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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[420 c]
14. Heft.   Preis 10 cents.   4. Juli 1899.


Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (5. Fortsetzung) 421
Jugenderinnerungen Rudolf v. Gottschalls. Von J. Proelß. 427
Kulturbilder aus Deutsch-Südwestafrika. Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen. 428
Die Pariser Gesellschaft vor Hundert Jahren. Von R. Artaria. 431
Das Pfingstbier der Halloren. Von Dr. Hans Bethge. 437
Die Unglücksfälle in den Alpen. Von Max Haushofer. 438
Ausgeglichen. Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) (Schluß) 440
Blätter und Blüten: Das Goethe-Denkmal und das Kaiser Wilhelm-Denkmal für Straßburg. S. 450. – Das Gilatier. (Mitt Abbildung.) S. 451. – Umgarnt. (Zu dem Bilde S. 424 und 425.) S. 451. – Heuernte auf Mönchgut. (Zu dem Bilde S. 433.) S. 451. – Prinz Eugen in der Schlacht bei Belgrad. (Zu dem Bilde S. 445.) S. 451. – Liebeswerben. Von P. Auzinger. (Zu dem Bilde S. 449.) S. 452. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Große Linde von Augustusburg. Von G. Mühlmann. (Mit Abbildungen.) S. 452. – Edelhirsche. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 452.
Illustrationen: Politiker. Von Otto Dinger. S. 421. – Umgarnt. Von B. Schmutzler. S. 424 und 425. – Abbildungen zu dem Artikel „Kulturbilder aus Deutsch-Südwestafrika“. Auf Reitochsen. S. 428. Farmwächterhaus, im Vordergrunde eine primitive Gerberei nach Boerenweise. Junge Strauße. Weidefeld des Berieselungsgrundes unterhalb des Staudammes auf Voigtland. Windhoek. S. 430. – Heuernte zu Mönchgut auf der Insel Rügen. Von W. Zimmer. S. 433. – Abbildungen zu dem Artikel „Das Pfingstbier der Halloren“. Von O. Gerlach. Ueberreichung des „Hallorenkuchens“. Zappeltanz der Platzknechte. S. 437. Das Fahnenschwenken. S. 438. Trunk im Hof der Residenz. S. 441. – Prinz Eugen in der Schlacht bei Belgrad am 16. August 1717. Von G. Adolf Cloß. S. 445. – Liebeswerben. Von Ad. Müller-Grantzow. S. 449 – Das Gilatier. Von A. Specht. S. 451. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Große Linde von Schloß Augustusburg. S. 452.


Hierzu Kunstbeilage XIV: 0 „Edelhirsche“. Von L. Voltz.




Kleine Mitteilungen.


Friedrich der Große und der Schlaf. Die Arbeitsamkeit und Thätigkeit des Königs war so groß, daß er in den ersten Regierungsjahren fast gar nicht schlafen wollte, um stetig arbeiten zu können. Er hatte nur ein paar Stunden zur Ruhe bestimmt und trank, um sich des Schlafes zu erwehren, sehr häufig starken Kaffee. Hierdurch geriet aber sein Blut in so starke Wallung, daß man befürchtete, der Schlag würde ihn rühren. Er unterließ auch diese Lebensart bald.

Vor dem Siebenjährigen Kriege arbeitete er bis spät in die Nacht, oft bis 4 Uhr des Morgens. Einst hatte der Kammerhusar Deybert die Wache und stand hinter dem Könige, welcher schrieb, in einiger Entfernung. Endlich überfiel ihn die Ermüdung und er stürzte lang auf die Erde hin. Die Hunde des Königs bellten heftig. Der König sprang auf und fragte Deybert, der sich geschwind wieder aufgerichtet und auf seinen Posten gestellt hatte: „Was fehlt dir?“

„Ew. Majestät halten zu Gnaden,“ antwortete Deybert, „ich war wider Willen eingeschlafen, und da mußte ich fallen.“

Der König fragte: „Hast du keinen Schaden genommen?“

„Nein, Ew. Majestät,“ erwiderte Deybert.

„Nun, dann ist es schon gut. Wie spät ist es?“

„Halb Zwei, Ew. Majestät. – Da ist es wohl Zeit das Bett zu suchen.“

Indes sich der König entkleiden ließ, sagte er: „Du würdest kein guter Nachtwächter geworden sein, Deybert!“

„Die Nachtwächter,“ antwortete Deybert, „stehen aber auch nicht so lange auf ihrem Posten und schlafen bei Tage aus.“

„Ja ja, das ist recht gut,“ fuhr der König fort; „dann würdest du aber auch im Gehen fallen. Da hast du etwas für den Schreck.“ – Er schenkte ihm zehn Friedrichsdor.

In der Schlacht bei Torgau (am 3. November 1760) wandte sich der Sieg so spät auf preußische Seite, daß der König bis um 9 Uhr des Abends auf der Wahlstatt verweilen mußte. Da die Nacht schon eingebrochen und die Jahreszeit ziemlich rauh war, so wählte der König das hinter der Front zunächstliegende Dorf zum Nachtquartier. Aber alle Häuser waren voll Verwundeter, die der König nicht stören wollte. Nur die Dorfkirche war unbesetzt; in diese ging der König. Hier erwartete er den damaligen Kapitän und Flügeladjutanten von Cocceji, der unverzüglich als Kurier abgehen sollte, um die Nachricht von dem gewonnenen Treffen nach England und an den Kabinettsminister, Grafen von Finkenstein, zu bringen. Da nun nicht gleich ein Tisch herbeigeschafft werden konnte, setzte sich der König auf die unterste Stufe des Altars, stellte das Licht auf die oberste, und auf der mittelsten schrieb er, mit halb rechts gewandtem Körper, seinen Brief. Nachdem der Herr von Cocceji abgefertigt und die übrigen nötigen Befehle erteilt waren, setzte sich der König in einen Kirchenstuhl und schlief einige Stunden, brach aber mit allen Offizieren seiner Suite, die mit ihm die Nacht hier zugebracht hatten, noch vor Tage auf und ritt nach der Wahlstatt.

In der letzten Hälfte des Lebens sollte der Schlaf, nach seinem Plane, sieben Stunden währen; er dauerte aber wohl acht bis neun Stunden, wenn der König den für ihn so wohlthätigen Schweiß abzuwarten für nötig und nützlich erachtete. In den Monaten November, Dezember, Januar und Februar ging Friedrich der Große abends zwischen 9 und 10 Uhr zu Bett und stand am folgenden Morgen zwischen 5 und 6 Uhr wieder auf. Von Ende Februar an legte er sich von Woche zu Woche etwas früher nieder und stand früher wieder auf, so daß er zur Berliner Musterung wohl schon um halb 3 Uhr außer dem Bett und um 4 Uhr schon auf dem Pferde war. Nach den Truppenmusterungen und Sommerreisen kehrte er die Ordnung allmählich um.

Als sein Alter und seine Leibesschwäche zunahmen, begegnete es ihm einigemal, daß er etwas länger schlief, als er sich vorgesetzt hatte; er ärgerte sich darüber und befahl seinen Kammerlakaien, ihn nicht länger als bis auf die bestimmte Stunde schlafen zu lassen und ihn, wenn nötig, mit Gewalt zu wecken.

Einst kam ein Bedienter, den der König eben erst angenommen hatte, um diesen Befehl zu erfüllen.

„Laß mich doch noch ein wenig schlafen, ich bin noch gar zu müde!“

„Ihro Majestät haben mir befohlen, ich sollte so früh kommen.“

„Nur noch eine einzige Viertelstunde sag’ ich.“

„Keine Minute, Ihro Majestät, es ist 4 Uhr; ich lasse mich nicht abweisen.“

„Nun, das ist brav!“ rief der König, „du würdest übel angekommen sein, wenn du mich hättest liegen lassen.“

Zu Krossen hielt der König die jährliche Musterung stets bei Anbruch des Tages. Der Kammerhusar hatte einst den Befehl, den König mit dem Schlage zwei Uhr zu wecken. Dies geschah. Das Wetter war überaus stürmisch und es regnete sehr. Der König, noch sehr ermüdet, sagte beim Aufstehen: „Ach, wäre ich doch nur ein Kriegsrat geworden.“

Da dem Könige in seiner Krankheit einige Zeit der Schlaf gemangelt hatte, war ein Leibhusar, seines Metiers ein Chirurgus, so dreist, daß er bei der öfteren Klage des Königs sagte: „Majestät, ich sehe mit großer Verwunderung, daß auch der geschickteste Arzt in seiner Kunst fehlen kann. Ich habe,“ fuhr er fort, „in meiner Hausapotheke eine Medizin, die von der Beschaffenheit und guten Tugend ist, daß sie nicht nur den Schlaf befördert, sondern auch guten Appetit erregt.“

Der König lachte und sagte: „Nun, du hast auch wohl Lust, dir den Titel eines Hofdoktors zu erschleichen?“

„Nein, Majestät,“ war die Antwort, „dazu habe ich wohl nicht genug Talent; aber den Ruhm wünschte ich mir zu verdienen, als ein Ungelehrter dasjenige möglich gemacht zu haben, worüber oft tagelang ein großes einsichtsvolles Kollegium sich beratschlagt.“

„Nun gut,“ sagte der König, „ich will diesen Abend dein Arkanum versuchen und sehen, ob du ein Prophet aus den alten oder neuen Zeiten bist.“

Der Leibhusar gab dem Könige die Medizin, blieb die ganze Nacht bei ihm im Zimmer und sah mit Freuden den festen Schlaf des Königs, der erst des Morgens um 7 Uhr erwachte.

„Nun,“ sprach der König, „das heißt geschlafen! Du bist ein braver Medikus.“ Er füllte hierauf eine Tabatiere mit Friedrichsdor und gab sie dem Leibhusaren mit den Worten: „Sieh, mein Lieber, das ist für deine Treue gegen meine Person; für deine Kunst sollst du noch besonders belohnt werden.“

Bei diesem Arbeitseifer und bei dieser Arbeitsfülle kannte der König die Langeweile nicht. „Was ist Langeweile?“ fragte er einst den berühmten Arzt Zimmermann.

„Ew. Majestät würden es vielleicht erfahren, wenn Sie andere Höfe besuchten,“ war die Antwort, und Milord Mareschall, ein Freund Friedrichs, entgegnete auf die Frage, ob das Leben in Potsdam ihn nicht langweile: „Wie könnte ich die Unverschämtheit und die Anmaßung haben, von Langeweile zu sprechen, wenn ich sehe, wie das ganze Leben des Königs der Arbeit gewidmet ist.“ A. v. Winterfeld.     

[420 e]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München

EDELHIRSCHE
Nach dem Gemälde von L. Voltz

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 14

[421]

Halbheft 14.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(5. Fortsetzung.)


Als Sabine und Susanne mit ihren Begleitern vor einem der Juwelierläden standen und die Pracht der Perlen und Juwelen anstaunten, in der wunschlosen Freude an unerreichbarem Glanz, sagte Onkel Fritz, daß er drinnen etwas zu besorgen habe, und bat, mit hineinzukommen.

„Wir wollen deiner Mama eine Nadel oder dergleichen kaufen,“ erklärte er drinnen.

Susanne freute sich. Onkel Fritz brachte ihrer Mama, seiner vieljährigen Freundin, von allen Reisen ein Geschenk heim. Das Aussuchen machte Spaß. Sabine und Achim beugten sich auch über die Auswahl an zierlichen Gegenständen, die der Verkäufer ihnen auf dem Glasdeckel eines Warenkastens ausbreitete. In diesen faulen Reisetagen ward jede Kleinigkeit zum Erlebnis von Wichtigkeit fröhlich aufgebauscht. Sie lachten und scherzten zusammen, und Sabine sah Achim, ohne sich darüber klar zu sein, mit leuchtender Zärtlichkeit ins Angesicht. Der Verkäufer bat

Politiker.
Nach dem Gemälde von Otto Dinger.

[422] darauf Achim, für seine „junge Frau Gemahlin“ auch etwas zu wählen. Darüber lachten sie nun noch mehr.

Unterdes hatte Onkel Fritz mit dem Herrn des Hauses selbst leise verhandelt.

„Nun, ist das große Geschäft gemacht?“ fragte er, „hat Susanne gewählt?“

„Erst eine engere Auswahl von zehn Stücken,“ erklärte Sabine.

„Das kenne ich. Dann kommt die engste von fünf. Und dann die allerengste von zweien. Und dann die Wahl nach dem Preis, wobei Susanne meint, aus Bescheidenheit das Billigste wählen zu müssen. Liebe Sabine, heute bestimmen Sie! Ihr tadelloser Geschmack wird für meine alte Freundin schon das Beste finden.“

„Dann das,“ raunte Susanne und zeigte mit begehrlichen Blicken auf eine Brosche, die sie sich sehr kleidsam für ihre Mama dachte.

„Also hier.“

Auch Achim sah die bunten Kleinigkeiten mit begehrlichen Blicken an. Brennend gern hätte er den beiden Damen ein Andenken an diese Tage gekauft. Nur einen Scherz – nur irgend ein kleines Ding, das sie am Arme oder am Halse tragen konnten. Er wagte es nicht. Er sagte sich, daß er keck den Augenblick hätte ergreifen müssen, wo der Verkäufer ihn aufforderte, für seine „Frau Gemahlin“ etwas zu wählen; da hätte er scherzen können, „die Damen sind meine Schwestern, geben Sie ihnen zwei gleiche Anhänger.“ Der Augenblick war verpaßt. Achim ärgerte sich.

„Bitte, Kinder – wollt ihr eure Handschuhe ausziehen. Jede den linken,“ sagte Onkel Fritz.

Befremdet und verlegen gehorchte Sabine, freudig und auch ein bißchen verlegen Susanne. Sie begriffen beide auf der Stelle, daß Onkel Fritz ihnen einen Ring schenken wolle.

Er ist zu gut, dachte Susanne dankbar. Geht das nicht zu weit? dachte Sabine, wie kann ich fort und fort von ihm annehmen, ich stehe doch nicht so zu ihm wie Susanne!

Onkel Fritz war dabei, an Susannens Finger einen köstlichen Ring zu schieben. Es war ein glatter Reif mit drei gleichmäßig großen Steinen. Befriedigt lächelnd sah Onkel Fritz in das Freude glühende Gesicht seines Lieblings.

„Da,“ sagte er, „der Saphir heißt: bleibe so treu, der Rubin: bleibe so Weib, und der Brillant: bleibe so rein, wie du bis jetzt warst.“

Obgleich man sich in einem Juwelierladen befand und die draußen vorbeischlendernden Menschen hereingafften, fiel Susanne ihrem lieben Onkel Fritz jubelnd und dankend um den Hals.

„Gottlob,“ dachte Sabine, „dies war ihm der eigentliche Zweck. Sein Takt verbietet ihm, mich ganz zu übersehen.“

Und sie erwartete, daß er ihr einen unbedeutenden kleinen Ring geben werde, vielleicht mit dem Bemerken „für Milly“.

Als der alte Herr nun an sie herantrat, schien sich plötzlich so etwas wie Feierlichkeit über sein Wesen zu legen. Auch der Juwelier nahm eine besondere Haltung an. Er wußte, daß nun erst die große Kostbarkeit verschenkt wurde.

Achim hatte eine Mißempfindung. Bin ich neidisch, dachte er, daß ich nicht so mit Diamanten um mich streuen kann? Oder was ist es sonst?

Er sah, daß Sabine noch blasser wurde, als sie gewöhnlich war, und daß der Ausdruck eines Schrecks über ihre Züge ging.

Und dann sah er, daß der alte Herr ihr schweigend einen kostbaren Ring an den Finger schob, einen Reif, der eine große Perle trug, um welche ein Kreis von Brillanten flimmerte.

Sabine atmete schwer. „O, mein Gott!“ sagte sie.

Stumm und ritterlich neigte sich der alte Herr und küßte die Hand, die er eben so fürstlich geschmückt hatte. Und als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick beinahe scheu das Antlitz der schönen Frau und wurzelte sekundenlang in ihrem dunklen Auge.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Sabine tonlos.

Achim wandte sich ab.

Sie gingen. Susannens kindliche, laute Freude deckte das Schweigen der anderen zu. Ihr ganzer Schmuckbestand setzte sich bisher aus den Sächelchen zusammen, die von ihrer Konfirmation stammten. Nun hatte sie einen kostbaren Ring, so schön, so herrlich, wie sie nie geahnt, einen zu besitzen. Und sie hing am Arm des alten Herrn und plauderte ihm ihren Jubel vor und erging sich in Vorstellungen, wie Mama über die allzugroße Güte doch schelten werde und vielleicht zanken, daß Susanne sie angenommen.

Sabine litt. Sie kam sich wie bedeckt vor mit der Schmach der Undankbarkeit und Unehrlichkeit. Heute abend noch will ich ihn um eine Unterredung bitten und ihm alles gestehen, dachte sie. Aber was hatte sie ihm denn zu gestehen? Nichts! Denn sie konnte nicht sagen: Achim und ich, wir lieben uns und wollen uns verbinden, trotz alledem. Ich vertraue mich dir an. Gieb mir deinen Beistand. Nein, das konnte sie nicht sagen.

Und ihm nur von der Not ihrer Kämpfe, von der Qual ihrer Leidenschaft sprechen? Ihm? Der ihr eben so – in solchem Schweigen und mit so rätselhaftem Blick diesen Ring gegeben!?

Nicht einmal in ihren Gedanken wagte sie, an der Bedeutung dieses Blickes sich grübelnd zu versuchen. Alles, was in ihr an Zartheit weiblichsten Empfindens war, nötigte sie, blind daran vorbeizueilen.

Und auch Achim litt. Das Geschenk des Ringes an Susanne war nur ein Vorwand, dachte er. Und staunend erwog er, ob ein Menschenkind je so alt werden könne, daß es aufhöre zu leiden. Er hatte sich vorgestellt, daß mit den weißen Haaren die große Stille des Lebens kommt.

Und ihm ahnte, scheu und von fern nur, daß er eben etwas habe verräterisch aufblitzen sehen, das etwas anderes war als unberührte Stille – – –.

Tote Seelen weckte sie wieder zu schmerzlichem Leben auf mit ihren lodernden Blicken!

Ihre Schönheit prangte vor aller Augen, und selbst auf der Straße standen die Menschen, ihr nachzuschauen, und sagten: „Wie schön!“

Schritt sie einher, so ging etwas Gebietendes von ihr aus. Es war, als umwittere sie eine Majestät.

Und er, dem dies alles zu eigen zu werden sich glühend drängte – – er sollte kalt und stark bleiben?! Und er war doch auch nur ein Mensch!

„Onkel Fritz,“ plauderte Susanne, „für eine Buchhalterin, die ich doch vom 1. Januar sein will, paßt es gar nicht, so köstlichen Schmuck zu haben.“

„Was,“ sagte Achim, sich gewaltsam bezwingend, „Sie wollen unter die emanzipierten Frauen gehen? Das erste Wort, das ich davon höre!“

„Mit Emanzipation hat das nichts zu thun,“ erzählte Susanne, ganz guter Dinge bleibend. „Mama hat vor einiger Zeit sehr viel von ihrem Vermögen verloren – durch – durch ein Ereignis. Ohne Onkel Fritz’ Güte könnten wir nicht in gewohnter Weise weiterleben. Nun hat Onkel Fritz mir fest versprochen, mindestens hundert Jahre alt zu werden, und ich werde also vierzig Jahre Zeit haben, ein Kapital zusammenzuverdienen.“

Achim hätte gleich viele Fragen thun mögen: was war das für ein Ereignis? Und: beerben denn nicht Sie in erster Linie Onkel Fritz? Er konnte nicht recht begreifen, daß Susanne ein armes Mädchen oder doch ein sehr bescheiden bemitteltes sein sollte. Die Vorstellung, daß sie für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen eines Tages gezwungen sein könnte, regte ihn sehr auf und verscheuchte mit einem Schlag alle quälenden Empfindungen, die ihn eben durchwühlt hatten. Aber er konnte nicht wohl fragen, denn der, dessen Tod und Hinterlassenschaft dabei ins Gespräch kommen mußte, ging ja neben ihnen.

„Kinder,“ sagte der alte Herr, stehenbleibend, „ich weiß nicht, – ist es die schwüle Luft – ein bevorstehendes Gewitter – ich bin sehr müde. Ich möchte allein sein und ruhen. Was meint ihr, wenn ich unserm verehrten Freund hier das Amt übertrüge, mit euch zu lunchen?“

Er lächelte – wie immer. Aber etwas sehr Wehes, Verlegenes war in seinem Lächeln.

„Die Damen können nur über mich verfügen,“ sprach Achim.

Susanne sah den Onkel liebevoll und ängstlich an.

„Wir werden Sie doch erst bis ins Hotel bringen dürfen?“ bat Sabine. „Bitte, stützen Sie sich auf mich!“

Der alte Herr wich zurück.

„Ich bitte Sie, liebe Sabine … ich werde mich doch nicht wie ein zerbrechlicher Greis betragen. Mein Arm für Sie! Aber nicht der Ihre für mich.“

[423] Der Scherz kam etwas mühsam heraus. Und gleich danach, entschloß Onkel Fritz sich doch, Achims Arm zu nehmen.

Sie gingen sehr langsam zum Hotel, der alte Herr viel aufrechter als sonst, woran man den Zwang sah, den er sich anthat.

Susanne bestand darauf, mit hinauf zu gehen und erst selbst zu sehen, daß Onkel Fritz kühl gebettet und mit einer erfrischenden Limonade versorgt sei.

Die beiden wollten unten in der Halle auf sie warten. Aber es schien, als sollten ihnen sogar diese wenigen Minuten des Alleinseins vor Zeugen, diese karge Möglichkeit sich zu besprechen nicht gegönnt sein, denn der immer väterlich verbindliche Wirt des Hotels, der seine Tage in den Lehnstühlen der Halle zu verträumen schien, riß sich aus einem Halbschlummer, trat zu ihnen und äußerte seine Ansicht über das Wetter, das sich heute oder morgen in einem Gewitter ausladen und dann sich zur herbstlichen Rauheit ändern werde. Eine Meinungsverschiedenheit, die ein Engländer mit dem Portier zu haben schien, rief den Wirt endlich von ihnen fort.

Da fragte Achim schnell, als habe ihn dieser Gedanke die ganze Zeit beherrscht: „Was war das für ein Ereignis, das Susannens Mutter Geld verlieren ließ?“

Sabine glaubte, es früher schon erzählt oder geschrieben zu haben.

„Aber gewiß nicht – wenigstens habe ich es dann vergessen.“

„Also: auch das kommt auf das Schuldkonto… Sie wissen, Achim, wessen! Er hatte außer meinem Gelde auch das seines Bruders und fast dreiviertel von Frau Osterroths Vermögen zu verwalten.“

Also auch die Schuld dessen, den er erschossen! Ganz von fern, ganz vag zog es durch Achims Sinn, daß er ja immer von der Idee besessen gewesen, seine That zu entsühnen – gut zu machen. Wer dieses prachtvolle Mädchen heiratete, es nahm in all seiner Armut – der machte gut, was der Tote auf sich geladen hatte. Er fühlte selbst: das waren verworrene Gedanken. Seine eigene That wollte er ja gutmachen – nicht die des Toten. Und doch schien ihm da irgend eine Verbindung, eine ausgleichende Gerechtigkeit.

„Was denken Sie?“ fragte Sabine fast herrisch.

„Nichts.“

„Als ob je ein Mensch eine andere Antwort auf die Frage hätte!“

„Gut. Zugestanden: Thorheiten und Trübes,“ sprach er. „Aber sagen Sie doch: erbt denn Susanne kein Geld von Onkel Fritz?“

„Nur ein Zweiundzwanzigstel. Er will es so. Ein pedantisches Gerechtigkeitsprinzip – vielleicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bekommen Susanne, mein Schwager Benno und meine Kinder nicht mehr als die anderen neunzehn Osterrothschen Nichten und Neffen. Sein Einkommen bei Lebzeiten indes verteilt und verbraucht er, wie Sie sehen, nach seinen Neigungen.“

Und nach einer kurzen Pause fügte sie bitter hinzu:

„Sind wir dazu zum erstenmal zwei Minuten ohne Zuhörer, um Onkel Fritz’ Vermögen zu besprechen?“

„Sabine!“

Aber über seine Stirn ging ein helles Rot.

Sie sah mit dunklem Blick zu ihm empor.

„Morgen werden Sie nicht mehr hier sein!“ sagte sie leise.

„Es waren schöne Tage,“ sprach er bewegt. „Aber sie können und sollen nicht enden, bevor Sie mir nicht gestatten, Sie noch zu sprechen. Ich habe Ihnen viel zu sagen, Sabine. Viel.“

„Sicher heute noch. Ich werde es frei mit Ihnen verabreden. Heimlichkeit – – das war für Miihlan,“ lächelte sie. „Und da kommt Susanne.“

„Mit Regenschirmen,“ rief diese schon auf der Treppe.

„Venedig und Regenschirm! O weh!“

„Wie geht es ihm?“ fragte Sabine.

„Nur matt. Er schien zufrieden, still und allein liegen zu dürfen,“ erzählte Susanne. „Aber ich werde doch den Nachmittag nebenan im Salon sitzen und nicht ausgehen.“

„Selbstredend auch ich!“ erklärte Sabine entschlossen.

„Wenn ich offen meine Meinung sagen darf,“ sprach Susanne, „laß das lieber. Ehrlich: mir kommt es vor, als genierte er sich vor dir ein bißchen. Nicht als ob er unhöflicher oder ungepflegter wäre, wenn er mit mir allein ist. Ich kann dir das nicht so beschreiben. Aber mit mir ist er wie ein Papa mit seiner Tochter und vor dir wie ein Herr aus der Gesellschaft. Warum, weiß ich nicht.“

Aber Achim und Sabine ahnten warum. Unwillkürlich sahen sie sich an und sahen schnell voneinander weg.

Es tröpfelte draußen ein wenig. Die Gondoliere sprangen wie gejagt herum, ihren Gondeln die schwarzen Gehäuse aufzusetzen.

Auf der Straße standen Herren und krempelten sich die Beinkleider auf. Alle Welt schien Eile zu bekommen.

„Wie die bange vor dem bißchen Regen sind!“ lachte Susanne.

Es hörte gleich wieder auf. Trocken kamen sie bei „Bauer-Grünwald“ an. Man suchte sich in dem hohen, weiten Restaurationssaal einen Tisch. Susanne erklärte wichtig, daß sie die Börse von Onkel Fritz habe, sie solle für sich und Sabine bezahlen, Onkel Fritz fände es nicht passend, wenn sie etwa Herrn von Körleggs Gäste wären. Hierüber zeigte sich Achim enttäuscht und beleidigt. Aber Susanne meinte, daß dann die Bescheidenheit ihnen gebiete, sich ihr Menu nach den Aufzeichnungen auf der zweiten Seite der Speisekarte zusammenzusetzen.

So scherzten sie, ein wenig wie Kinder, die plötzlich ohne Aufsicht sind. Und während die bestellten Speisen hergerichtet wurden, lief Achim schnell zu einem nahen Blumenhändler und holte ganze Bündel Rosen. Nachher stießen sie mit dunkelfließendem, starkem Barolo auf Onkel Fritz’ Gesundheit an. Dann mußte Achim noch genau die Ringe besehen und bewundern, und er hielt dabei erst Sabinens, dann Susannens Hand in der seinen und entließ jede mit einem kleinen zärtlichen Druck.

Die fröhliche Laune der drei jungen Menschen zog die Blicke aller auf sich.

Sabine bemerkte einmal, daß man sie ansah.

Und jäh flog ein schneidender Gedanke mitten durch ihre frohe Stimmung: Wenn diese Menschen rundum wüßten, daß der Mann, mit dem ich hier lachend sitze, meinen Gatten erschossen hat – würden sie mich nicht steinigen? …

Und das ganze Leben erschien ihr wie ein groteskes Zufallsspiel, vielleicht nur eines höhnischen Lächelns wert oder einer Thräne.


9.

Um vier Uhr holte Achim Sabine ab. So hatten sie es vor Susanne noch beim Frühstück verabredet. Sie sagten, da seien noch ein paar Kirchen, die Achim notwendig sehen müsse, so vor allen Dingen Santi Giovanni e Paolo.

Susanne meinte: „O gewiß. Die muß Herr von Körlegg noch sehen, wir waren gleich am ersten Tag da und hatten einen großen Eindruck. Und außerdem haben Sie doch gewiß noch viel miteinander zu sprechen.“

Das sagte sie so unumwunden, so einfach.

Auf dem Rückweg vom Frühstück trat Sabine noch in einen Blumenladen, um für den alten Herrn Blumen zu kaufen. Achim und Susanne fanden ihre Wahl thöricht.

„Die kann er ja nicht zwei Minuten im Zimmer haben.“

Aber Sabine ließ unbeirrt einige lange Stiele der schwül duftenden Tuberose mit einigen melancholisch schwer hängenden Marschall Nielrosen zusammenbinden.

„Er kann sie dann ins offene Fenster, ans Gitter stellen.“

Susanne, welche die Blumen hineintragen mußte, berichtete denn auch, daß er sich offenbar sehr gefreut habe. Aber schwach sei er doch erbärmlich, sie habe wohl gesehen, daß seine Hand zitterte. Dennoch hoffe er, zum Diner aufzustehen, und lasse Herrn von Körlegg bitten, dies bei ihnen im Hotel einzunehmen.

Als Achim um vier Uhr kam, hatte sich das graue Gewölk am Himmel verdichtet. Es sah aus, als hielte der Regen nur mühsam zurück, und fern schien es zu donnern. Aber der Gondolier erklärte energisch, daß das Wetter nicht vor Abend käme. Regen hingegen? Regen – das sei möglich. Jedenfalls sei eine offene Gondel nicht ratsam.

So stiegen sie denn in das schwarze kleine Kämmerlein, wo sie mehr liegen als sitzen mußten. An den offenen Fenstern glitten wie stille Wandelbilder die Mauern der aus dem Wasser steigenden Häuser vorbei. Das geöffnete Thürchen ließ ihnen

[424]

Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl in München.
Umgarnt.
Nach dem Gemälde von B. Schmutzler.

[425] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [426] den Blick auf die schmalen Kanalstraßen frei, durch die sie wiegend und sacht entlangstrichen.

Manchmal zeigte sich ein drolliges Bild: auf einer Hausthürschwelle hockte eine Mutter und badete ihr Kind im schmutzig grünen Wasser. An den feuchten Mauern, dicht über der Kanaloberfläche, saßen mit sternförmig auseinandergespreizten, klammernden Beinen zahllose kleine hellgraue Taschenkrebse und Seespinnen.

Die ersten Minuten vergingen schweigend. Durch einen ihnen beiden unerklärlichen seelischen Vorgang war eine feindselige Stimmung zwischen ihnen. Eine Art von Trotz, in welchem jedes den andern dafür verantwortlich machte, daß man hier gefangen zusammensaß, um von der Stunde eine Entscheidung zu erzwingen, mochte die Stunde nun gerade dafür günstig sein oder nicht. Die kargste Freiheit – die, den Augenblick zu erfassen, die war ihnen immer verwehrt gewesen.

Es lag so etwas Niederdrückendes in der Situation. Seit heute morgen hatten sie es gewußt: nachmittags vier Uhr sollst du deine höchsten und besten Kräfte voll einsetzen können, um dein Ziel zu erreichen. Das ist ein verhängnisvolles Vorherwissen in Sachen der Leidenschaft.

Es machte zunächst beide gereizt und unsicher.

Sabine brach das Schweigen durch einige Bemerkungen über die Gegend, durch die man fuhr.

„Das hier ist ein anderes Venedig. Nicht das der Fremden. So still, so verschlafen. Ein Stück Vergangenheit.“

Schmale und bescheidene Häuser säumten die Kanäle ein. Wo eine knappe Uferstraße für Fußgänger einen Weg von Treppenbrücke zu Treppenbrücke gewährte, sah man wenige Menschen gehen; Frauen mit Umschlagtüchern, Männer in Hemd und leinenem Beinkleid. Auf dem weißen Gestein lagerten Kinder und träumten in den Tag hinein. Traurig sah der graue Himmel hernieder.

Sie kamen vor der Kirche an und hießen die Gondel warten.

Wie steinerne Schwermut umschrankte sie die gewaltige, kühl dämmerige Kirche. Mit erkünsteltem Interesse gingen sie an den Grabdenkmälern der Dogen vorbei. Die starre und stumme Pracht kalter Steine hatte ihnen heute nichts zu offenbaren, die graue Strenge sah sie fremd an.

Das war Tod. Das war Vergangenheit.

In ihnen aber waren alle quälenden Sensationen des Lebens.

Wie soll ich es ihr sagen, daß wir scheiden müssen für immer? dachte Achim. Und er litt selbst so peinvoll in der Vorstellung, daß es ihm versagt war, das Gnadengeschenk dieser glühenden Liebe anzunehmen.

Wird er die Zeit verrinnen lassen, ohne mir zu sagen, daß Liebe stärker ist als Welt und Vorurteil? dachte sie angstvoll.

Als sie wieder hinaustraten, froh, der Gesellschaft des Küsters ledig zu sein, der, unnütze Erklärungen murmelnd, immer einen halben Schritt voran, neben ihnen geblieben war, atmeten sie auf.

Die Luft schien ihnen wärmer und frischer und heller als vorher, obschon sie ganz unverändert geblieben war.

Achim half Sabinen in die Gondel. Dabei sahen sie sich an. – –

Und auf einmal war sie da, die Stimmung, die zur Entscheidung drängte, die ganze fieberheiße Erregung. –

Die Gondel glitt langsam weiter, den breiten, stillen Rio dei Mendicanti entlang, hinaus in die Lagune, jenseit der Stadt. Auf träumerisch wogender, glanzloser Flut, unter zinnfarbenem Himmel, in brütender Luft schwamm sie schaukelnd dahin; der Gondolier, hoch hinter dem schwarzen Dach stehend, holte unablässig zu gleichmäßigem Ruderschwung aus. Zuweilen klang sein melancholischer Warnruf. Langsam flog einmal eine Möwe mit lautlosem Flügelschlag dicht über dem Wasser hinstreichend vorbei.

„Sabine,“ sagte Achim und nahm mit seiner Rechten ihre Hand, „teure Sabine – ich danke Ihnen für diese Tage. Es sind unvergeßbare.“

Und er legte seinen linken Arm um ihre Taille. Wie ein Bruder, liebevoll und herzlich wollte er zu ihr sprechen. So hatte er es sich vorgenommen gehabt, für diese Stunde, schon seit Wochen.

Ihr Atem stockte. Sie sah zu ihm auf. Sie fühlte seinen Arm. So nah’ war sie ihm – so nah’. Ihre Augen brannten in den seinen.

„O Gott – – Achim,“ flüsterte sie. Ihr Haupt sank an seine Schulter.

Er wollte ganz gefaßt bleiben. Von der Natur meinte er das Unnatürliche erzwingen zu können; inmitten eines Flammenmeeres dachte er kühl zu atmen. Er vergaß, daß er auch nur ein Mensch war.

„Sabine,“ sprach er kaum hörbar, „Sabine – mein Herz ist voll Dankbarkeit für alles, was Sie – – was – –“

Und sie schwieg immerfort. Sie suchte keine Worte und sie brauchte keine. Ihre Augen sprachen von hingebendem Verlangen, von seligster Glückserwartung.

Und ihre Lippen schienen sich ein wenig zu öffnen.

Da neigte er sein Angesicht und sein Mund preßte sich auf den ihren.

Er vergaß alles.

Er wußte nur, daß es wert war, zu leben um dieses Augenblickes willen.

Wie zwei, die sich aus höchster Gefahr und Not endlich zu einander gerettet haben, hielten sie sich umklammert, trunken vor Leidenschaft, sinnlos vor Glück.

„Mein!“ stammelte Sabine. „Mein – endlich doch.“

Zwischen immer neuen Küssen stammelte sie es. Und er ließ sie nicht aus seinen Armen, als fürchtete er das Erwachen – oder als könnte er nicht an so viel Seligkeit glauben, ohne sie zu halten.

Dann kam ein jubelnder Stolz über Sabine, eine Art von Machtrausch, von königlicher Trunkenheit.

Die Arme um seinen Hals, ihr Angesicht nah’ und gerade vor dem seinen, sprach sie zu ihm: „Was ich um dich gelitten habe, wie ich mich nach dir zersehnte – ich kann es dir niemals, niemals ganz sagen! Menschenworte beschreiben es nicht. Ich fühlte wohl, daß du mir zu entfliehen trachtetest! Warum? O mein Gott, Achim! Ist die Leidenschaft nicht gewaltiger als Herkommen und Vorurteil und selbst als der Tod?! Laß die Bedenken und die kleinen bangen Gedanken für die, welche armen Herzens sind. Laß die feige sich vor Erwägungen fürchten, denen das Blut dünn und still in den Adern schleicht! Wir aber, wir sind wie Herren und Fürsten – weil wir die Leidenschaft haben, haben wir auch die Kraft. Wir werden das Ungewöhnliche zum Selbstverständlichen machen. Die Liebe giebt uns das Recht dazu. Deine Seele hat schwer an dem Bewußtsein getragen, ein Menschenleben vernichtet zu haben. Daß du Kindern einen Vater nahmst, das drückte dich. Es war das erste Geständnis, das du mir machtest, damals, als uns der Zufall an seinem Grabe zusammenführte. Weißt du noch? Aber es war kein Zufall. Das Schicksal hatte uns mit Vorbedacht dorthin geführt. Den Kindern, denen du schuldlos den Vater nahmst, denen wirst du alles ersetzen, was ihnen verloren ging – du wirst es ihnen besser ersetzen. Ist das nicht Ausgleich und Entsühnung? So groß, so tief, so wunderbar?! Kannst du dir eine weisere denken? Und ich? Und ich? Weißt du, Achim, ich habe gelitten – o, laß mich nicht mehr daran denken, wie alles in mir getreten ward – alle Illusionen, alle Jugendfröhlichkeit, aller Stolz. Ich lebe wieder, seit ich dich sah! Ich bin erst Ich selbst geworden durch dich. Und ich preise mein vergangenes Unglück. In ihm lernte ich mit allen Sinnen, mit allen Nerven, mit jedem Schlag meines Herzens, was es sein müsse: das Glück, das Glück! Ich weiß was Liebe ist – jetzt weiß ich es. Und ich liebe dich – rasend – zum sterben – –“

Und wieder warf sie sich an seine Brust. Er aber, erschüttert von der Gewalt ihrer Leidenschaft, schloß sie fest an sein Herz.

Das Schicksal ist stärker gewesen als ich, dachte er, vielleicht hat es recht gehabt.

Ihre flammenden Worte brausten über seine schweren Gedanken hin. Ihm schien es in dieser Stunde nicht mehr unmöglich, Vergangenes zu vergessen, ganz zu überwinden. Er fühlte, daß er geliebt wurde, über menschliches Maß hinaus. Und von wem? Von dem herrlichsten Weibe. Und er sollte dieses große Herz zurückstoßen? Dieses glühende Leben zerknicken? Sich selbst der heißesten Wonne berauben?

Das konnte kein Gott und kein Mensch von ihm fordern.

Mutig als ein Mann mußte er nun mit eherner Stirn die Thatsache vertreten und tragen.

[427] „Sabine,“ sagte er, als sie sich beide ein wenig gefaßt hatten, „wie wollen wir uns nun verhalten?“

„Meine Eltern …,“ ihre Stimme klang ein wenig zaghaft. Aber dann lehnte sie ihr Haupt gegen seine Schulter, nahm spielend seine Hand und streichelte sie und sagte im Gefühl glücklichster Geborgenheit: „Ah – die werden nichts mehr einwenden von dem Augenblick an, wo sie dich sahen und sprachen. So ein Mann wie du! Das müssen sie doch begreifen!“

Er lächelte. Die Naivetät der Liebe war bezaubernd. Er war für sie der Mensch aller Menschen, das fühlte er wohl.

„Willst du deinen Eltern schreiben, damit ich sie vorbereitet finde?“

Sabine richtete sich lebhaft auf.

„Nein, nein. Es ist besser, du kommst zu den Ahnungslosen. Am besten ist es so: reite gleich zu Reinald hinaus und sag’ ihm alles. Reinald ist sehr einfachen Sinnes. Gerade deshalb und weil er mich sehr lieb hat und eben selbst in der Feierzeit seiner Liebe steht, wird er begreifen, daß es sich hier um etwas ganz Großes handelt. Ihm wird vielleicht ein bißchen bang werden – aber er wird uns beistehen. Er soll dich zu den Eltern begleiten. Er soll dabei sein, wenn du mit Papa und Mama sprichst! Manchmal geschehen ja Wunder. Vielleicht begreifen sie gleich, daß mein Glück wichtiger ist als das Urteil des Krämers Küps und der Frau Rechnungsrat Müller.“

„Wie bist du bitter!“

„Ich will es nicht mehr sein. Komm – verzeih mir! So – – Und dann, Achim: ich bin in Zweifeln. Sollen wir’s Onkel Fritz gleich sagen oder nicht,“ sprach sie.

„Nein,“ rief er hastig, „nein, um keinen Preis. Es – – es wäre nicht taktvoll – erst doch deinen Eltern, nicht wahr? Und dann, mir ist, als würde es den alten Herrn doch erregen. Er war heute morgen so sonderbar, als er dir den Ring gab – fandest du nicht?“

„Wie du willst. Rechnen wir so: in einigen Tagen bist du wieder in Mühlau; sobald du die Einwilligung meiner Eltern hast, telegraphierst du mir nach Rom. Uebermorgen reisen wir dorthin. Und dann sag’ ich es Onkel Fritz. Natürlich kann ich ihn auf dieser Reise, die meinetwegen unternommen ward, nicht im Stich lassen. Vor dem ersten November hast du mich nicht wieder.“

„Es ist vielleicht gut so. Inzwischen gewöhnen sich die Mühlauer an das Ereignis. Denn sobald ich erst mit deinen Eltern gesprochen habe, wird es dort bekannt werden, das kennen wir ja.“

„Vier Wochen soll ich dich entbehren!“

„Vier lange Wochen – –“

Auch ihm erschien das eine furchtbare, eine entsagungsvolle Zeit.

„Sabine!“ flüsterte er und nahm sie wieder in seine Arme.

Der graue Tag ging still zu Ende. Durch die blaue Dämmerung, die sich über die Lagune breitete wie feiner Dunstschleier, glomm das erste trübrote Licht einer Laterne. Sacht glitt das Boot des Anzünders an das Bouquet von Pfählen heran, die, aus der Flut aufsteigend, sich oben mit den Köpfen zu einander neigten und dort auf dünner Stange eine vieleckige Leuchte trugen. Mit träumerischem Ruderschlag ging der Nachen dann weiter auf seiner lichtspendenden Fahrt.

An den Ecken der Kanäle, auf vorspringendem Arm, brannten schon die Gaslaternen. Zwischen den hochragenden Häusern lagen die schmalen Wasserstraßen schon in tiefem Abendschatten. Eilig und lautlos glitt die Gondel dahin.

Auch die beiden, die aneinander geschmiegt in ihr versteckt saßen, schwiegen.

Eine große wundervolle Stille war in Sabinens Seele, wie Abendfrieden nach heißen Stürmen. Sie fühlte sich am Ziel und sie war vollkommen glücklich. Auch in Achim war es still. Eine seltsame Mattigkeit lähmte seine Gedanken. Und er wollte auch nichts mehr denken. Ein berauschendes Glück war sein geworden. Eine Vergangenheit durfte es nicht mehr geben, die Zukunft mochte sein wie sie wollte: diese Stunde war die Krone seines Lebens gewesen. –

Sabine seufzte, als die Gondel vor dem Hotelportal am kleinen Seitenkanal hielt. Die Rückkehr aus dem Traumland der Liebe in die gemeine Wirklichkeit hatte etwas Beleidigendes für sie.

(Fortsetzung folgt.)




Jugenderinnerungen Rudolf v. Gottschalls.

Mit bewunderungswürdiger Geistesfrische hat unser alter treuer Mitarbeiter R. v. Gottschall in dem kürzlich erschienenen Buch „Aus meiner Jugend“ ein Bild der Zeit entworfen, in welcher er zum Dichter heranreifte und als solcher die ersten Erfolge genießen durfte. Wie er in einzelnen Erinnerungsblättern schon früher erzählt hat, stand sein erstes Auftreten als Dichter in engem Zusammenhang mit der nationalen Freiheitsbewegung, die in den Märzerrungenschaften des Jahres 1848 ihren schönsten Triumph erlebte. Er war in Königsberg Student der Rechte und eben vom Gymnasium gekommen, als die ostpreußischen Stände in den Kampf für die längst verheißene Verfassung traten; was Johann Jacoby in seinen „Vier Fragen eines Ostpreußen“ forderte, fand Wiederhall in den „Liedern der Gegenwart“ des achtzehnjährigen Studenten. Andere Gedichte desselben, in denen die revolutionäre Stimmung der damaligen Jugend sich noch ungestümer äußerte, erschienen als „Censurflüchtlinge“ in der Schweiz, in Follens und Fröbels Flüchtlingsverlag, wo auch Georg Herweghs „Lieder eines Lebendigen“ erschienen waren. Das große Festmahl, das die Liberalen Königsbergs im Herbst 1842 zu Ehren Herweghs veranstalteten, als dieser nach seiner Audienz bei Friedrich Wilhelm IV die Pregelstadt besuchte, gab seinem jungen Verehrer Gelegenheit, mit Wilhelm Jordan öffentlich als Dichter zu wetteifern, zum Preise des gefeierten Vorbilds.

Im Jahre darauf wurde Gottschall selber zum „Censurflüchtling“; die Reaktion war wieder im Zuge. Den Studenten der Albertina wurde der Besuch der aufreizenden Vorträge Walesrodes im Kneiphofschen Junkerhof verboten, die sich in satirischen „Glossen“ zu den „Texten der Zeitgeschichte“ ergingen; eine Katzenmusik vor dem Haus des Kurators war die Antwort der empörten Studentenschaft. Auf den Verfasser der „Lieder der Gegenwart“, der mit Walesrode verkehrte, fiel der Verdacht, die Sache angestiftet zu haben. Er erhielt das consilium adeundi und mußte zwangsweise das geliebte Königsberg verlassen. Auch in seiner Vaterstadt Breslau, wohin er sich wandte, ging es ihm nicht besser. Polizeichikanen verwehrten dem „politisch Verdächtigen“ ein ordnungsmäßiges Studieren. Seine Teilnahme an einer Studentenversammlung, die gegen einen reaktionär gesinnten Professor manifestierte und auf welcher er als Redner auftrat, hatte seine Ausweisung zur Folge. Er sah sich gezwungen, die Stadt sofort zu verlassen; doch gab ihm die Breslauer Studentenschaft, Burschenschafter und Landsmannschafter vereinigt, ein feierliches Geleit. Zuflucht fand er bei einem Manne, der die Seele der liberalen Bestrebungen in Schlesien war, beim Grafen Eduard Reichenbach auf Waltdorf.

Gottschall gedenkt dieses edlen Volksmanns aus dem ältesten schlesischen Adel, der sich seiner in jener kritischen Lebensperiode hilfreich und thatkräftig annahm, mit herzlicher Dankbarkeit. Die hohe Gestalt des noch jugendlichen Grafen, sein imponierender Vollbart und die Feueraugen unterstützten die Wirkung seines frischen energischen Wesens, das einen hinreißenden Zauber ausübte. Sein säulengetragenes Schloß in der Nähe von Neisse war „ein Heim aller Entgleisten in vormärzlicher Zeit“. Es wimmelte von ehemaligen Staatsgefangenen – den Grafen selbst, der ein eifriger Jenenser Burschenschafter gewesen war, umschwebte die Glorie einer überstandenen Festungshaft –, von fortgejagten Professoren und Studenten, abgesetzten Kaplänen. Gottschall traf hier den Dichter Hoffmann von Fallersleben, den der frondierende Geist seiner „Unpolitischen Lieder“ um seine Breslauer Professur gebracht hatte. Trotz seiner radikalen Gesinnung nahm der Graf im Neisser Kreise eine angesehene Stellung ein; er war Kreisdeputierter und Vertreter des Landrats, als solcher von der Regierung gewählt, Direktor der Neisse-Brieger Eisenbahn. So war er denn auch in der Lage, den Dichtern, die bei ihm ein Asyl fanden, für Vorlesungen ihrer Werke ein gebildetes Publikum einzuladen, ein Vorteil, den Gottschall wiederholt in jenen Tagen genoß, da seiner regen dramatischen Muse die Bühne verschlossen blieb. Schon als Gymnasiast, in Koblenz und Mainz, wo sein Vater als Artilleriehauptmann damals in Garnison gestanden, hatte er eine ganze Reihe historischer Dramen gedichtet. Gutzkows Beispiel hatte ihn angespornt; als Student ergriff er Stoffe, die dem Freiheitsdrange der Zeit entsprachen; seinem „Hutten“ hatte er in Breslau den „Robespierre“ folgen lassen. Die Aufführung am Breslauer Theater untersagte die Polizei. Graf Reichenbach ließ das Drama, das auch Hoffmann sehr gefiel, auf seine Kosten drucken und zahlte dem Dichter einen Ehrensold.

Als Begleiter des Grafen nahm Gottschall auch an einer jener geheimen Versammlungen der „Vaterlandsfreunde“ auf Adam v. Itzsteins Weingut in Hallgarten teil, deren letztes Ziel die Einigung Deutschlands in freier Verfassung war. Es war im Jahre 1846. In Leipzig ergänzte sich das Häuflein der Wallfahrer nach dem Rheingau durch Robert Blum, Schaffrath und andere Abgeordnete des sächsischen Landtags. In Weimar wurde Wydenbruck begrüßt, der spätere Märzminister. Auf dem „Rütli“ von Hallgarten traf man dann „die [428] Eidgenossen des Liberalismus“ aus Baden, Württemberg, Nassau, Hessen-Darmstadt und Kurhessen. „So wurde denn getagt im Gartenhause, in welches die Sommersonne fröhlich hereinblickte, und es war eine erlauchte Versammlung parlamentarischer Größen, die mit der Geschichte des Jahres 1848 für immer verknüpft sind, hier noch einig im gemeinsamen Streben, bald nach allen Richtungen der Windrose auseinander fahrend. Da saß ich zwischen Gagern, dem hochgemuten Führer der späteren verfassungsmäßigen Bewegung, und Friedrich Hecker, der später im offenen Kampfgefild bei Kandern dem Bruder Gagerns, dem General der Regierungstruppen, gegenüberstand und mit ihm unterhandelte, bis diesen eine verräterische Kugel aus den Reihen der Aufständischen tödlich traf. Und mir gegenüber saß der wackere Volksmann Robert Blum, den zwei Jahre später die österreichischen Kugeln auf der Brigittenau daniederstreckten. … Nach den Verhandlungen erfreuten wir uns an der gemütlichen Weinbergidylle, an Spaziergängen auf die benachbarten Rebenhügel, in die nebenliegenden Dörfer. Der Herbergsvater war bei bester Laune; noch höre ich seine Stimme, wenn er mich, den langschlafenden ‚Schwarzenberger‘, weckte, als schon die höhersteigende Sonne durch die Jalousien blinzelte. Er hatte mir diesen Beinamen erteilt, weil ich mit meinen langen, dunklen Haaren, den dunklen Augen, dem brünetten Teint einen sehr schwärzlichen Eindruck machte.“ Die schlesischen Gäste begleiteten Hecker und Bassermann nach Karlsruhe und wohnten hier einer interessanten Sitzung im Ständehaus bei. Von da ging’s nach Stuttgart, wo sie mit dem späteren Märzminister Friedrich Römer verkehrten.

So bilden die Jugenderinnerungen Gottschalls einen gar lebensvollen Kommentar zur Geschichte jener Zeit, die uns heute als die Sturm- und Drangperiode der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches erscheint. Sein Freiwilligenjahr, das er in Berlin bei den Gardeschützen abdiente, die Zeit seiner ersten Erfolge als Bühnendichter in Hamburg und Königsberg brachten ihn ebenfalls in Beziehung zu vielen hervorragenden Männern der Bewegung. Den März oes Jahres 1848 erlebte er in Königsberg, wo er nach bestandenem Doktorexamen Dramaturg am Woltersdorffschen Theater geworden war. Auch hier trat eine Bürgerwehr ins Leben, und Gottschall, der sein Dienstjahr mit der Qualifikation zum Landwehrleutnant abgeschlossen hatte, erhielt die Führung eines Bataillons. Bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt a. M, wo sich in der Pregelstadt Eduard Simson und Johann Jacoby gegenüberstanden, gab er dem letzteren seine Stimme.

Mit Begeisterung gedenkt der Dichter jener Tage: „Man hatte das Gefühl einer vollständigen Wiedergeburt, wie die alten Aegypter, wenn der leuchtende Sirius ein neues Weltjahr begann. Wer an diese Zeit nur zurückdenkt als an eine trübe Epoche des Umsturzes, der Anarchie, der Straßenkämpfe, der hat die Stimmung nicht begriffen, welche damals die Gemüter beherrschte und mit Begeisterung und Rührung erfüllte, und auch die Historiker, welche vom Standpunkte einer verspäteten Reflexion die Chronik jener Tage schreiben, geben nur eine irrige und verfälschte Darstellung derselben, indem sie über den Krämpfen und Zuckungen dieser Geburtswehen die schöpferische Lebenskraft, die in ihnen zu Tage trat, hervorzuheben versäumen.“ Die „Odyssee“ der Jugendzeit Gottschalls reicht bis zum Tag seiner Verheiratung mit Freiin Marie v. Seherr-Thoß, der Tochter eines schlesischen Gutsherrn, deren Herz er zuerst durch eine Vorlesung seines „Ferdinand von Schill“ gewonnen hatte. Dies Drama war unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der patriotischen Hoffnungen im Jahre 1849 entstanden, das so viele Märtyrer schuf, deren Schicksal an das Schills gemahnte. Auch für diese Märtyrer der Reichsidee, die, um die Reichsverfassung zu retten, vor fünfzig Jahren zur Waffe griffen, hat noch heute der gealterte Dichter warme Worte der Sympathie. „Die meisten jener Kämpfer waren keine Landsknechte der Freiheit, keine Rebellen um der Rebellion willen – gerade unter denen, die im Kampfe gefangen genommen oder zum Tode verurteilt wurden, waren viele edle und sympathische Jünglinge und Männer, von idealer Begeisterung entflammt. Mich erfüllte das mit Wehmut; ich selbst hatte diese Begeisterung geteilt und mich bisweilen von ihr zu stürmischen Ergüssen phantasievoller Lyrik hinreißen lassen; aber ich hatte daneben eine scharfe kritische Ader, ich sah das Unmögliche mit einer visionären Deutlichkeit – und so war meine Stimmung eine geteilte und traurige.“ Gottschalls „Ferdinand von Schill“ fand auf den Bühnen viel Erfolg, in Breslau und Berlin wirkte er mit der Kraft politischer Ereignisse; der beglückendste Erfolg für den Dichter aber war der Herzensbund, den das Hochzeitsfest auf Schloß Olbersdorf am 13. April 1852 besiegelte. Die glückliche Stimmung jener Tage spiegelt sich ungemein anmutig in denr „Olbersdorf“ betitelten Odencyklus des Dichters wieder. Auch diese Lebensbeziehung hatte die Freundeshand des Grafen Reichenbach geknüpft.
J. Proelß.     




Kulturbilder aus Deutsch-Südwestafrika.

Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen.

Auf Reitochsen.

Unter den deutschen Schutzgebieten nimmt Deutsch-Südwestafrika eine besondere Stellung ein. Es bildet ein weites Gebiet zwischen dem Kunene- und Oranjefluß, das rund 840000 qkm umfaßt, während der Flächeninhalt des Deutschen Reiches 540000 qkm beträgt. Die weiten Gefilde sind jedoch nur spärlich bevölkert, denn die Natur hat das Land stiefmütterlich ausgestattet. Ein mit Dünen und Felsen besetzter wüster Gürtel umsäumt die Meeresküste und erschwert den Zugang zu dem Inneren, das sich zu einem zerklüfteten Gebirge emporhebt. Auch dort sind die Gegenden zumeist wüst und leer, denn es fehlt überall Wasser; wohl regnet es in den Monaten Oktober bis Mai zuweilen sogar in heftigen Güssen, und unter dem belebenden Einfluß der Feuchtigkeit sprießt auf weiten Flächen frisches Grün empor; dann kommt aber eine lange Trockenzeit, in der die Pflanzenwelt verdorrt und selbst die Flußbetten austrocknen. Ergiebige Gold- und Diamantenfelder wurden in Deutsch-Südwestafrika, wie in anderen Gebieten Südafrikas, bisher nicht entdeckt, und doch hat das Land eine Zukunft. Menschlicher Fleiß und eiserne Ausdauer können auch die Wüste urbar machen und unser südafrikanisches Schutzgebiet hat, bei allen seinen Nachteilen, den großen Vorzug, daß es ein gesundes Klima besitzt, in welchem der Europäer leben und arbeiten kann. Mit der Zeit wird es wohl zu einer entlegenen Provinz des Reiches emporblühen, in welche deutsche Bevölkerung, deutsches Recht und deutsche Verwaltung ihren Einzug gehalten haben.

Die Erschließung des Landes hat bereits begonnen. Durch heldenmütige Kämpfe unsrer Schutztruppen sind die zu Raub und Plünderung geneigten Eingeborenen gezügelt worden, eine Eisenbahn wird von der Küste ins Innere gebaut und der Zuzug deutscher Kolonisten ist im Steigen begriffen. Groß kann der Strom der Einwanderer nicht sein; denn wer in Deutsch-Südwestafrika sein Fortkommen finden will, muß nicht nur auf strenge Arbeit gefaßt sein, sondern auch über genügende Mittel verfügen, um, sei es als Viehzüchter, sei es als Ackerbauer, wirken zu können.

Gegenwärtig dürfte die Viehzucht die meisten Aussichten auf Erfolg haben. Herden von Rindern, Schafen und Ziegen haben seit jeher den Reichtum der Eingeborenen gebildet, und es unterliegt keinem Zweifel, daß auch Europäer in dem anscheinend so wüsten Lande die Viehzucht im großen mit Erfolg betreiben können.

Das Rindvieh, das als Schlachttier wertvolle Fettschwanzschaf sowie die Ziege gedeihen dort vorzüglich und vermehren sich außerordentlich rasch. Die mit der Zucht von Wollschafen und Angoraziegen angestellten Versuche sind zufriedenstellend ausgefallen. Die Pferdezucht, die auch mit Erfolg betrieben werden kann, ist allerdings, solange kein Mittel gegen die dort periodisch auftretende Pferdeseuche entdeckt wird, mit besonderem Risiko verbunden.

Die schon von alters her in Deutsch-Südwestafrika heimische Rindviehrasse, deren beide Hauptschläge, das Damara- und Namarind, sich übrigens in ihrem Nutzungswert nicht wesentlich unterscheiden, besitzt trotz einiger guter Eigenschaften doch auch wieder Mängel, die sie zur Fortzüchtung für deutsche Kolonisten nicht geeignet erscheinen lassen. Aber man kann sie mit Vorteil als Unterlage für die Kreuzung mit anderen Rassen [429] verwenden, die unseren Zwecken besser entsprechen, um so ein Kreuzungsprodukt zu gewinnen, das mit den guten Eigenschaften des eingeführten Blutes die Zähigkeit und Widerstandskraft der einheimischen Rasse verbindet.

Außerdem kann man für einen bestimmten Zweck das Damara- oder Namarind ohne Beimischung fremden Blutes weiterzüchten, nämlich zur Gewinnung von Arbeitstieren. Es sind besonders zwei wertvolle Eigenschaften, durch welche sich die einheimische Rasse auszeichnet: die Tiere leiden wenig unter zeitweilig schlechten Wasser- und Futterverhältnissen und sind wie geschaffen, im schweren andauernden Zuge am südafrikanischen Ochsenwagen zu dienen. Hierfür sind sie unübertrefflich, und wohl keine andere Rasse würde bei dem oft tagelangen Mangel an Wasser und Futter und unter den sonstigen Verhältnissen dasselbe leisten. Die Zug–, Reit- und Lastochsen wird man daher stets am besten der einheimischen Rasse entnehmen.

 Junge Strauße
 Weidefeld mit der östlichen Spitze der Anasberge.

Farmwächterhaus, im Vordergrunde eine primitive Gerberei
 nach Boerenweise.

Leider hat der Viehstand des Schutzgebietes durch die Rinderpest in den letzten Jahren fühlbare Verluste erlitten. Indes hat die rechtzeitige Anwendung der Kochschen Impfmethode zur Folge gehabt, daß trotz des bedeutenden Verlustes in den Bezirken Windhoek und Otymbingwe sowie im Nordbezirk doch noch eine ansehnliche Anzahl Rinder erhalten geblieben ist.

In Deutsch-Südwestafrika handelt es sich vor allem darum, die ungeheuren Grasflächen zu verwerten und möglichst hoch auszunutzen, und das geschieht am besten durch ausgedehnte Viehhaltung bei ununterbrochenem Weidebetrieb. Während und bald nach der Regenzeit ist überall frisches Gras in reichlicher Menge vorhanden, das dann aber im Laufe des Jahres mehr und mehr eintrocknet, so daß es schließlich auf dem Halme zu Heu wird. Dieses Heu auf dem Halme ist aber ein nahrhaftes und gedeihliches Futter, das vollständig zur Ernährung des Viehes ausreicht, wenn es in genügendem Maße vorhanden ist.

In besonders trockenen Jahren sowie bei zu starker Besetzung eines gegebenen Weidegebiets mit Vieh kann es aber vorkommen, daß dieses Futter knapp wird, so daß alsdann das Vieh Not leidet und zurückgeht. Dem muß natürlich möglichst vorgebeugt werden, sei es durch Beschaffung von Futter auf andere Art, sei es durch rechtzeitige Minderung des Viehstandes. Bei dem Weidebetrieb, wie er bis jetzt bei den Eingeborenen sowobl wie bei den Weißen in Deutsch-Südwestafrika üblich ist, findet eine sehr ungleichmäßige und im Durchschnitt nur geringe Ausnutzung des zur Verfüguug stehenden Weidegebiets statt. Das Vieh bleibt im großen und ganzen sich selbst überlassen, und daher werden die in der Nähe der Wasserstellen liegenden Grasflächen meist übermäßig stark abgeweidet, während die entfernteren Strecken wenig benutzt werden. Zwar geht das Vieh allmählich von selbst weiter, aber es hält sich doch naturgemäß hauptsächlich in der Nachbarschaft der Wasserstellen auf. Ein solches Weidefeld zeigt das obenstehende Bild.

Acker- und Gartenbau können in Südwestafrika nur an den Stellen mit Erfolg betrieben werden, die entweder nahe an der Oberfläche liegendes Untergrundwasser haben oder sich künstlich berieseln lassen. Wo der Boden die nötige Feuchtigkeit hat, können Getreide, Mais, Tabak und die meisten europäischen Gartenbauprodukte gezogen werden. Deshalb ist die Wasserversorgung in diesem Schutzgebiet eine Lebensbedingung für die kulturelle Entwicklung und für die Besiedelung der Erdoberfläche.

Für die Wassergewinnung kommen die Bohrung von Wasser und die Ausschachtung von Brunnen, aus denen die Flüssigkeit durch Saug- und Druckpumpen gehoben wird, in Betracht. Solche Brunnen sind in großer Zahl angelegt worden, weil durch dieselben zugleich dem Frachtverkehr große Erleichterung geboten wird.

[430]

Pflügen des Berieselungsgrundes unterhalb des Staudammes auf Voigtland.

Eine weitere Art der Wasserbeschaffung, von deren Durchführung es abhängt, ob im Schutzgebiete in wirklich nennenswertem Umfange Ackerbau getrieben werden kann, besteht in der Anlage von Staudämmen. Auf sie lenkt sich mit Recht in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit der intelligenteren und vorwärtsstrebenden Farmer. – Unsere obenstehende Abbildung zeigt einen neuerdings aufgeführten Dammbau, der sich ganz besonders bewährt und einen Wasserbehälter für ein größeres Areal darstellt. Es ist dies das Stauwerk auf der von der Regierung gekauften Farm Voigtland der Firma Wecker & Voigts. Der Damm ist 100 m lang, 4 m hoch, oben 1 m, unten 12 m stark. Die dadurch erzeugte Wasserfläche hat eine Länge von 200 m und 100 m Breite. Die Anlage ist als die erste und zur Zeit einzige in der Nähe von Windhoek sehr lehrreich und sehenswert.

Endlich sei noch eines Wirtschaftszweiges gedacht, für dessen Gedeihen in Südwestafrika sehr günstige Bedingungen vorhanden sind. Einer der gründlichsten Kenner des Schutzgebietes, Dr. Hindorf, führt aus, daß bei den noch wenig entwickelten Verkehrsverhältnissen in Deutsch-Südwestafrika gerade die Straußenzucht ein Mittel bietet, die abgelegeneren Teile des Landes auszunutzen, da die Beförderung der Federn nach der Küste hin, auch tief aus dem Innern, keine Schwierigkeiten macht. Es darf bei der Auswahl des Geländes für die Straußenzucht nicht übersehen werden, daß der Strauß, wenn er auch nicht wählerisch in Bezug auf seine Nahrung ist, doch ein recht starkes Nahrungsbedürfnis hat. Darum ist eine reichliche Ernährung des Straußes eine der ersten Bedingungen für die Rentabilität seiner Zucht. Eine Straußenfarm muß daher nicht nur über einen ausgedehnten Weidegang verfügen, sondern auch in der Lage sein, ihre Vögel mit künstlicher Fütterung zu versorgen. Am besten eignen sich für die Zucht des Straußes weite Grasebenen mit hartem, trockenem Boden und mäßig reichlicher Vegetation, wo ihm verhältnismäßig große Flächen zur Verfügung gestellt werden müssen, damit er seinem Nahrungs- und Bewegungsbedürfnis leicht genügen kann. Als sehr praktisch hat es sich erwiesen, die Straußenzucht mit der Rind viehzucht zu vereinen. Man läßt Rindvieh und Strauße gemeinsam auf die Weide gehen; das Rindvieh hält das Gras niedrig und überhaupt die Vegetation etwas in Schranken, und die Strauße finden dann auf solcher kurz gehaltenen Weide ein ihnen sehr zusagendes Futter. In Zeiten der Futterknappheit muß dann aber eine Fütterung der Strauße stattfinden, am besten mit junger Luzerne, die sich als eines der besten Futtermittel für Strauße bewährt hat. Auch Körnermais sowie Kürbisse, die man in Stücke schneidet, sind ein gutes Futter. Für die jungen Strauße ist eine Fütterung mit ihnen zusagender Nahrung, am besten mit junger Luzerne (neben Straußeneiern), ein unbedingtes Erfordernis, und es muß daher das Gelände für die Straußenzucht auf jeden Fall so gewählt werden, daß der Anbau von Futtergewächsen in genügendem Umfang und im Notfall die künstliche Bewässerung der Felder möglich sind.

Windhoek.

Wo es sich um eine schnelle Vermehrung der Strauße handelt, bedient man sich eines Brutapparates mit großem Vorteil. Im allgemeinen aber ist es vorzuziehen, die Strauße ihre Eier selbst ausbrüten und ihre Jungen selbst großziehen zu lassen. Auf diese Weise legt ein Straußenweibchen zwar weniger Eier und es werden weniger Junge erzielt, als wenn man die Eier stets aus dem Nest nimmt und sie in den Brutapparat legt, aber das hat bei dem hohen Alter, das die Strauße erreichen, und bei ihrer starken Vermehrung nichts zu sagen.

Der Strauß scheint sich am besten zu entwickeln, wenn er möglichst frei und unter natürlichen Verhältnissen aufwächst und lebt. Zwar muß er von frühester Jugend an im Umgang mit Menschen bleiben, damit er zahm wird und bleibt, auch ist er für gewisse Verbesserungen seiner Lebensbedingungen, so für die künstliche Fütterung und für ein Schutzdach während des Brütegeschäfts, sehr empfänglich, aber wenn man ihn zu tiefer eingreifenden Aenderungen seiner Lebensweise zwingt, macht sich dies bald nachteilig bemerkbar. Daher haben auch die Versuche, den Strauß auf verhältnismäßig beschränktem Raum, z. B. auf großen Höfen, zu halten und ihn dort nur künstlich zu füttern, kein gutes Ergebnis gehabt.

Man erreichte das Gegenteil dessen, was man erstrebte: die [431] in engerem Raum gehaltenen Tiere entwickelten sich lange nicht so schön wie im Zustande der Freiheit, und im Durchschnitt waren ihre Federn minder wertvoll als die von wilden oder auch nur in größerer Freiheit lebenden Straußen. So stammen denn merkwürdigerweise die besten Federn stets von wilden Straußen her.

Zum Schluß sei noch mit einigen Worten der „Hauptstadt“ der Kolonie, Windhoek, gedacht, deren Ansicht wir im Bilde (S. 430) wiedergeben. Die in einer leicht welligen Gegend gelegene, den Anasbergen benachbarte Stadt zerfällt in zwei Teile: in den eigentlichen Regierungsbesitz Groß-Windhoek und in die Ansiedelung Klein-Windhoek. Groß-Windhoek ist ein Fort, das ungefähr 100 Mann Besatzung aufnimmt und die umliegenden Gelände mit seinen Geschützen vollständig beherrscht. Im Norden ist die Festung umgeben von Verwaltungsgebäuden, Stallungen, Werkstätten etc.

Klein-Windhoek breitet sich in einem weit geöffneten fruchtbaren Thal aus und macht mit seinen kleinen, von wohlgepflegten Gärten umgebenen Häusern den Eindruck eines wohlhabenden Gebirgsdorfes. Groß-Windhoek hat etwa 350 Einwohner europäischer Abstammung. Die den größeren Teil der eingeborenen Einwohnerschaft bildenden Bergdamara, Hottentotten und Bastards wohnen in Hütten von ganz eigenartiger primitiver Bauart. Windhoek hat eine Besatzung von zwei Kompagnien und besitzt zwei Gasthäuser; ein etwas verfallener Turm im Westen der Stadt bietet einen weiten Ausblick in das vorliegende Thal.




Die Pariser Gesellschaft vor hundert Jahren.

Von R. Artaria.

Die Schreckenszeit war vorüber, die allgemeine Erstarrung gegenüber den blutigen Greueln gelöst. Mit Gelächter und Mutwillen hatte eine Schar junger Leute, steckenbewaffnet, den Rest des einst so gefürchteten und furchtbaren Jakobinerklubs auseinandergetrieben, und im Konvent saßen statt der früheren Schreckensmänner einsichtige Leute, die gewillt waren, den Wiederaufbau der Staats- und Gesellschaftsordnung zu unternehmen.

Eine Riesenaufgabe! Denn einem furchtbaren Brande gleich hatte die Schreckenszeit beides vernichtet, und auf der ungeheuern Trümmerstätte galt es nun, die ursprünglichen Fundamente wieder aufzugraben und unendlichen Schutt zu beseitigen, ehe an einen Neubau auch nur zu denken war. Im vergeblichen Streben danach vergingen die paar Jahre des Direktoriums, während welcher sich die bisher zurückgedrängte Pariser Lebenslust in vollem Strome neu ergoß und auf dem kaum geschlossenen blutigen Schlunde ausgelassene Feste feierte. Es war ja so lange her, daß man dergleichen nicht erlebte, denn die traurigen „Verbrüderungsmahle“ der Schreckenszeit, mit der steten Angst vor Denunziation und Verhaftung, konnten niemand als ihre rohen Anstifter erfreuen: auf der Gasse unter freiem Himmel wurden lange Tische aufgestellt, hier mußten die Familien ihr Abendessen in Gesellschaft eines jeden einnehmen, dem es gerade gefiel, hier seinen Wein zu trinken und die Ohren der Frauen durch schmutzige Reden zu beleidigen. Monsieur oder Madame zu sagen, war ein Verbrechen und konnte sofort die furchtbare Denunziation aristokratischer Gesinnung nach sich ziehen. Niemand „empfahl sich“ mehr oder „hatte die Ehre“. Im allgemeinen Du waren Bürger und Bürgerinnen gleich. Trotzdem gab es am Anfang der Revolution, als Titel oder Adel abgeschafft wurden, hartnäckige alte Marquisen, welche die Röcke ihrer Bedienten nicht wenden ließen, damit man die Spur der abgetrennten Tressen sehe. Und Mirabeau selbst, der feurige Freiheitskämpfer, als er von jener Sitzung, welche die Abschaffung des Adels beschloß, nach Hause kam, faßte seinen Bedienten am Ohr und rief lachend: „Für dich, Kerl, werde ich hoffentlich immer der Herr Graf bleiben!“

Wie so vieles im öffentlichen Leben hatten die Theater, einstmals der Tummelplatz der eleganten Welt, ihre Physiognomie gewaltig verändert, und ebenso ihr Publikum; sie gewannen während der Revolutionszeit eine bis dahin ungeahnte politische Bedeutung. Den ersten Anfang dazu lieferte die von Ludwig XVI nur widerstrebend zugegebene Aufführung der „Hochzeit des Figaro“ von Beaumarchais. Ein rasender Beifallssturm begrüßte das Stück, dessen frivole Handlung zum erstenmal direkt die Laster der Privilegierten angriff. „Figaros Hochzeit“ half die Revolution vorbereiten.

Als sie ausgebrochen war, tauchten überall neue Theater auf. Mit Vorliebe wurden dafür Kirchen verwandt, und auf der Bühne sowohl als im Parterre spielten sich die wütendsten Demonstrationen ab. „Schießt sie tot!“ brüllten diejenigen, die mit dem Applaus der Gegenpartei nicht einverstanden waren, und sofort begannen die Thätlichkeiten, welche von den Schauspielern noch angefeuert wurden. Diese selbst waren über scenische Vorurteile erhaben und überboten sich in Nichtachtung der hergebrachten Anstandsregeln. Fehlte eine Thüre, so kam Brutus oder Cassius zum Fenster herein, und bei dem tragischen Tode des Sokrates lagen lange Pfeifen auf dem Tisch seines Kerkers. Die Dialoge wurden so, daß ehrbare Frauen das Theater nicht mehr besuchten, die Stücke aber, soweit man noch Klassiker aufführte, wurden gänzlich nach dem revolutionären Bedürfnis zugeschnitten und aus Corneilles und Racines höfischen Dramen alles ausgemerzt, was an das Königtum erinnerte: die Könige wurden in „Helden“ umgewandelt und mußten sich bequemen, die Nationalkokarde zu tragen, die überhaupt unentbehrliches Kostümstück war. Theseus und Britannicus hatten sie ebensogut an ihren Kopfbedeckungen als Tartüffe und Molières elegante Marquis. Auch die Dämonen und Zephyre konnten nicht ohne diesen Schmuck erscheinen, während Nymphen und weibliche Gottheiten ihre weißen Gewänder mit blau und roten Bändern zu verzieren hatten. Der Patriotismus vertrat die Stelle der Kunst, von der jene sämtlichen Herren und Damen keine Ahnung hatten. Die alte Schauspieltradition war mit einem Schlag beseitigt, denn die comédiens du roi[1] hatte man als feile „Fürstenknechte“ samt und sonders ins Gefängnis geworfen, aus dem sie nur zum kleineren Teil wieder befreit wurden.

Der Terrorismus gegen das Adjektiv „königlich“ stieg überhaupt nach der Hinrichtung des unglücklichen Ludwig auf einen unglaublichen Grad. Es gab keinen „gâteau royal[2]“ mehr, keine „montre royale[3]“, ja der Purismus erstreckte sich sogar bis auf den König im Kartenspiel. Er durfte nur noch: „pouvoir exécutif[4]“ genannt werden, und man kündigte demnach sein Spiel an: „Six As de coeur et pouvoir exécutif de trèfle“. Ein idealerer Kartenfabrikant verfiel darauf, seine Könige in Genien zu verwandeln: und zwar den Herzkönig in den Kriegsgenius, während die von Treff, Pique und Carreau die Genien des Friedens, der Kunst und des Handels bedeuteten. Auch die Weisen des Altertums Sokrates, Plato, Aristoteles und Solon mußten sich’s gefallen lassen, an Stelle der Buben ins Kartenspiel zu treten, selbst die modernen großen Gelehrten, Voltaire, Buffon u. a., wurden den Bürgern in gleicher Weise vorgeführt. Weisheit und Tugend waren ja die Schlagworte der Machthaber, welche tagtäglich die unsinnigsten Greuel begingen und Ströme von Blut vergossen.

Für ihre Zwecke bedurften sie natürlich der Presse und handhabten sie mit einer Zügellosigkeit, von der man sich heute keinen Begriff mehr macht. Ueberall tauchten Blätter und Blättchen auf, welche den Krieg der verschiedenen Parteien innerhalb des Konvents führten, aber einig waren in schamloser Verleumdung des Gegners und fürchterlicher Gemeinheit. Solange das unglückliche Königspaar lebte, wurden ihm täglich die Jakobinerblätter recht auffällig vor Augen gelegt, worin Ludwig ein Dieb und Mörder, Marie Antoinette eine verworfene Person, schlimmer als Messalina, genannt wurde. Sie bewahrten diesem ekelhaften Schmutz gegenüber so stolz und ruhig ihre Würde, als es andrerseits viele der gefangenen Aristokraten thaten, welche in


[432] der sicheren Aussicht auf den Richtkarren und das Blutgerüst ihre letzten Tage vereinigt im Gefängnis zubrachten. Es ist bekannt, mit welcher erstaunlichen Heiterkeit diese Männer und Frauen ihre gewohnte Geselligkeitsform beibehielten; die ersteren lasen vor, während die letzteren feine Arbeiten machten, und wenn dazwischen plötzlich die Schlösser rasselten und der schreckliche Namensaufruf begann, so verabschiedeten sich die Todgeweihten mit derselben guten Form, als sollten sie sich zu Hofe begeben. Ein Marquis fuhr bei solcher Gelegenheit einen jungen Friseur an, der sich erlaubt hatte, am Vorabend der Hinrichtung einem adeligen Fräulein eine Kußhand zuzuwerfen: „Sie müssen sehr schlecht erzogen sein, um sich derart zu benehmen“. Mit diesen Menschen ging die alte Geselligkeit unter.

Auch als ihre glücklicheren Standesgenossen unter dem Konsulat und Kaiserreich aus dem Exil heimkehrten, vermochten sie nicht mehr, die alte exklusive, für die Privilegierten so unendlich süße Lebensweise wiederherzustellen. Sie mußten sich abfinden mit der großen plebejischen Flutwelle, die in ihr Gehege eingebrochen war und nicht mehr weggeschafft werden konnte.

Wie hatte sich Paris in wenig Jahren geändert! Ueber die Prachtfronten der Paläste waren rohe Bretter genagelt mit der Inschrift: „Oeffentliches Eigentum“. Wer den Machthabern befreundet war, erwarb sie um geringes Geld und verwandelte sie in öffentliche Tanzlokale, Pferdehandlungen, Fabrikwerkstätten etc. Niemand konnte Einsprache thun: die Eigentümer waren tot oder geflüchtet. Kein Salon öffnete mehr abends seine Thürflügel, keine „gute Gesellschaft“ existierte mehr, ihn zu füllen. Das heitere Lachen, das geistvolle Witzwort war verstummt, grobe Ausdrücke und Flüche bezeichneten die Konversation derjenigen Klassen, welche nun an Stelle der Verschwundenen saßen, der bereicherten Spekulanten und ihrer aus der Hefe des Volkes emporgestiegenen Frauen. Sie luden wohl ihre Freunde zu reichlichen Gastmählern ein, wo der Wein in Strömen floß, aber den Namen der Geselligkeit verdienten diese Essereien nicht: die dabei anwesenden Frauen ahnten nichts von der Konversationskunst der ehemaligen großen Damen. Sie saßen bei Tische, diese dicken Bürgerinnen mit den roten Backen und unfeinen Manieren und vertilgten unmäßige Portionen, behaupteten aber dann freilich hinterher, gar nichts essen zu können und sich sehr angegriffen zu fühlen. Im geheimen wandten sie alles mögliche an, um die unaristokratische Wangenröte loszuwerden, es gelang ihnen das aber ebensowenig, als sich gute äußere Formen anzueignen. Freilich wurden diese auch von niemand vermißt, die Männer behielten selbst die Hüte auf, wenn sie mit Frauen sprachen, und dachten nicht daran, ihnen die Aufmerksamkeiten der guten Sitte zu erweisen. Wer nicht mit ihnen im Liebesverhältnis stand, erlebte keine Beachtung.

Es versteht sich von selbst, daß bei einem solchen Zusammenbruch aller Begriffe von Ehrbarkeit und Anstand, bei einem so allerseitigen Sichgehenlassen bald eine ganz furchtbare Sittenlosigkeit herrschte. Leichtfertig geknüpfte und schnell gelöste Liebesverhältnisse waren allgemein, die meisten Machthaber der Schreckenszeit feierten Orgien in den Palästen der alten Aristokratie, und auch nach der Einsetzung des Direktoriums ging der allgemeine Sinnentaumel ungehemmt weiter. Barras, der fähigste und mächtigste unter den Direktoren, war ein vollständiger Wüstling, er organisierte eine Art von Hof und gab üppige Feste, aber welche Leichtfertigkeit herrschte in dieser Gesellschaft!

Als Königin glänzte darin die wunderschöne, höchst anmutige Madame Tallien, die erste Tonangebende, welche sich aus dem chaotischen Gewirre der Schreckenszeit hervorhebt. Auch sie, Barras’ augenblickliche Geliebte, hatte eine sehr unwürdige Vergangenheit, aber sie trug den schönen Namen: notre dame du thermidor, weil sie während und nach der Schreckenszeit unermüdlich war, die Begnadigung der Unschuldigen bei ihrem Gatten, dem mächtigen Tallien, durchzusetzen. Jetzt war sie die lebenslustige Veranstalterin von Festen und Bällen, zu welchen sich nach und nach alles einfand, was den Anspruch machen konnte, eine neue Gesellschaft bilden zu helfen.

Sie bot freilich einen ganz anderen Anblick als die vorausgegangene in Puder und Reifrock, die voll Haltung und Würde ihr förmliches Menuett tanzte. Den Walzer hatten die Revolutionsheere aus Deutschland mitgebracht; er feierte nun seine Triumphe, und die Bürger mit phantastischen Federhüten, hohen Halsbinden und flatternden Frackschößen schwangen die Bürgerinnen im leichten „griechischen“ Gewand, das oft genug nur aus einem einzigen Kleidungsstück bestand. Wenn Madame Tallien in einem goldgegürteten Gewand erschien, dessen leichtes Gewebe ihre Körperformen kaum verhüllte, so beeilten sich die sämtlichen Eleganten, es ihr nachzuthun, unbekümmert darum, daß das Pariser Klima für eine solche Tracht nicht geeignet ist. „Sie starben wie Fliegen,“ sagt ein zeitgenössischer Schriftsteller, „aber das hielt die anderen nicht ab.“

Madame Tallien und ihre Freundin, die Witwe Josephine Beauharnais, waren die Verfechterinnen des für ihre schlanken Gestalten so vorteilhaften „antiken“ Gewandes gegen die stark anglisierende Strömung, die von jenseit des Kanals herüber kam, im Gefolge der Richardsonschen Tugendromane, welche die untugendhaften Französinnen mit Begeisterung verschlangen. Immer wieder tauchten Mäntel, Hüte und Unterröcke à l’Anglaise auf und übten mit Kragen, Pelzbesatz und Volants ihren Einfluß auf die sogenannte antike Tracht. Und nicht alle Republikanerinnen waren so gesinnungstüchtig wie jene Bürgerin, die sich, um einen ganz echten griechischen Kleiderschnitt zu erhalten, an die société des beaux arts[5] wandte, welche an Stelle der aufgehobenen Akademie der Künste getreten war. Man willfahrte gerne ihrem Verlangen, indem sich sofort zwei Mitglieder der Kommission ernsthaft und gravitätisch zum Direktor des republikanischen Nationaltheaters begaben, „um der Bürgerin die Anweisung zu verschaffen, ihren Stoff auf eine schickliche Weise zu schneiden“.

Andere Bürgerinnen folgten mehr ihrer eigenen Eingebung in Auslegung der Mode, die nicht mehr von Versailles diktiert wurde, sie überboten womöglich noch die vergangene Zeit an unglaublichen Hüten, Hauben und Frisuren, wenn diese auch keines Puders mehr bedurften. Die rings um den Kopf wallenden Locken hatten aber denselben Uebelstand, wie dereinst bei ihrem Aufkommen unter Ludwig XIV: sie waren in natürlicher Fülle nur auf wenigen Köpfen zu finden. Also griff man zu demselben Auskunftsmittel wie damals, und eine elegante Frau hatte nicht eine, sondern ein Dutzend Perücken. Madame Tallien besaß 30 Stück, und zwar von verschiedenen Farben; diese wechselten vom Weiß- und Gelbblond bis zu Goldton, Rot und Haselnußfarbe. Das Stück wurde mit 20 Louisdoren bezahlt. Das war die republikanische Einfachheit, die Frucht der Schreckensjahre! Sie läßt sich niemals (dies lehrt die Geschichte) mit Gewalt irgendwo einführen, wo der Luxus herrschte, und alles Streben danach läuft auf widerliche Heuchelei hinaus. Mehr als irgendwo sonst hatte dieser Terrorismus der Armseligkeit in Frankreich die Gemüter verbittert; die ganze Jugend, die in den gezwungenen spartanischen Entbehrungen aufgewachsen war, dürstete förmlich nach Freude und Lebensgenuß, sie verwünschte die Jakobiner und ihre geheuchelte demokratische Tugend, sie wollte nun selbst die Vergnügungen kennenlernen, von welchen man bisher nur verstohlen erzählen durfte.

So knüpfte sich ganz von selbst die so blutig zerrissene Kette einer feineren Civilisation wieder an, man besann sich auf die Gewohnheiten früherer Zeit. Der Sonntag und die siebentägige Woche traten wieder in ihr Recht und es wurde der Geistlichkeit stillschweigend gestattet, eine Anzahl Kirchen neu zu weihen und Gottesdienst darin zu halten. Auch die Neujahrsgratulation, die förmlich verboten war, trat wieder in ihre Rechte, man fand es plötzlich nicht mehr unwürdig und servil, seinen Freunden Glückwünsche und Geschenke darzubringen, und seit 4 Jahren zum erstenmal sahen die Kinder von Paris am 1. Januar 1797 Spielsachen und Konfitüren. Die Schreckensmänner würden erstaunt gewesen sein, zu sehen, daß alles, was sie ausgerottet glaubten, unter der Hülle ruhig weiter gelebt hatte und jetzt plötzlich wieder zu Tage trat.

Freilich zeigte sich auch bei dieser Neugestaltung der Gesellschaft das alte Gesetz, demzufolge eine einfache Wiederherstellung vergangener Zustände unmöglich ist. Das Jahr 1789 hatte zu gründliche Aenderungen der Gesinnung bewirkt und der siegreiche „dritte Stand“ war eine Macht geworden, politisch wie gesellschaftlich,

[433]

Heuernte zu Mönchgut auf der Insel Rügen.
Nach dem Gemälde von W. Zimmer.

[434] er nahm für sich die Rechte in Anspruch, welche früher nur der Aristokratie zustanden. Es war also nur ein teilweises Wiederanknüpfen an die alte Tradition, was sich unter dem Direktorium vollzog, und viele völlig neue Erscheinungen veränderten die Erscheinung der Gesellschaft von Grund aus.

Dahin gehören vor allem die Zusammenkünfte in öffentlichen Lokalen, welche früher für die gute Gesellschaft unmöglich gewesen wären. Sie entstanden jetzt von selbst, weil die Privatgeselligkeit der Vornehmen aufgehört hatte und weil eine unendlich größere Menge, als jemals bei jenen Zutritt erhielt, jetzt nach Vergnügen dürstete. Eine wahre Tanzwut hatte Paris ergriffen; in den gemeinen Wirtslokalen schwang sich das niedere Volk bei Fiedel und Klarinette, während die „neue Gesellschaft“ in rasch hergerichteten eleganten Sälen unter vergoldeten Decken und blitzenden Krystalllüstern sich einer ungezügelten Freude hingab. Schöne Frauen im leichtesten „griechischen“ Kostüm flogen im Walzer umher. Liebesintriguen aller Art waren im Gang: Genuß und wieder Genuß war die Losung dieser sämtlichen Emporgekommenen, von welchen ein guter Teil seinen Reichtum der Not des armen Volkes verdankte, die gerade in jenen Zeiten eine furchtbare Höhe erreichte.

Bekanntlich hat die Revolution auch mit einem finanziellen Bankerott geschlossen. Ihre Verheißung: „Glück und Wohlstand für alle!“ suchte sie durch Ausgabe massenhaften Papiergeldes zu verwirklichen, welches, da keine Metallschätze zur Deckung bereit lagen, unaufhaltsam im Werte sank. Das Direktorium, statt zu reorganisieren, verließ den Unheilsweg nicht, gab weitere Millionen ungedeckter Assignaten aus, und so erreichte die Not eben in den Jahren des milderen politischen Regimentes ihre furchtbarste Höhe. Mit Stücken von vielen hundert Livres[6] in Assignaten wurde ein einfacher Tagelohn bezahlt, es konnte jedem begegnen, um 200 Livres angebettelt zu werden von einem, der nicht genug hatte, um seine Schuhe flicken zu lassen. 10 Pfund Unschlittkerzen kosteten 500 Livres, 1 Truthahn 300, 1 Pfund Kaffee 210, ein Batistkleid 2500, 6 Paar seidene Strümpfe 3600, eine Klafter Holz 7000, ein geschlachtetes Schwein ebensoviel. Bei solchen Zuständen konnte es nicht fehlen, daß die gewissenloseste Agiotage überall wucherte und mit der Differenz zwischen Gold und Papier Riesengeschäfte machte, ebenso, daß eine Menge von früher wohlhabenden Familien völlig verarmte. Das Direktorium war in einer verzweifelten Lage und mußte zu verzweifelten Mitteln greifen, wie die Streichung von zwei Dritteln der Staatsschuld und die massenhafte Einziehung des wertlosen Papiergeldes.

Da kam ihm unerwartet Heil von seiten des Mannes, welcher binnen weniger Jahre die unfähigen Direktoren absetzen und die von ihnen ungelöste Aufgabe, Ordnung in das große Chaos zu bringen, glänzend bewältigen sollte. Der General der Republik Bonaparte hatte in Italien Ruhm, Provinzen, Gold und Kunstschätze erobert und überschickte bare Millionen in Gold dem ausgetrockneten Staatsschatz. Was Wunder, wenn von damals an sein Name auf allen Lippen war und die Vorstellung von seinem märchenhaften Alpenübergang, von seinen Siegen die Phantasie aller Franzosen erfüllte!

Die früher allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Kommando in Italien eine durch Barras erteilte Belohnung dafür war, daß Bonaparte dessen frühere Geliebte, die Witwe Beauharnais, heiratete, ist durch neuere Forschung mindestens zweifelhaft geworden. Bonaparte war im Jahre 1795 den Machthabern und der Oeffentlichkeit als ein ungewöhnlich begabter, entschlossener Offizier bekannt, der vor Toulon sich zuerst glänzend hervorgethan hatte, dann im Oktober des Jahres, als ein Royalistenaufstand den Konvent und die neue Verfassung bedrohte, seine Batterien auffuhr und den beginnenden Straßenkampf rücksichtslos niederkartätschte. Zwischen beiden Siegen lagen freilich ein paar Monate großer Armut und Dunkelheit, wo er als Anhänger von Robespierre kompromittiert beiseite gesetzt war und als Brigadegeneral ohne Sold in Paris der Gelegenheit wartete, eine seinen Wünschen entsprechende Stellung zu finden. An Bemühungen ließ er es nicht fehlen, er suchte die Bekanntschaft der Mächtigen und Einflußreichen, er erschien auch auf den Festen des Direktors Barras im Luxembourg-Palais und stellte sich der schönen Madame Tallien vor, die ihn mit gewohnter Anmut empfing und auf seine Bitte lächelnd ihren Einfluß anzuwenden versprach, um ihm, dem fast Mittellosen – ein paar Ellen Tuch zu einer neuen Uniform zu verschaffen, auf welche er, außer Dienst, keinen Anspruch hatte. Durch ihre Liebenswürdigkeit kühn gemacht, mischte sich der kleine, magere Offizier, unbekümmert um seine schäbige Uniform, in den glänzenden Gesellschaftskreis und berauschte sich am Anblick der schönen Frauen und der lebhaften Heiterkeit ihrer Unterhaltung, ja, er zog sogar plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, indem er, der sonst so Schweigsame, in übermütiger Lustigkeit die Hand Madame Talliens ergriff und behauptete, ein unfehlbarer Wahrsager zu sein. Er brachte nichts als Tollheiten vor, aber die Gesellschaft horchte hoch auf, denn diese starken Revolutionsgeister waren ganz außerordentlich abergläubisch. Nekromanten und Kartenschläger florierten wie zur Schreckenszeit, wo mehr als einer von denen, welche morgens ein paar Dutzend Unglückliche zur Guillotine geschickt hatten, am Abend vor den Prophezeiungen eines alten Weibes zitterte. Es wird auch von merkwürdig eingetroffenen Vorhersagungen berichtet, wie die der alten Ungarin auf Martinique, welche der nachmaligen Kaiserin Josephine ihr ganzes erstaunliches Schicksal aus der Hand verkündet haben soll.

Jedenfalls hatte diese selbst aber keine Ahnung, daß an jenem Gesellschaftsabend, wo sie mit den anderen über die spaßhafte Wahrsagerei lachte, in diesem unscheinbaren kleinen Offizier der Mann ihres Schicksals vor ihr stand. Einige Wochen darauf war er durch seine Rettung des Konvents mit einem Schlag bekannt geworden, fand sich öfter und öfter im Salon Tallien ein und verstrickte sich sehr bald in eine heftige Leidenschaft zu der hübschen, äußerst graziösen Josephine, deren gewohnte und vielgeübte Schmeicheleien und Koketterien sein unerfahrenes Herz und seine jugendliche Eitelkeit im Sturm gefangen nahmen. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt und bestürmte sie mit den Aeußerungen einer übermächtigen Empfindung, die sie ihrerseits nicht teilte, aber aus guten Gründen stets angelegentlich schürte. Josephine hatte in der Schreckenszeit Mann, Vermögen und Stellung eingebüßt, sie lebte mit ihren beiden Kindern Eugen und Hortense in äußerster Beschränkung, hauptsächlich von den Unterstützungen ihrer Freunde und Freundinnen, aber nicht als trauernde Witwe, sondern als leichtherzige Teilnehmerin der öffentlichen Bälle und aller Feste, welche die wiederauflebende Gesellschaft veranstaltete. Ihr Ruf war dabei nicht der beste, aber wer kümmerte sich darum im Salon von Barras, wo Madame Tallien und so viel andere der gleichen Lebensführung den Ton angaben. Begreiflicherweise sah sich die schöne, vielgefeierte Josephine in der Stille nach einem Versorger für sich und ihre Kinder um, es bedurfte aber doch des Zuredens von Barras und anderen, um sie zur Heirat mit Bonaparte zu bestimmen, vor dessen heftig leidenschaftlichem Naturell und ungeheurer Anmaßung und Herrschbegier die indolente Kreolin eine Art von Furcht empfand. Auch das Mißverhältnis der Jahre – er war 27, sie 35 – erfüllte sie mit Bangigkeit wegen der Zukunft. Aber in dem Maße, als seine Beliebtheit bei den Direktoren sowie seine Aussicht zunahm, den von ihm vortrefflich geplanten Feldzug in Italien zu führen, verringerte sich die geheime Abneigung Josephinens gegen die Heirat, und kurz nach seiner Ernennung zum obersten General der Armee in Italien, am 9. März 1796, fand ihre Trauung statt, ohne kirchlichen Segen, wie es damals noch vielfach üblich war. Die Standesbücher wurden auch nicht sehr genau geführt, das Brautpaar benutzte dies, um sich im Alter etwas anzunähern. Napoleon legte sich ein Jahr zu, Josephine strich sechs ab, so daß sie als Ehepaar von 28 und 29 Jahren eingetragen wurden.

Zwei kurze Tage nur waren dem liebeglühenden Bonaparte in dem kleinen Haus seiner Josephine, Rue Chanteraine, vergönnt, dann mußte er sich losreißen, um den Weg zum Ruhm anzutreten, dessen leuchtende Morgenröte über seinen ersten Waffenerfolgen aufging, um sich bald als volle Strahlenglorie um das Haupt des in Mailand einziehenden Siegers über ganz Oberitalien zu ergießen. Aber dieser Ruhm sättigte sein Herz nicht, es verlangte sehnsuchtsvoll nach der geliebten Frau, und er [435] sandte Kurier auf Kurier mit Briefen voll überschwänglicher Zärtlichkeit, um sie zur Reise nach Mailand zu bewegen, zu einer Wiedervereinigung, die er in seiner blinden Verliebtheit für sie ebenso beglückend glaubte als für sich selbst. Aber darin täuschte er sich gründlich. Josephine dachte nicht daran, die weite Reise zu machen, um mit dem für sie gleichgiltigen Mann zusammen zu sein, anstatt sich in seiner Abwesenheit frei und ungeniert in Paris zu amüsieren, Bälle und Feste mitzumachen, von denen das schönste und für sie schmeichelhafteste die Uebergabe der in Italien eroberten Fahnen durch Bonapartes Adjutanten, den Oberst Junot, war. Im großen Saal des Luxembourg nahm mit allem erdenklichen Pomp und Glanz das Direktorium die herrliche Ruhmesbeute entgegen, und alle Augen richteten sich auf Madame Bonaparte, welche im elegantesten goldgestickten griechischen Gewande zwischen der schönen leichtfertigen Madame Tallien und der ebenso schönen, aber völlig tugendreinen Madame Récamier als Hauptperson in den Augen der Menge figurierte. Ein herrlicher Maitag gab den Hintergrund zu dem Feste, von dessen wundervoll idealer Stimmung die Teilnehmer noch als alte Leute erzählten.

Josephine blieb also, trotzdem sie wonnevoll Napoleons Ehren genoß, von seinen glühenden Liebesbriefen gänzlich ungerührt. „Er ist wirklich komisch, dieser Bonaparte,“ sagte sie, wenn sie wieder einen erhalten hatte, zu ihren Vertrauten; sie antwortete nur sehr nachlässig, schützte, um sich zu entschuldigen, Krankheit vor, welche Nachricht ihn völlig in Verzweiflung stürzte. „Ich finde keine Ruhe mehr, keinen Schlaf, keine Hoffnung, bis der Kurier zurück ist und Du mir in einem langen Briefe schreibst, was es mit dieser Krankheit auf sich hat. …. Sage mir, daß Du glaubst, daß ich Dich über alles Erdenkbare liebe, daß ich nur an Dich denke, daß keine andere Frau mir je in die Gedanken kommt; daß Du, Du allein, so wie Du bist, meine ganze Seele erfüllst …“ – so schrieb er ihr und wurde nicht müde, in tausend neuen Wendungen stets dasselbe zu sagen.

Es brauchte einige Monate, bis ihm der erste Zweifel an ihrer Liebe kam und ihn heftig beunruhigte. Er hatte offenbar gehofft, die neue, reine Herzensneigung werde sie über eine Vergangenheit erheben, die ihm unmöglich unbekannt sein konnte, für die er aber sicher Entschuldigungen in ihrer damaligen Verlassenheit fand. Nun kam der Argwohn, und bald sollte ihm auch die Gewißheit nicht fehlen, daß diese kleine, höchst gewöhnliche Seele gar nicht imstande war, eine Leidenschaft wie die seine zu fassen, geschweige sie zu erwidern.

Als seine Bitten nichts halfen, schickte er Befehle, die sie endlich zur Reise bewogen. Sie hatte sich nur unter Thränenströmen von Paris getrennt, lebte sich aber in Italien sehr rasch in die Stellung der gefeiertsten und wie eine Königin repräsentierenden Gemahlin des Siegers von Arcole und Mantua ein. Ihn auf seinen weiteren Zügen gegen Osten zur totalen Vertreibung der Oesterreicher zu begleiten, wie er gehofft hatte, fiel ihr nicht ein, sie hielt in Mailand Hof, amüsierte sich mit Italienern und Franzosen und zeichnete unter letzteren einen unbedeutenden hübschen Lieutenant, Charles, dermaßen aus, daß sich Bonaparte veranlaßt sah, denselben rasch nach Frankreich zurückzuschicken. Als Sieger, auf den die Augen der ganzen Welt blickten, kehrte er im November 1797 nach dem Frieden von Campo Formio von Italien zurück, aber die Illusionen über Josephinens Liebe hatte er dort gelassen. Von da an bewachte und regelte er ihre Lebensweise, soviel dies bei ihrem Charakter und Napoleons zahlreichen Abwesenheiten eben möglich war.

Die Heimkehrenden wurden mit glänzenden Festen empfangen, zu welchen sich eine teilweise neue Gesellschaft einfand. Es gab wieder Salons in Paris, deren Herrinnen nach der alten französischen Tradition durch Geist und Liebenswürdigkeit Einfluß auf die leitenden Männer zu gewinnen suchten.

Allen voran ging hierin Frau v. Staël, die hochbegabte Tochter Neckers, die schon als Mädchen von 15 Jahren im Salon ihrer Mutter mit den Girondisten politisierte und lebenslang eine unmittelbare Teilnahme an Staatsangelegenheiten bewies, wie sie gewiß nur wenig Frauen jemals empfanden. Sie war eine äußerst lebhafte, stets zur Diskussion aufgelegte Persönlichkeit, die nur mit schwerer Ueberwindung das über ihren Vater verhängte Exil in der Schweiz ertragen hatte, denn sie lebte in ihrem bedeutenden Selbstgefühl der festen Ueberzeugung, daß es ihr zustehe, in den Neugestaltungen des Staates eine beratende Stimme zu haben, und dürstete nach der Gelegenheit dazu. Nun wieder in Paris angelangt, versammelte sie aufs neue alle hervorragenden Geister in ihrem Salon und hatte bald großen Einfluß auf die Führer der gesetzgebenden Versammlungen. Auch Joseph Bonaparte, der Bruder Napoleons, gehörte zu ihren Freunden, und sie war mit allen diesen Männern begeistert für Napoleons Großthaten und erkannte mit richtigem Blick in ihm den Führer seiner Zeit. Man verschlang damals die Zeitungen, welche Sieg auf Sieg meldeten, nach den Diners verwandelte sich die Tafel in das Schlachtfeld, wo Aufsätze und Leuchter die verschiedenen Dörfer vorstellten und Birnen, Nüsse und Trauben als Truppenkörper verteilt wurden. Die schönen Frauen lauschten aufmerksam den Erklärungen, welche die anwesenden Offiziere gaben, und begeisterten sich für den neuen Helden. Aus dieser Stimmung heraus schrieb Frau v. Staël enthusiastische Briefe an Napoleon, deren überschwenglicher Ton ihm mißfiel, so daß er keine Antwort gab. Jedenfalls wirkte dabei die Abneigung mit, welche er früher schon gegen sie empfunden hatte. Und allerdings war Frau v. Staël mit ihrer kurzen dicken Figur und den starken Zügen, die indessen von zwei mächtigen dunklen Augen überstrahlt wurden, das Gegenteil von Napoleons Geschmack, der nur schöne graziöse Weiblichkeit liebte und seiner Josephine um dieser willen vieles nachsah, der außerdem an weiblichen Geist nicht glaubte und eine fürchterliche Abneigung gegen alle Blaustrümpfe hatte.

So war ihre Sache von vornherein verloren, als sie sich auf einem großen, durch Talleyrand gegebenen Feste im Herbst 1797 Bonaparte vorstellen ließ und ihn in ihrer lebhaften Beredsamkeit mit Bewunderung seiner Thaten überströmte, ohne damit einen besonderen Eindruck auf ihn zu machen. Das Thema wechselnd, stellte sie ihm dann die bekannte Frage: Wen er für die erste Frau der Gegenwart und Vergangenheit halte. Seine unhöfliche und cynische Antwort „Diejenige, die dem Staat die meisten Kinder geboren hat!“ parierte sie mit der Replik „Nun, man weiß ja, General, daß Sie die Frauen überhaupt nicht lieben!“ – „Pardon, Madame,“ sagte er lachend, „ich liebe die meinige sehr!“ Und dieses ausdrückliche Hervorheben der „unbedeutenden Kreolin“, wie sie Josephine zu nennen pflegte, wird sie ihm wohl nie verziehen haben. Jedenfalls aber ist man nicht berechtigt, ihre spätere feindliche Haltung gegen den Ersten Konsul aus dieser verletzten Fraueneitelkeit herzuleiten. Ihre große patriotische Seele war erfüllt von dem Ideal einer Republik, wie sie die Girondisten geträumt hatten, sie hoffte, es unter dem Direktorium verwirklicht zu sehen, und wandte sich, wie viele männliche Patrioten, enttäuscht und schmerzvoll ab, als in Napoleon die Cäsarennatur sich enthüllte und er lieber Imperator als erster Bürger sein wollte. Daß Frau v. Staël durch ihren Salon eine gegen ihn wirkende Macht war, wußte er sehr wohl und behandelte sie, wie er einen männlichen Feind behandelt haben würde, rücksichtslos und grausam, indem er das für sie Bitterste, das Exil, über sie verhängte.

Nach kurzen Monaten des Winters 1797 unternahm Bonaparte das große Wagnis, England in Aegypten anzugreifen, und kehrte erst im August 1799 als ein Mann zurück, der entschlossen ist, alles gegen alles zu setzen und sich zum Herrn des Schicksals zu machen. Das Glück blieb ihm treu, der Staatsstreich des 18. Brumaire (9. November) gelang, das Direktorium wurde gestürzt, die Versammlungen gesprengt und an der Spitze einer neuen Regierung stand der Erste Konsul Napoleon Bonaparte.

Es fehlte nicht viel, daß Josephine zur selben Zeit ihre Katastrophe erlebt hätte. Während Napoleons Abwesenheit in Aegypten war der Lieutenant Charles wieder aufgetaucht und von ihr in dem neugekauften Malmaison beherbergt worden. Als Napoleon davon hörte, geriet er in eine furchtbare Wut und wollte bei seiner Rückkehr die Scheidung vollziehen. Diese war damals sehr leicht, die Paare liefen so ohne Umstände auseinander, wie sie sich zusammengefunden hatten. Aber Josephinens Thränen und den Bitten ihrer Kinder gelang es, ihn umzustimmen, er hörte ihre „Rechtfertigung“ und verzieh, wahrscheinlich ebenso sehr aus Klugheitsgründen als aus einer Anwandlung der alten Liebe.

[436] Und nun änderte sich der Anblick der Gesellschaft in reißender Schnelligkeit. Die verbannten Aristokraten kehrten zurück, und man sah ihre Einwirkung sofort an der feiner und anständiger werdenden Mode. Die Unverhülltheit durfte sich nicht mehr sehen lassen, die Damen erschienen jetzt in weniger ausgeschnittenen, feinen, langen Musselingewändern, duftige Turbans um die Lockenhaare, und in allem bemüht, Haltung und gute Sitten an den Tag zu legen. Ganz unwillkürlich erhoben sie sich, wenn Josephine in ihre Mitte trat, und diese selbst war eifrig bestrebt, den Wert zu behaupten, welche ihre aristokratische Geburt und Erziehung sowie die Bekanntschaft mit dem alten Adel ihr in Bonapartes Augen verliehen. Letzteres allerdings überschätzte er im Anfang: Frau von Beauharnais war niemals bei Hofe vorgestellt worden und hatte nicht mit den Vornehmsten verkehrt, aber nun, da sie die Frau des Machthabers war, schätzten sich viele von jenen glücklich, sie aufzusuchen und ihre Vermittlung in Anspruch zu nehmen, um die konfiscierten Güter und Vermögen ganz oder teilweise zurückzuerhalten, und Josephine wirkte unermüdlich für sie.

Bonaparte als Realpolitiker schätzte den Wert einer wahren Vornehmheit sehr hoch; die guten Formen und das tadellose Benehmen wünschte er durchaus für seinen konsularischen Hofstaat, obgleich seine rücksichtslose Natur eigentlich allen Förmlichkeiten feind war und er sich fortwährend grobe Unarten zu schulden kommen ließ. Er wußte, was ihm fehlte, und wünschte, es in anderen zu sehen.

Mit der Reorganisation fing er im eigenen Hause an und verbot mitleidlos und ungerührt von Josephinens Thränenströmen ihren Umgang mit ihren liebsten Freundinnen, der übelberufenen Madame Tallien und vielen anderen. Er wünschte Damen von unzweifelhaftem Ruf bei ihr zu sehen, Damen, die „einen Salon hielten“, wie Frau von Montesson, die erste Aristokratin, welche wieder Feste im alten Stil gab mit gepuderten Lakaien und herrlichen Tafeln voll Silbergeschirr, Frau von Genlis, die für feine Sitte und Anmut berühmte Schriftstellerin, Frau von Rémusat, die wahrhaft vornehme und hochgebildete Verfasserin der bekannten Memoiren, welche jahrelang als Hofdame bei Josephine war. „Heiraten Sie und machen Sie einen Salon!“ war Napoleons ständige Ermahnung an seine Offiziere, und er übernahm mit großem Vergnügen die Auszahlung der Mitgift, wenn einer dadurch eine Tochter aus einem armen adeligen Hause erhielt. Es hielt dies nicht leicht, denn die wirklich Vornehmen, die nun zurückkehrten, hatten eine große Abscheu vor den Volkssöhnen mit dem Marschallsstab im Tornister, von denen nur wenige, wie Junot und Lannes, elegante schöne Männer, die Mehrzahl aber etwas brüske Gesellen waren, die in Gegenwart der Frauen nur schwer die Lagermanieren zu verleugnen vermochten. Aber der Wille des Ersten Konsuls brachte diese doch auf Freiersfüße, und so schwärmte es bald von Brautschaften und Hochzeiten in Malmaison, wohin er sich in den Sommermonaten mit Josephine begab. Bei jenen Hochzeitsfesten fand der Anfang einer Versöhnung der Parteien statt, aber die kirchliche Trauung, auf welcher die aristokratischen Mütter bestanden, wollte den jungen Revolutionsgeneralen nur schwer in den Kopf und andrerseits entschlossen sich die Priester nur sehr ungern, diesen offenkundigen Gottesverächtern den Segen zu erteilen. Aber auch hier half der Wille des Mächtigen, der den aristokratischen Zuwachs seiner Gesellschaft dringend wünschte.

Und so entfaltete sich denn in Malmaison bald eine große Heiterkeit und jeder Tag brachte neue Vergnügen. An schönen Tagen wurden die Tische im Freien unter hohen Bäumen gedeckt, dann spielte die ganze Gesellschaft Federball auf dem Rasen. (Das Kartenspiel mit dem Ersten Konsul war minder gesucht, denn er „mogelte“ ganz unverschämt und hatte seine Freude am Pech der andern.) Sonntags gab es kleine Bälle, dazwischen Komödienspiel mit großem Empfang verbunden, wo ausgesuchte Erfrischungen gereicht wurden und die vielen Gäste, auch die fremden Diplomaten, entzückt waren von der Freundlichkeit des Ersten Konsuls und der unvergleichlichen Grazie, mit der die immer noch schöne Josephine die Honneurs machte.

Es bestand ein großer Kontrast zwischen ihrem schwebend anmutigen Gang und dem hastigen Hereinschießen Bonapartes, der nur zu oft im Fall war, zu dem goldgestickten konsularischen Frack, welchen seine Mitkonsuln Cambacèrès und Lebrun mit Puderköpfen, seidenen Strümpfen und Spitzenjabots trugen, Kniestiefel und eine Uniformsweste anzuhaben, wenn er von seiner Arbeit in den Salon herüberkam. Seine kleine, magere Figur mit dem schlichten Haar und gelben Gesicht sah in dem sonderbaren Aufzuge eigentlich komisch aus, aber niemand hätte gewagt, dies zu finden!

Napoleon war keine gesellige Natur und that sich bei solchen Gelegenheiten Zwang an. Wenn er seine Runde gemacht hatte, stellte er sich ans Kamin und beobachtete mit auf den Rücken gekreuzten Armen die Anwesenden, warf auch hie und da eine seiner kurzen, treffenden Bemerkungen ins Gespräch, die, wo sie uns wörtlich überliefert sind, einen unaufhaltsam eindringenden Verstand, eine scharf schneidende Logik und eine sehr genaue Menschenkenntnis, wenn auch wenig Menschenliebe, beweisen.

Josephinens Toiletten bei solchen Gelegenheiten erregten den Neid und die Bewunderung der anderen Frauen, aber sie verbrauchte auch Unsummen dafür und steckte doch fortwährend in Schulden. Von den feinsten indischen Shawls, deren jeder ein kleines Vermögen kostete, besaß sie Dutzende, auch verstand sie die Kunst, die scheinbar so einfachen, stoffarmen „Empire-Kleider“ unerhört teuer zu machen. Einmal erschien sie bei einem solchen Empfang in Malmaison in einem weißen Kreppkleid, das über und über mit frischen Rosenblättern besät war, die natürlich erst im letzten Augenblick von vielen Händen aufgeheftet werden konnten, ein andres Mal war das Kleid ganz mit kleinen perlgeschmückten Tukanfedern überdeckt und ein prachtvoller Rubinenschmuck zierte Kopf und Hals.

Sie fühlte sich schon als Herrscherin und Napoleon war derselben Meinung. Beim Tode seines Schwagers, des Generals Leclerc, legten die Damen seines „Hofes“ Trauer an. Die beiden andern Konsuln mußten es dulden, daß er seinen Namen allein unter die Dekrete setzte, und ihre Frauen bestritten nicht den unbedingten Vortritt Josephinens. Man sah die Diktatur voraus und ergab sich darein. Das erste äußere Zeichen dafür war die von Bonaparte beschlossene Uebersiedlung aus dem kleinen Luxembourg-Palast in die Tuilerien. Lebrun machte sie mit, der klügere Cambacèrès meinte, das schnelle Wiederausziehen würde ihm nicht behagen, und kaufte sich ein Haus, in welchem er Napoleons Glanz und Napoleons Sturz überlebte.

Der Einzug in die Tuilerien, die aber jetzt Gouvernementspalast genannt wurden, ging 1799 mit großem Pomp vor sich. Wie früher bei den Auffahrten der Könige, bildete die Garnison der Stadt Spalier für das große Geleite des Ersten Konsuls. Er erschien in einem von sechs prächtigen Schimmeln gezogenen Wagen und der Enthusiasmus der Pariser stieg um ein bedeutendes, als ruchbar wurde, diese Pferde seien ein Geschenk des österreichischen Kaisers nach dem Frieden von Campo Formio. Hinter Napoleons Wagen erschien der Staatsrat in Kutschen, die stark von jenem abstachen: es gab keine Equipagen mehr in Paris, so hatte man Fiaker nehmen müssen, deren Nummern mit dunklem Papier verklebt wurden! Mit Mühe waren für die Minister ein paar anständige Wagen aufgetrieben worden.

Dies sollte sich nun alles aufs schnellste ändern. Bonaparte, der bei jeder Ausfahrt von den Huldigungen der Menge und bei den Paraden von ungeheurem Enthusiasmus der Soldaten umgeben war, er sah seinen Weg vor sich und betrat ihn mit festem Schritt. Er war der glückliche Erbe der Revolution, sein organisatorisches Genie übersah und reformierte das ganze Gebiet der Staatsverwaltung, und die Mitwelt nahm willig die neue Gesellschaftsordnung aus seiner Hand an. Staatsreligion, Etikette, Standesunterschicde, diplomatische Verbindungen, alles, was einen monarchisch regierten Staat bezeichnet, wurde wiederhergestellt, die Empfänge in den Tuilerien vollzogen sich nach einem bestimmten Ceremoniell, und als die Jahrhundertwende herankam, da hatte Paris einen Hof und einen Herrscher, wenn derselbe auch noch keine Krone trug.




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Das Pfingstbier der Halloren.

Von Dr. Hans Bethge.0 Mit Illustrationen von O. Gerlach.

Die Halloren sind jener alte in Halle ansässige Volksstamm, dessen Herkunft man bisher trotz vieler Bemühungen nicht mit Sicherheit hat bestimmen können. Die einen betrachten sie als Abkömmlinge der alten wendischen Bevölkerung, andere wollen keltisches Blut in ihnen konstatieren, und eine dritte Meinung geht dahin, daß sie die Nachkommen des unfreien Teiles der ältesten fränkischen Kolonie seien. Sie bildeten in früherer Zeit eine abgeschlossene Gemeinde für sich und sahen mit Sorgfalt darauf, daß sie sich nicht durch Heirat mit den anderen Bewohnern Halles vermischten. Auf die Dauer war dies Prinzip jedoch nicht gut durchführbar. Welcher Abkunft sie deshalb auch immer sein mögen – ungemischtes Blut fließt wohl schwerlich noch in einer der heutigen Hallorenfamilien. – Die Halloren haben sich ihre alte, eigentümliche Tracht und manche Besonderheit in ihrer Lebensführung bewahrt. Früher waren sie ohne Ausnahme Salzwirker von Beruf. Seitdem aber die hallische Saline ihre einstige Bedeutung zum größten Teil eingebüßt hat, ist die Anzahl der Salinenarbeiter eine ungleich geringere geworden. Die Halloren sahen sich genötigt, auch zu anderen Berufsarten zu greifen. Sie dienen jetzt in erster Linie bei Begräbnisfeierlichkeiten als Träger des Sarges, wozu ihre stimmungsvolle Kleidung, die dann natürlich ganz in Schwarz gehalten ist, wie geschaffen erscheint. Für gewöhnlich ist diese Kleidung allerdings eine überaus farbenfrohe. Sie tragen langschößige Röcke aus blauem, rotem, lila oder rosa Tuch, das unten an den Aermeln mit Pelz besetzt ist; bunte Seidenwesten mit großen Silberknöpfen und auf dem Haupt schwarze Dreimaster aus Filz. Ihre schwarzen Sammethosen reichen ihnen bis zum Knie, daran schließen sich weiße Wadenstrümpfe. Die Füße sind mit Schnallenschuhen bekleidet.

Ueberreichung des „Hallorenkuchens“.

Von den mannigfachen Sitten und Gewohnheiten, welche die Halloren aus alter Zeit bis auf den heutigen Tag beibehalten haben, ist wohl die Feier des sogenannten Pfingstbieres die bekannteste. Vierzehn Tage nach Pfingsten wird das fröhliche Fest von der Salzwirkerbrüderschaft begangen. Es hat seinen Ursprung in einem alten Abkommen, welches den nahe bei Halle gelegenen staatlichen Gutshof Giebichenstein verpflichtet, den Halloren alljährlich zu Pfingsten eine bestimmte Menge Bier zu spenden. Bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein wurde das Bier auch pünktlich zu jedem Pfingstfest in natura. geliefert. Dann, als die Giebichensteiner Gutsbrauerei einging, wandelte man die Spende in eine entsprechende Geldsumme um, welche die Halloren noch heute beziehen und für welche sie sich im „Paradies“, dem ältesten Schanklokal der Stadt Halle, das zugleich einen der schönsten Restaurationsgärten sein eigen nennt, ihr Pfingstbier herrichten lassen.

Zappeltanz der Platzknechte.

Im heurigen Jahre wurde das Fest mit besonderem Pomp begangen. Es war am 3. Juni in den ersten Nachmittagsstunden, als sich die festlich gewandeten Nachkommen der Ureinwohner Halles in dem ehrwürdigen Hofe des alten Residenzgebäudes einfanden. Die jüngeren unter ihnen hatten sich statt der Dreimaster frische Kränze von Frühlingsblumen aufs Haar gelegt und trugen blütenumrankte Thyrsusstäbe. Viele unter den älteren waren mit den Abzeichen ihrer besonderen Würde versehen. Die schönen, wertvollen Silberbecher, welche die Brüderschaft ihr eigen nennt, wurden aus der Residenz, wo sie gewöhnlich aufbewahrt werden, hervorgeholt und mit den ersten kühlen Tropfen gefüllt, die bei der großen Hitze doppelt labend waren. Auf ihre silbernen Pokale sind die Halloren nicht wenig stolz. Sie haben sie bei den Huldigungen, welche sie jedem preußischen König persönlich darbringen dürfen, als Zeichen fürstlichen Wohlwollens empfangen, jedesmal zugleich mit einer kostbar gestickten Fahne.

Man reichte die Pokale, von denen der ausnehmend prächtige, [438] welchen Kaiser Friedrich geschenkt hat, mit besonderer Begeisterung gepriesen wurde, herum und labte sich, bis die lichtgekleideten Hallorenmädchen in Wagen herbeigefahren kamen und somit der Umzug beginnen konnte. Unter Vortritt des sogenannten „Boten“ mit dem lenkenden Stab nahm die Musikkapelle Aufstellung; es folgten der Hauptmann der Brüderschaft, die Vorstände, der Fahnenträger mit der neuen Fahne Kaiser Wilhelms II, sodann die Kranzjungfrauen in Wagen. Es läßt sich schwerlich etwas Lieblicheres denken als so ein frisches Hallorenmädchen in seiner überaus kleidsamen Stammestracht. Es trägt einen steifen, hellblauen Glockenrock mit einer darüber geworfenen Spitzenhülle. Ein Mieder von der gleichen Farbe legt sich um die Brust; daraus hervor, sich leicht um Arme und Nacken schmiegend, bauscht sich ein reichgesticktes weißes Hemd. Auf dem Haar sitzt ein prächtiges Häubchen aus Goldfiligran, und um den Hals sind kostbare goldene Kettchen gewunden.

Das Fahnenschwenken.

Im Zuge stellten sich hinter den jungen Mädchen noch mehrere Fahnenträger auf, dann kamen die übrigen Mitglieder der Brüderschaft, alt und jung. Die Musikkapelle setzte ein und der Zug verließ den Hof der Residenz; durch die dichtgedrängten Scharen der hallischen Bevölkerung, die dem Treiben der Halloren immer mit regem Interesse folgt, nahm er seinen Weg über die Oleariusstraße am alten Solbrunnen vorbei nach dem schattigen Garten des „Paradieses“, wo er sich dann auflöste. Man nahm an den festlich bereiteten Tischen unter den prachtvollen Bäumen des Paradiesgartens Platz, um beim Klang der Kapelle einen der silbernen Humpen nach dem andern in fröhlicher Stimmung zu leeren. Der Hauptmann der Brüderschaft trat nach einiger Zeit auf das Podium und brachte ein Hoch auf den Kaiser aus, der an den Sitten der Halloren besonderen Anteil nimmt. Darauf ergriff der würdige Obersiedemeister Andreas Ebert, dessen imposante, eindrucksvolle Gestalt allen Hallensern aufs beste bekannt ist, die Fahne des Kaisers, um sie zu den Klängen der Musik auf kunstvolle Weise in schönen, rhythmischen Bewegungen zu schwenken. Diese alte Gepflogenheit, die, wenn sie zu ihrer vollen Wirkung kommen soll, eine besondere Künstlerschaft erheischt, ist mit der Feier des Pfingstbieres von alters her aufs engste verknüpft und macht sozusagen ihren Höhepunkt aus. Der „alte Ebert“ in seinem farbenprächtigen, ordengezierten Kleide, den Dreimaster auf dem mächtigen Haupt, schwenkte die Fahne mit geradezu überraschender Kunstfertigkeit.

Nach der Beendigung des Fahnenschwenkens schickte man sich in lustiger Stimmung an, einer zweiten alten Gepflogenheit nachzukommen, nämlich dem Tanz um die Pfingstmaie. Das gab ein froh bewegtes Bild von einem Farbenspiel, wie es dem Auge nur selten geboten wird. Die Salzbrüder mit ihren langen Röcken schwangen in ihren Armen die schönen Hallorenmädchen, die in Lichtblau und Weiß erglänzten. Auch der eigenartige Zappeltanz, ein Nationaltanz der Halloren, that gute Wirkung. Seit jeher wird er von den beiden Platzknechten beim Pfingstfeste ausgeführt. Ringsum aber war das junge Grün des Frühlings und duftende Blüten. Hier an den Tischen ließ sich die Jugend den altberühmten, reich mit Rosinen versetzten „Hallorenkuchen“ munden, dort plauderten in Gruppen zusammenstehend die älteren der Halloren, indem sie die silbernen Pokale kreisen ließen und sich voll sehnsüchtiger Erinnerung in die goldenen Tage zurückversetzten, wo sie einst selber als junge Bursche um die Pfingstmaie tanzten, jauchzend und blühende Mädchen im Arm. Jene aber, die damals die blühenden Mädchen waren, saßen nun still am dampfenden Kaffeetisch und sahen glücklich dem Tanz ihrer gesunden Söhne und Töchter zu. – Wenn die Jugend einmal beim Tanzen ist, so findet sie so schnell kein Ende, und die Hallorenjugend macht keine Ausnahme darin. So kam denn die Dämmerung und der Abend herauf, und der Mond und die zahllosen Sterne begannen herrlich zu glänzen, die jungen Halloren und ihre Mädchen aber wiegten sich noch immer im Takt der Musik, lachten und sangen und waren glücklich. Ob sich auch hin und wieder ein hübsches Paar verstohlen tiefer in den Garten hinein verirrte, um dort dem schmelzenden Klang der Nachtigall zu lauschen, das weiß ich nicht. Dies aber weiß ich: noch mancher, mancher silberne Humpen köstlichen Pfingstbieres wurde über Nacht geleert.


Die Unglücksfälle in den Alpen.

Von Max Haushofer.

Jahr um Jahr mehren sich die Berichte von Unglücksfällen in den Alpen. Und es sind seltene Ausnahmen, wenn bei solchen Unglücksfällen der eine oder andere der Betroffenen nur über einen gebrochenen Arm oder Fuß zu klagen hat. Die meisten dieser Fälle enden mit todbringender Tragik.

Ihre zunehmende Häufigkeit erklärt sich leicht durch den steigenden Besuch der Alpen. Seit der Erbauung der in und durch die Alpen führenden Eisenbahnen mußte der Reisezug beständig zunehmen. Die Berge an sich sind nicht gefährlicher geworden. Im Gegenteile: durch die rastlose Thätigkeit der alpinen Vereine auf dem Gebiete des Weg- und Hüttenbaues und der Führerausbildung ist ein sehr erfolgreicher Kampf gegen die Gefahren der Hochalpennatur angebahnt worden. Aber stärker als diese Schutz- und Hilfsmaßregeln sind der wachsende Zudrang des Reisepublikums nach den landschaftlichen Schönheiten der Alpen, der Leichtsinn und die Unerfahrenheit der Einzelnen.

Will man gerecht gegen den Alpensport sein, so muß man zugeben, daß seine Opfer weniger zahlreich sind als die Opfer anderer Sportarten. Der Segel- und Rudersport fordert unzweifelhaft weit mehr Opfer als der Bergsport; und wenn man alle jene dummen Unfälle, die durch das unzeitige Losgehen von Jagdgewehren schon verursacht wurden, dem Jagdsport zur Last legen wollte, käme derselbe im Punkte der Gefahr kaum besser weg als der Bergsport. Und der harmlose Sport des Schlittschuhlaufens ist auch Ursache, daß während der winterlichen Frostzeit immer und immer wieder die Totenklage über blühendes junges Leben ausbricht, das unter der trügerischen Eisdecke versank. Wer da anfangen wollte, zu zählen, würde wahrscheinlich zu seinem großen Erstaunen gewahr werden, daß der Alpensport durchaus nicht bedenklicher ist als die meisten andern Sportarten. Was die alpinen Unfälle gegenüber andern so hervortreten läßt, ist der landschaftliche Reichtum der Verursachung; die [439] Möglichkeit, diese Ursachen später genau zu verfolgen; das häufig erkennbare Herannahen und Steigen der Gefahr und die erschütternde Gewalt der Katastrophen, denen oft ein verzweifelter Kampf ums Leben vorausgeht. Und nicht zum letzten das lebhafte touristische Interesse derjenigen, die den gleichen Weg gemacht oder eine ähnliche Situation durchgekämpft haben.

So kommt’s, daß die beim Alpensport sich ereignenden Unfälle meist besonders eingehend besprochen werden. Es ist übrigens etwas Eigenes um diese Besprechungen. Die nötige Erfahrung, um solche Unfälle richtig zu beurteilen, gewinnt nämlich immer nur, wer selber mit einer gewissen Vorliebe die Gefahren der Berge aufsucht oder wenigstens früher aufgesucht hat. Und darum werden die Warnungen, die aus solcher Quelle kommen, für den Laien immer nicht eindringlich genug sein, weil sie stets von der leidenschaftlichen Vorliebe des Warners für diese Gefahren beherrscht sind und oft genug auch diese Neigung deutlich durchblicken lassen.

Die Gefahren des Bergsports sind viel mannigfaltiger als die Gefahren anderer Sportarten. Sie gähnen unter den Füßen des Wanderers, hangen an Felsmauern und Eiswänden über ihm, umstürmen ihn aus den Lüften, bedräuen ihn aus seinem eigenen Organismus heraus. Und sie sind auch höchst wechselvoll, so daß ein Weg, der für gewöhnlich ein harmloser Spaziergang genannt werden muß, unter besonderen Umständen ein Todespfad werden kann. Und das moralische und physische Rüstzeug, dessen man zu ihrer Bewältigung bedarf, ist ein derartiges, daß man keineswegs von vornherein immer beurteilen kann, ob es ausreichen wird oder nicht.

Der Bewohner des Flachlandes glaubt wohl, daß die Gefahren der Berge erst dort beginnen, wo die gebahnten Wege zu Ende sind. Das gilt für günstige Jahreszeit und Witterung, aber nicht für die Zeit des Winters, nicht für die in den höheren Gebirgslagen auch während der wärmeren Jahreszeit vorkommenden Schneestürme. Da verwandeln sich auch gute Wege rasch in unwegsame Wildnis. Stundenlanges Vorwärtsstampfen in frischgefallenem Schnee ermüdet die Kräfte aufs äußerste. So kommt’s, daß alpine Unfälle mit schwerem, ja selbst mit todbringendem Ausgange bekannt sind, die auf gebahnten Wegen nach heftigen Schneefällen sich ereigneten. Die Betroffenen starben an Frost, an Erschöpfung während des Marsches.

Hierzu kommt, daß jede Verschneiung eines Weges ein unfreiwilliges Abweichen von demselben ungemein erleichtert. Auch die gebahnten Wege in den Alpen sind meistens derartig, daß selbst eine ganz geringe, nur fingerdicke Schneebedeckung den Weg als solchen schon unkenntlich macht. Eine solche geringfügige Verschneiung ist gefahrlos für den Ortskundigen, aber immer gefahrvoll für den, der, wenn einmal der eigentliche Pfad verschneit ist, keinerlei Wegmarken mehr kennt. Es giebt Pfade in den Alpen, und zwar sehr viele, die als Wege nur kennbar sind durch eine kaum merkliche Färbung, durch zusammengetretenes Gras, durch die von den Eisennägeln der Bergschuhe zerkratzten Steine. Derartige Zeichen werden beim geringsten Schneefall unsichtbar; sie werden auch unsichtbar bei eintretender Finsternis.

So ist die einbrechende Dunkelheit eine weitere sehr häufige Ursache des unfreiwilligen Abkommens vom rechten Wege. Der unerfahrene Bergwanderer, der sich auf ganze Tagesmärsche einläßt, weiß in der Regel die Zeitdauer, die für die Bewältigung der Strecken notwendig ist, nicht richtig zu berechnen. Er tritt die Wanderung über ein Bergjoch an, von der ihm ungefähr bekannt ist, wie lange sie währe. Unterwegs aber rastet er, hält sich an irgend einem Aussichtspunkte auf oder wartet in einem Unterkunftshause einen Regenguß ab. Die Zeit verstreicht rascher, als er denkt, und er ist noch weit von der nächsten Herberge entfernt, wenn das Dunkel schon hereinbricht. Eine Zeitlang unterscheidet er noch den Weg, der sich unter seinen Füßen heller von dem benachbarten Gelände abhebt. Aber in der purpurnen Finsternis des nächsten Bergwaldes, in einem Krummholzdickicht oder an einer von mächtigen Felsblöcken überstreuten Lehne mag es ihm leicht begegnen, daß er die schwache Wegspur völlig aus den Augen verliert. Er verfolgt instinktmäßig die bisher eingeschlagene Richtung, während der Fußsteig, den er zu suchen hat, vielleicht schon über ihm fortzieht oder gar sich rückwärts gewandt hat, um in Windungen nach der Thaltiefe hinunter zu führen. Und nun steht er plötzlich völlig pfadlos an der Bergwand; tief unter ihm gähnt noch der Thalgrund, in dem die nächste Ortschaft liegen muß. Mächtiger und mächtiger wird das Dunkel der unheimlichen Welt, die ihn fremdartig umgiebt. Jetzt fassen ihn die Schrecken der Finsternis und der Einsamkeit. Glücklich mag er sich preisen, wenn er nach stundenlangem Umhersuchen, schweißtriefend, mit pochendem Herzen und müden Füßen den alten Steig oder einen anderen wiederfindet. Aber es kann ihm auch begegnen, daß er nur immer tiefer in die Felsenwildnis gerät, an steilere Hänge, wo buschbewachsene Strecken oder Grasfleckchen mit schroff abfallenden Wänden abwechseln. Nun hängt das Leben des Unglücklichen an einem Faden. Vielleicht rettet er sich noch, wenn ihn der Zufall das ausgetrocknete Bett eines Wildbaches oder eine Zunge von Bergwald finden läßt, die bis zu sanfteren Hängen hinunterleitet. Da mag er dann stundenlang klettern, mit wunden Händen, um endlich in völliger Nacht einen Felsenwinkel oder ein verlassenes Heuhüttchen aufzufinden, wo er, fiebernd vor Frost und Müdigkeit, den Morgen abwarten kann. Aber manchen, der so seinen Weg verlor, fand man auch am nächsten Tage, oder auch Wochen und Monate später, mit zerschmettertem Haupt und gebrochenen Gliedern am Fuße einer lotrecht abfallenden Felswand liegen. Oder es fand ihn überhaupt niemand mehr, weil er in einen lichtlosen grauenhaften Felsenspalt gestürzt war, wo seine modernden Reste zwischen Steintrümmern liegen blieben oder von den tosenden Wassern des Gletscherbaches fortgerissen wurden in die dunkle Tiefe eines Bergsees oder in den großen Strom draußen, der sie auf seinem Grunde behielt.

Ein Abkommen vom rechten Wege kann auch, namentlich in der Almen- und Waldregion, veranlaßt werden durch alte verlassene und aufgegebene Seitenwege, die von einem begangenen Weg abzweigen, aber, wenn man sie einschlägt, nach einiger Zeit in eine Sackgasse auslaufen: zu einem verlassenen Holzschlag oder zu einem vereinzelten Weideplatz, oder an irgend einen jähen Abhang, wo ein älterer Wegbau verschüttet oder zerrissen ward. Wer einen solchen Weg genommen hat, steht dann plötzlich an seinem Ende vor irgend einem Steilabhang oder in völlig unwegsamer Trümmerwildnis. Hier mag er nun entweder zurückkehren bis zur nächsten Wegteilung, was jedenfalls das Weisere und Sichrere ist, oder er mag seinen Vermutungen über die Lage des rechten Weges folgen und ihn aufsuchen, indem er sich mitten in unwegsame Wildnis wirft. Das ist ein ebenso häufiges wie gefährliches und zeitraubendes Verfahren, das wohl schon manchen ins Verderben geführt hat.

Oft werden aber auch von unerfahrenen Bergwanderern die gebahnten Wege absichtlich verlassen. Das geschieht nicht selten um der Alpenblumen willen. Die Alpenblume ist die Trophäe, die der Neuling von seiner Bergwanderung mitnimmt; und die an den Wegen wachsenden Blüten sind meist schon abgepflückt, während über und unter dem Wege am Felsgehäng noch die bunten Sterne reizender Blumen winken. Der erfahrene Bergwanderer läßt diese schönen Kinder der Wildnis ruhig weiterblühen; der Unerfahrene klettert ihnen nach, läßt sich weiter und weiter verlocken, bis er zwischen Grausen und Verderben hängt. So haben die sammetweichen weißen Sterne der Edelweißblüte schon manchen jungen Wagehals in einen frühen Tod gelockt; abgestürzt von schroffer Wand, ward er von Jägern oder Sennen gefunden, mit einem Sträußchen in der Hand, das sein Verderben geworden war. Den Tod um eine Handvoll Blumen!

Sehr häufig wird auch vom rechten Wege abgewichen, um abzukürzen. Auf steilere Hänge führen ja alle guten Wege in Windungen hinan. Wenn man auch beim Bergansteigen gerne auf dem bequemeren gewundenen Wege bleibt: sobald es bergab geht, liebt es die Jugend, die kürzeste Richtung über den Hang hinunter einzuschlagen. Ein unbedenkliches Verfahren, solange man den Weg, den man abkürzt, stets im Auge behält; aber gefahrvoll, wenn man ihn aus dem Gesicht verliert und an Böschungen gerät, die immer steiler und steiler werden. Der gehoffte Gewinn einer halben Stunde Zeit hat bei solchen Abkürzungen schon manchem jungen Leben zu einem frühen und jähen Tode verholfen.

Wenn so schon das Wandern in den von gebahnten Wegen durchzogenen Regionen für den Unkundigen seine Gefahren birgt, [440] steigern sich dieselben natürlich ganz bedeutend in jenen Gegenden, wo die gebahnten Pfade ein Ende finden. Das ist im allgemeinen der Fall über jener Höhe, in der die letzten Sennhütten, die letzten Unterkunftshäuser der Alpenvereine liegen.

Zu allen Hochtouren gehört ein gewisses Durchschnittsmaß von körperlicher Kraft und Ausdauer, eine einigermaßen genügende Ausrüstung und entweder ein guter Führer oder ein hoher Grad von Erfahrung und Uebung. Wem eine dieser Eigenschaften fehlt, der spielt, wenn er dennoch Hochtouren unternehmen will, geradezu um sein Leben. Aber wie oft wird nicht gegen diesen Erfahrungssatz gesündigt! Wie oft begegnet man nicht jungen Leuten, die, ohne ihre Kraft und Ausdauer geprüft zu haben, mit mangelhafter Ausrüstung, ohne Führer und ohne ausreichende Erfahrung sich in die Schrecknisse des pfadlosen Hochgebirges wagen!

Es giebt ja manche, selbst vergletscherte Jochübergänge oder Gipfeltouren, die selbst von Ungeübten ohne Führer begangen werden können und doch mitten in die großartigste Hochalpenpracht führen. So etwa die vielgenannten Paßübergänge über die Pfandelscharte, über den Velber und Krimmler Tauern oder über das Venter Hochjoch, den Gemmipaß u. a. Aber selbst solche Wanderungen können bei bösartigen Unwettern geradezu todbringend werden.

Ueber das Maß der eigenen Kraft und Ausdauer muß sich jeder, der eine Bergwanderung antritt, selber im klaren sein. Einen Weg anzutreten, von dem man nicht sicher weiß, daß man die Ausdauer besitzt, die er erfordert, ist Vermessenheit. Die erste Bedingung für jeden, der eine Hochtour antritt, ist die, daß er weiß, wie lange Zeit die Tour durchschnittlich beansprucht und wie lange seine Kräfte reichen. Die Fälle, daß Bergwanderer lediglich an Erschöpfung zu Grunde gehen, selbst bei nicht ungünstiger Witterung, sind selten und treffen meist nur ältere Leute.

Schlechte Ausrüstung kann selbst bei genügender Körperkraft und Uebung die schwersten Gefahren bringen. Ein ungenagelter Schuh kann auf einer steilen Rasenböschung ein Ausgleiten und Fortrollen bis zum tödlichen Sturz über die nächste Felswand verursachen. Ein unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstand ist bei allen Wanderungen über Gletscher und Firnfelder das Seil. Aber wirklich hilfreich ist dasselbe nur, wenn man auch seine Anwendung genau kennt. Jede Wanderung ohne Seil über ein zerklüftetes Eis- oder Firnfeld ist eine Wanderung auf Leben und Tod. Seit mehr als einem Menschenalter verzeichnet die Geschichte der Alpenwanderungen eine Reihe von tödlichen Unfällen, die im ewigen Eise durch Mangel eines Gletscherseiles herbeigeführt wurden. Auch die Eisaxt gehört zu jenen Ausrüstungsgegenständen, die ein einigermaßen erfahrener Bergwanderer nur höchst ungerne vermißt.

Bei weitem die häufigsten Unfälle werden durch den Mangel eines Führers verursacht. Gerade das führerlose Wandern aber hat einen ganz eigenartigen Reiz. Sich selber Pfadfinder zu sein –: das ist ja unvergleichlich schöner als das Hertraben hinter einem Führer. Selber die Zugänglichkeit einer Berglandschaft zu prüfen, in dem großartigen Aufbau ihrer Fels- und Eisgebilde, zwischen ihren drohenden Gefahren hindurch jene Gassen und Naturtreppen, Pforten und Rinnen, Gesimse und Schründe zu finden, die ein Weiterkommen gestatten: das ist eine Thätigkeit für den Wagemut, für den spürenden und entdeckenden Gedanken, wie sie kaum reicher gefunden werden kann.

Aber der Mangel eines Führers kann dabei nur ersetzt werden durch eine langjährige Erfahrung, verbunden mit überdurchschnittlicher Kraft und Ausdauer, mit voller Schwindelfreiheit und Klettergewandtheit, wozu auch noch eine gute Ausrüstung, namentlich tüchtige Spezialkarten gehören. Nur wer über alle diese Bedingungen verfügt, ist berechtigt, ohne sich dem Vorwurf groben Leichtsinns auszusetzen, in jene Hochgebirgsregionen einzudringen, wo die gebahnten Pfade enden, die Abgründe gähnen und in den Gletscherklüften das blaue Grausen dämmert.

Unter allen Berggruppen des großen Alpengebietes ist keine so reich an Unfällen wie die nordwestlich vom Semmeringpaß sich auftürmende Raxalpe, ein Hochplateau mit teilweise sehr steil abfallenden Wänden. Obwohl nur bis zur Höhe von 2009 m aufragend, ist sie doch von zahlreichen, mitunter recht schwierigen Kletterpfaden, die sich vielfach verzweigen, überdeckt. Ihre Lage in der Nähe von Wien und an der Semmeringbahn macht sie zum beliebtesten Ausflugsgebiet der Wiener Alpenfreunde, das von erfahrenen, aber auch von ganz unerfahrenen Bergwanderern zu jeder Jahreszeit stark besucht ist. Da die jungen Leute, die in Scharen nach der Raxalpe wandern, schon aus Sparsamkeit meist führerlos gehen, ist der schöne Berg im Laufe der Zeit zu einem großen Kirchhof geworden; Jahr um Jahr verzeichnet die Unfallschronik eine Anzahl von tragischen Ereignissen, die in den Schluchten und an den Wänden dieses Berges sich ereigneten. Und fast alle diese Ereignisse hängen irgendwie mit dem Leichtsinn und der Unerfahrenheit der Jugend zusammen.

Manche Arten von Unfällen, die bei eigentlichen Hochtouren sich ereignen und auch den umsichtigsten, gewandtesten und erfahrensten Alpenwanderer treffen können, werden nie zu vermeiden sein: unvorhergesehene Witterungsumschläge mit Schneestürmen, Schnee- und Eislawinen, Steinschläge und stürzende Schneewächten. Auch eine momentane körperliche Indisposition kann einem tüchtigen und kundigen Bergwanderer zur Ursache eines jähen Todes werden. In solchen Fällen wird aufrichtige Sympathie dem Verunglückten zu teil. Aber gerechte Mißbilligung auch begeisterter Alpenfreunde erregen jene Unfälle, die augenscheinlich nur durch Unerfahrenheit und grundlosen Leichtsinn herbeigeführt wurden.

Die Gefahren sind nicht da, um ängstlich geflohen, sondern um überwunden zu werden. Aber dieser Erfolg winkt nur dem, der seine eigene Leistungsfähigkeit und die Höhe der Gefahren richtig zu werten weiß. Wer sich sagen muß, daß er dazu nicht imstande ist, der bleibe auf den gebahnten Pfaden der Thäler und weiche von ihnen nur ab unter der Leitung erprobter Führer.

Die Zahl der alpinen Unfälle mit tödlichem Ausgange betrug 1898 im ganzen 59; 1897 hatte sie 54 betragen. Ausgleiten auf Fels, Schnee und Eis war in den meisten Fällen die unmittelbare Ursache; und die meisten der Touren, bei welchen diese Unfälle sich ereigneten, waren führerlos. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß die obigen Zeilen nicht für jene erfahrenen Touristen geschrieben sind, welche die Befähigung zu führerlosen Hochtouren sich erworben haben, sondern für die weitaus größere Zahl der Unerfahrenen.


Ausgeglichen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

     (Schluß.)

3.

Die angebliche Absicht des alten Postrats, Hartwig Hoven durchaus an seine Tochter zu fesseln, war also nur eine von den vielen Einbildungen des romantischen Fräuleins gewesen. Thea hatte irgend eine lobende Bemerkung des Vaters über seinen jungen Gehilfen – eine Bemerkung, die Gertrud selbstverständlich fand, ohne sie zu kennen – nach ihrer eitlen Weise ausgedeutet und sich darauf einen kleinen Roman zusammengedichtet. Gertrud war über diese einfache Lösung so erfreut, daß sie dem unbesonnenen Ding nicht einmal recht zu zürnen vermochte. Als sie einige Tage später Thea begegnete, hörte sie deren Geschwätz geduldig an und ließ sich ohne Einsprache noch zwei oder drei neue Verehrer beschreiben, welche Thea bei ihrer ersten Aufzählung vergessen hatte. Trotz ihres ländlichen Massentriumphes schien Thea doch nicht ganz zufrieden; sie sprach von ihrem unbekannten Briefsteller, und zwar in sehr bitteren Ausdrücken, die zu der früheren romantischen Begeisterung wenig paßten. „Denke dir, der Mensch hat noch immer nicht geantwortet,“ klagte sie.

„Vielleicht kann er alle deine Briefe nicht so rasch wieder zusammenfinden,“ meinte Gertrud. „Es war jedenfalls gut, daß du sie in der Nachschrift entschieden zurückgefordert hast.“

„Jawohl,“ erwiderte Thea verlegen, denn es fiel ihr nun doch aufs Gewissen, daß sie jene Nachschrift trotz ihres Versprechens an Gertrud durchaus nicht so entschieden abgefaßt hatte. „Nun,“ fuhr sie fort, „endlich wird er doch schreiben; die Gudula Wöllchen ist schon zweimal vergeblich auf der Post gewesen.“

[441]

Das Pfingstbier der Halloren: Trunk im Hof der Residenz.
Nach dem Leben gezeichnet von O. Gerlach.

[442] Also die Gudula Wöllchen besorgt das jetzt für sie, dachte Gertrud, nachdem sie sich getrennt hatten. Mich wundert nur, daß sie nicht von vornherein an die gedacht hat. Denn Fräulein Gudula Wöllchen war eines von jenen gutherzigen Geschöpfen, an die alle Welt zuerst denkt, wenn es gilt, eine undankbare Rolle unterzubringen. In der Schule, wo sie mit Gertrud und Thea in einer Klasse saß, war sie durch vier Dinge berühmt geworden, durch die Masse ihrer aschblonden Haare, die Größe ihres Frühstücksbrotes, die Geringfügigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistungen und vor allem durch ihre Gutmütigkeit. Sie wurde nicht einmal böse, wenn man über ihren Namen spottete und aus ihm unfreundliche Folgerungen auf ihren geistigen Zustand zog, und das ist das sicherste Zeichen einer kaum zu kränkenden Sanftmut. Nach der Schulzeit hatten sich die Wege geschieden, Gudula Wöllchen war in das Helldunkel der väterlichen – schon großväterlichen Weinstube zurückgetaucht, wo sie den häuslichen Geschäften mit viel mehr Neigung und Anlage nachging als vordem den Idealen höherer Mädchenbildung, und ihre Freundinnen aus sogenannten besseren Kreisen erinnerten sich ihrer meist nur, wenn es sich um eine Gefälligkeit handelte, für die sie sich selber zu gut dünkten: alsdann war die Gudula Wöllchen immer bereit, aus der Not zu helfen, und da sie es ohne Empfindlichkeit und Anspruch auf gesellschaftliche Gegendienste that, so erschien sie in den Augen von Thea Siebold und ihresgleichen mit jedem geleisteten Gefallen noch etwas dümmer.

Für Gertrud war die ganze Briefgeschichte ja nun abgethan. Hartwig Hoven hatte noch immer nicht mit dem leisesten Winke darauf angespielt, er schien die Sache vergessen zu haben, und sie hätte um alles in der Welt ihn nicht mehr daran erinnern mögen, zumal sie jetzt viel Besseres mit ihm auszutauschen hatte: Urteile und Anmerkungen über dieses und jenes gute Buch aus dem zweiten Regal, das sie auf seinen Rat gelesen, und eigene Gedanken und Lebensfrüchte, die unter den anregenden Lichtstrahlen der großen Dichter und Denker ganz von selber reiften wie draußen im Garten die roten Kirschen unter der warmen Frühlingssonne. Gertrud hatte vordem nur wenig gelesen, die hinterlassene Bücherei ihres Vaters war gering und übel zusammengestellt und in dem Ausgabenplan der Mutter gab es keinen Posten offen für Bücher. Nun empfand sie zuerst die Befriedigung eines unbewußt lange gehegten Seelenhungers, das beste, was ein und der andere große und klare Geist erdacht, in reinlichem Bande still für sich zu genießen und alsbald mit einem anderen, erfahreneren Leser prüfend und nachgenießend zu bereden. In der Nachwirkung solcher stillen Freude und dem sicheren Vorgefühl ihrer Fortsetzung ertrug sie leichter die üble Stimmung der Mutter. Und wirklich that eine solche Stärkung not, denn da Frau Marie Swarteborn seit einiger Zeit gar nichts Betrübendes zu erleben bekam, der neue Mieter und sogar das neue Mädchen gut thaten, die Tochter immer freundlich war und die oft prophezeite Krankheit hartnäckig ausblieb, so griff sie immer tiefer in den Quell selbstgeschaffener Leiden und war zuweilen wohl hart daran, vor lauter Sehnsucht nach Betrübnis den Verstand zu verlieren oder ihre nächste Umgebung um den ihrigen zu bringen.

Eines Abends hatte Gertrud eben den kleinen Theetisch im Zimmer ihrer Mutter gedeckt, als Hartwig Hoven eintrat, um anzufragen, ob er ihr ein neues Buch leihen dürfe. Er that dies jetzt öfter. Heute aber geschah es in einer ihm sonst völlig fremden Befangenheit. Den „Blonden Eckbert“ von Tieck, den er ihr ein paar Tage vorher gegeben, hatte er auf seinem Tisch vorgefunden und während er ihr nun zusah, wie sie die Spiritusflamme unter dem messingenen Kesselchen entzündete und geschickt daran herumhantierte, fragte er einleitend, wie ihr die seltsame Dichtung gefallen habe. „Sie ist wohl schön, aber furchtbar unheimlich und trostlos,“ antwortete sie. – „Ja,“ antwortete er etwas zerstreut, „es ist schwere Kost. – Was ich Ihnen noch sagen wollte,“ fuhr er plötzlich fort, indem er das mitgebrachte Buch auf den Tisch legte, „es liegt auch seit gestern ein Brief auf der Post, Psyche 111 postlagernd, ich habe es heute zufällig gesehen.“

Das traf sie so wunderlich, all die halbvergessene Angst und Unsicherheit jener ersten Tage nach seinem Einzug drängte sich ihr in einem Augenblicke lähmend zusammen, daß ihr war, als ob Bewegung und Sprache plötzlich versagten. Doch raffte sie sich zusammen und stieß hastig die Worte hervor: „Das geht mich jetzt nichts mehr an.“ Und da sie sogleich selber das Zweideutige dieser Worte empfand, setzte sie hinzu: „Es war für jemand anders, und ich wollte, ich hätte es nicht gethan.“

Dann schwieg sie und starrte in die Spiritusflamme, über der es im Kesselchen jetzt traulich zu summen begann. Hartwig Hoven war von der anderen Seite an das Tischchen getreten, er schwieg auch und betrachtete aufmerksam ihr gesenktes Haupt mit den vollen braunen Flechten über der weißen Stirn.

Endlich sagte sie leise: „Ich möchte sehr gern wissen, was Sie sich bei der Sache dachten.“

„Würde es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen einfach sagte, daß ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe?“ fragte er. „Unser Dienst sorgt dafür, daß wir an dem, was durch unsere Hände geht, wirklich viel weniger Anteil nehmen als das Publikum denkt.“

„Nein,“ erwiderte sie und sah ihn fest an, „das würde mir nicht genügen. Denn Ihre Antwort beweist mir ja schon, daß Sie doch darüber nachgedacht haben.“

„Sie sind gründlich wie immer,“ versetzte er lächelnd. „Es ist aber doch im allgemeinen richtig, was ich eben sagte, und wenn ich in diesem einzelnen Falle die geziemende Diskretion – in Gedanken – ein wenig überschritt, so müssen Sie mir schon erlauben, Ihnen zu sagen, daß Ihre postalische Anfrage daran weniger die Schuld trug als Ihre Person. Oder vielmehr der Gegensatz zwischen dieser Person und der Vorstellung, die man sich der leidigen Erfahrung nach von der Empfängerin eines Briefes mit derartiger Aufschrift macht … Nachdem ich Sie dann näher kennenlernte, wurde mir dieser Gegensatz alsbald entscheidend – und so habe ich mir, um Ihnen alles zu sagen, die Sache längst ungefähr so zurecht gelegt, wie Sie mir sie vorhin erklärten. Sind Sie nun zufrieden?“

Gertrud atmete tief auf. „Ja,“ sagte sie. „Und ich danke Ihnen herzlich. Aber sagen Sie nur, ist es denn auf alle Fälle so etwas Schreckliches um postlagernde Briefe?“

„Gewiß nicht!“ antwortete er lachend. „Es ist eine gemeinnützige Einrichtung wie andere. Die Post hat auch das mit den zwei größten Erfindungen, mit der Schrift und dem Buchdruck, gemeinsam, daß sie ihre Vorteile ganz unparteiisch den Guten und Bösen zu Gebote stellt, und unsereins denkt, wie ich Ihnen schon sagte, nicht daran, diese Unparteilichkeit durch vorwitzige Vermutungen zu beschränken. Dazu fehlt uns einfach die Zeit … Aber andere Leute haben vielleicht dazu mehr Zeit, und wenn es verlautet, daß eine junge Dame sich postlagernde Briefe unter einem poetischen Stichwort schicken läßt, so hat sie bei sogenannten guten Freunden und Freundinnen die Vermutung gegen sich … Verzeihen Sie – das soll keine Warnung sein, sie wäre ja überflüssig nach dem, wie sich die Sache verhält …“

Gertrud schüttelte den Kopf. „Ich würde Ihnen auch eine Warnung gewiß nicht verübeln,“ sagte sie herzlich und reichte ihm die Hand. Er blickte ihr in die Augen und that einen Schritt vorwärts.

In diesem Augenblick brodelte und zischte es zwischen ihnen, und eine blaugelbe Flamme loderte durch den weißen Wasserdampf hoch auf. Diese winzige Feuersbrunst, die im Nu unter Lachen und Scherzen gelöscht wurde, war aber doch ausreichend, einem anderen Feuerchen zwischen den beiden für diesmal die Luft zu nehmen. Nun trat auch die Mutter ein und das Gespräch war zu Ende.

Am folgenden Tage that Hartwig Hoven, was wir tugendhaften Leute öfters thun, er widerlegte seinen moralischen Vortrag durch das eigene Beispiel. Denn da er kurz vor Schluß der Poststunden zufällig hörte, wie der postlagernde Brief an Psyche 111 ausgeliefert wurde, sah er sich die geheimnisvolle Psyche genau an; aber er fand nicht, was er vermutete. „Nein,“ dachte er, „Fräulein Siebold ist es nicht, wenn sie ihr auch ungefähr an Fülle gleichkommt. Es wäre ja auch zu dumm, wenn sie selber käme. Aber was geht es mich an, ob das Zeug für sie ist oder für einen andern?“ Mit diesem Satze lenkte er wieder in den Pfad der Tugend, seine Augen aber beharrten noch auf der Bahn der Sünde, sie folgten der unbekannten Empfängerin des dicken rosafarbenen Briefes bis zur Ausgangsthür und gewahrten, wie sich dort ein Herr im Reiseanzug, der vorher auch nach postlagernden Briefen gefragt hatte, zu ihr gesellte. „Sieh mal an,“ brummte Hartwig Hoven in einem [443] argen Rückfall, „Psyche ist es ja wohl nicht, aber einen Amor hat sie doch schon.“

Fräulein Gudula Wöllchen erschrak sehr, als der blondbärtige Herr im grauen Reiseanzug sich so unversehens mit höflichem Gruße an sie wandte und sagte: „Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein, wenn ich mir erlaube … Friedrich Carl Meißner, für das Haus Engels, Schwarz und Compagnie … Ich hörte nämlich vorhin zufällig, wie Sie neben mir den Brief da verlangten,“ fuhr er noch leiser fort, „und ich glaube Ihnen darüber eine Mitteilung schuldig zu sein.“

Nun erschrak sie erst recht und verwünschte zum erstenmal ihre Gutherzigkeit, da sie in dem Fremden zum mindesten so etwas wie einen Geheimpolizisten witterte, trotz seiner harmlosen kaufmännischen Vorstellung. „Bitte, bitte!“ stammelte sie und schritt eilfertig aus dem Lichtglanz des Postgebäudes tiefer in das Dunkel des Platzes, während der Herr mit großer Höflichkeit nach ihrer linken Seite überschwenkte und dabei durch sein Manövrieren ihre Angst noch steigerte.

„Wie gesagt, mein gnädiges Fräulein,“ begann Herr Friedrich Carl Meißner, „es war der reine Zufall, daß ich vorhin neben Ihnen stand und in Ihnen die liebenswürdige Empfängerin dieses Briefes kennenlernte; ich bin erst vor einer Stunde mit der Bahn angekommen und wollte nur nachfragen, ob Briefe von unserem Hause für mich vorlägen. Ich bin nämlich aus derselben Stadt wie Ihr Brief da, und wenn ich auch nicht weiß, was darin steht, so weiß ich leider genau, was in den Briefen stand, die Sie vorher geschrieben haben, und wenn ich Ihnen sage, daß es außer mir noch einige Dutzend anderer Leute bei uns wissen, so werden Sie mir ohne weiteres zugeben, daß es meine Pflicht ist, Sie vor einem Menschen zu warnen, der das Vertrauen einer so liebenswürdigen jungen Dame so schändlich mißbraucht. Sie kennen diesen Herrn Adolf Schräger vielleicht nicht einmal dem Namen nach, er beliebte sich Ihnen ja als Marquis Posa vorzustellen. Ein netter Posa! Ich kenne ihn leider sehr genau, bin sogar schuld, daß er in unserem Kaufmännischen Verein Aufnahme fand, obwohl er erst Volontär ist – seinem Alter nach könnte er schon etwas anderes sein, aber er hat sich ja schon in verschiedenen anderen Branchen umgethan, war Student, Fähnrich, Schauspieler, was weiß ich – bis ihn schließlich sein Alter – pardon, sein Vater einem unserer Bankhäuser als Volontär auf den Hals lud; der Vater ist nämlich ein riesig reicher Wollhändler in irgend einem Nest an der polnischen Grenze. Ich will Ihnen weiter nichts davon erzählen, was der Kerl alles für Unfug in unserem Verein während dieses halben Jahres angestiftet hat; das Schlimmste, und das interessiert uns ja hier auch allein, war, daß er in der Bezechtheit mit Ihren Briefen herausrückte und Ihre zarten poetischen Gedanken in einem Tone erläuterte, wofür mir einfach die Ausdrücke fehlen! einfach fehlen!! Na, wir haben ihn denn auch ordentlich zugedeckt, denn so etwas dulden wir denn doch nicht in unserem Kreise, und als er gar nicht kleinbeigeben wollte und noch obendrein sich mausig machte, von Kartenwechsel sprach und von Forderungen und dergleichen, hat ihn mein Freund Konrad Müller – alter Artillerist, wissen Sie – vor die Thüre geworfen, der hat darin eine glückliche Hand; und in der nächsten Sitzung haben wir ihn mit Pauken und Trompeten rausballotiert. Wir dachten wenigstens, daß er jetzt genug von seiner Marquis Posaspielerei hätte, und übrigens wenn wir gewußt hätten, wie Fräulein Psyche mit ihrem Namen hieße, hätten wir Ihnen diskret Nachricht gegeben; aber das hat er uns nicht verraten, hoffentlich weiß er es selber nicht! Nun muß ich leider jetzt eben so rein zufällig erfahren, daß er das Spiel noch immer fortsetzt – das heißt für mich ist es ja natürlich ein sehr glücklicher Zufall, da er mir Gelegenheit giebt, einer so liebenswürdigen jungen Dame eine Warnung zukommen zu lassen, die Sie mir hoffentlich nicht verübeln werden! Sollte ich Ihnen übrigens in dieser Angelegenheit irgendwie nützlich sein können, mein gnädiges Fräulein, so bitte ich, ganz über mich zu verfügen!“

So berichtete Herr Friedrich Carl Meißner, während er mit seiner Begleiterin unter den duftenden Linden des Postplatzes hin und her wandelte und bei jedem Umwenden seine höfliche Flankenverschiebung sehr geschickt wiederholte, ohne dabei im Sprechen innezuhalten. Fräulein Gudula Wöllchen aber bewies jetzt, daß ihre viel mißbrauchte Gutherzigkeit sich mit einer starken Gabe praktischen Verstandes paarte. Thea Siebold hatte ihr nichts von dem Gegenstande des Briefes erzählt, und auch aus den Worten des fremden Herrn wurde sie sich noch nicht ganz klar darüber; aber sie verstand ohne weiteres, daß Thea Siebold sich in eine gefährliche Verbindung mit einem schlechten Menschen eingelassen habe, daß man ihr womöglich heraushelfen müsse, und sie fühlte, daß aus den Worten des Warners an ihrer Seite eine tüchtige und zuverlässige Gesinnung spreche. Und so antwortete sie frei weg: „Es liegt da ein kleines Mißverständnis vor, Herr – – Meißner, nicht wahr? – Ich bin nämlich selbst nicht die Empfängerin dieses Briefes, ich sollte ihn nur für eine Freundin abholen, und ich wußte bis jetzt überhaupt nichts von der Geschichte. Aber das macht ja weiter nichts; das konnten Sie ja nicht wissen, und ich muß Ihnen für Ihre freundliche Mitteilung gerade so gut im Namen meiner Freundin danken, als wenn es mich selber anginge. Wenn aber jener Mensch Briefe von meiner Freundin hat und so wüst damit umgeht, so müssen wir doch sehen, daß er sie wieder herausgiebt, nicht wahr? Und dazu könnten Sie und Ihre Freunde wohl helfen. Wenn Sie mir vielleicht“ – sie stockte ein wenig und errötete unter dem Schleier – „wenn Sie mir Ihre Adresse angeben wollten –?“

„Friedrich Carl Meißner, Geschäftsreisender – ich logiere hier im ‚Preußischen Hof‘,“ erwiderte der Herr mit einer Verbeugung. „Gnädiges Fräulein machen mich wirklich sehr glücklich durch Ihr Vertrauen, und ich werde es nicht enttäuschen. Bitte nur tausendmal um Verzeihung wegen des Mißverständnisses! Es ist mir in der That eine große Erleichterung, daß Sie nicht die Hereinge – – pardon, die Getäuschte sind, so sehr ich auch Ihre Freundin bedaure. – Aber dann müßte ich mir doch schon die Freiheit nehmen, gnädiges Fräulein um Ihren werten Namen zu bitten!“

„Gudula Wöllchen heiße ich,“ sagte sie, „mein Vater ist Weinwirt – Langgasse 37, im ‚Goldenen Fäßchen‘. – Wir führen das Schild schon seit achtzig Jahren,“ fügte sie hinzu; denn dies war ihr einziger, ererbter und anerzogener Stolz.

„Ah, sehr angenehm – sehr angenehm,“ erklärte er mit aufrichtigem Vergnügen. „Dann habe ich ja die Ehre, sozusagen eine werte Geschäftsfreundin vor mir zu sehen. Ihr Herr Vater bezieht schon seit zwanzig Jahren von uns – wollte eben morgen früh bei ihm vorsprechen. Ich mache die Tour zum erstenmal – mein Vorgänger war der alte Hilgers, wenn Sie ihn gekannt haben? Er schnupfte.“

„Gewiß habe ich ihn gekannt,“ antwortete sie freundlich, „und er hat mich manches Mal zum Niesen gebracht. Nun, dann werden wir uns ja wohl noch öfters sehen, Herr Meißner. Ich muß jetzt nach Hause …“

„Wenn gnädiges Fräulein vielleicht meine Begleitung –“

„Danke sehr,“ erwiderte sie mit einem schalkhaften Lächeln. „Sie sehen ja, wie man sich in acht nehmen muß vor den Leuten. Adieu, Herr Meißner – auf Wiedersehen!“

Damit nickte sie ihm zu und entfernte sich leichten Schrittes.

Herr Friedrich Carl Meißner blickte ihr ganz begeistert nach. „Famoses Mädel!“ murmelte er. „Das wäre so was für einen ehrlichen Geschäftsmann. Und dazu die Tochter aus einer solchen stillen Goldgrube – womöglich die einzige Tochter. – Na, das ist doch mal eine Tour, die vernünftig anfängt!“


4.

Hartwig Hoven saß auf dem Sofa und blickte verdrießlich in einen Brief, den ihm das Mädchen mit dem Nachmittagskaffee heraufgebracht hatte, als Gertrud mit einer häuslichen Anfrage ihrer Mutter in die Thür trat. Er hatte schon beim Nachhausekommen so gedankenvoll dreingesehen, vermutlich war ihm etwas Unangenehmes im Dienste widerfahren. Um so mehr that es ihr leid, daß sichtlich auch der Brief ihm nur Aerger bereiten mußte.

„Sie haben eine unerfreuliche Nachricht erhalten?“ fragte sie bescheiden, mit leiser Stimme.

Er fuhr auf und warf den Brief mit einem ärgerlichen Lachen auf den Tisch. „Im Gegenteil,“ sagte er. „Wenigstens der Brief fängt mit einem ,Du wirst Dich gewiß freuen‘ an. Meine Tante Alma – meines Vaters Stiefschwester – ist auf den Einfall gekommen, vor ihrer Badereise auch diese Stadt mal kennenzulernen, und sie beauftragt mich, ihr ein ruhiges Zimmer auf ein paar Wochen zu verschaffen.“

[444] „Ich wußte gar nicht, daß Sie noch eine so nahe Verwandte haben,“ versetzte Gertrud. „Sie haben mir nie etwas davon erwähnt.“

„Es hat seine Gründe,“ erwiderte er. „Wenn ich Ihnen Gutes von ihr erzählen sollte, so hätte ich Ihnen höchstens ihre Kuchenrezepte aufzählen können; denn darin ist sie allerdings stark… Sie ist ein ältliches Fräulein, unabhängig, gescheit und gewandt in vielen Dingen, in der Rede sogar sehr; aber sie leidet am schlimmsten Uebel, das alleinstehende und kluge Menschen befallen kann: an her Selbstgerechtigkeit und Wohlweisheit; und ich fürchte, sie reist eigentlich nur so viel herum, um immer neuen Opfern vorrechnen zu können, wie sehr jene nach Verdienst leiden, wie sehr sie noch zu leiden bekommen, und wie glücklich sie es dagegen nach Verdienst hat.“

„Das ist eine harte Schilderung,“ meinte Gertrud lächelnd. „Wissen Sie wirklich nichts Besseres von ihr zu sagen?“

„Sie erinnern mich zur rechten Zeit,“ erwiderte er etwas beschämt. „Ich müßte allerdings noch hinzufügen, daß sie es mit mir in ihrer Art immer gut meinte und mir sogar manchmal eine Beihilfe angeboten hat, die ich glücklicherweise nicht zu benutzen brauchte, denn sie wäre mir oft genug vorgerechnet worden. – Uebrigens kommt mir der Auftrag doppelt ungelegen. Denn eben heute vormittag hat mir der Chef eröffnet, daß ich vom nächsten Montag an auf einen Monat oder länger hinaus soll. Es giebt da in einem über Nacht angewachsenen Industrienest, acht Stunden von hier, ein neues Postamt einzurichten, und dieser Auftrag ist mir gewissermaßen als ein Abschnitt meiner Prüfungsarbeiten zu teil geworden.“

Gertrud erblaßte sehr. „Es ist wohl eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?“ sagte sie mit unsicherer Stimme; und fast wider Willen fügte sie hinzu: „Wir werden Sie gewiß die Zeit über sehr vermissen. Es ist ohnedies so einsam bei uns.“

Er war hastig ein paarmal das Zimmer abgeschritten und blieb nun vor ihr stehen. „Das hängt mit dem besonderen Wesen Ihrer Mutter zusammen, nicht wahr? Bitte, seien Sie mir nicht böse, daß ich davon rede, oder seien Sie es wenigstens erst nachher. Es liegt mir längst auf dem Herzen. Ist sie denn schon seit langem in dieser trübseligen Stimmung?“

„Ich habe sie eigentlich nie anders gekannt,“ antwortete Gertrud leise. „Es ist wohl nun einmal ihr Wesen so.“

„Schrecklich!“ rief er. „Was müssen Sie – – – ich meine, wie schwer muß es sein, eine solche immerwährende graue Laune zu ertragen!“

Sie lächelte trübe. „Das lernt sich,“ sagte sie. „Und dann – ich habe die Mutter doch herzlich lieb und im Innersten meint sie es auch nur gut mit mir. Freilich ist’s oft ein Jammer, aber ich glaube, jeder Mensch hat so seine Bestimmung, und in die muß er sich eben schicken, ob es süß oder sauer wird.“

„Das wäre Ihre Bestimmung?“ erwiderte er heftig. „Sie können doch nicht im Ernst meinen, Sie seien bestimmt, Ihre ganze Jugend hier zu vertrauern, um einer selbstquälerischen Laune Gesellschaft zu leisten? Wenn es noch dadurch besser würde! Nein, Fräulein Gertrud, so grausam kann der liebe Gott es doch nicht meinen! … Das ist eine Grille – eine schöne, fromme Vorstellung meinetwegen, aber keine wahre … Und wenn Sie einmal unbeirrt Ihr Herz fragen, weiß es Ihnen für Ihre Person, für so viel Anmut und Thätigkeit, so viel Kraft, glücklich zu sein und – zu beglücken, keine bessere Bestimmung zu sagen, Gertrud?“

„Nein!“ rief sie und entzog ihm ihre Hand, die er bei den letzten Worten ergriffen hatte. „Reden Sie nicht weiter so zu mir, denn ich fühle, daß es nicht das Richtige ist. – Wer sagt Ihnen denn, daß ich hier nichts helfen kann?“ fuhr sie fast trotzig fort, denn nun widersprach sie nicht bloß ihm, vielmehr auch einer Stimme in sich selbst, mit der sie in diesen Tagen oft genug gerungen hatte. „Wenn Sie das Wesen meiner Mutter erkannt haben, so werden Sie auch wissen, wie wenig ihr unglückseliges Wesen angethan ist, sie vor wirklichem Schaden und Kummer zu bewahren. Die Leute sind ihr nicht freiwillig zu Diensten wie anderen, fröhlicheren Menschen. Ein trauriges Gesicht macht keine Freunde, so viel habe ich auch schon vom Leben gelernt …. Ich aber gehöre zu ihr, und das habe ich aus dem Katechismus behalten, daß wir unseren Eltern dienen sollen und auch mit ihren Gebrechen Geduld haben …. Ich weiß, daß es mir gewiß keine Ruhe mehr lassen würde, wenn ich das einmal vergäße …. und ich habe die Moral wohl begriffen aus der Geschichte, vom ‚Blonden Eckbert‘, wissen Sie, worauf Sie mich besonders aufmerksam machten – von dem schönen Mädchen, das in allem Reichtum und allem Liebesglück nicht zur Ruhe kommt – immerfort folgen ihm die Klagen der beiden Wesen, die seiner bedurften und die es verlassen hat, um dem Glück nachzugehen …. und es waren doch nur ein Vogel und ein Hund. Aber Pflicht ist Pflicht ….“ Sie hielt einen Augenblick inne und sah ihm bittend ins Gesicht, beide Hände auf die Brust gedrückt. „Nein, bitte, reden Sie mir nicht weiter zu,“ bat sie. „Ich fühle, daß ich’s so halten muß, und dies Gefühl dürfen Sie mir nicht verwirren, es ist ja meine Kraft gewesen während all der trüben Jahre.“

„Ja, ja,“ ergab sich Hartwig Hoven darein, „ja, Fräulein Gertrud, ich will ja alles thun, was Sie wollen, weinen Sie nur nicht!“ Er fühlte sich völlig hilflos vor dieser umsichtigen Halsstarrigkeit, die sogar seine harmlosen Bemerkungen aus ihrem gemeinsamen Dichterstudium zu entscheidenden Beweisen umschmiedete und ihm den fertigen Korb schon vor die Thür hing, ehe er mit seiner Werbung herauskam. In verdrossenem Schweigen stellte er sich an ein Fenster und blickte in den Garten hinaus; sie stand am anderen Fenster und that desgleichen, ihre Blicke trafen sich möglicherweise auf demselben blühenden Rosenstrauch, aber mit dem Frühling zarter Seeleneinigkeit, der so hübsch zwischen ihnen geblüht hatte, schien es völlig aus.

Endlich wandte er sich halb um und fragte, ohne sie anzusehen: „Glauben Sie denn, daß diese trübselige Stimmung sich durch kein Zureden mindern ließe?“

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte, ohne ihn anzusehen: „Höchstens steigert es sie noch. Dazu genügt sogar das kleinste Trostwort. Es ist eben ihre Art. Und am Ende habe ich auch etwas davon in mir.“

„Fräulein Gertrud!“ rief er erschrocken, indem er sich ganz zu ihr wandte und sie strafend ansah.

„Nein, wirklich!“ erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. „Es ist mir vorhin wieder eingefallen. Als ich noch ein kleines Schulmädchen war, begegnete ich einmal auf der Straße einem armen Kinde, das so entsetzlich hinkte! Seitdem meinte ich, wenn mir der Fuß nur im geringsten wehthat, das sei der Anfang zu demselben Leiden, ich weinte und klagte, da half kein Zuspruch, und wenn man mich deshalb strafte, so versteckte ich mich und weinte im geheimen weiter. Es hat lange gedauert und ich habe meiner armen Mutter gewiß viel Kummer damit gemacht. Erst als ich in eine andere Klasse kam, fand sich eine Lehrerin, die mir meine dumme Einbildung vertrieb.“

„So?“ fragte Hartwig Hoven, indem er näher trat und sie gespannt betrachtete. „Wie hat sie das denn angestellt?“

„Auf eine ganz einfache Art,“ berichtete Gertrud weiter. „Sie stellte sich, als ob sie meine Meinung teilte, ja sie übertrieb sie noch und malte mir mit hochgezogenen Brauen aus, wie dies nur erst der Anfang sei: erst hinke man mit dem einen Fuß, dann mit dem andern, dann falle einem der Zopf ab – ich trug damals einen sehr langen, auf den ich lächerlich stolz war – und dann der Kopf; und das komme alles daher, weil ich meine Schuhriemen nicht ordentlich bände. Nun weiß ich nicht, wie das kam – aber mit dieser Uebertreibung muß sie wohl meine Zweifelsucht gereizt haben. Ach, dachte ich, wie soll das denn zugehen, daß so schlimme Dinge aus einer so kleinen Unordnung entstehen? Und zudem kannte ich doch manche große Mädchen, die die Schuhe nicht besser banden als ich und trotzdem kerngesund auf zwei Beinen herumsprangen, mit ihrem Kopf und einem Zopf, noch länger als der meine. So fing ich allmählich an, der Geschichte zu mißtrauen: erst zweifelte ich an der schlimmen Wirkung auf Kopf und Zopf, von da stieg der Zweifel zu den Füßen herunter, und schließlich nahm er mit der Uebertreibung auch meine eigene Aengstlichkeit mit. Bei alledem versäumte ich aber nicht, sehr sorgfältig auf meine Schuhe zu achten, und so schaffte mir die Lehrerin auf diesem Umwege auch noch ein Stückchen Unordnung ab.“

Gertrud hatte sich mit dieser kindischen Geschichte selber etwas erheitert, sie blickte freier und wagte zum Schluß sogar ein kleines bescheidenes Lachen. Hartwig Hoven sah ihr noch einen Augenblick tiefsinnig in das anmutige, leichtgerötete Gesicht, dann stimmte

[445]

Prinz Eugen in der Schlacht bei Belgrad am 16. August 1717.
Nach einer Originalzeichnung von G. Adolf Cloß.

[446] er plötzlich mit lautem Gelächter ein und faßte sie so ungestüm bei der Hand, daß sie ordentlich erschrak. „Aber das ist ja eine unbezahlbare Geschichte, Gertrud!“ rief er. „Hätten Sie mir die doch früher erzählt, oder hätten Sie sich die Moral daraus gezogen – Sie sind doch sonst so gewandt darin! Aber freilich, heute war gerade der richtige Tag – der Brief da und Ihre Geschichte, die passen zusammen – es ist eine sichtbare Fügung!“

„Nun verstehe ich Sie aber gar nicht mehr!“ stammelte Gertrud.

„Natürlich!“ fuhr er fort. „Es geht Ihnen wie allen großen Entdeckern: Sie haben die Kur für Ihre Mutter gefunden und merken es nicht. Nun denn in zwei Worten: Sonntag abend reise ich fort und Dienstag zieht meine Tante Alma hier ein. Sorgen Sie nur mit, daß es Ihrer Mutter recht ist. Für das übrige bürge ich. Denn wenn Sie Ihre Schulmädchengrille mit dem Hange Ihrer Mutter vergleichen, so dürfen Sie mir dafür glauben: Ihre kluge Lehrerin von damals war in der Kunst, andern Leuten ein eingebildetes Uebel dadurch auszureden, daß man ihnen noch zehn größere dazu prophezeit, nur eine Stümperin gegenüber meiner Tante. Ihre Lehrerin betrieb die Kur ja nur halb. Meine Tante aber fügt zu dem negativen Reiz auch den positiven: sie beweist den Leuten auch, daß ihr allein nichts geschehen könne, weil sie allein ihre Schuhe richtig bindet. Damit weckt sie den Zweifel noch ganz anders.“

Gertrud lächelte noch sehr ungläubig; aber ein wenig hatte er sie doch mit seiner Zuversicht angesteckt, und es that ihr schon wohl, ihn wieder so fröhlich zu sehen. Sie ermahnte ihn selbst, sogleich an die Tante zu schreiben, und sie versprach auch – unter vielem Erröten – ihm während seiner Abreise regelmäßige „Berichte“ zu senden. Er bestand darauf, daß er ihr dann aber auch antworten müsse.

„Doch wohl nicht gar postlagernd?“ fragte sie mit einem Schrecken, in den sich schon ein gewisser Mutwillen mischte.

„Das Einfachste wäre es,“ meinte er; doch fanden sie es nach einigem Beraten besser, daß er die Briefe an seine eigene Adresse sendete und es so einrichtete, daß Gertrud sie immer morgens mit der ersten Ausgabe, während die Mutter noch ruhte, in Empfang nähme. „Ich werde sie Ihnen sorgfältig und ungeöffnet verwahren,“ scherzte sie.

Da er sie so heiter sah, schien er ihr noch etwas anderes, wichtigstes anvertrauen zu wollen; aber sie entzog ihm ihre Hand bei den ersten Worten. „Wir haben ein gutes Werk vor, nicht wahr? Lassen Sie uns es nicht vorzeitig verrufen!“ bat sie. Mit diesen Worten und dem Blick, der sie begleitete, mußte er sich einstweilen zufrieden geben.


5.

„Lieber Herr Hoven! Ihrem Wunsche gemäß schreibe ich Ihnen heute. Morgen werden es gerade acht Tage, daß Ihre Tante bei uns eingezogen ist. Es war eine ziemlich bewegte Zeit, aber ich fange fast an zu glauben, daß Sie mit Ihrer Meinung recht behalten –“

„So!“ sagte Gertrud und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer der Erlösung in den Schreibsessel zurück – in den Hartwig Hoven persönlich gehörenden Schreibsessel. Noch nie hatte ihr eine schriftliche Arbeit so viel Mühe gekostet wie diese beiden Sätze; nicht einmal der große Schlußaufsatz in der obersten Klasse der Mädchenschule: „Welche Empfindungen flößt uns der Anblick eines Gießbaches ein?“ war ihr so schwer geworden. Schon die Wahl der Anrede hatte zwei Briefbogen gekostet. „Geehrter Herr“ kam ihr zu gewöhnlich vor, „Lieber Herr Postsekretär“ fand sie „geradezu kindisch“, als es sie in ihrer eigenen Handschrift angrinste, und auch mit der dritten Fassung hatte sie sich nur aus Rücksicht auf die Unbeholfenheit der deutschen Sprache errötend abgefunden. „Die Engländerinnen haben es bequemer mit ihrem Dear Sir,“ dachte sie. Dann hatte sie sich eine endlose Zeit umsonst abgequält, um die richtigen Ausdrücke für einen genauen Bericht, wie er ihn wünschte, zu suchen, und schließlich war von der ganzen Arbeit nichts übrig geblieben als dieser dürftige Niederschlag.

„Nein,“ sagte sie, „es geht wirklich nicht; so etwas erlebt man, aber wie soll man es als Tochter einem andern schicklich schildern? – Abgesehen davon, daß es zu lang würde.“ Denn gleich am ersten Tage hatte es ja angefangen. Die Begrüßung war soweit ganz harmlos verlaufen. Frauen verstehen es so viel besser als Männer, sich beim ersten Zusammentreffen mit liebenswürdigen Formen über das drückende Bewußtsein, daß man sich noch gar nichts zu sagen hat, wegzuhelfen. Die hagere, ganz in Staubgrau gekleidete Dame hatte sich sogar sehr günstig eingeführt, indem sie die Wohnung ihres Neffen lobte und hinzufügte: „Er verdient es aber auch.“ Mit diesem Zusatz machte sie Gertrud glücklich, und mit dem Lobe der Einrichtung streute sie Frau Swarteborn den süßesten Wohlduft, den diese betrübte Seele noch zu empfinden vermochte. In allseitiger Befriedigung hatte man sich an den Kaffeetisch gesetzt, im Garten, gerade unter den Fenstern von Hartwigs Wohnzimmer. Frau Swarteborn hatte ihre ganze Backkunst aufgeboten, sie freute sich der anerkennenden Blicke des Gastes, unterließ aber nicht, mit vielem Seufzen hinzuzufügen, wie oft ihr gerade dies und jenes Backwerk noch im letzten Augenblick mißrate. Sie habe eben Unglück damit.

Die Dame sah sie aus den grauen scharfen Augen ruhig an und kostete. „Ja, meine liebe Frau Swarteborn,“ sagte sie, „das ist auch kein Wunder. Ich merke schon, Sie kennen das Rezept nicht. Mir passiert so etwas nicht. Wie machen Sie diese Kuchen denn?“ Und nachdem die Hausfrau, ganz verblüfft, ihr Rezept hergesagt, fügte der Gast hinzu: „Also so machen Sie das? Dann wundert mich, daß es Ihnen überhaupt noch so gut gelingt wie diesmal.“

Frau Swarteborn sah sie erschrocken an, sie sah auch ihre Tochter an, aber die meinte: „Ach, Mama, dann laß dir doch ’mal Fräulein Hovens Rezept geben.“

„Ja, das wird denn wohl so sein,“ versetzte Frau Swarteborn ganz schwach, nachdem Fräulein Hoven ihren Vortrag beendigt. „Wir können es ja ’mal probieren, Gertrud, aber du sollst sehen, es verunglückt uns.“

„Das kann anfangs jedem passieren,“ bemerkte Fräulein Hoven, „als ich noch nicht perfekt war, ist es mir auch schon passiert.“

Als man sich vom Kaffee erhob, hatte Frau Swarteborn bereits erfahren, daß die von ihr als einzigartiges Unglück beklagten speckigen Stellen auf dem neuen schwarzseidenen Kleide eine unausbleibliche Folge mangelhafter Stoffkenntnis beim Einkaufen seien, und sie wußte genau, durch welche Mittel Fräulein Hoven dafür sorgte, daß sie sich niemals über naschhafte Mägde zu beklagen habe.

An diesem Tage war Gertrud mit heißen Thränen zu Bett gegangen, das Herz voll bitterer Selbstvorwürfe darüber, daß sie die Hand zu einem Versuch geboten habe, der ihr kindliches Zartgefühl schwer verletzte und doch völlig aussichtslos schien; denn sie war überzeugt, daß diese Zwei keine drei Tage zusammenbleiben würden, und malte sich schon mit Schaudern aus, welch reiche Ernte kummervoller Betrachtungen ihre Mutter aus der Begegnung mit dieser rücksichtslosen Dame züchten werde, die ihren Hausfrieden gestört und sie obendrein noch mit Herrn Hoven entzweit habe. Denn das war ja klar, daß er sich dann auch von ihnen trennte – entweder hielt er es notgedrungen mit der Tante, oder Frau Swarteborn graulte ihn mit ihren Erinnerungen an deren Besuch davon.

Aber wider Erwarten bemerkte Gertrud in den nächsten Tagen, daß die Mutter die Gesellschaft von Fräulein Hoven keineswegs mied, ja sogar ihre Belehrungen geradezu herauslockte – vorerst allerdings nur, um ihren Selbstbetrachtungen ein neues Kapitel hinzuzufügen, da sie nun mit wortreicher Uebertreibung darüber jammerte, wie übel man sie in ihrer Jugend häuslich unterwiesen habe. Von einer Dame, die nie verheiratet gewesen sei und das halbe Jahr auf Reisen herumziehe, müsse sie jetzt in grauen Haaren erst die Anfangsgründe lernen! Gertrud schwieg und wartete in ängstlicher Spannung ab, wohin das nun führen werde. Das Dienstmädchen kündigte, da es sich zwischen Frau Swarteborns Klagen und Fräulein Hovens Zurechtweisungen wie im Fegefeuer vorkam. Die einzige, die es im Hause wirklich angenehm fand, war Fräulein Alma Hoven. Sie strich jeden Tag einige vornotierte Sehenswürdigkeiten in ihrem Reisebuch unbesucht aus und überredete die geduldige Wirtin, sie zum Besuch der anderen zu begleiten, nur um das Vergnügen ihrer Unterhaltung öfter zu genießen.

Dann aber änderte sich die Lage. Die arme Seele, die sich so lange selber gequält, fing an, sich gegen die fremde Quälerei aufzulehnen; es erging ihr wie einem Menschen, der einen wunden Finger hat und oftmals sacht darüber streicht, um sich mit einer gewissen Befriedigung zu überzeugen, wie weh es thut, aber sehr [447] ärgerlich wird, wenn ihm der plumpe Händedruck eines andern diese Ueberzeugung unversehens bestätigt. Merkwürdigerweise machte sich der Rückschlag zuerst bemerkbar, als Fräulein Hoven auch den Heimatsstolz ihrer gutmütigen Wirtin angriff. Die hauswirtschaftlichen Belehrungen der überklugen Dame hatte Frau Swarteborn mit Ergebenheit hingenommen; als aber jene auch die geschmacklose Ueberladung einer Kirche mit einigen Worten tadelte, die unmittelbar aus ihrem Reisehandbuch stammten und von keinem Kenner angezweifelt waren, da ertrug es Frau Swarteborn nicht, ein Bauwerk beleidigt zu sehen, in dem sie selber konfirmiert und getraut worden war. „Wissen Sie, meine Liebe,“ sagte sie in einem Tone, den Gertrud noch nie von ihr gehört hatte, „das ist eben Geschmackssache. Der Geschmack ist verschieden. Wir waren ja wohl damals beide noch nicht auf der Welt, der Baumeister konnte Sie nicht um Rat fragen. Und wenn er es gekonnt hätte, wer weiß, ob er sich nach Ihnen gerichtet hätte?!“

Fräulein Hoven war so überrascht, daß sie gar keine Antwort fand und einstweilen willig zugriff, als Gertrud das Gespräch auf einen anderen Punkt leitete. Es war ihr zu Mute wie einem Piraten, der so recht sicher und beutefroh hinter einem vermeintlich wehrlosen Kauffahrer herschießt und nun plötzlich sehen muß, wie es auch drüben aus den Luken rot aufblitzt. Verwundert hört er über sich etwas durchs Takelwerk surren und einen dumpfen Knall von drüben her aus dem kleinen weißen Wölkchen – „Nanu!“ ruft er, „die schießen ja auch!“ Und das einseitige Bombardement verwandelt sich in einen niedlichen Artilleriekampf. Anfangs ist der Kauffahrer noch im Nachteil, es fehlt ihm die Uebung und vollends der Mut zum entschlossenen Angriff, er will nur seine Schwäche decken, und es mißlingt ihm zuweilen, aber die Angst selber treibt ihn alsbald, dem andern zuvorzukommen, und der erfahrene Pirat merkt mit einem gewissen ärgerlichen Vergnügen, daß es ernst wird. „Endlich doch einmal etwas anderes als diese billigen Triumphe!“ –

Indem Gertrud die wunderliche Entwicklung der Dinge in Gedanken nochmals durchlebte, lächelte sie fast behaglich, denn sie hoffte jetzt wirklich auf einen Erfolg der „Kur“, und durch diese Hoffnung schimmerte noch eine andere ganz heimlich und verstohlen durch, die sie sich in holder Verwirrung weder zu gestehen noch zu versagen wagte. Hastig fuhr sie sich mit dem Tuch über die erglühenden Wangen. „Ich kann das aber doch nicht so abschicken,“ murmelte sie. „Was schreib’ ich denn noch? Aha –:

‚Wir haben für Ihre Tante das Schlafzimmer eingerichtet, da es ja noch reichlich Raum für einige Möbel mehr bot und sie nur ein Zimmer haben wollte. Ihr Wohnzimmer ist also unbewohnt; ich halte mich viel hier auf, besonders wenn Mama mit Ihrer Tante aus ist, und auch diesen Brief schreibe ich an Ihrem Schreibtisch, mit Ihrem eigenen Stachelschweinfederhalter.‘

Wie dumm sich das nun wieder ausnimmt!“ unterbrach sie sich unzufrieden und blickte wieder, einer Eingebung harrend, in den Garten hinaus, wo auf den höchsten Zweigen des höchsten ihrer Kirschbäume die Golddrossel sich wiegte und unermüdlich ihr kurzes Lied wiederholte, fünf volle, sonnigklare Töne. „Das hört er so gern,“ flüsterte Gertrud. Noch ein Weilchen lauschte sie nachdenklich, dann wandte sie sich wieder dem Brief zu und schrieb nun gleichmäßig fort, zuweilen tief aufatmend und lächelnd – ein sommerfrohes trauliches Geplauder: von all dem Schönen, das da draußen klang und blühte, von den schönen Büchern, die er ihr vor der Abreise zum Lesen empfohlen, dazwischen angelegentliche Erkundigungen, wie es ihm am neuen Ort ergehe – ob sein Zimmer auch Aussicht ins Grüne habe, und so fort. Erst vor der Unterschrift zauderte sie ein Weilchen überlegend; nun aber merkte sie auch, wie lange sie schon geschrieben hatte, erschrocken und eilig setzte sie hinzu: „Mit herzlichem Gruß Ihre Gertrud S.“, steckte den Brief in sein Couvert und schrieb die Aufschrift, eben als drunten die Hausthür vor den heimkehrenden Damen sich öffnete.

Pünktlich zur bestimmten Stunde am bestimmten Tage kam die Antwort – sie war noch länger als ihr Brief. Ueber die häusliche Lage ging auch er mit einigen Worten des Dankes und der Zuversicht hinweg, ohne die Vorwürfe, die sie wegen ihres kurzen Berichtes erwartet hatte; auch von sich und seiner Arbeit schrieb er wenig, um so mehr von ihr selber; und es war ihr, indem sie den Brief oftmals heimlich las, als klänge ihr daraus auch alles, was sie schreibend empfunden und auszudrücken versucht, wieder entgegen, nur viel reifer und voller – und zwischendurch immer, verhalten und tief, eine große Freude, so mit ihr und zu ihr zu sprechen. Da sie nun zu merken glaubte, daß ihm ihr Brief, wie er eben war, einiges Vergnügen gemacht habe, konnte sie kaum die Tage abwarten, wo sie den zweiten schreiben durfte. Diesmal aber war seine Antwort stückweise von einem Tage zum andern datiert, wie ein Tagebuch; da er alle Tage an sie denke, schrieb er, so müsse sie schon erlauben, daß er in solchem täglichen Zwiegespräch mit ihrem Bilde seine Einsamkeit belebe, ohne ihre Briefe abzuwarten. Sie wußte ihm ihr Einverständnis nicht besser zu bekunden, als indem sie sein Beispiel nachahmte. Dasjenige aber, was eigentlich den Anlaß zu dem Briefwechsel gegeben hatte, schrumpfte in ihren Briefen immer mehr zusammen, wie das Fruchtkäppchen an einem reifenden Apfel, und schließlich erledigte sie es mit einem täglichen vergnügten „Es geht immer besser!“

Hartwig Hoven schien auch damit zufneden zu sein; und übrigens wäre der gewiegteste Chronist ebensowenig wie Gertrud imstande gewesen, einen erschöpfenden Bericht über die merkwürdige Verschiebung zu geben, die sich im Wesen und Verkehr der beiden alten Damen allmählich vollzog.

Bei Frau Marie hatte sich Hartwigs Kurplan zunächst bewährt. Indem sie sich mit wachsendem Bedacht hütete, die Schulmeisterin mit mutlosen Klagen herauszufordern, kam sie überhaupt immer mehr aus der trauerseligen Selbstbetrachtung heraus. Sie verwandte ihren Scharfblick lieber darauf, bei der andern nach schwachen Stellen auszuspähen, um der Kritik mit Kritik zu begegnen oder wohl gar ihr zuvorzukommen. In dieser beständigen Anspannung lebte sie ordentlich auf wie ein alter Seemann, der sehr lange am Lande still gelegen und nun durch ein glückliches Ungefähr doch noch einmal dazu kommt, Salzwasserluft zu atmen und sich mit Wind und Wellen zu messen.

Fast in demselben Maße aber zeigte sich auch bei Fräulein Alma Hoven eine Gegenwirkung, an welche die beiden jugendlichen Kurmeister gar nicht gedacht hatten. Sie war es bisher gewohnt gewesen, mit ihrer Wohlweisheit und Besserwisserei nirgendwo auf Widerspruch zu stoßen; denn als eine wohlhabende und freistehende ältere Dame fand sie stets Leute, die von Beruf oder aus zarter Berechnung darauf eingerichtet waren, ihre Laune mit zielbewußter Ergebenheit schweigend zu ertragen; wer nicht von dieser Art war, ging ihr lieber mit einem frommen Wunsche aus dem Weg. So hatte sie sich ziemlich fest in ihre Unfehlbarkeit hineingeredet. Nun aber sah sie sich plötzlich abgewiesen, ja angegriffen. Das regte sie an, es erhöhte sogar ihre Achtung vor der anfangs unterschätzten Gegnerin. Sie fing an, hinter Frau Mariens selbstanklagender Ergebenheit eine besonders feine weibliche Strategie zu wittern, die mit dem Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit den andern versöhnt und einlullt, um ihn dann um so sicherer an der schwachen Stelle zu fassen. So entlehnten sie die Waffen voneinander, was dem friedlichen Kampf der Geister immer neue und anziehende Züge verlieh. Da sie aber zugleich nach Art kluger und häuslich gesinnter Frauen einander viel Nützliches für Haus und Leben ablernten, so gewann ihr Verkehr einen festen Boden, ja er versprach sich schon zu einer Art Freundschaft auszuwachsen – zu jener Freundschaft, die darauf begründet ist, daß die eine die Vorzüge der andern willig erträgt, weil sie auch deren Fehler zu kennen glaubt und sich allzeit in der Lage weiß, die Beschreibung der Freundin mit den Worten zu eröffnen: „Ach, das ist eine vortreffliche Frau! – Nur ….“

Im angenehmen Gefühl dieser wachsenden Verbindung fingen sie bereits an, inmitten des Kampfes zuweilen einen kleinen Waffenstillstand darauf zu verwenden, daß sie die erprobte Kraft gemeinsam auf einen Dritten richteten und sich die fremde Fehlerhaftigkeit zum Spiegel ihrer Tugenden zurechtschliffen.


4.

Auch Thea Siebold mußte die Waffen der Verbündeten fühlen. Das blonde Fräulein hatte sich seit einigen Wochen ziemlich rar gemacht, ohne daß Gertrud sie vermißte. Eines Tages, ein Stündchen vor Abenddämmern, sprach Thea doch einmal wieder vor. Sie erkundigte sich aber gleich mit einer gewissen Aengstlichkeit, ob Fräulein Hoven da sei, und als Gertrud erwiderte, die Dame lustwandle mit Mama im Garten, trat sie gar nicht ein und beschränkte sich auf ein paar Worte zwischen Thür und Angel.

[448] „Weißt du,“ sagte sie, „das ist eine schreckliche Dame ….! Und deine Mutter ist auch so kolossal verändert, gar nicht mehr so freundlich wie früher; ich weiß gar nicht, was sie auf einmal gegen mich hat …. Neulich trafen sie mich in der Konditorei, ich hatte mir bloß etwas Vanilleeis geben lassen – da sieht mich das Fräulein ordentlich traurig an und sagt: ‚Sie sind wohl sehr für Süßigkeiten, liebes Kind? Ach ja, ich hatte auch einmal eine Freundin in meinen jungen Jahren, die liebte die Näschereien sehr – ein armes Wesen. Sie hat so ein trauriges Ende genommen.‘ Nun bitte ich dich, was geht mich ihre Freundin an? Ich kenne sie selber ja kaum. Und deine Mutter nickt dazu und sagt ganz streng: ‚Sie sollten sich diese Neigung beizeiten abgewöhnen, liebe Thea. Ich bin froh, daß ich als junges Mädchen nie Eis und dergleichen gegessen habe!‘ Kolossal, was? Wo sie mir doch hier immer zuredet, daß ich noch mehr von ihren leckeren Sachen versuchen soll! So etwas kann einen kränken!“

Sie sah wirklich sehr gekränkt und angegriffen aus. „Ach ja,“ erwiderte sie auf eine teilnehmende Frage Gertruds, „ich habe auch viel durchgemacht in der letzten Zeit. Du erinnerst dich wohl, daß ich dir von einem gewissen Herrn Adolf Schräger erzählte – einem jungen Menschen, den ich auf einem Ball bei meinem Onkel kennenlernte?“

„Ich glaube, ja,“ sagte Gertrud. „Es war doch der junge Kaufmann, mit dem du so viel über Poesie gesprochen hast und der so gut Walzer tanzte, nicht wahr? Du schwärmtest ja ordentlich für ihn.“

„Erlaube,“ warf Thea ganz zornig ein, „da irrst du dich doch kolossal! Ich und für diesen Menschen schwärmen – lächerlich! Er kam mir ja gleich widerwärtig vor. Und siehst du, wie richtig ich ihn erkannt habe! Es war derselbe, der mir als Marquis Posa das dumme Zeug geschrieben hat.“

„Um Gottes willen,“ rief Gertrud erschreckt. „Weiß er denn, daß die Briefe an ihn von dir waren? Du hast sie doch hoffentlich alle wieder?“

„Nein,“ versetzte Thea, „daß ich die Briefschreiberin bin, weiß er zum Glück nicht; sonst könnte ich ja keine ruhige Stunde mehr haben. Und die Briefe habe ich wieder! Mühe hat’s freilich gekostet. Man hat sie ihm ordentlich abtrotzen müssen.“

„Man? Wer ist das? Dein Vater?“

„Behüte,“ lachte Thea, „das fehlte gerade noch. Nein, das hat Herr Meißner besorgt – ein Kaufmann aus derselben Stadt – ein reizender Mensch.“

„Woher kennst du denn den wieder?“

„Ach, weißt du, man hat so seine Verbindungen,“ erwiderte Thea ausweichend. „Er reist übrigens in Wein, ich habe ihm gesagt, daß er nächstens auch ’mal bei euch anfragen soll. Du darfst ihn aber nicht merken lassen, daß ich dir von der Sache gesprochen habe! Adieu, Herzenstrudchen, grüß deine liebe Mutter von mir! Aber das sag’ ich dir, das habe ich jetzt heraus: nimm dich vor heimlichen Briefen in acht, es ist eine kolossale Dummheit, und es kommt nichts dabei heraus als lauter Aerger und Verdruß!“

Gertrud blickte ihr lächelnd nach und stieg wieder die Treppe hinauf zu Hartwigs Zimmer, um dort noch einmal heimlich zum dritten- oder viertenmal seinen Brief zu lesen, den sie am Morgen dem Briefträger abgelauert hatte. Es war voraussichtlich der letzte; denn zugleich mit ihm war eine Karte von Hartwig an Frau Swarteborn gekommen, worin er ihr ankündigte, daß er in den nächsten Tagen zurückkehren werde, und Fräulein Alma Hoven war bereits darauf gefaßt, ihre Residenz nach dem Fremdenstübchen, einen Stock höher, zu verlegen. Sie wollte lieber für den Rest ihres Aufenthalts in der Stadt dort oben in der Enge unter dem Dach hausen, als Frau Mariens freundlichen Gutnachtgruß mit den gefühllosen Verbeugungen eines Oberkellners vertauschen. Selbst an Gertruds stilles und bescheiden schweigsames Wesen hatte sie sich gewöhnt und begegnete ihr mit einer aufrichtigen Freundlichkeit, deren sich junge Mädchen sonst nicht leicht von ihr erfreuten.

Nachdem Gertrud den Brief nochmals durchstudiert hatte, legte sie ihn vor sich auf den Tisch, um sich noch eine Weile an seinem Anblick und besonders an der Adresse zu ergötzen, während drunten im Garten die Finken zwitscherten und der Sand zuweilen leise unter den Füßen der auf- und abwandelnden Damen knirschte. Hartwigs und Gertruds Gedankenaustausch war von Brief zu Brief vertraulicher geworden, in den Formalien aber hatte sich wenigstens von ihrer Seite nichts geändert und auch er unterzeichnete nach wie vor mit seinem vollen Namen. Sie fand, daß es ein sehr schöner Name sei und daß er ihn sehr schön schreibe; wie sie ihn nun wieder vor sich sah, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, zu versuchen, ob sie ihn wohl so schön nachmalen könne. Da sie es aber zum dritten- oder viertenmal versuchte, merkte sie plötzlich, daß sie sich zuletzt verschrieben und statt seines Vornamens ihren eigenen vorangesetzt hatte. Sie errötete sehr und konnte sich doch nicht enthalten, die verschriebene Zeile halblaut nachzusprechen.

In diesem Augenblicke hörte sie unten ein Geräusch im Hausflur ünd gleich darauf einen leisen Schritt auf der Treppe. Erschrocken fuhr sie auf und wußte in der ersten Bestürzung den Brief nur mit ihren Händen zu decken. Bereits aber öffnete sich die Thür und Hartwig Hoven sah sie mit glückseligem Staunen an. Sie that unwillkürlich einen Schritt zu ihm hin und streckte ihm die Rechte grüßend entgegen; da trat er nahe, legte den Arm um sie und küßte sie auf den Mund. Sie bog sich zur Seite und schüttelte das Haupt, ohne ihn anzusehen, er aber zwang sie mit leiser Gewalt, aufzusehen, blickte ihr lächelnd in das erglühende Antlitz und sagte, auf ihre Schreibübung deutend: „Doch, Gertrud!“ Da nickte sie verschämt und erwiderte seinen Kuß.

Sie hatten sich viel zu sagen. Gertrud bedeutete ihn aber, leise zu sprechen, indem sie mit der Hand nach dem Garten hinunterwies. Die beiden alten Damen hatten sich inzwischen an dem Tischchen unterhalb des Fensters niedergelassen, deutlich klang jetzt ihr lebhaftes Plaudern herauf. „Das geht ja herrlich,“ flüsterte Hartwig, „was haben sie denn nur?“ Er faßte Gertrud bei der Hand und stellte sich mit ihr leise hinter den Vorhang …

„ … Darin haben Sie leider recht, meine Liebe,“ ließ sich unten die Stimme des Fräuleins vernehmen. „Wenn ich bloß bedenke, wie viel Sorgen und Befürchtungen ich mir früher immer um meinen Neffen gemacht habe – wenn er es auch jetzt nicht mehr recht Wort haben will! Nun, es ist ja gottlob nicht vergebens gewesen – er ist ein tüchtiger Mann geworden, und ich darf sagen, er schlägt nicht aus der Art – Sie kennen ihn ja! Aber nun erst ein junges Mädchen, und heutzutage – ach ja, das glaub’ ich Ihnen schon, das wird Ihnen viel Sorge gemacht haben, so brav Ihre Gertrud auch ist. Und was haben Sie schließlich davon? Ueber kurz oder lang kommt doch so ein Freiersmann, dann haben Sie später das Elend mit dem Schwiegersohn, und wenn er schlechte Geschäfte macht, oder er ist Doktor und bekommt keine Praxis, wie das jetzt meist ist, denn, ich bitte Sie, wo sollen alle die Kranken herkommen? – trotz der Menge neuer Bacillen – ja, dann haben Sie als Mutter den ganzen Jammer mitzutragen! Ich meine, Sie müssen sich am Ende noch glücklich schätzen, wenn das liebe Kind bei Ihnen bleibt und in Ehren allein alt wird. ‚Alte Jungfer‘ – du lieber Gott, die Leute schwatzen viel davon; aber ich versichere Sie, es hat auch seine Vorzüge.“

Auf diese Worte folgte ein etwas ärgerliches Räuspern, und dann erwiderte die Stimme der Hausfrau:

„Meine Teuere, sollten Sie da nicht doch etwas zu schwarz sehen? Was die Leute so von den alten Jungfern reden – mein Gott, ich weiß nicht, wie viel daran wahr ist; ich bin eine Witwe und habe in der Ehe mein Häufchen Kummer gehabt wie jede, aber auch viel Glück! Und mit den jungen Männern von heutzutage – das wird auch nicht so schlimm sein. Es braucht ja kein Arzt oder Kaufmann zu sein, und wenn er es ist, so braucht er ja nicht notwendig ohne Praxis zu bleiben oder Bankrott zu machen. Mein Seliger hat’s nicht gethan … Und ich versichere Sie, wenn ein ordentlicher, solider junger Mann ’mal käme – geangelt wird nicht! – aber wenn er käme, und das Mädchen hätte ihn lieb und er hätte sein Auskommen – na, dann mag er sie nehmen! Denn dazu hat der liebe Gott sie gemacht… Und vor mir braucht er nicht bange zu sein; wenn er sich die Schwiegermutter genau anschaut, guckt doch allemal die Mutter heraus.“

„Nun, Sie werden ja sehen,“ erwiderte Fräulein Alma. – „Was war denn das da oben am Fenster?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete Frau Marie, „es wird meine Tochter sein. – Aber mir scheint, da ist Besuch im Flur, haben Sie denn die Hausklingel gehört?“ Sie stand auf, wäre aber im

[449]

Liebeswerben.
Nach dem Gemälde von Ad. Müller-Granzow.

[450] nächsten Augenblick fast wieder zurückgesunken, da die Flurthür sich öffnete und Hartwig Hoven erschien, Hand in Hand mit Gertrud.

„Verzeihen Sie, verehrte Frau,“ sagte er höflich grüßend, „ich kam eben von der Reise zurück und hatte den Vorzug, zufällig einige Worte von Ihnen zu vernehmen, die für mich – und, was ich eigentlich zuerst sagen sollte, für Ihre Fraulein Tochter von höchstem Werte sind. Gestatten Sie mir daher, sogleich jetzt – wenngleich nicht im entsprechenden Besuchskleide – Sie um die Hand Ihrer Fräulein Tochter zu bitten! Denn ich traue mir zu, den Bedingungen, die Sie an Ihren zukünftigen Eidam stellen, zu entsprechen, und Gertrud traut es mir auch zu!“

„Ja … aber …“ sagte Frau Marie und starrte ihn an, während Gertrud sich an sie lehnte und liebkosend ihre Hand streichelte. Fräulein Alma Hoven aber, die mit einem gewissen Wohlgefallen der Rede ihres Neffen gefolgt war, wandte sich jetzt lächelnd zu Frau Marie: „Da sehen Sie, meine Liebe, was einer Mutter alles passieren kann!“ sagte sie.

Diese Worte weckten Frau Marie aus ihrer Bestürzung. „Aber, mein liebes Fräulein,“ sagte sie fest, „ist das denn so etwas Schreckliches? Sie werden gewiß die Erste sein, die mir zu meinem Schwiegersohn Glück wünscht – und was mich angeht, ich bin ja sehr überrascht, und wie das alles gekommen ist, muß ich wohl später noch fragen – aber wenn es denn sein soll, Herr Hoven, gebe ich Ihnen gerne meinen Segen und mein Kind, Sie werden es gewiß glücklich machen!“ – – –
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So hatte sich Gertruds Befürchtung, die sie am ersten Abend nach Fräulein Hovens Einzug nur unter Thränen einschlafen ließ, doch erfüllt: Hartwig bezog seine Wohnung nicht wieder. Statt seiner übernahm Fräulein Alma beide Zimmer als ständige Mieterin.

Dies entsprach einem kurzen Vortrag, mit dem das alte Fräulein noch am Abend der Verlobung sich die wärmste Dankbarkeit des jungen Paares sicherte. „Um eins bitte ich Sie, liebe Freundin,“ sagte sie zu Frau Marie, „reden Sie den beiden nicht zu, ihren jungen Ehestand hier in einem Hause mit Ihnen einzurichten! Das hab’ ich oft gesehen, und es hat noch nie gut gethan. Und schließlich, was hätten Sie davon? Hartwig wird jetzt avancieren, er wird versetzt werden, wer weiß wie bald; dann hätten Sie die Trennung doch. Besser, man gewöhnt sich daran beizeiten. So lange die beiden hier in der Stadt bleiben, werden sie die Mutter und die Tante doch noch gerade oft genug bei sich sehen. Aber lassen Sie uns beide beisammen bleiben! Ich bin des öden Reisens nachgerade satt; ich brauche mehr Ruhe, und Ihnen kann ein bißchen mehr Anregung – na, sagen wir Aufregung nichts schaden. Also, wenn es Ihnen recht ist – schlagen Sie ein! Am Ende kommen wir wohl miteinander aus.“

„Es wird denn wohl nichts anderes übrig bleiben,“ sagte Frau Marie mit einem leichten Seufzer und legte ihre rundliche Rechte zwischen die überschlanken Finger des Fräuleins.

Einige Tage nach der Verlobung trat das junge Paar die übliche Besuchs- und Vorstellungsrunde an. Obenan auf der Liste stand natürlich Hartwigs Vorgesetzter. Der Postrat wünschte mit einer Herzlichkeit Glück, die bei dem strengen, nur seinem Dienste lebenden Manne selten war und das beste Zeugnis gab, wie sehr er Hartwig schätzte; Thea war „kolossal entzückt“. Uebrigens war noch ein Besuch dort, ein wohlbeleibter, soldatisch dreinschauender Mann in grüngrauer Uniform, der als Oberförster vorgestellt wurde. Während der Postrat vor dem Scheiden noch einige Worte mit Hartwig allein sprach, faßte Thea Gertruds Arm und zog sie ins Nebenzimmer. „Das geht ja jetzt fix mit dem Verloben,“ flüsterte sie. „Heute früh hat mir schon wieder eine neue Braut ihr Glück verkündet. Du wirst die Anzeige wohl zu Hause finden; und rate mal, wer? Die Gudula Wöllchen! Sie heiratet einen Kaufmann – Weinhändler; er wird sich hier niederlassen, vermutlich übernehmen sie nebenbei auch die Weinstube. Ein sehr netter Mensch übrigens, ich kenne ihn; er heißt Friedrich Carl Meißner.“

„Meißner – Meißner,“ wiederholte Gertrud nachsinnend, „wo habe ich doch den Namen gehört? Ach so – erzähltest du mir nicht neulich wegen der Briefe –“

„Pst!“ machte Thea. „Ja, das ist er – durch die Geschichte hat er überhaupt die Gudula kennengelernt – also eigentlich durch mich. Kolossal, was? Sag’ mal – wie hat’s denn mit euch eigentlich angefangen?“

„Ach,“ sagte Getrud, „eigentlich auch so!“ Und um weiteren Fragen vorzubeugen, streichelte sie dem Pusselchen freundlich die blonden Stirnlöckchen zurück und fragte: „Wie steht’s denn mit dir, Theachen?“

Thea errötete und winkte mit dem Kopfe nach der halboffenen Thür, durch welche eben der breite Rücken des Oberförsters sichtbar wurde.

„Ei!“ sagte Gertrud verwundert.

Thea nickte eifrig und verschämt. „Diesmal ist’s ernst,“ sagte sie … „Ich habe ihn schon früher auf dem Lande kennengelernt, weißt du … und es ist ein vortrefflicher Mensch. Papa kennt ihn schon lange – sie sind ja nur zwölf Jahre auseinander.“

Das sagte sie so treuherzig und harmlos, daß Gertrud sich nicht enthalten konnte, sie herzlich zu küssen. – „Weißt du,“ sagte sie zu ihrem Verlobten, als sie ihm im Wagen die Neuigkeit erzählt hatte, „der liebe Gott bringt doch merkwürdige Paare zusammen. Von uns will ich da nicht reden – aber die Freundschaft zwischen Mama und Tante Alma – und nun Thea Siebold mit diesem Oberförster! Er könnte ja beinahe ihr Vater sein!“

„In etwas wird er ihn wohl immer bei ihr zu vertreten haben,“ erwiderte Hartwig. „Und übrigens, warum sollen sie nicht zusammen passen? Ich kenne das Forsthaus, die Gegend ist romantisch genug, und es ist immer ungefährlicher, mit den Bäumen und Tieren des Waldes romantisch zu reden als mit den Menschen. Und wenn sie ihm zuweilen auch etwas zu poetisch vorredet, so kann er es als Ersatz für das Jägerlatein nehmen, für das er so wenig Talent hat. Denn er ist als der nüchternste und bravste Mann auf zehn Meilen in der Runde berühmt. Sie werden sich ausgleichen müssen. Das aber scheint mir kein Unglück, vielmehr eine schöne Aufgabe für jedes Paar und, wenn sie gelingt, die sicherste Gewähr für sein Glück.“

„Du,“ sagte Gertrud, „dann sind Mama und Tante Alma doch eigentlich ein sehr glückliches Paar. Denn wie haben die sich ausgeglichen!“



Blätter & Blüten



Das Goethe-Denkmal und das Kaiser Wilhelm-Denkmal für Straßburg. Für zwei Denkmäler wird gegenwärtig in Deutschland gesammelt, denen in ganz besonderem Grade eine nationale Bedeutung zukommt. Beide sind bestimmt, die Zugehörigkeit von Elsaß-Lothringen zum deutschen Vaterlande zu monumentalem Ausdruck zu bringen, beide sollen sich nach ihrer Vollendung in Straßburg, der schönen Hauptstadt unseres Reickslands, erheben.

Zum Plane eines Goethe-Denkmals in Straßburg hat der Hinblick auf den Goethe-Gedenktag angeregt, den in diesem Jahr der 28. August bringt, den 150. Geburtstag des Dichters. Und Straßburg hat ein ganz besonderes Anrecht, Goethe in dieser Weise zu feiern! Die Universität nennt ihn ihren berühmtesten Studenten. Das Münster ist von ihm zuerst wieder als ein Denkmal wahrer und großer Kunst gepriesen worden. In Straßburg hat Goethe die Vollkraft seiner Jugend erlangt. Hier erhielt sein Genie jene Richtung auf deutsche Art und Kunst, kraft deren er zum Schöpfer des „Götz“ und des „Faust“ wurde, welch letzteren er hier plante. Damals gehörte Straßburg zu Frankreich. Der Bildungsstrom, in dem sich Goethes Genius hier erfrischte, war dennoch deutschen Wesens. Denn auch unter der Franzosenherrschaft war die einstige Freie Reichsstadt ein Hort deutschen Geistes geblieben. Auch daran wird das Goethe-Denkmal mahnen, wenn es in nicht zu ferner Zeit von seinem Standort zum Rhein herübergrüßt. Das Zustandekommen desselben [451] ist eine nationale Angelegenheit; freilich muß die Teilnahme rege bleiben, sollen ohne Reichshilfe bis zum 28. August die notwendigen 100000 Mark beisammen sein. Beiträge nimmt die Bankkommandite Kauffmann, Engelhorn u. Co. in Straßburg entgegen.

Das andere Nationaldenkmal, das für Straßburg in Aussicht genommen ist, gilt Kaiser Wilhelm dem Ersten. Der Plan zu demselben wurde schon bei der Feier von dessen hundertstem Geburtstag gefaßt. Damals wurde die Sammlung zunächst auf das Reichsland beschränkt. Jetzt hat sich unter dem Protektorate des Statthalters Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg ein Komitee gebildet, dessen Aufruf sich an das ganze deutsche Volk wendet. Wird doch das Kaiser Wilhelm-Denkmal in Straßburg für alle Deutschen die gleiche Bedeutung haben; hat doch die Neuerstehung des Reichs, die Wiedergewinnung eines mächtigen deutschen Vaterlandes nirgends so greifbare Gestalt gewonnen wie in Elsaß-Lothringen und seiner Hauptstadt Straßburg. Metz, die lothringische Schwesterstadt, ist bereits geschmückt mit dem Standbilde des greisen Kriegshelden, das auf die Gefilde hinweist, wo die Heldenscharen unseres Volkes in unerschütterlichem Todesmut die Siegespalme unter seinen Augen errangen. In Straßburg, in der neuerblühenden alten Reichsstadt, wo die Kaiser Wilhelms-Universität die Söhne des Vaterlandes zu friedlichem Wettkampf vereint, da soll dem „verewigten treuen und fürsorglichen Vater des Volkes“, wie es im Aufruf heißt, „ein Denkmal des Friedens“ werden. Der Schatzmeister des Geschäftsführenden Ausschusses, Herr Hofapotheker Muncke, und die Oberrheinische Bank in Straßburg sind zur Empfangnahme der Beiträge ermächtigt.

Das Gilatier. (Zu der untenstehenden Abbildung.) In Mexiko und den angrenzenden Teilen der Vereinigten Staaten lebt eine eigenartige Krustenechse, von den Eingeborenen das Gilatier, von den Naturforschern Heloderma horridum genannt. Sie erreicht eine Länge von 60 cm, ist plump gebaut und erinnert in der Färbung an den Feuersalamander. Tagsüber verbirgt sie sich in Löchern unter den Bäumen und streift nur während der Nacht umher; kleine Frösche, Regenwürmer und allerlei Insekten bilden ihre Nahrung. Das Gilatier ist darum von besonderem Interesse, weil es die einzige giftige Eidechse ist. Die Eingeborenen fürchten es sehr und behaupten, daß sein Biß noch gefährlicher sei als der einer Giftschlange. Beobachtungen, die sowohl in der Heimat des Heloderma als auch in zoologischen Gärten in Europa angestellt wurden, haben jedoch gezeigt, daß jene Behauptung übertrieben ist. Der Biß des Gilatieres vermag wohl kleine Tiere, wie Frösche und Vögel, zu töten, beim Menschen erzeugt er in der Regel nur schlimme Wunden, die nach längerer Zeit in Heilung übergehen.

Das Gilatier.
Nach einer Originalzeichnung von A. Specht.

Umgarnt. (Zu dem Bilde S. 424 und 425.) Die Septembersonne des Jahres 1800 scheint über dem hübschen altväterischen Garten eines patrizischen Landhauses und streut ihre Lichter durch das Blattwerk auf die junge Gesellschaft, die den zum Nachmittagskaffee hergerichteten Tisch umgiebt. Noch ist Siestastunde, die Eltern haben sich ins Haus zu einem Schläfchen zurückgezogen, an Besuch denkt man eigentlich noch nicht. Kommt aber doch einer, von seinem ungeduldigen Herzen gezogen, absichtlich gerade zu der Zeit, wo die reizende Haustochter mit ihren Freundinnen allein im Garten ist, ei, so wird er eben nach Möglichkeit verwendet und muß sich noch glücklich schätzen für die Gunst, den bunten Strang halten zu dürfen, den ihm die Schöne leicht über die Finger streift. So sitzt er denn nun Aug’ in Auge mit ihr und betrachtet unverwandt ihr reizendes Gesicht, das strahlende Augenpaar und das halb neckende, halb verheißungsvolle Lächeln, mit welchem sie ihn nun schon geraume Zeit abwechselnd peinigt und beseligt. Er ist blind gegen alles Uebrige, sieht nicht den teilnehmenden Blick der älteren Freundin, welche das lose Getändel im Herzen mißbilligt, und nicht das anmutige Spiel der beiden anderen mit dem kleinen, nach Zucker lüsternen Sperling. Denn er ist völlig umgarnt, der gute Junge, und so schwach das Fädchen aussieht, das ihn hält – er wird lange brauchen, bis er fertig bringt, es zu zerreißen! … Bn.     

Heuernte auf Mönchgut. (Zu dem Bilde S. 433.) Es ist ein merkwürdiges Stückchen Erde, jener südlichste Teil Rügens, der durch den Mönchsgraben von der übrigen Insel geschieden wird. Als das alte Reddewitz 1295 aus dem Besitz des Hauses Putbus für 1100 Mark an die Cisterzienser von Eldena bei Greifswald überging, erhielt es den Namen Mönke- oder Mönncke-Gaudt, der sich bis heute in dem hochdeutschen Mönchgut erhalten hat, obwohl Kloster und Mönche längst dahin sind. Schon durch ihre gedehnte, singende Sprache unterscheiden sich die Mönchguter von den übrigen Bewohnern Rügens. Aber auch in Tracht und Brauch haben sie manches Alteigene bewahrt. Obwohl die neue Zeit, mit ihrem Streben nach Ausgleichung, der Erhaltung dieser Besonderheiten nicht günstig ist, kann man noch heute in Middelhagen, dem Hauptort des Landes, vornehmlich an Sonntagen oder bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten manches Bemerkenswerte sehen. Die Männer tragen von alters her die weiten weißleinenen Fischerhosen, die man auf unserem Bilde an dem heumachenden Bauern sehen kann. Die Strümpfe sind aus schwarzer oder brauner Wolle, die Jacke ist schwarz und mit großen Hornknöpfen verziert. Der runde Hut gehört ebenfalls zur Tracht, nur hat er oft einen niederhängenden Rand. Die Frauen und Mädchen tragen einen leinenen Rumpf ohne Aermel, darüber ein etwas feineres Gewand mit Aermeln. Der schwarze, oft mit farbigen Bändern besetzte Rock fällt in dicken schweren Falten herab. Die Strümpfe sind blau oder rot. Das bunt benähte Mieder ist vorn im Zickzack verschnürt. An Festtagen ist der Latz jedoch von roter Seide, mit Gold- und Silberfäden geschmückt. Ueber dem Busenlatz wird im allgemeinen noch ein dichtes weißes Tuch und darüber wieder ein schwarzes Kamisol getragen, das über der Brust zugeknöpft wird. Dieses und das Tuch haben die schmucken Mädel auf unserem Bilde während der harten Arbeit abgenommen. Dagegen tragen zwei von ihnen die Schürze, welche gemeinhin weiß ist. Besonders charakteristisch ist die hohe Mütze, sie wird auf eine weißleinene Unterhaube, von der nur ein schmaler Streifen sichtbar bleibt, gesetzt und ist dick mit Watte ausgepolstert. „Twei Aehl Rasch un ein Pund Wulle gifft eine gaude Padenhulle“ (Zwei Ellen Stoff und ein Pfund Wolle giebt eine gute Patenmütze), sagt der Mönchguter. Man kann sich vorstellen, wie schwer und heiß diese Kopfbedeckung sein muß. Das hindert aber nicht, daß sie sogar oft noch durch einen Strohhut gekrönt wird. Von der Mütze fällt ein langes schwarzes Band in den Nacken herab, das bei den Verheirateten die ganze Mütze einfaßt. Zum Zeichen tiefer Trauer wird ein weißes Tuch über die Mütze gezogen, das im Nacken zusammengesteckt wird. – Eine eigenartige Sitte ist es, daß die Mädchen sich selbst einen Mann wählen dürfen. Sie hängen dann am Sonntag vor dem Kirchgang ihre Schürze an die Thür; die jungen Männer, welche sich um die Besitzerin der Schürze bemühen, geben vorüber und das Mädchen sucht sich den Rechten, mit dem sie wohl vorder schon heimlich einig geworden ist, heraus. Man nennt das: „Na einen utstellen.“ Die Tracht des Burschen auf unserem Bilde, der mit dem vollen Fischnetz vom Strande heimkommt, zeigt schon den Einfluß der neuen Zeit. Deshalb scheint ihn aber die lustige Dirne oben auf dem Heuschober doch nicht ungern zu sehen. Sie wirft ihm einen mehr als wohlgefälligen Blick zu – wer weiß, ob sie nicht bereits am nächsten Sonntag nach ihm „utstellt“?! Dr. G. K.     

Prinz Eugen in der Schlacht bei Belgrad. (Zu dem Bilde S. 445.) Jener kleine Abbé, der Prinz Eugen von Savoyen, der nach dem Willen des stolzen „Sonnenkönigs“ ein Geistlicher werden sollte, hatte Frankreich verlassen, um seiner Neigung zum Kriegswesen zu folgen und unter Habsburgs Fahnen einer der gefeiertsten Kriegshelden seiner Zeit zu werden. Seine ersten Lorbeeren errang er im Türkenkriege; in der Schlacht, die zum Entsatze Wiens führte, zeichnete er sich aus, dann bei der Erstürmung Ofens, in der Schlacht bei Mohács und 1688 bei der Erstürmung Belgrads, wo er und der Kurfürst Max Emanuel zuerst in die Bresche eindrangen und schwer verwundet wurden. Das Bild des Malers Cloß, in dessen Hintergrund die Türme der stolzen Feste Belgrad sich erheben, führt uns aber in eine spätere Epoche, in das Jahr 1717, wo am 16. August Prinz Eugen die große Schlacht schlug, nach welcher die Feste Belgrad ihm die Thore öffnen mußte. Damals war er nicht mehr der jugendliche Held, der sich durch seinen Heldenmut zum General emporschwang; sein Name war schon mit den Lorbeeren des Feldherrn geschmückt, die er sich in den glorreichen Kriegszügen gegen sein zweites Vaterland, gegen Frankreich, das thörichterweise seine Dienste verschmäht hatte, in den großen Schlachten von Höchstädt, Turin und Malplaquet errungen. Durch diesen spanischen Erbfolgekrieg war Oesterreich, nach der Ueberzeugung der Pforte, so geschwächt, daß diese das Einschreiten der österreichischen Regierung zu Gunsten der von den Türken beraubten Venetianer glaubte wehren zu dürfen und der Großwesir mit Heeresmacht an die Donau rückte, wo er aber in der Schlacht bei Peterwardein eine schwere Niederlage erlitt. Bald darauf übernahm Eugen den Oberbefehl über die Oesterreicher und bezog ein Lager vor Belgrad, wo 20000 Janitscharen unter dem tapferen Mustapha Pascha standen; im Juli rückte ein von den Belagerten mit Jubel begrüßtes Ersatzheer von 150000 Mann heran. Prinz Eugen erkannte das Bedenkliche seiner Lage, aus welcher ihn nur die größte Kühnheit erretten konnte. Er erfuhr, daß aus der Festung heraus die Türken mit dem Ersatzheer gemeinsam einen Angriff auf das kaiserliche Lager eröffnen wollten, und kam ihm um einen Tag zuvor. Um Mitternacht brach das Heer aus seinen Verschanzungen auf, doch am Morgen lagerte sich ein dichter Nebel auf dem Schlachtfelde. Infolgedessen war der rechte Flügel zu weit vorgedrungen; in der Mitte der Schlachtlinie bildete sich eine bedenkliche Lücke. Das bemerkte Eugen, als der Nebel durch den Wind verweht wurde; der Feind war eben im Begriff, den rechten abgesprengten Flügel im Rücken und in der Flanke zu fassen. Da führte Eugen selbst sein [452] zweites Treffen ins Feuer; seine Reiter fielen dem Feinde in die Flanke, und als dieser zu weichen begann, drangen die Grenadiere vor und erstürmten die Batterien des türkischen Centrums. Das entschied den glänzenden Sieg der Oesterreicher; die Türken hatten 20000 Mann, 800 Geschütze und 51 Fahnen verloren; am nächsten Tage mußte die Festung Belgrad kapitulieren und zum zweitenmal zog Prinz Eugen als Sieger in ihre Thore ein.      


Liebeswerben. (Zu dem Bilde S. 449.) Wie die frische, herrliche Bergwelt die Brust freier und den Sinn fröhlicher macht, so äußert sich bei den Gebirgsbewohnern das Erwachen der Liebe in anderer Form als bei der Mehrzahl der übrigen Volksstämme. Selten giebt der Bursche dem geliebten Mädchen seine Liebe durch schwärmerische Blicke und zärtliches Hinschmachten kund. – „Miadei, magst mi?“ oder „Lenei, i hab’ di gern, magst du mi aa?“ etc. – Da sind die ungefähren Einleitungsreden zu einem Liebesverhältnis. Wenn der Bursche, was hier nicht selten ist, die landesübliche Zither oder „Klampern“, wie der Volksmund dieses Instrument bezeichnet, zu meistern versteht, so muß wohl sie als Vermittlerin seiner Gefühle eintreten, indem er seiner Erwählten deren Lieblingsweisen vorspielt oder gleich direkt in „Schnadahüpfln“ seine Liebe erklärt. Freilich kommt es oft vor, daß hierdurch die Eifersucht eines Nebenbuhlers geweckt wird und ernste Scenen den jungen Liebeshimmel trüben. Allein wer denkt in seiner Herzenswonne ein solche Folgen. Das Bild von Ad. Müller-Grantzow führt uns ein solches „Liebeswerben“ in naturwahrer Treue vor Augen.

Der schmucke Bursche erklärt seiner Auserwählten singend seine Gefühle, und es muß wohl in einer Weise geschehen, die für alle im Zimmer Anwesenden von Interesse ist und den alten „Loder“ sogar zu einem „Schuahplattler“ hinreißt. Auch das hübsche, frische Mädchen, dem die Werbung gilt, scheint von seinen Worten befriedigt, und so wollen wir wünschen, daß aus diesen beiden „ein fesches Paar“ wird und das „Liebeswerben“ auf dem Standesamt seinen Abschluß finden möge. P. Auzinger.     


Deutschlands merkwürdige Bäume: die Große Linde von Augustusburg.
Nach einer photographischen Aufnahme von Oberförster G. Mühlmann.

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Große Linde von Augustusburg. (Zu dem obenstehenden Bilde.) Einer der ältesten und merkwürdigsten Bäume unseres deutschen Vaterlandes ist „die Große Linde“ des Schlosses Augustusburg im Königreich Sachsen. Hat doch dieser altehrwürdige Baum die sächsischen Fürstengeschlechter der letzten fünf Jahrhunderte in das Schloß, dessen Wahrzeichen er ist, einziehen sehen. Ursprünglich als Jagd- und Lustschloß erbaut, erhebt sich die Augustusburg mit ihren gewaltigen Mauern und Türmen auf dem 515 m hohen Schellenberg über dem Städtchen, das bis vor kurzem den Namen Schellenberg führte, jetzt aber auch Augustusburg heißt; sie gewährt eine umfassende herrliche Rundsicht über Sachsens Gefilde. An Stelle des jetzigen Schlosses stand früher das alte Schloß „Schellenberg“, das der Sage nach unter Karl dem Großen, wahrscheinlich jedoch unter Kaiser Heinrich I zum Schutze gegen räuberische Einfälle der Sorbenwenden errichtet wurde. Ein Blitzschlag steckte es am 27. April 1547 in Brand und legte es zum größten Teil in Trümmer. Der Neubau wurde im Auftrag des Kurfürsten August I in den Jahren 1568 bis 1572 durch den kurfürstlichen Baumeister und Bürgermeister in Leipzig Hieronymus Lotter ausgeführt.

Innerhalb der Umwallung dieses Schlosses, nahe der nordöstlichen Ecke desselben, steht unsere Linde. Sie war, den Chronisten nach, bereits im Jahre 1421 unter Friedrich dem Streitbaren gepflanzt worden und schon 1568 beim Bau des Schlosses wegen ihrer Größe ein Gegenstand der Bewunderung. 1549 wurden ihre mächtigen, in fast horizontaler Richtung wachsenden Aeste zum erstenmal gestützt. 1556 ließ sie Kurfürst Moritz durch seinen Hofsteinmetzmeister Hans Kramer zum zweitenmal stützen, wobei 80 Stämme zur Verwendung kamen. Eine dritte Stützung erfolgte im Jahre 1577 auf Befehl des Kurfürsten August nach Plänen von Paul Büchner durch Hans Irmisch, und eine vierte im Jahre 1644. Um den hohl werdenden Stamm vor Regenwasser zu schützen, versah man ihn 1669 mit einer kupfernen Haube. 1720 betrug der Umfang der Baumkrone 198 Ellen, er verringerte sich aber später durch Dürrwerden der Aeste von den Spitzen aus. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die jeweilig faul gewordenen Teile des hölzernen Unterstützungsrostes nach Erfordernis durch neues Holzwerk ersetzt. Der Rost selbst ruhte auf Säulen, die aus Ziegelsteinen aufgemauert waren. Ein Wirbelsturm hat jedoch am 22. Mai 1891 die Ziegelsteinsäulen zerstört und leider auch einige Hauptäste der Linde abgebrochen. Nach diesem Unwetter wurde der Rost auf Antrag des Forstrentamtes zu Augustusburg, unter dessen Verwaltung die Linde jetzt steht, durch das Landbauamt Chemnitz erneuert, und es traten gleichzeitig an Stelle der Säulen starke Holzstempel. Auch die kupferne Haube ersetzte man in dem zuletzt genannten Jahre durch eine neue von gleichem Metall. Im Frühjahr 1897 wurden die von den Hauptästen emporgewachsenen Schößlinge zurückgeschnitten, weil zu befürchten war, daß der Stamm, der innen ganz hohl ist und nicht weniger als neun Zerklüftungen zeigt, durch Sturmesgewalt vollends auseinandergerissen werden könnte. Gegenwärtig beträgt die Höhe des Stammes von der Umfassungsmauer bis zur Haube 2,60 m, der Umfang des Stammes in halber Höhe, wo sich die schwächste Stelle befindet, 9 m, die Spannweite der Aeste, rechtwinkelig im Durchmesser der Baumkrone gemessen, 17,60 und 16,80 m.

Möge diese volkstümliche Linde noch lange zu den Sehenswürdigkeiten der Augustusburg zählen und noch viele Jahre sich in frisches Grün kleiden! Was zu ihrer Pflege gethan werden kann, läßt sich die jetzige Schloßverwaltung angelegen sein. G. Mühlmann.     

Edelhirsche. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ein prächtiges Tieridyll hat Meister L. Voltz in seinem Bilde geschaffen. Da sehen wir den König des Hochwaldes mit seinem Gefolge inmitten einer majestätischen Alpenlandschaft. Fernab von der vielbegangenen Straße muß man im Gebirgswalde wandern, um solche Bilder schauen zu können, in einsame Reviere eindringen, in denen nur das Rauschen der Baumwipfel und leiser Vogelruf unser Ohr trifft. Ist uns das Glück hold, dann können wir hier das Leben der großen Waldtiere belauschen, und unvergeßlich bleiben uns die Eindrücke, die wir sammeln. Was ist wohl schöner und herrlicher, die gewaltigen Berge, die ihre Zinnen in dem stillen Seewasser spiegeln, oder der kraftvolle Edelhirsch, der hoch sein stolzes Geweih trägt? Wunderwerke der Natur sind sie beide und darum passen sie so herrlich im Bilde zusammen. *     



Im nächsten Halbheft beginnt E. Werners humoristische Erzählung „Der Lebensquell“ zu erscheinen. Von J. C. Heer, dem jungen schweizer Dichter, der mit seinem fesselnden als Buch erschienenen Roman „An heiligen Wassern“ so berechtigtes Aufsehen erregt hat, wird unter dem Titel „Der König der Bernina“ eine tief ergreifende Erzählung aus dem Engadin von eigentümlich poetischem Zauber folgen.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Aetzen mit zweierlei Metall. Ist schon die Wirkung einer geätzten Kupfer- oder Zinnplatte mit blankem Ornament auf dunklerem, dieser gelegtem Grunde sehr schön, so erhöht sich diese noch bedeutend, wenn man mit zweifarbigem Metall arbeitet. Das Verfahren ist nichts Neues, es handelt sich nur darum, den Kupfergegenstand zum Beispiel erst vernickeln zu lassen, was verschiedene Metallwarenfabriken übernehmen. Auf diese vernickelte Fläche malt man mit Asphalt- oder Spirituslack das Ornament, das hoch und silberglänzend stehen bleiben soll, sorgfältig auf. Dann stellt man eine Mischung von einem Teil Salpetersäure und drei bis vier Teilen destillierten Wassers in einem irdenen Gefäße her und setzt darin den Gegenstand so lange der Säure aus, bis an den frei gelassenen Stellen alles weiße Metall weggeätzt ist und das rote zum Vorschein kommt. Hat man die Fläche gut abgespült (etwas Sodalauge ist dabei zu empfehlen), so kann man sie mit gutem Putzpulver blank reiben.

Flaschenuntersatz aus Aluminiumblech.

Meinen ersten Versuch dieser Art unternahm ich an einer gewöhnlichen runden Kupferplatte mit verziertem Rand, etwa 25 cm im Durchmesser, wie man sie überall als Untersatz für Karaffen und Gläser zu kaufen bekommt. – Wie lange das Metall im Aetzbad bleiben muß, läßt sich nicht genau bestimmen, es kommt da die Qualität und die Dicke der Metallschicht in Betracht, manchmal genügt schon eine halbe Stunde oder weniger, aber es kann auch mehrere Stunden dauern. Eigene Beobachtung ist hier das sicherste.

Als überraschende Neuheit bringt die Firma H. P. Volkamers Wwe. & Forster in Nürnberg kupferplattiertes Aluminiumblech in den Handel, das auf dieselbe Weise zu behandeln ist und die umgekehrte Wirkung ergiebt; es werden dort auch auf Bestellung Teller, Becher und andere Gegenstände aus obigem Blech gefertigt. Unsere Abbildung giebt einen Flaschenuntersatz aus Aluminiumblech, die kleine Platte, 13 bis 15 cm im Quadrat, wird schließlich in einen ganz schmalen dunklen Holzrahmen gefaßt, in die man kleine Füßchen eindreht. Die Zeichnung würde sich, stark vergrößert, auch für Brand- oder Ausgründungsarbeit, als Platte für Tischchen oder Hocker verwenden lassen. – Selbstverständlich können sich mit derartigen Arbeiten nur Erwachsene befassen, die bei der Verwendung und Aufbewahrung der Aetzstoffe die nötige Vorsicht beachten müssen.

Ständer für künstliche Blütenzweige. Für die vielfach als dekorativer Zimmerschmuck von Damenhand gefertigten Blütenzweige bietet einen hübschen Ausstellungsgegenstand die nebengezeichnete runde Vase, welche in Malutensiliengeschäften unter dem Namen „Pinselständer“ zu kaufen ist. Dieser Ständer mißt etwa 25 cm Höhe zu 11 cm Innendurchschnitt und besteht aus braunem lederähnlichen Karton, zusammengeschnürt mit schmalem Lederbändchen. Man bestreicht ihn mit Oelfarbe und Firnis in irgend einem ruhigen Ton, denselben allmählich vom Hellen ins Dunkle abschattierend, und malt auf diesen Grundton irgend welches Blumenmotiv.

Ständer für künstliche Blütenzweige.

Allerlei Winke für den Einkauf von Stoffen. Es giebt für junge unerfahrene Hausfrauen – sogar auch für ältere Hausmütter – meist keine schwierigere Sache als den Kauf von Leinen-, Baumwoll-, Woll- und Seidenstoffen, deren Güte zu erkennen für den Laien ungemein schwierig ist. Jahrelange praktische Erfahrung, die durch manches Lehrgeld erworben ist, lehrt meist erst die Kennzeichen guter Waren, die dem wissenden Hausmütterchen von ungemein großem Nutzen beim Einkauf ist. Allen jungen Frauen aber, die zweifelnd und zagend vor einem Stück Leinwand oder Kleiderstoff stehen, sollen die folgenden Winke ein Ratgeber sein, der sie vor Uebervorteilung schützt.

Gute Leinwand zeigt einen gleichmäßigen Faden und einen seidenartigen Glanz, beides aber vermag auch die mit Baumwollfäden vermischte Leinwand zu zeigen, so daß eine genauere Prüfung in Zweifelfällen stets angebracht erscheint. Erfahrene Hausfrauen „fühlen“ es, ob sie reine Leinwand vor sich haben, da diese sich in warmer Hand sehr kühl anfühlt; aber Gefühle können täuschen, und eine unerfahrene Hausfrau möge darum lieber eine zuverlässigere Prüfung im Hause vornehmen. Man gießt nämlich einfach einen Tropfen feines Oel auf ein Stückchen der zu prüfenden Leinwand; ist diese aus reinem Flachs hergestellt, so verläuft der Tropfen zu kreisrundem Fleck, ist sie dagegen mit Baumwolle durchwebt, so zieht sich das Oel streifig ins Zeug. Verdächtig ist bei reiner Leinwand jegliche auffällige Appretur, welche fehlerhaftes Gewebe oft verdecken soll; ist man in dieser Weise besorgt, so braucht man nur ein Stückchen der Leinwand durch lauwarmes Wasser zu ziehen, dann schwindet die Appretur und etwaige Fehler treten zu Tage. Gute Baumwollstoffe sind viel leichter einzukaufen als Leinwand, man braucht nur auf egale Webfäden und weiche und elastische Beschaffenheit zu achten.

Auch reine Wollstoffe sind leicht kenntlich, wenn man den Kniff kennt, den erfahrene Hausfrauen beim Einkauf anwenden. Man braucht nur ein Stückchen des Zeuges fest in der Hand zusammenzufassen und einen Augenblick so festzuhalten; je weniger verknittert oder verknüllt alsdann der Stoff ist und je weicher er sich in die Falten schmiegt, desto weniger ist er mit Baumwolle durchwebt.

Beim Einkauf von Seidenstoffen ist das Zusammendrücken in der Hand ein gutes Zeichen, da reine Seide weich und schmiegsam sein soll und keine Knitterfalten zeigen darf. Für Augen, welche etwas von Reinheit und Intensivität der Farben verstehen, sind übrigens auch diese ein Kennzeichen der Güte. da die Farben reiner Seide klarer und gesättigter und trotzdem weniger grell erscheinen als die mit Baumwollfäden durchwebte Seide.

Verfälschte schwarze Seide kann man außerdem leicht an der Art und Weise des Verbrennens eines Probestückchens erkennen, wobei echte Seide sofort zusammenkräuselt, bald verlöscht und wenig Asche von ganz hellbräunlicher Farbe hinterläßt, die beim Zerdrücken zerstäubt. H.     


Hauswirtschaftliches.

Verbesserter Kochtopf für Dampfobst. Nach dem System des Soxhletapparats stellt die Firma J. Weck in Oef[l]ingen in Baden einen Kochtopf mit Einrichtung für Dampfkompotte und Gemüsekonserven her, der sich bewährt und wegen seiner Einfachheit und mancher Vorteile Empfehlung verdient. In dem großen Blechbehälter befindet sich ein Gestell für sechs Flaschen (dreierlei Größen sind vorgesehen) mit mattgeschliffenem Rand: die Gläser werden gefüllt, auf den trocken abgeriebenen Rand legt man erst den flachen Gummiring und hierauf den Glasdeckel. Von dem Ständer in der Mitte gehen verstellbare Klammern aus, welche die Deckel fest auf die Gläser pressen. Der Topf wird mit kaltem Wasser so hoch aufgefüllt, wie die Früchte in den Gläsern reichen, und aufs Feuer gesetzt. Nach entsprechend langem Kochen kann man sofort die Gläser heraus- und die Klammern abnehmen, die Deckel schließen nun von selbst und die Früchte etc. sind sterilisiert.

Kochtopf für Dampfobst.


Belgrader Brot (als Verwendung für übriges Eiweiß). Man schlägt vier Eiweiß zu Schnee und mischt ½ Pfund Zucker unter beständigem Schlagen darunter, stellt dann die Schüssel auf einen Topf mit kochendem Wasser und schlägt wieder, bis die Masse gut warm ist, wobei zu beachten ist, daß sie nicht an den Wänden der Schüssel anklebt. ½ Pfund geschälte und in ganz feine Scheiben geschnittene Mandeln werden zuletzt darunter gerührt, sowie ein knapper ½ Eßlöffel gestoßener Zimmet und 40 g fein gewiegtes Citronat. Zum Schluß setzt man mit einem Kaffeelöffel kleine Häufchen von der Masse auf ein mit Wachs bestrichenes Blech und bäckt sie bei mäßiger Hitze.

Kirschkuchen. 140 g Butter oder auch Butterschmalz werden zu einem recht schäumigen Abtrieb gerührt, dem man nach und nach 140 g feinstgestoßenen Zucker, zwei ganze Eier und vier Dotter zusetzt. Ist die Masse innig vermengt, so werden unter fleißigem Weiterrühren 140 g feinstes Mehl nach und nach in dieselbe eingestäubt. Eine Springform wird gut mit Butter ausgestrichen, mit Mehl ausgestäubt, dann die Teigmasse dareingefüllt. Auf die Oberfläche der Masse wirft man leicht 30 bis 35 Stück von den Stielen befreite Kirschen, die alsbald von selbst in die Masse einsinken, und bäckt nun den Kuchen im gut geheizten Rohr schön semmelbraun (50 bis 60 Minuten). Der fertige Kuchen wird behutsam aus der Form genommen, auf ein Sieb zum Erkalten gestellt, dann mit reichlich feingestoßenem, mit Vanille gewürztem Zucker übersiebt. E. K.     

Kirschomeletten. Man macht einen guten Pfannkuchenteig, dem man zwei Eier mehr als gewöhnlich zusetzt. Das Weiße der Eier wird, zu steifem Schnee geschlagen, in die Masse gezogen. Nun läßt man Schmalz oder Butter auf der Pfanne heiß werden, giebt darauf so viel Teigmasse, als für eine Omelette nötig ist, läßt diese über Glutfeuer erst auf der einen Seite halb backen, giebt auf die noch feuchte Oberseite gut reife, erst ausgesteinte Kirschen, darüber noch etwas Teigmasse, läßt die Omelette erst auf der einen Seite fertig backen, worauf sie gestürzt und auf der anderen Seite gebacken wird. Die fertige Omelette wird, mit Zimmetzucker bestreut, heiß serviert.

Erdbeerenschifferl. Kleine längliche Blechformen, sogenannte Schifferlförmchen, werden mit 1/2 cm dick ausgerolltem guten Mürbteig ausgelegt, auf ein Backblech gestellt und im Rohr halb fertig gebacken. Inzwischen schlägt man von vier Eiweiß einen sehr steifen Schnee, siebt darein 150 g feinstgestoßenen Staubzucker und mengt zuletzt mit dem Schneebesen ein Tellerchen reingelesener Walderdbeeren darunter. Mit diesem Erdbeerenschnee werden die kleinen halbgebackenen, aus der Form gestürzten Teigschiffchen zierlich bergartig angefüllt, dann noch einmal in die Röhre gestellt und darin ausgebacken. Beim Auftragen werden die gefüllten Schiffchen nochmals mit Puderzucker übersiebt. Statt Eiweißschnee kann man diese wohlschmeckende Bäckerei auch mit Schlagrahm, der mit Erdbeeren vermischt ist, füllen, doch müssen in diesem Falle die Teigschiffchen erst ganz gebacken werden. Ausgekühlt, werden sie sodann gefüllt. E. K.     

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Allerlei Kurzweil.


Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.

Zahlenrätsel „Spruchband“.
Von Al. Weixelbaum.


Citatenrätsel.

Den nachfolgenden 12 Wörtern entnehme man je 3 nebeneinander befindliche Buchstaben:

1. Fledermaus, 2. Gebrauch, 3. Travemünde, 4. Marianne, 5. Wildente, 6. Werktag, 7. Unsinn, 8. Fuchs, 9. Melbourne, 10. Lastzug, 11. Keule, 12. Schutztruppe.

Diese 36 Buchstaben ergeben alsdann in der Reihenfolge der Wörter gelesen ein Citat aus Schillers „Tell“. Oscar Leede.     


Rätsel.

Götter wandle ich mit einem Hauch
Um in scheue Nager – kannst du’s auch?  E. S.


Homonym.

Ein Teil des Schiffes lautet gleich
Mit einer Stadt im Deutschen Reich.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 13.

 Stralsund.


Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 13.

Damit der Mensch in Lust und Schmerz
Das Maß nicht überschritte,
Erfüllt die Wehmut ihm das Herz
G’rad’ in der rechten Mitte.   J. G. Seidel.


Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 13.
 Man muß die Feste feiern, wie sie fallen.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 13.
 Gaumen, Daumen.



Auflösung des Litteratischen Füllrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 13.

= Am Altar (E. Werner).


Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 13.

Im Talon lagen: / B. behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 6/6, B 6/2, C 2/5; II. A 5/3, B –, C 3/1; III. A 1/6, B –, C –; IV. A 6/3, B –, C –; V. A 3/4, B 4/1, C 1/1; VI. A 1/5, B 5/0, C 0/2; VII. A 2/3, B –, C –; VIII. A 3/0 (= 90).



[Werbung des Verlags Ernst Keil's Nachfolger und von weiteren Firmen und Fortbildungseinrichtungen - hier nicht abgebildet.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.


  1. Königliche Schauspieler.
  2. Königskuchen.
  3. Königsuhr.
  4. Vollziehende Gewalt.
  5. Gesellschaft der schönen Künste.
  6. 80 Franken = 81 Livres.