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Weisheit der damaligen Zeit. Wohl wurden viele Tausende − namentlich kleinerer kapitalsschwacher Landwirte − an den Rand des Verderbens gebracht oder mußten ihre Scholle preisgeben. Wohl fehlte es der ganz überwiegenden Zahl aller Landwirte zunächst nicht nur an dem Mut, sondern namentlich auch an dem erforderlichen Kapital, um die als notwendig erkannten technischen Verbesserungen durchführen zu können. Aber dennoch ist die Landwirtschaft in ihrer großen Gesamtheit niemals auch nur einen Augenblick in dem Entschluß wankend geworden, durch eine verdoppelte Anspannung aller Kräfte − wirtschaftlicher Sparsamkeit, technischer Vervollkommnung, festen genossenschaftlichen wie berufsständigen Zusammenschlusses und allerdings auch wirtschaftspolitischen Kampfes − die gewaltigen Schwierigkeiten der Gegenwart zu überwinden − und sich zugleich für die Zukunft bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen.

Neue Errungenschaften.

Eine wesentliche − vielleicht entscheidende − Unterstützung in diesem Verzweiflungskampf um ihr Dasein und ihre Zukunft hat dann allerdings die deutsche Landwirtschaft in dem günstigen Umstande gefunden, daß gerade dem kritischen letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts eine Reihe sehr bedeutender neuer agrikulturwissenschaftlicher Errungenschaften vorangegangen war.

Die Lehren des großen Reformators unserer ganzen Agrikulturwissenschaft, Justus von Liebigs, waren allmählich zum Gemeingut nicht nur unserer Lehrstühle, sondern auch aller gebildeteren Landwirte geworden. Denkende Praktiker hatten − in Anwendung und Weiterverfolgung der neuerkannten Naturgesetze – ganz neue Bewirtschaftungsarten – namentlich der geringwertigsten Böden −, des Sandes und des Moores – herausgefunden und als praktisch durchführbar erwiesen.

Schulz-Lupitz schuf ein neues System, durch den Anbau stickstoffsammelnder Pflanzen unter ausreichender Zugabe von Phosphorsäure und Kali die leichtesten, stickstoffärmsten Sandböden derart an Pflanzennährstoffen zu bereichern, daß sie zu den höchsten Erträgen – namentlich von Roggen und Kartoffeln – befähigt wurden.

Rimpau-Cunrau fand umgekehrt ein System, unsere sehr stickstoffreichen Niederungsmoore durch Verbesserung ihrer physikalischen Beschaffenheit (Entwässerung und Sandbedeckung) bei gleichfalls starker Anreicherung mit Phosphorsäure und Kali in höchste Kultur zu bringen und ihnen Erträge – nicht nur von Futtergewächsen und Hackfrüchten, sondern auch an allen Getreidearten abzugewinnen, welche hinter denen der besten Ackerböden kaum zurückstanden.

Scharf und sorgsam beobachtende Praktiker – wie Beseler, Heine, Paulsen, Cimbal und später namentlich von Lochow – erkannten, in wie hohem Grade sich die Ertragsfähigkeit – nicht nur unserer Nutztiere, sondern auch aller unserer Kulturpflanzen durch eine zweckmäßige Zuchtwahl steigern lasse.

Neue Getreide- und namentlich Kartoffelzüchtungen lieferten bei zweckmäßiger Auswahl nach Boden und Klima oft die doppelten Erträge wie früher die alten Sorten.

Die ganze Art der Ackerbestellung hatte auf Grund besserer Erforschung der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/32&oldid=- (Version vom 20.8.2021)