berufsstand erfassenden Kammern die Berufsinteressen zu fördern und zu vertreten vermochten.

Nach dem preußischen Gesetz vom 30. Juni 1894 und den analogen Bestimmungen für die übrigen deutschen Bundesstaaten haben die Kammern die Aufgabe:

„die Gesamtinteressen der Land- und Forstwirtschaft ihres Bezirkes wahrzunehmen“ – „die Verwaltungsbehörden bei allen die Land- und Forstwirtschaft betreffenden Fragen durch tatsächliche Mitteilungen und Erstattung von Gutachtungen zu unterstützen“ – „den technischen Fortschritt der Landwirtschaft zu fördern“ – „bei der Verwaltung und den Preisnotierungen der Produktenbörsen, sowie der Märkte, insbesondere der Viehmärkte, mitzuwirken“.

Die preußischen Landwirtschaftskammern erkannten sehr bald, in wieviel höherem Maße es ihnen möglich werden würde, die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen und namentlich die allgemeineren landwirtschaftlichen Interessen sowohl gegenüber Kommunal-, Staats- und Reichsbehörden als auch gegenüber anderen Berufsständen und in der Gesetzgebung zu vertreten, wenn sie sich hierbei auf eine gemeinsame Zentralstelle für das ganze preußische Staatsgebiet stützen könnten. Sie schufen sich daher bereits im Jahre 1897 – also bevor noch in allen Provinzen Kammern errichtet waren – selbständig eine gemeinsame Spitze in der sogenannten „Zentralstelle der preußischen Landwirtschaftskammern“. Sie haben es aber dankbar begrüßt, als im Jahre 1898, nachdem in allen Provinzen Kammern errichtet waren, das altehrwürdige Institut des preußischen Landesökonomiekollegiums durch Königliche Verordnung zur Zentralstelle für die Erledigung der gemeinsamen Aufgaben der Landwirtschaftskammern umgewandelt und damit seine bisherige ausschließliche Aufgabe der Beratung des Landwirtschaftsministers erheblich erweitert wurde.

Es würde zu weit führen, die ähnliche Entwickelung auch in der Mehrzahl der übrigen deutschen Bundesstaaten zu verfolgen. Heute besteht in fast allen Bundesstaaten eine entweder auf Gesetz oder auf Verordnung beruhende Organisation und Vertretung des gesamten landwirtschaftlichen Berufsstandes und auch in den drei größeren Bundesstaaten, welche bisher Landwirtschaftskammern mit Besteuerungsrecht noch nicht besitzen, wie Bayern, Württemberg und Mecklenburg, steht deren baldige Errichtung bevor.

Deutscher Landwirtschaftsrat.

Die einzelstaatlichen Vertretungen des landwirtschaftlichen Berufsstandes haben wiederum ihre gemeinsame Spitze seit der Begründung des Reichs in dem Deutschen Landwirtschaftsrat gefunden. Er hat die Aufgabe, die landwirtschaftlichen Interessen im Gesamtumfange des Deutschen Reiches wahrzunehmen. Es leuchtet ein, daß auch das Ansehen und die Bedeutung des Deutschen Landwirtschaftsrats dadurch erheblich steigen mußte, daß die in ihm vereinigten bundesstaatlichen Vertretungen nicht mehr lediglich auf freier Vereinigung, sondern auf gesetzlicher Grundlage ruhten. Die Bedeutung und die Aufgaben des Deutschen Landwirtschaftsrats, an dessen Beratungen [472] bekanntlich seit einer Reihe von Jahren S. M. der Kaiser alljährlich persönlich teilnimmt und dem von Reichs wegen in den letzten Jahren eine Reihe wichtiger Aufgaben übertragen wurden, wie der Verkehr mit dem internationalen Landwirtschaftsinstitut in Rom, die Leitung der von Reichs wegen unternommenen wissenschaftlichen Forschungen und Versuche, Preisberichterstattung u. a. – haben dadurch an Umfang sehr gewonnen. Das hohe Ansehen, dessen sich der Deutsche Landwirtschaftsrat heute in den weitesten – nicht bloß landwirtschaftlichen – Kreisen und bei allen Behörden erfreut, beruht auf der strengen Sachlichkeit und Gründlichkeit, von welcher seine Beratungen, seine Entschließungen und seine Kundgebungen von jeher getragen waren.

Den eigentlichen, rein politischen Kampf um die landwirtschaftlichen Interessen zu führen, ist in der Hauptsache die Aufgabe des Bundes der Landwirte geblieben, dessen Begründung im Jahre 1893 eine dringende Notwendigkeit war, um die von Natur politisch träge Masse der deutschen Landwirte zu einmütigem und entschlossenem Kampf für ihre lange vernachlässigten und von neuem so schwer bedrohten Interessen aufzurütteln. Die landwirtschaftlichen Vertretungskörper haben sich mit dem Bund der Landwirte zwar fast nie in Widerspruch befunden – aber auch niemals identifiziert – sondern sich stets demselben gegenüber ihre vollste Unabhängigkeit bewahrt.

Genossenschaftswesen.

Eine Organisation, welcher neben den genannten noch eine ganz besonders große Bedeutung – ja für die rein wirtschaftliche Entwickelung vielleicht die allerentscheidendste – zugefallen ist, war die genossenschaftliche. Auf keinem anderen Gebiet hat sich der aus der Not der Zeit geborene herrliche Gemeinsinn der deutschen Landwirte reiner und zugleich großartiger und erfolgreicher betätigt als in der geradezu staunenswerten Entwickelung unseres Genossenschaftswesens, und es kann wohl mindestens zweifelhaft sein, ob – abgesehen von dem besseren handelspolitischen und veterinären Schutz – dem technischen Fortschritt oder der genossenschaftlichen Entwickelung der größere Anteil an der Wiedergesundung der deutschen Landwirtschaft im letzten Jahrzehnt zuzuschreiben ist. Vielleicht wird man das Richtige treffen, wenn man für die größeren Betriebe zwar dem technischen Fortschritt, für die bäuerlichen Betriebe aber, denen die Bewirtschaftung von mehr als ¾ des ganzen deutschen Ackerlandes zufällt, dem genossenschaftlichen Zusammenschluß den größeren Gesamteinfluß beimißt. Denn erst durch diesen genossenschaftlichen Zusammenschluß sind die vielseitigen Vorteile des Großbetriebes auch den Kleinbetrieben zugewandt worden. Der vorteilhaftere, namentlich besser kontrollierte Einkauf aller für den Betrieb erforderlichen Rohmateriale und Halbfabrikate (Kunstdünger, Futtermittel, Saatgut usw.) – die bessere Verwertung aller Erzeugnisse – die Ausnutzung eines angemessenen Personalkredites bei billigem Zinsfuß, die zinsbare Anlage jedes kleinsten für den Betrieb entbehrlichen Geldbetrages – das alles sind sehr bedeutende kaufmännische Vorteile des Großbetriebes, welche erst durch den genossenschaftlichen Zusammenschluß in den verschiedenartigsten Betriebsgenossenschaften, Verwertungsgenossenschaften, Ein- und Verkaufsvereinen, Spar- und Darlehnskassen und [473] deren Wiederzusammenschluß zu sehr großen leistungsfähigen Verbänden und Zentralgenossenschaften einen einigermaßen kaufmännischen und damit wesentlich nutzbringenderen Betrieb unserer bäuerlichen Wirtschaften ermöglicht haben.

Über 2 Millionen Bauern sind heute in Deutschland genossenschaftlich organisiert.

In welch ungeheurem Umfange aber während der Regierungszeit unseres Kaisers die Zahl und der Geschäftsverkehr unserer ländlichen Genossenschaften gestiegen ist, mögen die folgenden kurzen Tabellen zeigen:

a) Zahl der eingetragenen Genossenschaften
Spar- und
Dahrlehnskassen
Bezugs-, Molkerei-
Genossenschaften
Sonstige Insgesamt
1890 1729 537 639 101 3006
1895 4872 869 1222 207 7170
1900 9793 1115 1917 811 13 636
1905 13 181 1867 2832 1443 19 323
1912 16 774 2417 3475 3360 26 026
b) Geschäftsverkehr der Zentralkassen
Zahl derselben Haftsumme
Millionen Mark
Jahresumsatz
Millionen Mark
Eigenes Vermögen
Millionen Mark
1895 10 7,37 93,90 0,73
1900 21 80,15 859,03 2,87
1905 35 203,95 2857,20 14,01
1911 34 308,30 6341,98 31,80

Landwirtschaftliches Unterrichtswesen.

Schließlich muß von all den verschiedenen starken Hebeln, mit welchen unsere Landwirtschaft in den beiden letzten Jahrzehnten aus ihrer schweren, fast verzweifelten Lage herausgehoben worden ist, hier doch noch einer besonders erwähnt werden, das ist die Entwicklung unseres landwirtschaftlichen Unterrichts. Denn auf ihr ganz allein beruht die Möglichkeit und die begründete Hoffnung, die gewaltigen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Neuzeit mehr und mehr auch zum Gemeingut unserer Millionen landwirtschaftlichen Kleinbetriebe zu machen.

Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Hochschulwesens wird an anderer Stelle eingehend gewürdigt werden. Hier sollen daher nur einige Zahlen über die Entwicklung der mittleren und niederen landwirtschaftlichen Schulen aufgeführt werden, und zwar soweit sie das Königreich Preußen betreffen.

Landwirtschaftsschulen Landwirtschaftl. Winterschulen
Zahl derselben Zahl der Schüler Zahl derselben Zahl der Schüler
1888 16 1994 58 1666
1911 18 4109 212 9357

[474] Die Aufwendungen, die in Preußen Staat, Provinzen, andere Kommunalverbände und die Landwirtschaftskammern für das landwirtschaftliche Schulwesen – ohne die Hochschulen – in baren Zuschüssen machen, sind ebenfalls entsprechend gestiegen von 642 955 M. im Jahr 1888 auf 2 593 573 M. im Jahre 1911. Die baren Zuschüsse haben daher in 25 Jahren um fast 2 Millionen Mark oder über 300% zugenommen.

Bis zum Jahre 1911 hatten seit dem Bestehen der Landwirtschaftsschulen, Ackerbauschulen und Winterschulen nicht weniger als 163 857 Schüler diese Anstalten besucht, darunter 119 454 Schüler die Winterschulen. Dies sind die Pioniere für den technischen Fortschritt in den Kleinbetrieben.

Erfolge.

Und nun zu den Erfolgen! d. h. zu einer streng kritischen Prüfung der Frage, was mit diesen gewaltigsten Anstrengungen verschiedenster Art denn nun erreicht wurde? – erreicht wurde einmal in privatwirtschaftlicher Hinsicht, d. h. für die Reinertragssteigerung der Einzelwirtschaften und andererseits in gemeinwirtschaftlicher Hinsicht, d. h. für die Steigerung der Gesamtproduktion in Lebensmitteln, also für die möglichst selbständige Ernährung unseres Volkes?

Durchweg sind die Betriebskosten – wenn auch je nach der Intensität der verschiedenen Betriebsweisen in verschiedenem Grade, so doch in nahezu allen Betrieben – sehr erheblich gestiegen – und zwar nicht nur durch die gewaltige Steigerung der Arbeitslöhne, welche bei den ländlichen Arbeitern in den letzten 25 Jahren ca. 50% betrug, sondern auch durch eine bedeutende Verteuerung aller anderen Betriebsmittel – namentlich der Baumaterialien, der Kohle, des Eisens, der Sattler- und Stellmacherwaren, Maschinen usw. Dennoch wird zugegeben werden müssen, daß im großen und ganzen in den letzten Jahren die Bruttoerträge – nicht nur an verkäuflichen Erzeugnissen, sondern auch an Geldeinnahmen stärker gestiegen sind als die Betriebskosten, so daß hieraus auch höhere Reinerträge resultierten[2]. Wenn diese Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft auch hinter denjenigen anderer Erwerbsstände weit zurückstehen und wohl in keinem Betriebe auch nur annähernd gleiche Kapitalsansammlungen ermöglichen wie in Industrie und Handel[3], so [475] haben sie doch zweifellos nicht nur zu einer wesentlichen Gesundung der gesamten Landwirtschaft, sondern auch zu einer bedeutenden Steigerung ihrer Kaufkraft geführt, welche wiederum den anderen Erwerbständen – der Industrie und namentlich dem Kleingewerbe – zugute kommt, wie dies in allen neueren Handelskammerberichten nachdrücklich betont wird[4]


Landwirtschaftliche Gesamtproduktion.

Doch nun zu der – vom allgemeinen nationalen Gesichtspunkte aus noch wichtigeren – Frage der Entwickelung unserer landwirtschaftlichen Gesamtproduktion.

Eine unserer ersten Großbanken – die Dresdener Bank – hat kürzlich an die Mitglieder des Reichstages eine bemerkenswerte Broschüre über „Die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands“ verteilt. In dieser – der agrarischen Voreingenommenheit gewiß unverdächtigen – Schrift findet sich u. a. folgender Satz:

„Die Ernteerträge zeigen, daß Deutschland trotz seiner großen industriellen Entwicklung noch immer zu den Hauptagrarländern gehört, dank der außerordentlich gesteigerten Intensität in der landwirtschaftlichen Betriebsweise. In letzterer Beziehung steht Deutschland an der Spitze aller Agrarländer, ein Resultat, welches um so bemerkenswerter ist, als die Qualität des Grund und Bodens in Deutschland hinter anderen Agrarländern vielfach zurücksteht. Die günstigen Ernteerträge Deutschlands sind zurückzuführen auf die Verbreitung wissenschaftlicher Betriebsmethoden, auf die ständige Ausbreitung des landwirtschaftlichen Unterrichts, sowie auf die gesteigerte Anwendung von künstlichen Düngemitteln. Verbraucht doch Deutschland allein an Kali ebensoviel wie alle anderen Länder der Welt zusammen. Eine Schätzung des Wertes der ländlichen Produktion ergibt allein für die drei Produkte Brotgetreide, Vieh und Milch eine Summe von nahezu 10 Milliarden Mark jährlich.“

Dieser Gesamtwert der jährlichen landwirtschaftlichen Produktion wird dann noch an einer anderen Stelle spezifiziert und ergibt für 1912 folgende Werte: Brotgetreide 2800 Millionen, Vieh 4000 Millionen, Milch 2750 Millionen – zusammen für 1912 9550 Millionen – also nicht ganz 10 Milliarden.

Das sind gewiß bemerkenswerte Zahlen, die auch mit den von namhaften anderen Statistikern aufgestellten Berechnungen annähernd übereinstimmen.

Immerhin sind mit diesen 10 Milliarden die Geldwerte der landwirtschaftlichen Produkte noch keineswegs in ihrer Gesamtheit erfaßt. Es würde noch hinzuzurechnen [476] sein der Geldwert der zur menschlichen Ernährung verbrauchten Kartoffeln, Gemüse, Obst, der zur Spiritus- und Stärkefabrikation verwendeten Kartoffeln, der der Zuckerfabrikation dienenden Zuckerrüben, der Erzeugung an Ölfrüchten, Gespinnstpflanzen, der Ertrag des Weinbaues, der Geflügelzucht, des Fischfanges, der Jagd- und Forstwirtschaft, für die zumeist einwandfreie Ertragsberechnungen fehlen, die aber doch sämtlich zur landwirtschaftlichen Produktion gehören und beträchtliche Werte darstellen.

Der Verbrauch an Kartoffeln allein zu Speisezwecken beträgt jährlich über 14 Millionen Tonnen – für Brennerei und Stärkefabrikation noch weitere 4 Millionen Tonnen. – Die Gesamternte an Kartoffeln hat im letzten Jahrfünft durchschnittlich 44,3 Millionen Tonnen betragen. – Die Menge der verarbeiteten Zuckerrüben betrug durchschnittlich 13 Millionen Tonnen, die Menge des gewonnenen Rohzuckers ca. 2 Millionen Tonnen. Für Speise-, Brennerei-und Stärkekartoffeln und Zuckerrüben zusammen ist daher allein schon wieder eine runde Milliarde als Gesamtertrag anzunehmen und so würden noch weitere Milliarden Produktionswerte sich ergeben, wenn die eben erwähnten Produktionszweige sämtlich mit berücksichtigt würden.

Diese Zahlen gewinnen aber erst ihre volle Bedeutung, wenn man sie mit den Hauptwerten unserer industriellen Produktion in Vergleich stellt.

Nach den Angaben von Steinmann-Bucher betrug im Jahre 1905 die industrielle Gütererzeugung Brutto 36 Milliarden Mark. Sie dürfte aber netto, d.h. ohne wiederholte Zählung der von jeder nachfolgenden Produktionsstufe übernommenen Werte, den Betrag von 14–15 Milliarden nicht überstiegen haben. Dabei ist zu beachten, daß unter „industrieller“ Gütererzeugung auch die gewerbliche einbegriffen ist, und daß ein sehr erheblicher Teil dieser industriellen und gewerblichen Gütererzeugung für die Landwirtschaft arbeitet.

Also auch dem Werte der Produktion nach hat unsere Landwirtschaft noch immer gegenüber unserer so gewaltig gewachsenen Industrie sich als durchaus gleichwertiger Faktor zu behaupten gewußt.

Volksernährung.

Die volkswirtschaftlich wichtigste Frage aber war für alle Völker von jeher und bleibt für sie für alle Zukunft die Frage ihrer selbständigen – von fremder Zufuhr unabhängigen – Ernährung. Und in dieser Hinsicht kommt es weniger auf den Gesamtwert ihrer Produktionen als auf die den gegebenen Anbauflächen abgewonnenen Erträge an menschlichen Nahrungsmitteln an.

Was also hat in dieser Hinsicht die deutsche Landwirtschaft während der Regierungszeit Wilhelms II. geleistet? und was kann danach von ihr auch für die Zukunft erwartet werden?

Um hierüber ein Urteil sich bilden zu können, sei zunächst eine Übersicht der Leistungsfähigkeit der wichtigsten Agrarstaaten in bezug auf die Getreide- und Kartoffelproduktion gegeben. Nach dem „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich“ hat die Ernte ergeben im Jahre 1912: [477]

Gesamterträge in 1000 Tonnen:
1912 Weizen und
Roggen
Gerste und
Hafer
Kartoffeln
Deutschland 15 958,9 12 002,2 50 209,5
Österreich-Ungarn 11 246,5 6 872,5 18 515,1
Rußland (europ. Nordkaukasien) 42 651,2 24 051,2 36 992,1
Rumänien 2 524,3 759,9 131,5
Vereinigte Staaten 20 780,3 25 460,5 11 448,3
Kanada 5 448,2 6 537,0 2 213,8
Argentinien 6 400,0 1 682,0
Ernteerträge pro Hektar:
1912 Weizen
dz
Roggen
dz
Gerste
dz
Hafer
dz
Kartoffeln
dz
Deutschland 22,6 18,5 21,9 19,4 150,3
Österreich 15,0 14,6 16,0 13,0 100,2
Ungarn 12,7 11,6 13,9 10,4 84,4
Rußland 6,9 9,0 8,7 8,5 81,7
Rumänien 11,8 8,5 9,1 8,0 85,0
Vereinigte Staaten 10,7 10,6 16,0 13,4 76,2
Kanada 13,7 12,0 16,7 15,0 115,8
Argentinien 9,3 14,1

Die letztere Tabelle zeigt ohne weiteres, wie Deutschland – trotz geringerer Bodenqualität – mit seinen von der Flächeneinheit, d.h. pro Hektar erzielten Erträgen alle Agrarstaaten der Welt in allen Früchten im Jahre 1912 sogar um durchschnittlich mehr als 30% geschlagen hat.

Um dem Einwande: Was beweist in dieser Hinsicht das eine Jahr 1912? – es mag für Deutschland besonders günstig gewesen sein! – zu begegnen, soll nun auch die Entwickelung der Ernteerträge in Deutschland während des ganzen letzten Vierteljahrhunderts nachstehend zur Darstellung gebracht werden. Nach der amtlichen Statistik des Deutschen Reiches und den Berechnungen des Deutschen Landwirtschaftsrats haben die Ernteerträge betragen:

a) Gesamterträge in Deutschland:
1885−1889
t
1908−1912
t
Zunahme
 %
Weizen 2 913 904 3 962 390 36,0
Roggen 6 890 588 11 012 170 59,8
Gerste 2 619 559 3 220 066 22,9
Hafer 5 411 131 8 189 062 51,3
Kartoffeln 29 705 781 44 220 213 48,9
Wiesenheu 19 336 392 25 024 865 29,4

[478]

b) Hektarerträge:
1885−1889
dz
1908−1912
dz
Zunahme
 %
Weizen 15,1 20,7 37,1
Roggen 11,8 17,8 50,8
Gerste 15,0 20,1 34,0
Hafer 14,1 19,0 34,7
Kartoffeln 101,8 133,4 31,0
Wiesenheu 32,7 42,1 28,7

Die Ernteerträge sind also in diesem 25jährigen Zeitabschnitt auf der gleichen Fläche bei Weizen, Gerste und Hafer um mehr als ein Drittel, bei unserer Hauptfrucht, dem Roggen, um mehr als die Hälfte, bei Kartoffeln um 31% und bei Heu um 29% gestiegen.

Das bedeutet, da auch die Anbauflächen im ganzen sich erheblich vergrößert haben, beim Getreide eine Gesamtsteigerung unserer Getreideernten von annähernd 48%. – Beim Brotgetreide allein um über 5 Millionen Tonnen oder um etwa 53%.

Hieraus aber ergibt sich für die Getreideversorgung Deutschlands folgendes:

Würde diese gewaltige Ertragssteigerung nicht erzielt worden sein, so würde unsere Getreideernte, welche die amtliche Reichsstatistik beispielsweise für 1912 auf über 28 Millionen Tonnen berechnet, in diesem Jahre nach dem Durchschnitt der Periode 1885–1889 berechnet nur rund 17,8 Millionen Tonnen betragen haben. Unser Einfuhrüberschuß an Getreide betrug in 1912 4,7 Millionen Tonnen – unser Gesamtverbrauch also 28+4,7=32,7 Millionen Tonnen, wovon rund 14,5% durch Einfuhr gedeckt wurden. Ohne die erzielte Ertragssteigerung aber wären von 32,7 Millionen Tonnen Bedarf nur 17,8 Millionen=54% durch Eigenbau gedeckt worden; und es hätten 14,9 Millionen =46% durch Einfuhr gedeckt werden müssen. Anstatt 14,5% hätten wir heute 46% unseres Getreidebedarfes durch Einfuhr zu decken.

Kann wirklich jemand ernstlich behaupten wollen, daß es bei solchen Verhältnissen, mit welchen wir den heutigen englischen Zuständen sehr nahegekommen sein würden, um unsere Volksernährung oder unsere gesamte Volkswirtschaft besser bestellt sein würde als heute, behaupten, daß, wenn wir im letzten Jahrzehnt für Getreide jährlich 1–1½ Milliarden mehr an das Ausland zu zahlen gehabt hätten, daß unsere Industrie auch dann für ihre so riesenhaft gestiegene Produktion einen gleich aufnahmefähigen Inlandsmarkt gefunden hätte, auf welchen sie – trotz der Verdoppelung unserer Ausfuhr – doch immer mit mehr als 80% ihrer gesamten Produktion angewiesen ist? Kann jemand behaupten wollen, daß unsere jährlich um etwa 450 000 Köpfe steigende Arbeiterschaft auch dann die gleichlohnende Arbeitsgelegenheit und einen um etwa 30% gestiegenen Arbeitsverdienst gefunden haben würde? Daß wir auch dann imstande gewesen sein würden, für unsere Arbeiterversicherung jährlich etwa 1 Milliarde aufzuwenden? – Nein! – Die Steigerung unserer landwirtschaftlichen Gütererzeugung war nicht eine erfreuliche Nebenwirkung des allgemeinen [479] Schutzes unserer vaterländischen Arbeit, sondern sie war der eigentliche Kern und Angelpunkt unserer ganzen riesenhaften, wirtschaftlichen Gesamtentwickelung und wird dies auch weiter bleiben.

Ich habe schon vor 25 Jahren ausgesprochen – und bin in dieser Ansicht immer mehr bestärkt worden –, daß die städtische Abneigung gegen unsere Schutzzollpolitik weniger auf einer falschen volkswirtschaftlichen Doktrin als auf einer einfachen Unkenntnis der landwirtschaftlichen Technik und ihres heutigen Standes beruhe.

Viehzucht.

Wie irrig die noch heute weit verbreitete Vorstellung Caprivis war, welche seine ganze Wirtschaftspolitik beherrschte, als ob die landwirtschaftliche Produktion gewissermaßen eine – ein für allemal feststehende – durch die gegebene Ackerfläche bedingte Größe sei, welche sich nicht wie die industrielle nach Bedarf steigern lasse, glaube ich hinreichend nachgewiesen zu haben. Aber ein anderer – auch rein technischer – Irrtum ist nicht minder verbreitet und wird von den Gegnern unserer Getreidezölle noch heute immer wieder ins Gefecht geführt. Das ist die Vorstellung, als ob eine Erhaltung oder gar Steigerung des Getreidebaues nur auf Kosten der Viehzucht möglich sei. „Man kann doch auf der gleichen Fläche nur entweder Getreide bauen oder Vieh züchten“, entgegnete mir noch kürzlich ein bekannter Parlamentarier. Nun auch in dieser Hinsicht war unsere Entwickelung in dem letzten Vierteljahrhundert recht lehrreich. Um es gleich kurz zusammenzufassen: Während in dieser Zeit unsere Getreideerträge, wie ich gezeigt habe, um durchschnittlich 50% gesteigert wurden, stieg gleichzeitig unsere Produktion von Vieh und tierischen Erzeugnissen um über 100%.

Die Viehbestände haben sich in folgender Weise vermehrt:

Es wurden gezählt:

10. Jan.
1883
1. Dez.
1892
2. Dez.
1912
Zunahme
1883/1912
Zunahme
1892/1912
Pferde 3 522 545 3 836 273 4 516 297 28,2% 17,7%
Rindvieh 15 786 764 17 555 834 20 158 738 27,7% 14,8%
Schweine 9 206 195 12 174 442 21 885 073 137,7% 79,8%
Ziegen 2 640 994 3 091 508 3 383 971 28,1% 9,5%

Nur die Schafbestände haben dauernd abgenommen.

Es wurden gezählt:

10. Jan.
1883
1. Dez.
1892
2. Dez.
1912
Abnahme
1883/1912
Abnahme
1892/1912
Schafe 19 189 715 13 589 662 5 787 848 69,8% 57,4%

Infolge dauernder Verbesserungen der Viehschläge und dadurch bedingter Erhöhung des Gewichts, durch größere Frühreife und rascheren Umschlag ist aber die Fleischerzeugung sehr erheblich stärker gestiegen, als die Vermehrung der Viehbestände erkennen läßt.

Fleischerzeugung.

Leider besitzen wir eine amtliche Ermittlung über die Höhe der jeweiligen Fleischerzeugung erst seit dem Jahre 1904. [480] Danach hat der pro Kopf der Bevölkerung verfügbare Fleischvorrat betragen im Durchschnitt der Jahre 1904–1911 52,3 kg, im Jahr 1912 53,5 kg. Von dieser Gesamtmenge ist aus dem Auslande eingeführt worden (als lebendes Vieh, Fleisch und Fett) im Durchschnitt der Jahre 1904–1911 2,9 kg, im Jahr 1912 3,5 kg, so daß 1904–1911 durchschnittlich 94,4%, 1912 93,4% des Gesamtverbrauchs an Fleisch und Fleischwaren durch inländische Erzeugung gedeckt worden ist.

Vergleichszahlen mit früheren Jahren, die auf amtlichen Ermittlungen beruhen, wie es bei den Getreideernten der Fall ist, besitzen wir für die Fleischerzeugung leider nicht. Um aber ein Bild der ungefähren Steigerung der Leistungen unserer Viehzucht für die Volksernährung zu geben, sollen hier die vergleichenden Berechnungen von Professor Eßlen-Zürich angeführt werden, wenn auch die von ihm für die Gegenwart gewonnenen Zahlen von ihm niedriger und zwar meines Erachtens unberechtigterweise niedrigerer rechnet werden als von den amtlichen Stellen. Jedenfalls geben daher die von Eßlen errechneten Zahlen eher noch ein zu ungünstiges als zu günstiges Bild der Entwicklung unserer Fleischversorgung.

Nach Professor Eßlen betrug die Gesamterzeugung aus inländischen Schlachtungen in Deutschland, also unter Weglassung der aus dem Auslande lebend eingeführten Schlachttiere:

1883 1892 1911 Zunahme
1883/1911
Zunahme
1892/1911
in Tonnen (1000 kg) % %
Rindfleisch 456 449 606 797 879 300 92,7 44,9
Kalbfleisch 76 674 79 849 186 900 143,7 134,2
Schweinefleisch 688 608 833 350 1 941 600 182,0 133,0
Schaffleisch 113 005 108 745 50 800 55,0 53,3

Zusammen: 1 334 736 1 628 741 3 058 600 129,1 87,8

Danach ist die Gesamtfleischerzeugung seit 1883 um 129%, seit 1892 um 88%, und in den 25 Jahren der Regierung unseres Kaisers daher sicher über 100% gestiegen.

Also hat die inländische Fleischerzeugung nicht nur mit der Bevölkerungszunahme Schritt gehalten, sondern auch nach den Berechnungen von Eßlen ist die in der Gegenwart auf den Kopf der Bevölkerung entfallende Menge inländischen Fleisches um mindestens 18,5 bzw. 15,3 kg größer als in den Jahren 1883 bzw. 1892.

Milcherzeugung.

Ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark, hat sich die deutsche Milcherzeugung vergrößert. Auch hierfür liegen leider keine amtlichen Erhebungen vor und sind wir auf gewisse Schätzungen angewiesen.

Professor Fleischmann hat in seinem Lehrbuch der Milchwirtschaft für 1883 unter Zugrundelegung einer Durchschnittsmilchleistung von 1800 Liter pro Kuh und Jahr eine Gesamtmilcherzeugung von 162 Millionen Hektoliter pro Jahr errechnet. Erhebung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft aus dem Jahre 1906 hat [481] dagegen einen Durchschnittsmilchertrag von 2400 Liter festgestellt. Danach würden 1907 im ganzen Reich rund 252 Millionen Hektoliter Milch erzeugt worden sein. Dies würde eine Steigerung in 25 Jahren um 55,5% bedeuten. Der Wert der gesamten Milcherzeugung wird auf Grund dieser Erträge mit 2,8 Milliarden Mark berechnet und kann unter Hinzunahme von rund 10,5 Millionen Hektoliter Ziegenmilch mit rund 3 Milliarden Mark für 1912 als nicht zu hoch angesehen werden. Da unser gesamter Einfuhrüberschuß an Milch (auch Rahm) und Molkereiprodukten (Butter und Käse) im Durchschnitt der letzten 5 Jahre 1908/12 nur rund 160 Millionen Mark Wert darstellte, so stellt sich auch bei der Milcherzeugung das Verhältnis so, daß annähernd 95% des Verbrauchs durch Inlandserzeugung gedeckt wird und nur etwa 5% aus dem Auslande eingeführt werden.

Das ist in großen Zügen die Entwickelung unseres Getreidebaues und unserer Viehzucht unter Kaiser Wilhelm II.


Es ließe sich – namentlich über die Pferdezucht, den Futterbau, den Hackfruchtbau, die technischen Nebengewerbe, die Kultivierungen unserer Ödländereien, die veränderten Arbeiterverhältnisse und die Ausbreitung des maschinellen – Betriebes noch vieles hinzufügen. Aber der Zweck dieser Zeilen war nur ein ganz allgemeiner Überblick über die Gesamtentwickelung unserer Landwirtschaft während der Regierungszeit unseres Kaisers.

Ausblick.

Ich denke, wer die von mir vorstehend gegebenen Daten ohne Voreingenommenheit liest, wird mir zugeben müssen, daß unsere Landwirtschaft – trotz der äußerst schwierigen und kritischen Lage, in welcher sie sich in den ersten Regierungsjahren Wilhelms II. befand – alle ihre Kräfte gesammelt und aufs äußerste angespannt hat, um durch technische Vervollkommnung und Betriebsverbesserungen jeder Art nicht nur ihrer schwierigen Lage Herr zu werden, sondern zugleich auch ihre vaterländischen Aufgaben der möglichst selbständigen Ernährung unseres Volkes immer vollkommener zu erfüllen. Und man darf wohl sagen, daß diese Anstrengungen von großen sichtlichen Erfolgen gekrönt wurden: die deutsche Landwirtschaft steht heute unbestritten – wie die Denkschrift der Dresdener Bank es ausspricht – „in technischer Hinsicht an der Spitze aller Agrarstaaten der Welt“. Das beweist zur Genüge allein der Umstand, daß, trotz der geringeren Qualität unseres Bodens und der Ungunst unseres Klimas, unsere Getreideerträge von der gleichen Flächeneinheit diejenigen aller anderen Agrarstaaten sehr erheblich, d. h. um mehr als 30% übersteigen.

Nichts aber wäre verkehrter, als wenn unsere Landwirte nun etwa glauben wollten, auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können, weil sie den Gipfel technischer Vervollkommnung erreicht hätten oder daß man volkswirtschaftlich etwa annehmen wollte, nunmehr den Gipfel der möglichen Produktionssteigerung erreicht zu haben. Das Gegenteil ist vielmehr das Richtige. Wir stehen heute überall nahezu auf allen Gebieten – in der rationellen Anwendung künstlicher Düngung, der Auswahl und Züchtung besseren Saatgutes, des maschinellen Betriebes zur Ersparung menschlicher Arbeitstraft, der rationellen Fütterung und züchterischen Verbesserung unserer Viehbestände, [482] der Bodendrainage und Kultivierung unserer Moore und Ödländereien – wir stehen überall erst in den Anfängen einer vollen und allgemeinen wirtschaftlichen Ausnutzung unserer gewaltigen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des letzten halben Jahrhunderts. Namentlich sind diese Errungenschaften heute noch nicht zum Gemeingut der Masse unserer kleineren bäuerlichen Betriebe geworden, in deren Händen doch das Schwergewicht der deutschen Landwirtschaft ruht. Hier den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Neuzeit die Wege zu bahnen, ist für die nächsten Jahrzehnte die große Aufgabe unseres landwirtschaftlichen Schulwesens. Mögen immerhin auch unsere landwirtschaftlichen Fachschulen im letzten Vierteljahrhundert eine bedeutende Vermehrung (annähernd eine Verdreifachung) erfahren haben, wir stehen auch hier erst in den Anfängen dessen, was getan werden muß. Die großen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften sind da. Sie brauchen nur zur allgemeinen Kenntnis und rationellen Anwendung aller oder wenigstens der Mehrzahl aller Landwirte gebracht zu werden, um ohne weiteres das große Ziel unserer selbständigen Volksernährung zu erreichen.

Denn unsere durchschnittlichen Ernteerträge für das Reichsgebiet, mögen sie immerhin die Durchschnittserträge anderer Länder übersteigen, stehen doch hinter den Erträgen, wie sie heute bei uns in jeder rationell und intensiv betriebenen Wirtschaft verlangt und regelmäßig erzielt werden, noch unendlich weit zurück. Erträge von pro Morgen 10 Zentner Weizen und 8½ Zentner Roggen oder Hafer, wie sie heute den Reichsdurchschnitt bilden, sind Erträge, welche in unseren besseren, intensiveren Wirtschaften nahezu um das Doppelte übertroffen werden.

Also wir sind noch lange, lange nicht am Ende der Steigerungsfähigkeit unserer Getreide- und noch weniger unserer Viehproduktion angelangt.

Ja, wenn der Rektor der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule an der Wende des vorigen Jahrhunderts feststellte, die landwirtschaftliche Produktion habe sich im 19. Jahrhundert verdoppelt, aber er bezweifele nicht, daß es möglich sei, sie im 20. Jahrhundert noch einmal zu verdoppeln, so halte ich mich heute, nach den Erfahrungen der inzwischen verflossenen 13 Jahre, wie ich sie vorstehend dargelegt habe, für vollkommen berechtigt zu der Hoffnung, daß wir, wenn wir nur in der gleichen Weise fortschreiten, wie in den letzten 25 Jahren, bei weitem kein volles Jahrhundert gebrauchen werden, um unsere landwirtschaftliche Produktion noch einmal zu verdoppeln.

Und doch würde schon eine Steigerung derselben um nur 50% mehr als genügen, um selbst eine Einwohnerzahl von über 100 Millionen Köpfen vollkommen selbständig auf deutscher Scholle zu ernähren.

Die technische Möglichkeit, dies große Ziel zu erreichen, kann heute nicht mehr bestritten werden. Seine tatsächliche Erreichung wird freilich nur unter wirtschaftlichen Verhältnissen erwartet werden können, welche auch eine lohnende Steigerung unserer Bodenerträge und unserer Viehhaltung ermöglichen.

Zu diesen wirtschaftlichen Verhältnissen werden neben dem unverkürzten Schutz unserer ganzen vaterländischen Arbeit – vor allem eine möglichst günstige Grundbesitzverteilung durch eine fortschreitende innere Kolonisation und eine befriedigende [483] Lösung der Arbeiterfrage gerechnet werden müssen, ohne welche sich ein intensiver Betrieb, namentlich in den kleineren Wirtschaften, nicht durchführen läßt.

Auf diese beiden letzteren Probleme bin ich hier nicht näher eingegangen, weil sie in einem besonderen Abschnitte dieses Buches behandelt werden sollen. – Von ihrer befriedigenden Lösung wird die Erreichung des großen Zieles unserer vollständig selbständigen Volksernährung in hohem Grade bedingt sein. – Wir werden ihnen deshalb im nächsten Jahrzehnt die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden haben. –


Jedenfalls aber hatte unser Kaiser recht, wenn er vor wenigen Monaten im Deutschen Landwirtschaftsrat seine Ausführungen mit dem treffenden Satze schloß:

„Es steht außer jedem Zweifel, daß die deutsche Landwirtschaft technisch imstande ist, nicht nur die jetzige Bevölkerung des Reichs, sondern auch die künftige vermehrte Volksmenge mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, insbesondere mit Brot, Fleisch und Kartoffeln in genügender Weise zu versorgen. Meine Herren, das können wir, und das müssen wir.“

Die deutschen Landwirte werden dieser Mahnung ihres geliebten Kaisers zu folgen wissen. Denn von der Erfüllung dieser großen vaterländischen Aufgabe der deutschen Landwirtschaft ist die wirtschaftliche Wehrhaftigkeit und damit die Zukunft des Reiches bedingt.


  1. In der Provinz Hessen-Nassau, gesondert für die Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden.
  2. Wenn auch die aus den Steuerveranlagungen ersichtlichen Steigerungen des Einkommens der physischen Zensiten nicht ohne weiteres ein richtiges Bild dieser Zunahme der Reinerträge aus der Landwirtschaft geben, so sind sie doch zum Teil mit darauf zurückzuführen und deshalb nicht uninteressant.
    Das Einkommen der physischen Zensiten auf dem Lande in Preußen ist gestiegen von 1852 Millionen Mark im Jahre 1892 auf 4482 Millionen Mark im Jahre 1912, das steuerbare Vermögen auf dem Lande von 25 516 Millionen Mark im Jahre 1895 auf 39 388 Millionen im Jahre 1911/1913.
    Als ein weiteres wichtiges Zeichen für die günstige wirtschaftliche Entwicklung kann auch angeführt werden, daß die Auswanderung aus dem Deutschen Reiche, die im Jahre 1887 noch 104 787 Personen, gleich 2,20‰ der Bevölkerung betrug, dauernd zurückgegangen ist und im Jahre 1912 nur noch 18 545 Personen oder 0,28‰ der Bevölkerung ausmachte.
  3. Die Steigerung des Einkommens der physischen Zensiten in den Städten ist von 1892–1912 in Preußen von 3 853 Millionen Mark auf 10 757 Millionen Mark, das veranlagte Vermögen der physischen Zensiten in den Städten von 1895–1911/13 von 38 281 Millionen Mark auf 64 669 Millionen gestiegen, also ganz erheblich mehr, als die angegebenen Zahlen für die Zensiten auf dem Lande erkennen lassen.
  4. Welche Bedeutung für Industrie und Handwerk hat nicht allein der gesteigerte Bezug landwirtschaftlicher Maschinen! Nach den landwirtschaftlichen Betriebszählungen betrug die Zahl der landwirtschaftliche Maschinen benutzenden Betriebe:
    1882 1895 1907 Zunahme
    1882/1907
    Zunahme
    1895/1907
    Dampfpflüge 886 1 696 2 995 258% 77%
    Säemaschinen 63 842 169 465 290 039 354% 71%
    Mähmaschinen 19 634 35 084 301 325 1435% 759%
    Dampfdreschmaschinen 75 690 259 364 488 867 546% 88%
    Andere Dreschmaschinen      298 367 596 869 947 003 217% 75%