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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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13. Heft. Preis 10 cents. 27. Juni 1899.

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Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (4. Fortsetzung) 389
Schlösser und Burgen des Harzes. I. Quedlinburg. Von W. Heimburg. Illustriert von Dora und Annie Seifert 400
Einem Sommergeborenen. Von Ernst Scherenberg 408
Ueber Scheintod. Von Dr. W. A. Nagel 389
Ausgeglichen. Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach) (Anfang) 414
Blätter und Blüten: Der Kaiser Wilhelmturm auf dem Großen Schneeberg. (Zu dem Bilde S. 389.) S. 419. – Von den Karolinen und Marianen. (Zu den Bildern S. 419 und 420.) S. 419. – Der Kaiser kommt! (Zu dem Bilde S. 392 und 393.) S. 420. – Mammutfunde. (Zu dem Bilde S. 409.) S. 420. – Dur und Moll. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 420.
Illustrationen: Der Kaiser Wilhelmturm auf dem Großen Schneeberg. Der Große Schneeberg, von Kamnitz aus gesehen. S. 389. – Der Kaiser kommt! Von Th. Kleehaas. S. 392 und 393. – Ballspiel. Von S. Glücklich. S. 397. – Abbildungen zu dem Artikel „Schlösser und Burgen des Harzes. I. Quedlinburg.“ Von Dora und Annie Seifert. Initiale. S. 400. Das Portal der Schloßkirche. Die Bußkapelle in der Schloßkirche. Am Wasserthor. Die Fürstengruft in der Schloßkirche. S. 401. Das Grab Heinrichs I in der Schloßkirche. Der Taufstein in der Schloßkirche. Die Kanzel in der Schloßkirche. Eingang zum Schloß. S. 402. Gräfin Aurora von Königsmark. Anna Gräfin zu Stolberg II. Prinzessin Amalia von Preußen. S. 403. Ewald von Kleist. Beim Raritätenschrank. S. 404. Schloß und Kirche von Quedlinburg. S. 405. Fenstersitz in den Gemächern der Aurora von Königsmark. Der Münzenberg. S. 406. Blick vom Schloß auf die Stadt. S. 407. – Mammut im Eise, von Wölfen entdeckt. Von F. Specht. S. 409. – Erfreuliche Nachricht. Von Th. Grust. S. 413. – Abschiedsstunde. Von Paul Hey. S. 417. – Hütte von Eingeborenen der Karolinen. Geldsteine. Mann und Frau von den Karolinen. S. 419. Hafen von Yap. Dorf auf Kusai. Der Regenpik auf Ponape. S. 420.


Hierzu Kunstbeilage XIII: „Dur und Moll“. Von K. v. Bodenhausen.




Kleine Mitteilungen.

Erholungshaus für die Angehörigen der Kaiserlichen Werft in Kiel. Im Werftpark, der auf den Anhöhen hinter der Kaiserlichen Werft in Kiel ein Gebiet von 15 ha umfaßt, ist am 13. Mai ein Erholungshaus für die Angehörigen der Kaiserlichen Werft feierlich eingeweiht worden. Dieses, ein stattliches Gebäude, an dessen Südseite ein schlanker Turm emporsteigt, verdankt sein Entstehen den Wohlfahrtsbestrebungen in der kaiserlichen Marine. Es ist in seiner Einrichtung geeignet, eine wirkliche Stätte der Erholung zu sein, sei es nach des Tages Arbeit, sei es an Sonn- und Festtagen. Bei einer Länge des Gebäudes von 40 m und einer Breite von 36 m mißt der Saal mit Bühne in der Länge 30 m und in der Breite 20 m; man gelangt zu ihm von der Südseite durch das Hauptportal und eine geräumige Vorhalle. Er mag wohl etwa anderthalbtausend Personen Platz bieten. Die zierlichen Holzkonstruktionen des den Saalraum überspannenden Tonnengewölbes und der geräumigen Galerien, zu denen die Vergoldung der Kronleuchter vortrefflich stimmt, verleihen dem Saal einen anheimelnden Eindruck. An seiner Westseite im Hochparterre und im ersten Stockwerk liegen Restaurationsräume und Klubzimmer, an der Südseite bietet eine Doppelkegelbahn Freunden des Kegelns Gelegenheit zur Ausübung des Spiels. Von den durchweg hellen und großen Nebenräumen seien noch besonders das Lesezimmer, das Kaiserzimmer und das Musikzimmer genannt, in denen einfache, freundliche Eleganz vorherrscht. Zu allen diesen Annehmlichkeiten hinsichtlich der Vergnügungen in größerem und kleinerem Kreis und der Unterhaltung durch Musik und Litteratur tritt als eine weitere die der schönen freien Lage des Gebäudes hinzu: von der ersten Etage und vornehmlich auch vom Turme aus genießt man eine prachtvolle Aussicht über die Umgebung, insbesondere die Werftanlagen und den Kriegshafen. In der südlichen Umgebung des Gebäudes steht die Bismarcklinde, welche Arbeiter der Kaiserlichen Werft am 1. April 1895, zum achtzigsten Geburtstag des Fürsten Bismarck, pflanzten. Nicht weit davon liegt ein Lawn-Tennis-Platz, und in der Einsenkung des hügeligen Terrains des Werftparkes ist eine gefällige Teichanlage geschaffen, hinter der ein großer Spielplatz sich befindet. – Bei der feierlichen Einweihung des Gebäudes, an der auch die kaiserlichen Prinzen, die von Plön nach Kiel gekommen waren, teilnahmen, hielten Beamte und ein Arbeiter von der Kaiserlichen Werft Ansprachen. Die Weihe des Hauses nahm Marinepfarrer Rogge vor.


Künstlerischer Hausschmuck. Ein neuer Katalog der „Vereinigung der Kunstfreunde für amtliche Publikationen der Königlichen Nationalgalerie in Berlin“ giebt uns Veranlassung, wiederholt auf das verdienstvolle Unternehmen derselben hinzuweisen, das in der Herausgabe von farbigen Lichtdruckbildern nach den schönsten Gemälden dieser Galerie besteht. Die Direktion der Nationalgalerie hat selber die „Vereinigung der Kunstfreunde“ ins Leben gerufen, als sie daran ging, nach den ihr anvertrauten Gemäldeschätzen Blätter herstellen zu lassen, welche den farbigen Reiz der Originale wiedergeben. Wer mit einem Jahresbeitrag von 20 Mark Mitglied der Vereinigung wird, erhält jedes Jahr eines dieser vorzüglich ausgeführten Kunstblätter, wobei die Wahl zwischen einer größeren Anzahl von Bildern verschiedener Künstler freisteht. Stets im dritten Jahr erhält jedes Mitglied eine Prämie, ebenfalls in freier Wahl. Der neue Nachtragskatalog verzeichnet eine stattliche Reihe von Genrebildern, Landschaften, Geschichtsgemälden moderner Meister, die sich in vorzüglicher Weise zum künstlerischen Hausschmuck eignen.


Verwendung alter Botanisiertrommeln. Die Rumpelkammer jedes Hauses birgt eine Vereinigung aller möglichen verschiedenen Dinge, von denen nur in den wenigsten Fällen wieder etwas gebraucht wird, zu deren Wegwerfen aber eine Hausmutter sich nur schwer entschließen kann. Wo wilde Buben das Haus bevölkern, finden sich sicher auch alte Botanisiertrommeln vor, welche deutlich die Spuren der abenteuerlichen Streifzüge der Knaben zeigen. Den Augen kritischer Beobachter müssen sie unbedingt entzogen bleiben, und dies geschieht auch, wenn man sie an Stelle von Blechkasten, die man meist nicht besitzt, zur Aufbewahrung von kleineren Pelz- und Wollsachen für die Sommerzeit benutzt. Ganz und unversehrt müssen die Büchsen natürlich sein und gut schließen, sonst würden die Motten doch den Weg finden und der Hausfrau großer Kummer beim Auspacken blühen. Man streut die Büchsen mit spanischem Pfeffer ein, legt sie mit Zeitungspapier aus und packt die zuvor ebenfalls dick in Zeitungspapier gewickelten Woll- und Pelzsachen hinein. Man schließt die Trommeln fest und schlägt sie zur Vorsicht in Zeitungspapier. Ganz besonders eignen sich die Botanisierbüchsen zur Aufnahme der Winterhandschuhe, Strümpfe, Pelzmützchen, kleinen Boas und Pelzkräglein, auch für Flanell- und Wollstoffreste, Wollgarn, wie allerhand Hutfedern geben sie einen trefflichen mottensicheren Aufenthalt. H.     


Schmuck für eine Festtafel im Sommer. Da frische Blumen jetzt in Fülle zu haben sind, so kann man zur Sommerszeit eine Festtafel damit in folgender Weise reizvoll ausschmücken. Man nimmt blättergrünes, etwa zwei Finger breites Atlasband und legt dieses in Zickzacklinie in der Mitte die ganze Tafel entlang. Jede einzelne Zacke wird mit einer Sicherheitsnadel am Tischtuch festgesteckt und dann durch jede geschlossene Nadel ein etwa 1/4 langes Bandende, dessen Ecken abgeschrägt sind, vom gleichen Atlasband gezogen. Mit ihm werden an jeder Zacke einige rote oder rosafarbene Rosen abwechselnd mit einer zierlichen Schleife festgebunden. Wer keine Rosen hat, kann andere beliebige Blumen nehmen, doch wähle er die Blumen in einheitlicher Farbe, da sonst der ganze Anblick zu grell und unruhig wirkt. In die durch das zackig fortgesetzte Band entstandenen Dreiecke stellt man kleine Blumenbehälter, wie man sie jetzt in den zierlichsten Formen in herrlich irisierenden Farben kaufen kann. Diese Behälter werden am hübschesten mit kleinen Heckenrosen nebst deren Laub anmutig und zwanglos gefüllt. Die Mitte der Tafel ziert eine flache Fruchtschale, die mit einem Rosengewinde umschlungen ist, zwischen das man kleine Adiantumwedel gebunden hat, welche die Rosen leicht verschleiern. Für die Servietten nimmt man dasselbe Atlasband und schlingt es mit flotter Schleife herum, in die man eine rote Rosenknospe schiebt. Diese Rosenausschmückung im Sommer ist von ganz besonders hübscher Wirkung. He.     


Einen Hutkoffer besitzt nicht jede reisende Dame, und die übliche Hutschachtel aus Karton ist ein unbequemes und gebrechliches Handgepäck. Viel praktischer zum Befördern von Hüten, Krawatten etc. ist eine Form von binsengeflochtenen japanischen Körben, die seit kurzem in den betreffenden Läden zu haben ist, rechteckig, mit ziemlich hohen Wänden und einem Deckel zum Darüberstülpen, fast ebenso hoch wie der Korb selbst, also ziemlich fest im ganzen. Will man ihn noch besser gegen das Zusammendrücken versichern, so kann man an jeder Längsseite ein gebogenes spanisches Rohr so hineinstemmen, daß die Enden in den unteren Ecken feststehen, während die Biegung den oberen Rand in der Mitte erreicht, wo man sie durch ein paar Stiche befestigt. Ein Shawlriemen wird darüber geschnallt und der „Hutkoffer“ ist fertig.

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Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl in München

DUR UND MOLL
Nach dem Gemälde von K. von Bodenhausen

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 13

[389]

Halbheft 13.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(4. Fortsetzung.)


7.

Das Manöver zog sich in die Provinz Posen hinein und brachte den Offizieren gleich in den ersten zehn Tagen tausend Unannehmlichkeiten. Der lachende Auszug am ersten Morgen blieb wie ein Lichtpunkt in aller Erinnerung. Noch am selben Tage brach mit einem fürchterlichen Gewitter eine Regenzeit an, die eigentlich aus einer unaufhörlichen Folge von Wetterkatastrophen schlimmster Art bestand. Die Warthe, in deren Gebiet man sich bewegte, schwoll unerhört an; jedes Bächlein ward ein Strom, aber nicht von der reißenden Art der Gebirgswasser, die schnell und verderblich mit Gefahren vorüberstürzen; sondern still wuchs und schwoll das und stand und überzog die Felder, durchweichte den Boden, unterminierte die Straßen.

Tagelang wurden den Mannschaften wie den Offizieren die Röcke nicht trocken, in den Quartieren war es dumpf und dürftig; anstatt der vorgesehenen Biwaks bezog man Notquartiere. Und wenn die Leute einigermaßen untergebracht waren, erwuchs den Offizieren noch die Pflicht, sich davon zu überzeugen, ehe sie selbst eine fragwürdige Ruhe suchen konnten. Die Plackereien nahmen kein Ende, und wenn der Soldat, übellaunig, verzagt, die Lust verlor, hatten die Offiziere die Pflicht, die Stimmung frisch zu erhalten.

Abends saß alle Welt in irgend einem kümmerlichen Dorfwirtshaus zusammen und schimpfte. Da aber Schimpfen immer etwas Gemütbefreiendes hat, so wurden auch beim schlechten Bier diese Abende zuletzt doch noch manchmal gemütlich.

Wenn das Glück den Herren ein Quartier auf größerem Gutshof oder gar dem Schloß eines Großgrundbesitzers bescherte, fühlten sie sich auf zwölf Stunden wieder als Menschen.

„Schlimmer kann’s im Kriege auch nicht zugehen,“ sagte Hallendorf zu Achim von Körlegg, „so’n Manöver bei Hundewetter ist eigentlich ’ne Probe darauf, wie lange ’n anständiger Mensch es aushält, als Schwein zu leben, ohne krank zu werden.“

Er hatte schon mehrere Kranke in seiner Kompagnie und sah das Unwetter als persönliche Chicane der himmlischen Mächte gegen sich an. Achim war der Nächste dazu, alle üble Laune des Hauptmanns zu ertragen. Unter solchen Verhältnissen wuchs das Traumbild einer italienischen Reise mit Sabine noch mehr zu einem Strahlengemälde von überwältigendem Reiz. Beinahe stoisch ertrug er das Ungemach. Immer sah er Sabine vor sich stehen, wie sie am Thore stand, da er vorbeizog. Jeder Gedanke an sie ward der erquickende Gegensatz zur Misere dieser Tage.

Nach anderthalb Wochen schon erhielt er ihr Bild. Sie hatte sich in einem Ballkleide photographieren lassen. Da er sie nie anders als im Freien, in Straßenkleidern gesehen hatte, wirkte das Bild beinahe fremdartig auf ihn, aber doch auch wie eine neue Offenbarung ihrer Schönheit. Mit Herzklopfen betrachtete er es. Wie stolz ihr

Der Große Schneeberg von
Kammnitz aus gesehen.
Der Kaiser Wilhelmturm auf dem Großen Schneeberg.

[390] edles Haupt auf dem schlanken Hals saß! Wie köstlich waren die Linien ihrer Schultern und Arme!

Er seufzte schwer und resigniert, als er dann das Bild in seinem Koffer verbarg. Aber allabendlich holte er es hervor und starrte es an, und eine dumpfe, zehrende Unruhe wuchs langsam in ihm.

Seine Nächte wurden von leidenschaftlichen Träumen gequält. Tags freute er sich nun fast all der fatalen Lebensbedingungen, die wenigstens ihm gewaltsam Vergessen aufzwangen.

Eines Nachts, als sie in einem polnischen, jämmerlichen kleinen Städtchen im Quartier lagen, brachen derartige Unwetter nieder, daß der nächste Morgen ihnen eingestürzte Brücken, zerstörte Straßen, überschwemmte Felder zeigte, und anstatt, wie geplant gewesen, um vier Uhr früh weiterzumarschieren, hieß es für das Regiment, dem Pionierdetachement bei Straßen- und Notbrückenbau behilflich sein. Das Städtchen lag auf einer Insel, von zwei Armen der Warthe umflossen. Die nördliche Brücke war eingestürzt, der Damm der hier mündenden Zweigbahn unterwühlt; die Chaussee, zu welcher man über die südliche Brücke gelangte, viele Meter lang gleichsam eingesunken und von Steingeröll und Wasserlachen bedeckt.

Hier hielt Achim und überwachte von seinem Pferde aus die Arbeiten seiner Füseliere. Zwischen den Leuten bewegte sich Bläser und ein Leutnant von den Pionieren. Man ließ Bretter heranführen und Erde, um einen Uebergang herzustellen.

Hinter ihnen rollte gelb und schwerflutend der Strom an dem rotgrauen Häusergehock des Städtchens vorbei. Da ragten ein paar Fabrikschornsteine und ein Kirchturm in die trübe Luft. Vor ihnen zog sich die mit Bäumen eingefaßte Chaussee endlos in die flache Gegend hinein. Die nassen Wipfel sperrten ihr Gezweig krankhaft auseinander, denn es war schwer von Regen und von Obst.

An der Stelle, wo die Einsenkung begann, sammelten sich nach und nach allerlei Gefährte und Fußwanderer. Den Fußgängern halfen einzeln die Soldaten hinüber, und Achim sah da mehr als ein Genrebildchen, wenn einer seiner frischen, kernigen Kerle mit gutmütigem Spott einen zitternden Handelsjuden mit Kaftan und Schläfenlocken mehr zog als führte, während die schmale Bohle unter ihren Tritten schwankte.

Für die Wagen hieß es: warten. Da fuhr zuletzt eine förmliche Wagenburg zusammen, sechs vierspännige, gleichaussehende, schwer mit Säcken beladene Fuhrwerke, die Kutscher alle mit gleicher Mütze. Sie sollten Getreide von einem nahen Herrschaftssitz an die Bahn bringen. Dann ein vergittertes Wägelchen, aus dem jämmerliches Geblök erscholl, Kälberköpfe suchten sich durch die Lücken des Gitters zu drängen und der Kutscher schimpfte laut. In zwei leeren Ackerwagen legten sich die Führer gleichgültig zum Schlafen hin und die Gäule standen in Stumpfsinn unbeweglich. Dazwischen stand, schon ganz eingekeilt, eine offene Viktoriachaise. Ein Kutscher in Livree saß auf dem Bock, ein alter Herr und eine junge Dame im Wagen. – Die Kommandostimmen der Offiziere überschrieen den Lärm, Bretter krachten polternd zur Erde, Hammerschläge hallten, die Kälber blökten jammervoll, rechts und links blinkte schlammiges Wasser auf dem Gebreite der Felder, und vom zinnfarbenen Himmel begann es eben zu tröpfeln.

Achim sah, daß die beiden Personen in der offenen Halbchaise sich erhoben und augenscheinlich mit Gebärden der Entmutigung die ganze Scenerie rings sich anschauten. Nun bemerkte er erst, daß es eine Dame war und ein alter Herr, also zwei Menschen, die des Schutzes oder wenigstens vielleicht eines Rates bedurften.

Er stieg ab und gab sein Pferd dem nächsten Mann zum Halten.

„Kommen Sie, Bläser,“ sagte er im Vorübergehen, „wir wollen den Herrschaften helfen.“

Vorsichtig balancierend, gelangten sie über das schmale Brett nach der anderen Seite und wanden sich zwischen den Wagenrädern, Pferdekruppen durch bis zur Chaise hin.

Achim grüßte.

„Wenn ich mir erlauben darf, den Herrschaften zu raten, so wäre es besser, Sie stiegen aus und gingen zu Fuß ins Städtchen. Es ist nur eine Viertelstunde. Bis der Wagen hinüber kann, wird noch eine Stunde und mehr vergehen.“

Der alte Herr lüftete höflich seine Lammfellmütze und sah das junge Mädchen fragend an.

„Wie du meinst, Onkel,“ sagte sie.

„Den Zug haben wir schon versäumt,“ bemerkte er verstimmt.

„Wenn die Herrschaften mit der Bahn weiter wollten – der Bahndamm ist unterspült. Vor morgen wird kein Zug abgelassen,“ berichtete Achim.

„Ach du meine Güte!“ rief der alte Herr.

„Aber Onkel, wie romantisch! Denke doch! Dies ist das erste Abenteuer meines Lebens,“ rief das junge Mädchen vergnügt.

Der alte Herr lächelte, auch die beiden Offiziere erlaubten sich ein wohlwollendes kleines Lächeln.

„Gnädiges Fräulein werden vielleicht mehr Unbequemlichkeit als gerade Romantik finden. Im Gasthof ‚Zum König Stanislaus‘ haben die Stäbe die besten Zimmer mit Beschlag belegt. Aber Platz finden die Herrschaften sicher. Auch das Essen ist nicht schlecht. Nur ist es ein großes militärisches Treiben da,“ erzählte Achim.

„Also steigen wir aus,“ entschied der Alte, „wenn die Herren uns hinüberhelfen wollen … und Sie, Prenka, kommen nachher in das Hotel mit den Sachen.“

„Zu Befehl, gnädiger Herr!“

Mit einem bezeichnenden Blick gebot Achim seinem Kameraden, den alten Herrn zu führen. Es war selbstverständlich, daß ihm, dem Premier, der angenehmere Teil der Aufgabe, nämlich die Führung der jungen Dame, zufiel. Und obenein gefiel ihm dieselbe ganz ausnehmend.

Sie war mittelgroß und schlank, ganz in einen englischen grauen Reiseüberrock gehüllt, welcher in der Taille fest anschloß und die hübsche Gestalt ganz erkennen ließ. Dazu trug sie einen weißen Strohhut von Matrosenform. Dick quoll unter seinem Rande ein blonder Haarknoten hervor. Das Mädchen hatte blaue Augen, die mit einem freudigen Blick in die trübselige Welt schauten. Man sah es ihrem offenen, frischen Gesicht an, daß all diese unerwarteten Unbequemlichkeiten ihr die Laune gar nicht verdarben. Vertrauensvoll und ohne Ziererei sah sie zu Achim empor.

Den alten Herrn hielt Achim für einen Russen, trotz seines reinen Deutsch. Er war sehr groß und schlank, trug sich etwas vornübergeneigt und hatte auf seinem weißen Haar eine Lammfellmütze. Sein Gang war müde, sein Gesicht bleich, die Nase lang und fleischig. Er hatte etwas Verbrauchtes, Blasiertes, Zerstreutes, das aber nicht unliebenswürdig wirkte, sondern eher Teilnahme erregte.

Achim ließ das junge Mädchen vor sich her gehen und hielt sie, hinter ihr schreitend, an beiden Oberarmen. Das Brett bog sich unter ihnen. Zuweilen überlief das Schlammwasser und netzte ihre Füße.

„Hineinfallen möchte ich nun gerade nicht in den Schmutz,“ sagte sie lachend.

Achim sah dicht vor sich den blütenweißen Leinenkragen aus dem Mantel gucken und sah den Hals, das Ohr und ein Stückchen Wangenprofil sowie den dicken Haarknoten. Ein Glanz von Appetitlichkeit ging von allem aus, ein unbeschreiblicher Duft von Jugendfrische.

Nein, das paßte nicht zu diesem wohlgepflegten Mädchen – in den Schlamm fallen. Er faßte unwillkürlich fester an.

„Um Onkel ist es mir leid. Er ist so sehr nervös. Mir macht es Spaß,“ erzählte sie in unbefangener Aufrichtigkeit.

„Darf ich fragen: sind die Herrschaften schon weit hergekommen?“

„Immerhin zwei Stunden gefahren. Wir waren bei Verwandten zum Besuch. Taufe – wissen Sie, der arme Onkel muß allerwärts Pate spielen. In unserer Familie giebt es schon gewiß ein Viertelhundert Fritze und Friederiken. Die jungen Eltern meinen immer, es macht Onkel Spaß. Aber es ermüdet ihn so. Und er ist zu gut. Er kann nicht Nein sagen. Nie zu etwas!“

Sie plauderte mit der leichten Mitteilungsfähigkeit junger [391] Menschen. Vielleicht wollte sie dem gefälligen Herrn Leutnant gegenüber sich auch nicht zu konventionell benehmen.

„Onkel Fritz,“ dachte Achim … „aber das wäre doch …“

Immerhin erregte ihn die Möglichkeit eines solchen Zusammentreffens, und er fing an, starke Neugier zu fühlen, wer die beiden Reisenden seien.

„Hoffentlich stört der unvermutete Aufenthalt Sie und Ihren Herrn Onkel nicht in Ihrem Reiseplan?“ fragte er.

„Ja, schon ein bißchen. Das heißt, alles verschiebt sich um einen Tag. Aber das macht nichts. Onkel ist kein Pedant. Und mir ist es auch egal. Da kommen wir eben einen Tag später nach Italien. So – danke vielmals.“

Sie waren drüben und sahen nun zu, wie der lange alte Herr, von dem kleinen Bläser geleitet, etwas schwankend nachkam.

Dann lüftete Onkel Fritz wieder die Lammfellmütze, dankte den beiden Herren mit vieler Freundlichkeit und sagte:

„Also komm, Susanne!“

Natürlich, sie sind es, dachte Achim und sah ihnen interessevoll nach. Bläser, neben ihm, pries mit großen Worten das Aussehen und die Gestalt des Mädchens.

„Werd ’mal ’n Ton mit ’m Kutscher reden, wer die sind. Da muß man sich noch ’n bißchen ’ranmachen. Ein famoses Mädel! Wissen Sie was, Körlegg – wenn wir heut das Essen bei unsern Quartierwirten schießen ließen und im ‚König Stanislaus‘ dinierten? Wir haben beinahe Lebensretter gespielt – also gewissermaßen Anrecht, Bekanntschaft zu kultivieren. Was meinen Sie?“

„Ach, Sie machen aus jeder Bagatelle ein Ereignis! Die wissen heut mittag schon nicht mehr, wie wir aussehen,“ sagte Körlegg ausweichend, trotzdem er sofort entschlossen war, auch im „König Stanislaus“ zu essen.

Susanne Osterroth wußte um Mittag aber noch ganz gut, wie die beiden Herren ausgesehen hatten.

„Nicht wahr, Onkel,“ sagte sie, „das waren zwei nette Leutnants? Besonders der große, blonde hat mir gut gefallen. Er hatte so etwas Männliches, Ernstes.“

„Vielleicht hat der ganze Eindruck von Männlichkeit bloß in den hohen schlammbespritzten Stiefeln seinen Grund. So eine Uniform mit den Spuren harter Arbeit sieht nach was aus. Das kleidet,“ sprach er lächelnd.

„Dir imponiert auch nichts,“ meinte sie.

„Ein Leutnant wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick, denn ich bin kein Mädchen.“

„Na, so eins bin ich doch auch nicht,“ rief Susanne.

Mittags suchten sie sich im Speisesaal des „Königs Stanislaus“ einen Tisch. Die beiden langen Haupttafeln waren für Offiziere bestimmt, die teils schon dasaßen, teils gerade ankamen. Die ganze Sache war Onkel Fritz etwas zu kriegerisch bewegt. Indes, essen mußte man und drüben in der kleineren Wirtsstube wimmelte es von Unteroffizieren und Feldwebeln. Am Fensterpfeiler stand ein freier Tisch. Ueber ihm an der Wand hing ein Riesenplakat; da sauste eine brennendrot gekleidete Dame mit prallsitzenden Strümpfen auf einem Velociped geradeswegs auf den Beschauer los. Darunter hing die Ankündigung der Berliner Gewerbeausstellung. Die sich emporstreckende Faust mit dem Hammer war von Fliegenschmutz betupft. Seufzend ließ Onkel Fritz sich nieder. Das kleine Vergnügen, welches ihm die Situation gewährte, war die Beobachtung, daß Susanne, als einzige Dame wohl unter vierzig Herren, ganz so unbefangen blieb, wie sie immer war.

„Sieh mal, da sitzt dein Held mit den Reiterstiefeln,“ sagte er.

Da Körlegg und Bläser bemerkten, daß der alte Herr zu ihnen hinübersah, erhoben sie sich grüßend. Auch Susanne nickte lebhaft und freudig.

„Wir werden sie nachher zu einem Trunk Sekt herüberbitten lassen.“

„Kann man das?“ fragte Susanne zweifelnd.

„Ein alter Herr darf zwei jungen Leuten, die ihm einen Dienst erwiesen, schon ein Glas Wein anbieten, ohne sie zu kränken.“

Susanne blieb ein wenig unruhig. Onkel Fritz in seiner Patriarchenstellung innerhalb seiner weitverzweigten Familie hatte sich angewöhnt, auch Fremden gegenüber manchmal etwas leutseliger zu sein, als es Susanne richtig schien. Wie allen jungen Menschen fehlte ihr in Persönlichkeitsfragen noch oft die innere Freiheit.

Aber Körlegg und Bläser nahmen die Einladung, die der Oberkellner ihnen nach genauer Personalbeschreibung brachte, nicht übel, sondern verließen mit strahlenden Gesichtern ihren Nachtisch, von ihren Kameraden beneidet.

Der alte Herr ging ihnen einige Schritte entgegen.

„Von Körlegg.“

„Bläser.“

„Osterroth.“

Nach dieser Selbstvorstellung erwuchs nun Onkel Fritz die Pflicht, die Herren seiner Nichte vorzustellen.

„Gestatte, mein liebes Kind,“ sagte er, „Herr von Hörneck, Leutnant Heeser, – meine Nichte, Fräulein Osterroth.“

Onkel Fritz war sehr befriedigt. Namen waren seine schwache Seite, diesmal hatte er nach seiner Meinung gleich richtig verstanden und vorgestellt. Auch war er noch von der alten Schule und nannte die adeligen Herren beim Namen und die bürgerlichen bei ihrer Charge.

Man plauderte sogleich sehr heiter. Körlegg gestand, daß die Lammfellmütze ihn verführt habe, Herrn Osterroth für einen Russen zu halten, für einen Diplomaten überdies, wegen der ganzen Erscheinung.

Da der alte Herr seinen Namen falsch verstanden und nachgesagt hatte, fühlte Körlegg eine fröhliche Sicherheit in sich.

Der Saal wurde immer leerer, alle Offiziere waren seit vier Uhr früh in aufregender Thätigkeit gewesen. Der Dienst begann um drei Uhr von neuem.

„Sie werden sich ausruhen wollen und wir halten Sie auf,“ sprach Onkel Fritz.

„Nein,“ gestand Bläser aufrichtig, „nach all dem wüsten Lärm und Regen und Schmutz bietet dies heitere Stündchen mit Ihnen uns mehr Erfrischung, als es der Schlaf vermöchte.“

Bläser ist ein netter Mensch, dachte Körlegg wohlgefällig.

Beim dritten oder vierten Glas fragte Susanne dann Körlegg, welches seine Garnison sei. Gerade sprach Bläser lebhaft von seinem Steckenpferd, der Fuchsjagd, mit dem alten Herrn.

„Ich stehe in Mühlau,“ sagte er unwillkürlich leise und sah Susanne ernst in die blauen Augen.

Der Ton und der Blick hinderte Susannen, den fröhlich überraschten Ausruf zu thun: „Da reisen wir ja gerade hin!“

„Kennen Sie …“ begann sie und stockte schon.

Er sah sie wartend an. Sie besann sich anders und sagte auch halblaut:

„Ich habe Verwandte in Mühlau.“

Er nickte langsam. „Ich weiß es!“ Es klang so schwer.

„Hat Onkel Ihren Namen richtig verstanden?“ fragte sie schnell.

„Nein!“

Und wieder sah er ihr fest, fast befehlend in die Augen.

Sie verstanden sich. Ihm schien es, als wechsele Susanne ihre Farbe. Sie mußte begriffen haben, wer er war.

Das Gespräch wurde wieder allgemein, und mit großer Lebhaftigkeit scherzte man miteinander. Die Worte waren harmlos, die Mienen lachend.

Aber Susannens Blicke ruhten immerfort mit einem offenkundigen, unersättlichen Interesse auf Achims Angesicht.

So also sah der Mann aus, welcher der Gegenstand einer unheilvollen, rasenden unseligen Leidenschaft war! Um diesen wollte ein Weib einer Welt trotzen!

Welche Eigenschaften mußte er haben? Wo lagen die geheimen Zauber seines Wesens? Was war die Gewalt, die von ihm ausging und der armen Sabine alle Besinnung raubte?

Das war er! Er! Und saß hier, ein friedlich und angenehm plaudernder, verbindlicher Mann, in einer Uniform ebenso wie die vierzig oder fünfzig anderen Männer, die eben noch im Raum hier gewesen waren. Ganz gewöhnlich, ganz alltäglich!

Und trug doch ein großes Wunder verschwiegen mit sich herum.

Das Wunder einer unsäglichen Liebe. Es war Susanne,

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Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.
Der Kaiser kommt!
Nach dem Gemälde von Th. Kleehaas.

[393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] als kämen die Rätsel des Lebens an sie heran. Ein Schauer rann fröstelnd durch ihre Adern.

Sie versuchte sich vorzustellen, daß Sabine hier mit am Tische säße, daß Achim von Körlegg heiße Liebesblicke ihr zusende. Es ging nicht. Das konnte Susanne sich auf keine Weise vorstellen. Es erschien ihr unmöglich, daß dieser festblickende Mann, von dessen ganzem Wesen eine stille Energie ausging, sich der verderbenden Gewalt einer verbotenen Liebe hingeben sollte. Denn für Susanne blieb diese Liebe eine „verbotene“. Kein Mut, keine Kühnheit, keine Freiheit konnte je groß genug sein, sich über die Kluft hinwegzusetzen, die zwischen den unseligen Beiden gähnte.

Ob er wohl klarer sah als Sabine? Ob er dann nicht litt, sehr schwer und tief litt? Sie hätte in seiner Seele lesen mögen.

Wenn er wüßte, daß ich eingeweiht bin! dachte sie. Vielleicht weiß er es.

Sie fühlte sich ihm ganz vertraut. Er war ihr kein Fremder. Sie kannte sein Schicksal, das ihr ein ungeheures schien.

Er aber bemerkte wohl, daß ihre Blicke sich nicht mehr von ihm wandten. Und er erriet den Grund.

Ein Zorngefühl quoll in ihm auf. Instinktiv wehrte sich seine ganze Männlichkeit dagegen; er wollte nicht beobachtet sein als einer, der nicht mehr Herr seines Schicksals und seiner Person ist. Er fühlte sich als ein Mann, der aller Gefahr siegreich begegnet war. Und in diesem Augenblick glaubte er, daß es fortan überhaupt gar keine Gefahren mehr geben könne.

Er hätte wissen mögen, was dieses Mädchen von ihm wußte oder dachte. Das war ihm wichtig. Durch Sabinens Erzählungen war ihm Susannens Persönlichkeit sehr bekannt, sehr verehrungswert geworden. Sie war ein Mensch, von dem man geachtet zu sein wünschte.

Dachte sie, er habe kein Gewissen, keine ethischen Grundsätze? Nahm sie an, daß er widerstandslos dem Zauber der schönen Frau erlag, die unbewußt, getrieben von der elementaren Gewalt einer großen Leidenschaft, mit ihrem ganzen Wesen zur Versucherin an ihm geworden?

Wenn sie das annahm, konnte sie ihn dann noch für einen rechten Mann halten?

Oder glaubte sie, daß er bei all der Liebe, die ihm entgegenloderte, kühl und fest geblieben war? Daß er wie ein anderer keuscher Joseph seinen Mantel gelassen hatte und entflohen war?

Wenn sie das annahm, konnte sie ihn dann noch für einen rechten Mann halten?

Frauenlogik und Frauenempfindung ist in solchen Dingen unberechenbar. Ein Mann, der sich schwach in eine Leidenschaft verstrickt, erscheint ihnen oft der Teilnahme würdiger als einer, der ihr stark widersteht.

Als Unterlieger oder als Sieger – immer hat er das Urteil der Frauen zu fürchten. Ja selbst den Richterspruch der einen, um die er leidet!

So war für Achim wie für Susanne diese kurze, scheinbar harmlos verplauderte Stunde voll reichsten Inhaltes. Als man sich endlich trennen mußte und Abschied nehmend noch zusammenstand, erzählte der alte Herr, daß er nach Mühlau wolle, dort noch eine Nichte abzuholen. Bläser erlaubte sich die Frage nach dem Namen derselben. „Ach, die wunderschöne Frau von Zeuthern? Ich habe im Sommer oft das Glück gehabt, sie bei ihrem Bruder auf Heinsdorf zu treffen.“

„Da kennen Sie Frau Sabine besser, als ich sie noch kenne,“ sagte der alte Herr, durch diese gemeinsame Beziehung gleich noch zutraulicher geworden. „Ich bin ihr eigentlich ziemlich fremd. Aber mein klaräugiges Mädchen da meinte, eine solche Reise thäte Sabinen gut.“

Bläser machte sich ein bißchen wichtig und sprach sehr intim von Reinald Deuben, dem Oberamtmann und dessen Frau und dem Mühlauer Leben, wo Sabine von Zeuthern allerdings etwas deplaciert sei.

Achims Gedanken blieben an dem einen liebkosenden Wort hangen, das der alte Herr von Susanne gebrauchte, „mein klaräugiges Mädchen“.

Ja, besser konnte man sie nicht benennen. Da waren keine vulkanischen Untiefen. Da war Reinheit und Licht.

Die Offiziere gaben den Herrschaften noch tausend gute Wünsche mit auf die Reise und Achim sagte, daß er nach dem Manöver auch eine kleine Spritztour hinunter zu machen denke, worauf der alte Herr mit der landläufigen, konventionellen Freundlichkeit, die man in solchen Fällen aufwendet, antwortete, dann könne man vielleicht auf ein Wiedersehen hoffen.

Susanne erglühte dermaßen und zeigte so deutliche Spuren plötzlicher Erregung, daß Bläser später den Kameraden neckte, er habe Eindruck gemacht. Achim glaubte den Grund dieser plötzlichen Erregung zu erraten. Er schwieg zu den Neckereien und blieb sehr schweigsam den ganzen Tag.

Susanne aber konnte kaum den Augenblick des Wiedersehens mit Sabine erwarten. Durch die vielfach gestörten Verbindungen ward ihr dieser erst am nächsten Abend.

Sabine stand am Bahnhof. Blanker Sonnenschein brach eben, nach einem regnerischen Tag, durch die Wolken und warf ein hartes, gelbes Licht auf die nassen Büsche rechts und links vom roten Bahnhofsbau. Der kiesbestreute Perron glitzerte. Es war beinahe kalt. Sabine trug deshalb ein schwarzes Jackenkleid von Tuch, aber auf ihrem Hut steckten grünschillernde Fittiche.

Als die Freundinnen sich in jubelnder Freude umarmt hatten, gab Sabine, unwillkürlich etwas befangen, dem alten Herrn die Hand.

Onkel Fritz, groß und vorgebeugt, stand vor ihr und sah unter seiner gesenkten Stirn so forschend heraus, wie es nun einmal immer seine Angewohnheit war. Er beobachtete schnell, schweigend und intensiv. Es war Sabine, als durchschaute er sie ganz und gar. Sie lächelte den alten Herrn etwas gezwungen an.

„Papa und Mama bitten zum Abendbrot,“ bestellte sie. „Papa läßt sich entschuldigen, daß er nicht mit zum Empfang herkam. Er hat wieder dicke Füße.“

„Gut, gut,“ antwortete Onkel Fritz zerstreut.

Die außerordentliche Schönheit der jungen Frau machte ihn betroffen; noch mehr beschäftigte ihn der Ausdruck ihrer Züge. Schweigsam und zerstreut blieb er auch während der Abendtafel.

Er war mit Susanne im „Kronprinzen“ abgestiegen und fügte sich ungern in die freilich auch von ihm anerkannte Notwendigkeit, bei Sabinens Eltern zu speisen. Gegen den alten Deuben hatte er ein Dutzend Vorurteile; mit fremden Menschen unterhielt er sich nur, wenn er aus freiem Interesse die Unterhaltung suchte. Hier lag Zwang vor. Deubens waren ihm gänzlich fremd; von der kurzen Begegnung auf Sabinens Hochzeit hatte er kaum eine deutliche Erinnerung mehr.

Ebensowenig freudig erwarteten Deubens ihre Gäste.

Der alte Deuben war, wie viele Geizige, in die Taschen anderer Leute hinein generös und fand, das könnte Onkel Fritz wohl, zwei hübsche Nichten mit auf Reisen nehmen, daran habe er sicher viel Pläsier. Andrerseits empfand der Oberamtmann diese Reise doch wie einen stillen Vorwurf. Es war eigentlich gerade so, als ob sie ihrer Tochter selbst nicht genug böten. Ueberhaupt war der ganze Onkel Fritz sozusagen ein lebendiger Vorwurf – ein Mann, der so mit vollen Händen gab!

Um sich von diesem heimlichen Druck zu befreien, sprach der Oberamtmann viel von der Art, wie Onkel Fritz sich ausnutzen lasse, und Sabine hörte mit ihrem klugen Ohr sogar ein bißchen Geringschätzung heraus, was sie nicht wenig ärgerte.

Was am Abend gegeben werden sollte, hatte lange Debatten verursacht. Die Oberamtmännin schlug ein Vorgericht von Fisch vor. Aber das wäre dem Oberamtmann undenkbar erschienen, Fische an einem andern Tag als dem Markttag Sonnabend zu essen. Schließlich einigte man sich auf ein Ragout von Kalbsmilch und eine junge Gans. Die Kochfrau Heller, der Stolz von Mühlau, wurde für den Abend bestellt, und Sabine ängstigte sich, daß Onkel Fritz bemerken möge, wie viel Umstände er veranlasse; und zugleich hatte sie das Gefühl, daß ihr diese „Umstände“ sozusagen auf Rechnung gesetzt würden. „Diese Unbequemlichkeiten kommen uns durch dich!“ schien das Wesen ihrer Mutter zu sagen.

Der Oberamtmann zog seinen neuesten braunen Gehrock an, die Oberamtmännin trug ihre alte Staatsrobe, das starre schwarzseidene mit dem eingewebten gelben Treffasmuster. Zu Sabinens Hochzeit war es angeschafft worden. Es stand die Anschaffung eines neuen kostbaren Kleides für Reinalds Hochzeit bevor. Die Oberamtmännin nahm an, daß Onkel Fritz sich dieses ihres Kleides von Sabinens Hochzeit her sicher nicht mehr erinnere.

[395] Aber seltsamerweise war es gerade dieses so besonders gemusterte Kleid der Oberamtmännin, was in Onkel Fritz’ Gedächtnis von der ganzen Familie Deuben haften geblieben war.

Fast betroffen blieb er denn auch einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Dann wandte er mit einer kurzen Bewegung sein Haupt nach Susanne um und sah sie an. Susanne blieb aber gefaßt. Sie nannten ja unter sich Sabinens Mutter stets die „Treffasdame“, damit Onkel Fritz begreife, wer gemeint sei.

Man war sehr steif miteinander. Der Oberamtmann besaß eine natürliche, wuchtige Würde in seiner Art und Erscheinung und sprach wie ein Souverän. Onkel Fritz hatte eine feine, stille, etwas weltmüde Würde und in Wort und Gebärde die Gewohnheit der völligen Unabhängigkeit.

Das ging schlecht zusammen. Das waren zwei Größen, davon keine die andere innerlich als solche anerkannte.

Die Oberamtmännin sprach ausschließlich Familiengeschichte und stellte alle Osterroths fest, bis auf die gemeinsame Ururgroßmutter, die sie mit Onkel Fritz hatte. Dies langweilte ihn sehr.

Da ihn zu den Eltern keine Sympathie zog, erschien ihm die schöne, interessante Tochter um so anteilswürdiger.

Am andern Morgen früh wollte man reisen. So gewannen Sabine und Susanne noch einige Minuten für sich, unter dem Vorwand, den Koffer fertig packen zu müssen.

Kaum in Sabinens Stube angelangt, fiel Susanne der Freundin um den Hals.

„Ich habe ‚ihn‘ kennengelernt! Onkel Fritz auch!“

„Wo – um Gotteswillen, wo . . .?“

„Die beiden Offiziere, von denen wir bei Tisch erzählten! Sie waren von der hiesigen Garnison! Der eine hieß Bläser, der andere war Er!“

Sabine bebte am ganzen Leibe.

„Und Onkel Fritz?“

„Verstand natürlich seinen Namen falsch. Und als Körlegg sagte, er käme auch nach Italien, erhoffte Onkel Fritz ein Wiedersehn, wie man so thut.“

Susanne sah die Freundin durchbohrend an.

Aber Sabine fühlte nur eine große Erleichterung. Also war nichts verdorben, nichts gestört. Gottlob!

„Du hast dich mit ihm verabredet,“ fragte Susanne ernst.

„Ja! er wird uns treffen. Wie zufällig. In Verona oder Mailand oder Venedig. Ich werde ihm immer unsere Adresse telegraphieren,“ sagte Sabine.

„Und was soll daraus werden?“ fragte Susanne.

„Das Glück – das Glück!“ flüsterte Sabine. Ihre Augen schlossen sich halb, ihre Lippen öffneten sich, ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Berauschte.

„Sabine –“ rief das junge Mädchen und fiel ihr wieder um den Hals. „Besinne dich doch! Es kann ja nicht sein!“

„Warum kann es nicht sein? Zwischen uns steht keine Schuld. Nur Vorurteile. Die lassen sich besiegen. Ah – Susanne – wenn du wüßtest, wie das ist, zu lieben, mit den Erfahrungen des Unglücks! Gerade in der elenden Ehe erwachte mir das glühende Verständnis, welch eine Himmelswonne es sein muß, im Gatten zugleich den Geliebten zu besitzen.“

Susanne erschrak vor diesem verzehrenden Ausdruck im Ton, in den Augen der andern. Die qualvolle Unruhe, in welcher sie selbst sich seit der Begegnung mit Achim befand, wuchs und wuchs.

„Ich will niemals lieben, wenn Liebe etwas so Blindes, Tolles ist,“ sagte sie leise.

„Du hast ihn doch gesehen! Begreifst du denn nicht?!“ fragte Sabine in triumphierendem Stolz auf ihre Liebeswahl.

Susanne wurde ganz verwirrt. Ja, sie hatte ihn gesehen und ihn angestaunt und sich gefragt, wo seine Zauber seien. Und sie dachte seitdem immerfort darüber nach und vergegenwärtigte sich in jeder Minute sein Angesicht und sein Wesen. Aber auf diese Frage zu antworten, vermochte sie nicht.

„Ich verstehe nichts von Männern,“ sagte sie zögernd.

Und Sabine lachte glücklich und küßte sie zärtlich.

Am andern Morgen machte Sabine eine Entdeckung an sich selbst. Die ganze Freude an der Reise versank mit einem Male, und der Abschied von ihren Kindern, von ihren Eltern wurde ihr sehr schwer. Sie stellte sich plötzlich vor, daß die Kleinen inzwischen erkranken oder verunglücken könnten, daß ihr alter Vater inzwischen sterben, ihre Mutter ihrer Pflege und Hilfe bedürftig sein könne. Sie machte sich Vorwürfe, hinausgestrebt zu haben; kam sich lieblos vor, weil ihr Sehnen aus dieser ihr angestammten Welt hinausging. Mit Thränen in den Augen beschwor sie ihre Mama, ihr täglich eine Postkarte zu schicken, sonst habe sie keine Ruhe. Reinald, der zum Abschied hereingeritten kam, nahm sie ebenfalls das Versprechen ab, ihr oft von ihm und Martha Nachricht zu geben, und sie ließ Martha so viele tausendmal grüßen, daß Reinald ganz beglückt war, seine Braut von seiner Schwester so geliebt zu sehen.

Im Coupé trocknete Sabine ihre Thränen und sagte, mit dem Versuch zu lächeln und Onkel Fritz nicht mit einer Stimmung lästig zu fallen, die er am Ende als Sentimentalität auffassen könnte: „Ich wundere mich über mich selbst. All die lange, schwere Zeit hindurch habe ich fast nur noch das Schwierige meiner Lage gefühlt und geglaubt, ein zeitweiliges Herauskommen aus derselben sei eine Riesenfreude. Und nun sitz’ ich und weine. Sie müssen mich für undankbar halten, Onkel Fritz. Aber im Augenblick kommt mir’s doch so vor, als könnten die Meinen nicht ohne mich, ich nicht ohne die Meinen auch nur einen Tag fertig werden.“

Onkel Fritz sah sie an.

Er lächelte und schwieg.

Er war überhaupt schweigsam. Aber Sabine fühlte schnell, daß es nicht die Stumpfheit der Interesselosigkeit war. Er beobachtete fortwährend.

„Es scheint, er studiert mich,“ sagte sie schon am ersten Abend zu Susanne. „Das ist mir sehr ungemütlich. Du schriebst doch immer: er schwebe über Dingen und Menschen und merke sich weder Namen, noch Daten, noch Verhältnisse.“

„Ja – das Aeußerliche ist ihm egal. Das geht so an ihm vorbei. Aber wenn ihn ein Mensch interessiert! Er ist ganz weg in dich, das merkt man gleich.“

Da tauchte in Sabinens Kopf der Gedanke auf, daß ihr am Ende in Onkel Fritz ein Bundesgenosse erstehen könnte.

Er selbst, so ging die Sage unter seinen Neffen und Nichten, sollte in seiner Jugend an einem romantischen Schicksal gescheitert sein. Er hatte die Frau eines Freundes geliebt. Sie ließ sich von ihrem Gatten scheiden. Aber ihre Eltern kämpften so erbittert gegen ihre Wiedervermählung, daß die gewonnene Freiheit der jungen Frau nichts nützte. In Leid und Kämpfen rieb sie sich auf, und als endlich eine Vereinigung in sicherer Nähe stand, brach sie zusammen. An ihrem Sterbebett sollte Onkel Fritz ihr geschworen haben, nie zu heiraten. Sie büßte ihre Schuld mit dem Tode; er wollte sie in einem Leben voll Entsagung und Gutthaten büßen.

An dieses Gerücht dachte Sabine. Vielleicht war alles in Wirklichkeit viel einfacher gewesen. Alle Ereignisse haben einen andern Gehalt, als ihr Aussehen erkennen läßt.

Meist sind die Linien einfacher und der seelische Inhalt viel verworrener und schwerer.

Weiß Gott, dachte Sabine, es ist, als ob sich mit dem Kostüm auch die Dramen des Menschenlebens geändert haben. Jetzt klirren keine Rüstungen und Ritterschwerter mehr. Es zittern nur die Nerven. Ach, das sind die besseren Tragödien, die in fünf Akten vorüberrasen wie ein Gewitter! Aber dies stille, langsame, versteckte Leiden und Kämpfen – das ist fürchterlich!

Fortan gab sie sich freier dem alten Herrn gegenüber. Sie wollte wohl studiert sein, aber auch ihrerseits ihn studieren.

Mit Erstaunen bemerkte Susanne, daß sich zwischen den beiden bald so etwas herstellte wie ein besonderes, geheimes Einvernehmen, von welchem sie, des alten Herrn Liebling, bisher ausgeschlossen schien.

Sabinen kann doch keiner widerstehen, dachte sie, halb stolz auf die Freundin, halb neidvoll.

Sie wußte nicht, daß es nur das unwillkürliche Verstehen war von zweien, die genau wissen, was Liebe, Leid und Leben ist. Eine Wissenschaft, von welcher ihre unberührte Jugend sie ausschloß.

[396]
8.

Vierzehn Tage waren vergangen und die Reisenden, von den italienischen Seen und Verona kommend, beschlossen, in Venedig zu bleiben. Onkel Fritz sah merkwürdig fahl aus und seine Haltung war auffallend ermüdet. Deshalb bat Susanne ihn, doch ihretwegen nicht so schnell weiter und nach Rom zu streben, was ihr als das höchste Ziel zwar vorschwebte.

„Was meinen Sie, Sabine?“ fragte er.

„Und wenn wir Rom gar nicht zu sehen bekämen,“ sprach sie, „Sie sollen sich um unsertwillen nicht ermüden. Lassen Sie uns zwei, drei Wochen still in Venedig bleiben.“

Er nickte beifällig.

Und Sabine jubelte innerlich. So war es auch am bequemsten für Achim. Sein Manöver mußte gerade an demselben Tage zu Ende sein, wo sie in Venedig einfuhren. In zweimal vierundzwanzig Stunden konnte er da sein.

Im „Hotel Royal Danieli“ fanden sie eine reizende Wohnung im Mezzanin. Ein kleiner Salon mit zwei Fenstern ging gerade auf eine der Treppenbrücken, welche die engen Kanäle überschlagen. Wenn Sabine und Susanne sich gegen die balkonartigen Fenstergitter lehnten, konnten sie den Leuten ins Gesicht sehen, die treppan und treppab gingen. Rechts dehnte sich die Riva degli Schiavoni bis zur Piazetta hinauf, links schweifte der Blick über das großartige Denkmal Viktor Emanuels hinweg bis zu den grünen Baumwipfeln des Giardino pubblico. Und gerade vor ihnen wogte das grüne, von ockerfarbenen Tinten überflimmerte Wasser des Canale grande. Drüben auf der Insel erhob sich der steife Turm der Kirche Sän Giorgio Maggiore vor dem tiefblauen Septemberhimmel.

Sie wurden nicht müde, auszugucken und das seltsame Schiffs- und Straßenleben zu beobachten. Da die Unterströmung eines beständig forttönenden Straßenlärms fehlte, da kein Wagenrasseln, kein Pferdebahnrollen sich endlos fortspann, so wurde jeder Einzellaut vernehmbar und eindringlicher für das Ohr. Heulend ging zuweilen der Ton der Dampfpfeifen durch die Luft, wenn eins der Lidoschiffe abfuhr, oder dumpf und lang’ schwoll ein Nebelhornsignal über das Wasser, wenn ruhevoll ein großer Ueberseeer vom offenen Meere hereindampfte in den Kanal. Auch das Sprechen und Lachen der vorbeigehenden oder auf dem breiten Quai stehenden Menschen war vernehmbar.

Alles schien so persönlich, so übersichtlich. Kein Großstadtlärm, keine rohen, unentwirrbaren Geräusche verschlangen die Laute menschlichen Lebens. Es war, als habe es Platz und Zeit, sich hier vernehmlich zu machen, sich hier voll auszubreiten.

Und doch war keine Stille und keine Enge in dem Straßenleben. Dazu war es zu laut und zu rastlos.

Die internationalen Reisetypen störten fast das Auge.

Aber die einheimische Bevölkerung gab farbenbunte Freudigkeit. Die Damen mit kühnen hellen Hüten und Kleidern, die Mädchen aus dem Volk mit lockeren, leuchtenden Blusen und Papierfächern, die brachten Lustigkeit in das Bild der wogenden Menschenmenge. Neben diesem Salon, der ihnen so tausendfach wechselnde Ausschau bot, lag, auch nach vorn, Sabinens Zimmer.

Nach der Seite des schmalen Kanals folgten zwei Stübchen, die Onkel Fritz und Susanne innehatten. Es war eine kleine, in sich abgeschlossene Wohnung und wurde nur im ganzen vermietet. Um das beste, nach vorn gelegene Schlafzimmer entspann sich zunächst ein Kampf. Sabine wollte, daß Onkel Fritz es nähme. Aber er bestand allerorten darauf, daß Sabine das beste Gemach bekam. Susanne behandelte er immer wie sein liebes Kind, Sabine wie eine große Dame.

Vielleicht regte sich in seinem alten Herzen die Ritterlichkeit. Jedenfalls fühlte Sabine, daß er ihrer Person viel Wichtigkeit beimaß. Das rührte sie und that ihr wohl. Aber sie vermochte niemals mit unbefangen töchterlicher Zärtlichkeit dafür zu danken wie Susanne. Es war immer, als stände etwas zwischen ihr und dem alten Herrn.

Habe ich denn ein schlechtes Gewissen, weil ich unter seinem ahnungslosen Schutz Achim sehen will? dachte Sabine.

Und es war ihr unbehaglich, wenn der alte Herr unter seiner vorgeneigten Stirn heraus sie mit seinem stillen, schmerzlichen Lächeln so stetig und so besonders ansah. Sie konnte dann plötzlich erröten und schnell fortblicken.

Die Museen und Kirchen ließ Onkel Fritz die beiden Damen allein besehen; er kannte alles und sagte, er werde gelegentlich still für sich hingehen, dies und jenes künstlerische Wiedersehen zu feiern. Sabine hatte eine Fiebereile, in den ersten zwei Vormittagen so viel zu sehen, als ihre Kräfte nur irgendwie erlaubten.

Wenn „er“ da ist, wollen wir nicht zwischen anderen Gaffenden in den Kirchen umherstehen. Dann wollen wir in der Gondel uns still auf allen Kanälen umhertreiben.

Daß dieses Zusammentreffen in Italien von ihr geplant und verlockend hingestellt worden war, um gemeinsam Kunst zu genießen, hatte sie vergessen.

Sie dachte nur ihn und wollte nur ihn. Die ganze märchenhaft schöne Welt war ihr bloß Rahmen, bloß Schauplatz. Sie war nur gekommen, um, frei von Zwang und Heimlichkeit, als Mensch mit dem einzigen Menschen zu verkehren.

Es war am dritten Tag. Sie fuhren in der Gondel nach dem Lido hinaus, um draußen auf dem Altan des Badeetablissements ihren Nachmittagsthee zu nehmen. Onkel Fritz benutzte nie das Dampfschiff. Auch die Eisenbahn war ihm verhaßt, aber leider unvermeidlich auf Reisen. Alle rohen Geräusche, alles Hasten und Durcheinanderdrängen von Menschen mied er gern.

Die Sonne stand am Himmel, man konnte nicht zu ihr emporsehen, ein gleißendes Flimmern und Funkeln machte die Linien ihres weißen Balles unkenntlich. Hitze zitterte in Wellen über Wasser und Land. Aber sie drückte nicht. Ihr Atem war leicht.

Leise tauchte der Gondelier sein langes, schwarzes Ruder in die Flut. Man spürte immer den kleinen Ruck, wenn er, mit festem Druck gegen den Gondelrand, neu ausholte. Vorn am Kiel, unter der hochragenden, eisenverzierten Spitze, gluckste und plätscherte es rinnend.

Zum Horizont hinab schien der Himmel bleicher zu werden. Da stand das weißgraue Häusergebreite von Venedig, sich aus den Wassern hebend. Türme und Kuppeln ragten, auf der goldenen Weltkugel der Punta della Salute blinkte der Sonnenschein. Eine Welt, schön wie ein Traum und still wie ein Traum.

In der Gondel sprach niemand ein Wort. Sabine lehnte neben dem alten Herrn an den Kissen des Hauptsitzes, auf einem der winzigen Seitenstühlchen saß Susanne.

Susanne dachte, daß morgen vielleicht schon aller Friede sich in heimliche Angst gewandelt haben möge, wenn Achim von Körlegg käme, und quälte sich damit, ob es nicht eine Pflicht sei, Onkel Fritz einzuweihen. That sie das, verriet sie Sabine, und that sie es nicht, verriet sie Onkel Fritz. Zwar hatte Sabine ihr in ihrer gewohnten leidenschaftlichen Art gesagt, sie werde sofort offen mit dem alten Herrn reden, sobald sie nur selbst erst die Sicherheit über ihre Geschicke habe. Daraus entnahm Susanne dann, daß Sabine der Gegenliebe Achims noch keineswegs sicher sei, oder wenigstens nicht seines Willens, sich über das furchtbare Hindernis hinwegzusetzen. Es quoll so etwas wie Stolz und Freude in Susanne auf: wenn ich mir das nicht so von ihm gedacht hätte! Aber dann kam eine riesengroße Angst: was wird mit Sabine werden?

Der alte Herr dachte auch viel, sehr viel, als sie so still dahinfuhren, grünschillernde Wogen nahe dem Auge, den morgenländischen Farbentraum der Stadt fern als Hintergrund und den stolzen Himmel über sich.

Er dachte über die schöne Frau nach, die neben ihm träumte. Er glaubte den feinen Duft zu spüren, der aus ihrem Haar kam, und die Falten ihres leichten weißen Kleides lagen wie Bleigewicht auf seinem Knie.

In seiner Seele war eine Stimmung aus Wehmut und Bitterkeit gemischt, und er dachte: Es giebt Menschen, die förmlich vorbestimmt sind, selbst zu leiden und andere leiden zu machen. Solch ein Mensch ist sie.

Er sah die lodernde Leidenschaft ihres Wesens und fragte sich: Wohin will die? Was wird sie noch aus sich, was aus andern machen?

Er hätte ihr Schicksal voraussehen, es lenken, beschützen mögen. Und er war nur ein alter, müder Mann.

Sabine allein dachte nichts. Sie ahnte nicht einmal, daß sie die Gedanken ihrer Gefährten so in Bewegung setzte.

Sie saß reglos. Sie atmete kaum. Sie empfand nur.

[397]

Ballspiel.
Nach dem Gemälde von S. Glücklich.

[398] Wohlig durchwärmte die Hitze ihren Körper. Es war nicht die erschlaffende Hitze, wie sie den Norden manchmal überfällt, einer schwülen, sündigen Krankheit gleich; es war lebenglühende Kraft in ihr und eine siegessichere Natürlichkeit. Blinzelnd sah Sabine hinüber zu den weißlichen Steinen der aufgemauerten Straßenufer. Daliegen wie ein Junge, sich im Sonnenschein dehnen und recken und faul sein und nichts denken! Oder sich tragen lassen von der grüngelben Flut, das kühle Naß um freie Glieder fühlen, von den weißen Armen die Perlen des Wassers rinnen lassen und plätschernd um sich schlagen wie ein übermütiges Kind und nichts denken! Nur leben, leben!

Die Wonne zu leben drang ihr in alle Poren ein.

Der blaue Himmel prangte ihretwegen; ein Morgenlandgedicht, stieg die weiße Stadt aus grünen Wassern auf, ihretwegen, damit sie ihrem nahenden Glücke eine würdige Stätte sei!

Ihr ganzes glühendes Ich breitete sich aus und nahm von allen Herrlichkeiten der Welt Besitz.

Schaukelnd trug die Gondel sie weiter, wiegend und schweigsam, immer tiefer hinein in den Traum eines königlichen Glückes. –

Alle drei erschraken sie, als ein dumpfer Stoß ihnen ankündigte, daß sie angelangt seien.

Sabine öffnete weit die Augen und sah sich um wie eine, die aus fernen Welten zurückgekehrt. Der alte Herr sah diesen erwachenden Blick. Und ihm war, als habe er unzart ein Geheimnis belauscht.

Wo waren ihre Gedanken? Bei wem? Hat ihr Sehnen ein Ziel? dachte er.

Von plötzlicher Heiterkeit befallen, die in unbändigem Frohgefühl ihr fast die Brust zersprengte, unterhielt Sabine ihre Gefährten in der anmutigsten Art. Sie wanderten die kurze Allee hinab, die das lange schmale Eiland durchschneidet, und suchten drüben auf dem dem offenen Adriatischen Meer zugewandten Altan der Badeanstalt einen Platz.

Dicht unter ihnen, im flachen Strandwasser, wimmelte es von Badenden, die Herren fast alle in schwarzen, die Damen fast alle in roten Badekostümen. Die Flut stieg und die anrollenden Wogen schienen manchmal die krabbelnden und kreischenden Menschen zu verschlingen, während der nächste Augenblick sie wieder allen Blicken preisgab, wenn die Wasser zurückgesogen wurden. In vollkommener Unbefangenheit beobachteten Sabine und Susanne das lustige Schauspiel.

Das blaue Meer dehnte sich ins Grenzenlose; am Horizont stand mit den roten und gelben Farbenpunkten ihrer phantastischen Segel eine Fischerflottille.

Sabine hatte das Gefühl, als könnte man hier ungemessene Stunden sitzen, dem Meere zuzuschauen; das war die thatenloseste Beschäftigung, die man nur ersinnen konnte, das that so wohl.

Da sich aber alle Tische auf dem großen Altan füllten und lebhaft geputzte Damen, elegante Herren sich drängten, da Düfte von scharfem Parfum und Essensgeruch von Nachbartischen zuweilen heranzogen, gab Susanne der Freundin einen leisen Stoß. Das war nichts mehr für den alten Herrn.

So wanderten sie denn am weißen Strand südwärts entlang, träge und mit den Füßen im Sande wühlend. Onkel Fritz voran, allein, um Ruhe zu fühlen nach dem Leben der letzten Stunde. Dann, fünf Schritte hinter ihm, Susanne, die Blicke scharf auf den nassen Rand gerichtet, den die herankommenden und zurückweichenden Wogen auf dem Boden zeichneten. Sie sah nach Muscheln aus. Sie und Sabine wollten deren für Leo und Milly sammeln. Auch Sabine, die hinter Susanne bald zurückblieb, sah anfangs eifrig nach kleinen Raritäten aus, die das Meer heranspülen könnte. Bald aber vergaß sie es.

In ihrem Ohr hallte träumerisch die endlose Melodie des Meeresrauschens nach. Vor ihrem geblendeten Auge standen in grandioser Einfachheit nur noch zwei Farben, das Blau des Himmels und des Meeres und die Gelbweiße des Strandes.

„Guten Tag, gnädige Frau,“ sagte da eine fröhliche Stimme hinter ihr.

Sie stieß einen Schrei aus – sie wandte sich um. Achim stand vor ihr.

„O mein Gott – o mein Gott . . .,“ stammelte sie sinnlos vor Glück.

Ihr Sonnenschirm lag an der Erde, ebenso ihre Handschuhe.

Mit beiden zitternden Händen hielt sie seine Rechte umklammert und sah zu ihm auf, lodernde Freude in den dunklen Augen.

Und er? Unbefangen fast, in hundert fröhlichen Vorsätzen war er gekommen. Er freute sich auf die Reise, auf die Freude, die er mit seiner Person Sabinen bringe, auf den feinen, stillen, alten Mann, auf das klaräugige Mädchen – ja auf diese letzten beiden ganz besonders, denn ihm schien, als gäbe ihre Nähe ihm alle Sicherheit, ja geradezu erst das Recht, sich auch Sabinens Freundschaft zu erfreuen. Er sah Tagen voll reinster Harmonie entgegen und dann einem Abschied voll gefaßter Wehmut.

Er hatte sich alles vorher überlegt und zurecht gedacht, wie ein Programm der schönsten Vernunft.

Und nun stand er hier und sah das blasse, schönäugige Weib in ihrer ganzen trauervoll lockenden Schönheit. Und sah sie in fassungslosem Glücke erzittern. Um ihn, – um ihn!

Sein Herz klopfte.

„Sabine,“ murmelte er, „teure Sabine!“

„Achim – Achim!“

Es klang wie leises Jauchzen.

In diesem Augenblick sah sich Susanne um. „Onkel Fritz!“ schrie sie. Warum – das wußte sie nicht. Es war beinahe, als riefe sie ihn zur Hilfe, und da er nicht gleich hörte, rannte sie ihm nach.

„Komm doch – höre doch,“ rief sie.

Achim und Sabine kamen mit schnellen Schritten heran.

„Er ist da – er ist da!“ sagte Susanne und hatte einen roten Kopf.

Mit großem Erstaunen sah der alte Herr ihre Fassungslosigkeit und sah von ihr zu dem Herannahenden, der ihm sogleich sehr bekannt vorkam.

Achim nahm höflich seinen Hut ab und reichte dem alten Herrn die Hand.

Da schaute dieser mit einem sprechenden Blick Susanne an. Solcher Blick hieß immer: Wer ist das doch gleich? Wo habe ich diesen Menschen gesehen?

Und gewohnt, so als Nachfragebuch benutzt zu werden, sagte Susanne:

„Das ist Herr von Körlegg.“

„Körlegg – Körlegg – verzeihen Sie – – der Name ist mir bekannt – – nur im Augenblick . . .“

Sabinen stockte der Atem. Sollte ihm der eine verhängnisvolle Zusammenhang beifallen, den der Name mit Zeutherns Tod hatte?

„Aber Onkel,“ sprach Susanne, „das ist ja Herr von Körlegg, der uns damals so freundlich half, als unser Wagen wegen des Chausseeeinsturzes nicht weiter konnte.“

„Ach ja. Tausendmal Pardon! Ich habe Sie damals nur in Uniform gesehen,“ sagte Onkel Fritz, vor sich selber vollkommen entschuldigt, und schüttelte Achim noch einmal die Hand, viel herzlicher, weil er eine Gedächtnisschwäche gutzumachen hatte.

Daß Sabine, die doch damals nicht dabei gewesen war, Körlegg kannte, fiel ihm nicht auf.

Vor lauter Beobachten übersah er oft das Meiste. So war er jetzt ganz hingenommen von dem Erstaunen über Susannens Wesen. Denn ihr, die gar keine Gelegenheit und Verpflichtung gehabt hatte, sich jemals in der Kunst der Selbstbeherrschung zu üben, konnte man mit größter Deutlichkeit anmerken, daß sie aufgeregt und verlegen war.

Sie schlug die Augen nieder, als Achim ihr die Hand gab, und als ihre auffällige Röte wich, blieb ein ängstlicher Ausdruck auf ihren sonst so freien Zügen.

Ja, Susanne glaubte vor Angst und Schreck versinken zu müssen.

Was sollte aus dieser Begegnung werden? Wenn Onkel Fritz die Wahrheit erriete oder erführe! Wie, wenn Sabine begriffe, daß Achim nicht als Werbender, sondern nur als guter Freund gekommen sei? Sie würde sich töten! Oder wenn Achim dennoch alle Schranken überspringen und Sabine heiraten würde? Susannen war es, als könnte sie dann nur noch Verachtung für die ganze Menschheit empfinden, wenn so etwas möglich sei!

Und wie war es nur möglich, daß Sabine jetzt unbefangen [399] und gewandt eine Plauderei mit beiden Herren zugleich zu unterhalten verstand? War das eine Kunst, die man in der Welt lernte, wenn man durch Unglück und Leidenschaft dahin gekommen war, sich eine Maske vorzubinden? Freilich sie, die sie Sabine so genau kannte, sah es ja doch, daß in ihr alles in Aufruhr war. Bleich wie der Tod war sie und ihre Augen schienen beinahe schwarz. So unheimlich schön sah sie immer aus, wenn sie sich in tobender Aufregung befand. Unfaßlich! Und dennoch sprach ihr lachender Mund von der Schönheit ihrer Reise und den Vorzügen ihres Quartiers im Hotel Royal Danieli. Achim seinerseits erzählte, daß er bei Bauer-Grünwald wohne.

Und die ganze, im Grunde doch so kurze Bekanntschaft, die man vor drei Wochen in dem Unwetter der Manövertage gemacht hatte, nahm hier im fremden Land sogleich den Charakter einer alten Freundschaft an. Man verabredete alsbald, heute zusammen zu dinieren, am Abend auf der Piazza zusammen das Konzert zu hören, am andern Tag eine Partie nach Murano zu machen.

Susanne konnte es nicht fassen.

Sie hätte nur ahnen sollen, daß gerade ihre sichtbare Aufregung bei der Begegnung mit Achim von Körlegg den alten Herrn bestimmte, so eifrig und so freundschaftlich dessen Gesellschaft anzunehmen. Onkel Fritz hatte noch nie gesehen, daß sein klaräugiges Mädchen um eines Mannes willen errötend aus der Fassung gekommen war.

Dafür gab es natürlich, seiner Meinung nach, nur einen Grund. Der Grund gefiel ihm! Da konnte sich etwas Erfreuliches anspinnen! Für seine Susanne ein gesundes Glück, das ihr die Buchhalterinexistenz abschnitt, noch ehe sie begonnen war. –

Auch die höchsten Erregungen schwingen aus. Sabinens äußere Fassung ward bald auch eine innerliche. Ein leuchtendes, sicheres Glücksgefühl erhellte ihre Seele. Und als Susanne sah, daß nichts Erschreckendes sich begab, daß kein Blitz herniederfuhr und die ganze Welt ebenso strahlend schön und vergnügt blieb wie vorher, als sie Onkel Fritz in Behagen, die anderen beiden in wahrer Sicherheit plaudern hörte, ward auch ihr wieder mutiger ums Herz. Sie fing an, mitzusprechen, traute sich, Achim zu betrachten, und fand bei sich, daß sein Reisecivil ihn jünger aussehen lasse als die strenge Uniform, und gestand sich, daß er der vornehmste, edelste, imponierendste Mann sei, den sie je gesehen.

Die arme, arme Sabine! Warum hatte gerade er ihren Gatten erschießen müssen! Verzeihlich war es gewiß, daß sie sich fortgerissen fühlte, diesen Mann zu lieben.

Aber nein – sie, als erfahrene Frau, sie hätte das Gefühl gleich erkennen und fliehen müssen. –

Sabine schwamm auf den tragenden Wogen einer wahren Hochflut von Lebensfreude. Ihre Augen strahlten. Sie war schön wie noch nie. Ihr Wesen war üppig und geheimnisvoll, kühn und verheißend, wie diese Stadt, wie die südliche Sonnenwärme, wie das halblaute, drängende Treiben der Menschen, wie der flimmernde Himmel über ihnen!

Am Abend saßen sie auf der Piazza, welche die prangenden Mauern stolzer Paläste umschranken, die Fassade der bunten Markuskirche abschließt. Sterne blinkten droben. Die Luft strich lau über den Platz. Im Halblicht der Gasflammen drängte sich wie ein unklares Farbengewoge die Menge. Unsicher beleuchtet, gleißten die bunten Mauern der Kirche wie ein Geheimnis des Orients herüber. Schmachtend und eindringlich schwollen die Weisen der Tannhäuserouverture durch die Nacht, mit der Gewalt ihres dämonischen Verlangens die banalen Menschenstimmen überdröhnenh.

Und auch in Sabinen schwoll das Verlangen, ganz glücklich zu werden. Ihre Seele war bereit, jubelnd weit geöffnet, das eine Wort zu vernehmen, das die Krönung ihres Lebens werden sollte.

Eine unbändige Sehnsucht, mit ihm, den sie liebte, allein zu sein, überfiel sie plötzlich und trauervoll. Sie hätte die Wahrheit wissen mögen. Jetzt gleich – entscheidend über Tod und Leben. Dringend ins Auge hätte sie ihm schauen mögen, sein geheimstes Innere mit ihrem Blicke durchforschend.

Liebst du mich – liebst du mich? schrie alles in ihr.

Ihre Rechte krampfte sich in die Falten ihres Kleides. Ihr war es, als müßte sie irgend etwas anpacken, fest, fest, um sich Halt zu geben, um ihre Sehnsucht und ihre Not nicht hinauszurufen, um die Arme nicht auszubreiten.

Alles schien sich zum Körperlichen zu wandeln: der hohe, dunkle Himmel, die laue, streichende Luft, die Märchen und Geheimnisse, die von den Farben der Kirche im durchhellten Dunkel wirkten, die zehrende Qual der Musik!

An ihr Herz hätte sie das alles pressen mögen, an ihr großes heißes Herz, darin sie alles fand, was außer ihr war, und noch tausendfache Reichtümer mehr. Ein Menschenherz! Und so voll, so zersprengend voll Glück, Qual, Sehnsucht.

Ein Seufzer zitterte von ihren Lippen. Er, dem all dies galt, hörte den Seufzer und sah die Hand, die sich in das Gewand krallte. Und leise suchten seine Finger die ihren. Er wollte ihr sagen: Sei ruhig! Oder er bildete sich wenigstens ein, daß er ihr das sagen wollte. Denn auch sein Herz klopfte, und er war trunken von der glühenden Schönheit der dunklen Stunde.

So saßen sie und fanden den Mut zurück, Anteilnahme an ihrer Umgebung zu zeigen, während ihre Pulse bang klopften. –

An diesem Abend fiel Susanne dem alten Herrn weinend um den Hals, als Sabine sich zurückgezogen hatte.

„Ach, Onkel,“ rief sie, „wenn du wüßtest, wie das Leben schwer ist!“

Er lächelte sein müdes Weltweisenlächeln.

„Wirklich – so schwer? Fasse dich nur! Mit den Schwierigkeiten, die sich dir jetzt herandrängen, wirst du schon fertig werden, ahnt mir.“

„Ach – du weißt ja nicht! Wenn ich doch wüßte, wie ich dir klar machen soll …“

Er streichelte ihr geduldig die Wange. Er hatte ein gewisses nachsichtiges Interesse an dem, was er für die Verliebtheit eines verständigen Mädchens hielt, das sich demnächst mit einem netten Mann zu verloben hofft.

„Werde dir nur erst selber klar,“ mahnte er herzlich, „und sei sicher, daß auch sonst alles klar ist. Vorher spricht man nicht.“

Susanne versuchte sich zu fassen und schickte sich an, nach einem etwas flüchtigen „Gute Nacht“ das Zimmer zu verlassen. Der alte Herr in seiner Weichheit glaubte, seine Abweisung möge etwas rauh gewesen sein, und sagte noch: „Du, Susanne, nicht wahr, Herr von Körlegg macht den Eindruck eines Mannes von ausgezeichnetem Charakter? Mir gefällt er sehr gut. Wie heißt er mit Vornamen?“

„Achim,“ brachte Susanne heraus und rannte davon.

In ihrem Zimmer saß sie dann auf ihrem Bettrand und konnte sich nicht fassen.

Wie schelmisch Onkel Fritz das gesagt hatte! So neckisch. Wie kam er dazu? Was bedeutet das? Doch nur das eine, daß er annahm, sie, Susanne, sei in Herrn von Körlegg verliebt!

Welche Annahme! Als ob irgend eine Menschenphantasie sich so etwas in Wahrheit vorstellen könne! Sie, die junge Susanne, die nichts war, nichts hatte, nichts leistete, sie sollte ihre Augen zu „ihm“ erheben?

Wenn Onkel Fritz wüßte!! Sabine würde ihr doch nicht den kleinsten, den geheimsten Gedanken an „ihn“ erlauben.

Plötzlich erwachte so etwas wie Trotz in Susannen. Nein, dazu hätte Sabine kein Recht, ihr zu verbieten, ihn zu lieben! Und wenn man denn alles abwog, so müßte man sogar eingestehen, daß nichts in der Welt als Hindernis zwischen ihr selbst und „ihm“ stehe, während er von Sabine doch durch einen Abgrund getrennt war. Also, wenn schon von einem Recht die Rede sein sollte in dieser Sache, so hatte sie ein besseres Recht, ihn zu lieben, als Sabine.

Wenn – wenn – dachte Susanne und lachte mit einem Mal in sich hinein, das sind ja nur dumme Gedanken, infolge von Onkels Mißverständnis. –

Die Stunden und die Tage rannen. Sie hatten vielfachen Inhalt, aber da über ihnen allen dasselbe prangende Bild venetianischen Sonnenscheins lag, war doch eine gewisse Einheit der Stimmung in ihnen. Und sie entglitten so schnell, wie nur Stunden des Genusses können. Man zählt sie nicht und wird dann und wann mit Entsetzen inne, daß doch schon so viele von den zugemessenen dahin sind.

[400] Achim lebte mit den dreien zusammen, als bildeten sie alle eine Familie. Er dachte gar nicht daran, auch nur den Schein erwecken zu wollen, als suche er für seine Urlaubstage einen anderen und wechselnden Inhalt. Er schien sich mit großer Klugheit Susannen und dem alten Herrn ebensoviel zu widmen als Sabinen. Wenigstens bildete diese sich ein, daß es Klugheit sei. Achim aber hatte in der That eine herzliche Zuneigung zu dem alten Herrn gefaßt.

Ihm, dem Mann, der schon in den harten Kämpfen des Lebens gestanden hatte und sich selbst fast als ein Reifer fühlen durfte, ihm gab es ein wohlthuendes Empfinden von jünglingshafter Unterordnung, sich so an einen feinen milden Alten schließen zu dürfen.

Und mit Susanne vertrug er sich großartig. So bezeichnete er bei sich die Stimmung, die zwischen ihm und dem Mädchen sich bald hergestellt hatte. Er fühlte selbst, daß diese banale Bezeichnung ihr merkwürdiges Verhältnis zu einander gar nicht richtig benannte. Aber es war so etwas Neues, etwas so Unerklärliches zwischen ihnen. Wenn er nicht ein Mann von dreißig und sie nicht ein Mädchen von zwanzig gewesen wäre, hätte man beinahe sagen können, er fühlte sich wie geborgen in ihrer unzerstörbar verzeihenden, mütterlichen Milde. Aber das wäre ja heller Unsinn gewesen, so etwas zu sagen.

Wirklich Unsinn? Ihm fiel das achtjährige Töchterchen seines Majors ein. Der Major lag einmal schwer erkältet auf seiner Chaiselongue; Achim machte ihm einen Krankenbesuch und ward Zeuge, wie die kleine Irma ihren Papa mütterlich besorgt zudeckte, mit der Miene, wie sie ihre Puppen zuzudecken pflegte, und ihm nicht minder mütterlich bevormundend die Cigarre wegnahm. Regt sich nicht in jedem Weibe gleich das Mütterliche, sobald es Anteil nimmt an einem Menschen? Und durfte er sich nicht gestehen, daß Susanne, wahrscheinlich die Vertraute Sabinens, Antell an ihm und seinen Kämpfen nahm?!

Aber im Grunde grübelte er nicht allzuviel darüber nach, sondern gab sich dem Gefühle fröhlicher Sicherheit beglückt hin, das in ihrer Nähe seine Nerven beruhigte und gesunden ließ.

Denn in andern Stunden befand er sich in den qualvollsten Zuständen. Jeder Blick Sabinens, jedes schnelle Flüsterwort zwischen ihnen erinnerte ihn daran, daß ein schweres Schicksal noch ungelöst neben ihm stand, daß er für sich und eine andere die Kraft haben müsse, aus dem Labyrinth dieser Leidenschaft rein und frei hervorzugehen.

Auch er begriff die Notwendigkeit einer entscheidenden Aussprache, einer Gelegenheit, sich unter vier Augen zu sehen. Und schon brach der achte Tag an. Am neunten des Morgens mußte er reisen.

Als er an diesem Tage, wie es Gewohnheit geworden, früh um zehn Uhr seine „Freunde“ im Hotel Royal Danieli abholte, fand er die Damen schon unten in der großen, von Oberlicht erhellten Halle, die die Mitte des Hauses, eines vormaligen Palastes, einnahm. Sie waren in einem sorgenvollen Gespräch über das Aussehen des alten Herrn.

Sabine meinte, seine Stimme klänge matt und seine Züge trügen den Ausdruck verborgener Leiden; man müsse ihn bewegen, sich zu schonen. Aber Susanne, die ihn besser kannte, riet von allen Fragen und Fürsorgen ab; wenigstens dürfe man keine zur Schau tragen. Er habe manchmal Zeiten, wo er, nach innen gekehrter noch als sonst, zu leiden scheine. Daran dürfe man nicht rühren.

„Meine Mama hat mir mal gesagt,“ schloß sie eifrig, „daß es mit Seelennarben ebenso geht wie mit körperlichen. Das ist wohl zugeheilt, aber zu gewissen Zeiten rührt es sich und reißt und erinnert fortwährend daran, daß es da ist. Onkel Fritz, sagt Mama, ist in seiner Jugend um sein echtes Glück gekommen. Ein Surrogatglück wollte er nicht. In solchen Menschen ist immer was Unvollkommenes, etwas nicht voll Entfaltetes, sagt Mama, wie z. B. bei Kindern fremder Völker sich die Glieder nicht ganz entwickeln, die man durch Bandagen künstlich umformt. So sei irgend etwas in Onkel Fritz’ Seele verkümmert und man dürfe nie hart daran fassen. Das vertrage sie nicht.“

Etwas in diesen Worten traf Achim wie eine Mahnung und erweckte Unruhe in seinem Herzen.

„Deine Mutter kennt die Menschenseele,“ sagte Sabine leise.

„Da kommt der alte Herr,“ sprach Achim.

Etwas vorsichtig kam Onkel Fritz die große Treppe herab. Er sah auch blaß aus. Aber das that er eigentlich immer. Heute fiel es Achim recht auf, was für eine würdige und sympathische Erscheinung der alte Herr war, in seinem silbergrauen Jackettanzug, mit dem hellen weichen Filz, immer noch elegant. Nur älter sah er aus, als er war. Sechzig Jahre ist schließlich kein methusalemisches Alter. Achims eigener Oheim hatte mit Sechzig noch geheiratet und zwischen ihn und das Majorat drei eigene Söhne gestellt.

Das Leben verbraucht eben die Menschen verschieden. –

Draußen war es heute schwül, trotzdem der erste Oktober im Kalender stand. Graues Gewölk zeigte sich am Himmel. Es lagerte unbeweglich. Kein frischer Atemzug vom Meere fegte heute durch die Kanäle in das enge Innere der Stadt. Auf der Piazza konnte man vor den pickenden und stolzierenden Tauben kaum zutreten.

Langsam schlenderten die vier unter den Hallen um den Platz herum, von Laden zu Laden, wo Sabine und Susanne mit nie gesättigtem Interesse alle Auslagen betrachteten und sich mit Entschlüssen kämpfend trugen, welche Kleinigkeiten sie noch für die Lieben daheim einhandeln wollten, ehe sie abreisten.

(Fortsetzung folgt.)




Schlösser und Burgen des Harzes.

I.0 Quedlinburg.
Von W. Heimburg.0 Illustriert von Dora und Annie Seifert.

Die Schimmelequipage ist vorgefahren, die Reise kann losgehen. Jede von uns hat ihr Handwerkszeug bei sich, die beiden Malerinnen ihre Skizzenbücher, ich das Notizbuch, um Daten an Ort und Stelle festzuhalten, die ich eigentlich von Rechts wegen wissen müßte, denn Quedlinburg ist meine Heimat, das schöne alte Quedlinburg!

Meinen beiden Begleiterinnen habe ich die Reize der alten Kaiserstadt so verlockend geschildert, daß sie mir von Dresden her nach meiner Sommerwohnung in Quedlinburgs Nähe gefolgt sind, bereit, das ganze alte Nest mit seinen unzähligen malerischen Motiven zu verschlingen. „Ihr könnt euch auf Wundervolles gefaßt machen, schon die Fahrt dorthin ist entzückend,“ renommiere ich. „Ihr sollt nur sehen, wie es daliegt in der Ebene, dieses Quedlinburg mit seinen vielen Türmen, seinem altertümlichen Schlosse, seinem roten Dächermeer inmitten der bunten Blumenfelder!“

Wir schachteln uns in den Wagen ein, samt Regen- und Malschirmen. Herr N., der Lenker und Besitzer der netten Equipage, fragt vorsichtshalber noch, wo er ausspannen soll drunten. Ich bin für den „Weißen Engel“ am alten Topfthor, weil dort vor langen Jahren meine Großmutter ihr Wägelchen, das „die braune Liese“ zog, einzustellen pflegte, aber Herr N. ist vornehmer, er will in den „Bär“. Schön! Vorläufig interessieren uns die Quedlinburger Wirtshäuser noch nicht, wir wollen eben nur alte Kunst und ewig junge Natur genießen und ehrwürdigen Erinnerungen nachgehen.

Unterwegs – der Sommernebel verhüllt das Bild der Stadt fast ganz – bekomme ich ein wenig moralischen Katzenjammer, ich habe vielleicht mit zu glühenden Farben geschildert; der alten Heimat gegenüber fühlt man sich ja wie ein Mann seiner geliebten Braut gegenüber: er findet alles an ihr zauberhaft, die bescheidensten Reize sind ihm Schönheiten ersten Ranges. Wenn die beiden [401] erwartungsvollen Augenpaare, die den Nebel dort unten zerreißen möchten, sich am Ende enttäuscht abwendeten? Das würde mir doch weh thun, gerade so weh wie dem Sohne, dem die Mutter, nachdem er ihr die Braut präsentiert hat, heimlich und mitleidig gesteht: „Na ja, mein Junge, sie ist ja ganz niedlich, aber nach deiner Beschreibung mußte ich annehmen, eine siegreiche Schönheit als Schwiegertochter umarmen zu können; da sieht man wieder, die Liebe ist blind –.“

Das Portal der Schloßkirche.

Ein bißchen kleinlaut fahren wir dahin. Das Schloß, die Schloßkirche heben sich jetzt deutlicher aus dem Nebel. Wie schön, wie stattlich! denke ich, und das Herz geht mir auf in Erinnerung an die ersten Kirchenbesuche des kleinen Mädchens, dem nie wieder im spätern Leben so feierlich bei einem Gottesdienst zu Sinne war wie da droben im Quedlinburger Dom unter den Klängen der alten Orgel, die der Kantor R. spielte, bei den Worten des schlichten, milden alten Pastors B. – Der Wagen fährt über die Stumpfsburger Brücke. „Bitte, durch das Wasserthor,“ rufe ich dem Rosselenker zu, „und dann durch die Lange Gasse nach dem Schloßplatz!“

Am Wasserthor.

Und wie wir uns dem Wasserthor nähern, da trifft ein doppelter Jubellaut mein Ohr, meine Gefährtinnen sind plötzlich im Wagen aufgesprungen, wie elektrisiert. „Annie, sieh doch! Nein, ist das schön!“ – „Nein, Dora, diese Häuserchen, diese Dächer, diese Farben – diese Farben!“

Jenseit der Bode thront hoch auf steilem Felsen das Schloß, und an dem Abhange des Berges ziehen sich die Straßen des Westendorfs hin, kleine enge Gassen, von lauter winzigen, ärmlichen Häuserchen gebildet; ein Dächergewirr, kraus und mannigfaltig, in allen Nuancen von Rot, vom beschmutzten verwitterten bis zum leuchtenden Braunrot der neuen Ziegel, mit denen man die alten Dächer ausgebessert hat. Und die Häuser selbst, wie die Farben eines Tuschkastens – grün, lila, gelb, himmelblau sind sie angestrichen, wie neu, wie eben fertig geworden zum lieben Pfingstfest; dazwischen die Gärtchen mit üppigem Grün. Und das blüht und prunkt in der strahlenden Sonne zu Füßen des ernsten ragenden Kaiserschlosses, als habe man einem altersgrauen stolzen Recken einen lustigen bunten Teppich zu Füßen gebreitet.

Die Bußkapelle in der Schloßkirche.

Wir fahren durch enge winklige Straßen, die ich gut, ach so gut, kenne, denn meine Kinderfüße sind über ihr Pflaster gelaufen; die frohen Spiele sommerabends mit den Nachbarkindern fallen mir ein, die Gänge zur Schule –. Ueber die Mauern wehen die Zweige der alten Obstbäume, an denen die Winteräpfel längst vergangener Tage reiften. Dort wohnt der Bäcker, der die Weihnachtsstollen buk, große flache Kuchen, dick mit Mandeln und Zucker bestreut, die so wundergut schmeckten. Und nun ein kleiner von alten Häusern umgebener Platz – „Finkenherd“ ist an dem ersten Hause zu lesen. Dort ist es, wo der Sage nach zu Anfang des zehnten Jahrhunderts Herzog Eberhardt, des Königs Konrad I Bruder, auf dessen Wunsch, dem Sachsenherzog Heinrich die deutsche Kaiserkrone überbrachte, die dieser mit so hohen Ehren trug bis zu seinem im Jahre 936 in Memleben an der Unstrut erfolgten Tod.

Damals mag auf diesem Fleck wohl Buchen- und Eichenwald gerauscht haben, denn der ritterliche Herr lag, wie bemeldet, just dem Vogelfange ob, als ihn die Gesandten trafen. Und an der Bode, die jetzt zwischen bebauten Ufern dahinfließt, standen damals die Hütten des kleinen Dörfchens Quittlingen. Der neue junge Kaiser mag begreiflicherweise für den Ort, an dem ihm so hohe Ehre widerfuhr, eine große Zuneigung gefaßt haben, so daß er beschloß, auf dem Felskegel, der sich unweit des Finkenherdes erhebt, eine feste Burg zu gründen, was er denn auch bald ausführte. So entstand die Feste Quidelingeburg.

Die Fürstengruft in der Schloßkirche.

Wir halten jetzt auf einem etwas bergansteigenden freien Platz unter alten Linden und Kastanien, die den Aufstieg zum Schloß und Dom beschatten. Dort unten das Haus mit dem säulengetragenen Vorbau ist die Geburtsstätte Klopstocks. Wir haben den Wagen verlassen und wandern unter den Bäumen unserem Ziele entgegen. Recht steil geht es empor, und das Pflaster ist nicht g’rad’ berühmt. Aber ich erinnere mich aus meiner Kinderzeit der Weihnachtsmorgen, an denen der Schnee die holprigen Steine mit einem flaumigen Teppich belegt und jede Kontur des stolzen Baues, jedes Aestchen der Linden mit leuchtendem Weiß nachgezeichnet hatte; Christmorgen, an denen alte fromme Weiblein im langen faltigen Tuchmantel und mit pelzverbrämter Kapuze inmitten erwartungsvoller [402] Kinder hier hinauftrippelten, die Laternchen in der Hand, die gelbe zuckende Lichter über den bläulichen Schnee warfen. Ich mitten unter ihnen, andächtig und glückselig, umwogt von den Glockenklängen, und über uns die Sterne der heiligen Nacht. Und unter diesen Erinnerungen sind wir hinaufgekommen, ich weiß nicht wie, und stehen nun auf dem Schloßhof.

Das Grab Heinrichs I.
in der Schloßkirche.

Die Kanzel in der Schloßkirche.

„Zuerst in die Kirche, Kinder,“ sage ich, und da wartet auch schon der freundliche Küster und seine ebenso freundliche Frau, bereit, uns zu führen. – Durch ein schönes gotisches, aber stark verwittertes Portal, das eine spätere Aebtissin dem frühromanischen Bau einfügen ließ – laut Inschrift war es Jutta von Kranichfeld, etwa im Jahre 1324 – treten wir ein in die uralte Krypta, in der Kaiser Heinrich I schlummert. Er hatte Kirche und Stift gegründet als ein Zeichen seiner Dankbarkeit gegen Gott, nachdem es ihm gelungen war, die Ungarn niederzuwerfen; und hier, an dieser Stätte, hat man ihn begraben. Sie ist ein säulengetragenes frühromanisches Gewölbe, diese Krypta. Die Säulenkapitäle, obgleich von primitiver Technik, zeigen doch große Feinheit und Mannigfaltigkeit. Gegen Osten, unter einem Fenster in Rosettenform, befindet sich ein halbkreisförmiger Raum, zu dem einige Stufen hinaufführen, die Betkapelle Mathildens, der Witwe Kaiser Heinrichs I, von der die Sage berichtet, daß sie nach dem Tode ihres großen Gemahls die kaiserlichen Gewänder für immer abthat und in dieser Kapelle allnächtlich dem geschiedenen Gatten nachweinte in heißer unvergänglicher Witwentrauer, bis man sie an seine Seite bettete (968).

Den schlichten Holzsarg, der des großen Kaisers Ueberreste birgt, sieht man durch das in dem Fußboden befestigte Gitter schimmern. Seit einem Jahrtausend ruht er hier, von ganz Deutschland aufrichtig und tief betrauert, er, dessen Name nie verklingen wird. Bilder giebt es nicht von ihm, aber noch heute lebt Kaiser Heinrich in Liedern und Erzählungen des deutschen Volkes als ein schöner, stolzer und kluger Herr, dessen leidenschaftliches, leicht aufbrausendes Temperament gar mildiglich gezügelt wurde durch seine sanfte Gemahlin.

Sein Sohn war es, der die Burg zu dem bestimmte, was sie später Jahrhunderte hindurch war in aufsteigender und absteigender Linie, zu einem freien weltlichen Reichsstift, dessen erste Besetzung aus Nonnen bestand. Die erste Aebtissin soll eine Tochter Heinrichs gewesen sein, was sich aber urkundlich nicht beweisen läßt. Die Geschichte nennt vielmehr Ottos I Tochter Mathilde als erste Aebtissin, und ihr folgen noch einhundertundfünfunddreißig. Viele von ihnen waren vornehmste fürstliche Damen, unter denen das Stift glänzende Tage höfischen Lebens gesehen hat. Diese Äbtissinnen hatten später fürstliche Rechte, Sitz und Stimme in den Reichstagen, und zwar saßen sie bei solchen Gelegenheiten auf der rheinischen Prälatenbank.

Der Taufstein in der Schloßkirche.

Eingang zum Schloß.

Wir steigen hinunter in die Fürstengruft, rechts sehen wir die Bußkapelle, einen niedrigen Raum, in dem man nur knieend oder sitzend verweilen kann. Die rasch angezündeten Kerzen erfüllen das Gelaß mit Rembrandtschen Lichteffekten und zeigen uns deutlich die schönen kleinen Säulen der Eingangsseite. In dieser finsteren Kapelle saß einst Bischof Bernhard von Halberstadt, weil er Kaiser Ottos I Verlangen, in Magdeburg ein Erzbistum zu stiften, nicht gefügig war. Die Chronisten berichten: „Otto lud den Bischof einst nach Quedlinburg, bewirtete ihn aufs beste und verlangte, als jener heiter gestimmt war, von ihm, der beabsichtigten Stiftung zuzustimmen. Der Bischof weigerte sich mit den Worten: ‚Ich bin nicht Bischof, die Diöcese zu mindern, sondern zu mehren!‘ worauf ihn der Kaiser ins Gefängnis unter der Treppe der Schloßkirche setzen ließ. Am Gründonnerstag – fast ein Jahr saß er schon – ließ der Bischof dem Kaiser sagen, es thue wahrlich nicht gut, wenn Kaiser und Bischof am Osterfeste in Zank und Hader beharren würden; er wolle die Hand bieten, und der Kaiser möge seine Anerbietungen selbst anhören. Der Kaiser kam in das Münster, und mit Ring und Stab trat ihm der Bischof entgegen, sprach den Bann über ihn aus und zwang ihn dadurch, ihn seiner Haft zu entlassen. Beide feierten versöhnt dann das Osterfest in Halberstadt. Aber der Kaiser verzichtete, solange Bernhard lebte, in Magdeburg ein Erzbistum zu errichten.“

Von der Bußkapelle steigen wir noch tiefer hinab, vorüber an der schaurigen Folterkammer zur Fürstengruft. Stolze wappengeschmückte Särge erblickt unser Auge im Dämmerlicht des Gewölbes; der prunkvollste ist derjenige der Anna von Stolberg, welche die Reformation einführte; und hier schläft auch friedlich neben ihren beiden erbitterten [403] Todfeindinnen im Leben, der Eleonore Sophie und Maria Magdalena, Gräfinnen von Schwarzburg, die vielgenannte Marie Aurora von Königsmark, die Geliebte Augusts II, Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen, Mutter des Marschalls Moritz von Sachsen.

Zu meiner Jugendzeit wurde der unverwest erhaltene Körper dieser einst so schönen gefeierten Frau noch gezeigt. Die damalige Kastellanin, eine alte dicke Madame, pflegte bitterlich zu weinen, sobald sie den Sargdeckel hob, indem sie die Tote lobte und pries.

Gräfin Aurora von Königsmark.

Durchreisende Fremde wallfahrteten zu jener Zeit nach dieser Sehenswürdigkeit Quedlinburgs, und so einst auch mein Vater als flotter Student. Im Gasthofe fragte er dann die Kellnerin, die ihm ein Frühstück auftrug, ob sie die Königsmark schon einmal gesehen habe. „Nä!“ war die Antwort der hübschen Quedlinburger Dirne, „wahnt de all lange hier?“

Anna Gräfin zu Stolberg II.

Einen schönen Anblick bot Aurora im Sarge eben nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie in veilchenfarbenen Sammet und vergilbten weißen Atlas gekleidet war, daß dunkles Haar unter dem Häubchen hervorsah und daß sie auffallend lange Augenwimpern und kinderkleine schmale Hände hatte. – Gottlob, heute wird sie nicht mehr gezeigt.

Wir atmen auf, als wir oben in der Kirche stehen, die, über der Krypta erbaut, im Jahre 1021 von der Aebtissin Mathilde vollendet und von Kaiser Heinrich II geweiht wurde, dann, im Jahre 1070 durch Brand schwer geschädigt, erst im Jahre 1129 durch den Bischof von Minden und Hildesheim in Gegenwart Kaiser Lothars II mit großer Pracht abermals eingeweiht worden ist.

Im Laufe der Jahrhunderte ist die ursprüngliche Schönheit der frühromanischen Kirche durch allerhand dem augenblicklichen praktischen Bedürfnis dienende Zuthaten arg geschädigt worden. Man hatte Betstübchen zwischen die herrlichen Säulen gebaut und einen Riesenaltar im Barockstil auf den hohen Chor gesetzt, an und für sich gewiß eine recht kunstreiche Leistung, aber in dies einfache vornehme Gotteshaus nicht passend. Festliche, glänzende Gottesdienste mögen hier stattgefunden haben, z. B. bei Gelegenheit der Einführung einer neuen Aebtissin, deren manche aus königlichem Geblüt stammte.

Hier nahte sich auch, der Sage nach, am heiligen Weihnachtsmorgen dem Kaiser Otto I sein aufrührerischer Bruder Heinrich, der, obwohl jünger als Otto, sich dennoch, beeinflußt durch seine Mutter, deren Lieblingssohn er war und die lieber ihn auf dem Thron sehen wollte als ihren Erstgeborenen, dreimal gegen ihn auflehnte und dreimal in blutiger Fehde von Otto besiegt wurde. Zuerst noch zürnend und den Reuigen abweisend, reichte doch der großmütige Kaiser dem Bruder die Hand auf Mahnung des Bischofs, der die Bibelworte citierte:

„Und Petrus sprach zum Herrn: ‚Nicht so? Genügt ich hab’,
Wenn ich dem sünd’gen Bruder schon siebenmal vergab?‘
Doch Jesus ihm antwortet: ‚Nicht siebenmal vergieb,
Nein siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb.‘

Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt,
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust;
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht,
Nie schöner ward begangen die heil’ge Weihnachtsnacht.“

Prinzessin Amalia von Preußen.

Die Ballade, deren Schlußstrophen so lauten, und die beginnt: „Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang,“ lernten wir Quedlinburger Kinder in der Schule aufsagen, und nie habe ich das alte Gotteshaus betreten, ohne der kaiserlichen Brüder zu gedenken, deren Herzen sich hier wiedergefunden haben sollen. Die „Gartenlaube“ brachte ein Bild dieses Vorganges im Jahrgang 1897 zur Weihnachtszeit (S. 877).

Die Kaiserin Friedrich, die als Kronprinzessin mit ihrem Gemahl in den sechziger Jahren das Schloß besuchte, regte die Renovierung der herrlichen Kirche an, und nach ihrem Wunsche erstand, ausgeführt durch den hochverdienten Herrn von Quast, das alte Gotteshaus in ursprünglicher Schönheit. Die Kanzel ist nach einem Entwürfe der Kaiserin aus Sandstein gehauen im romanischen Stil; wundervoll sind auch hier die Säulenkapitäle sowie der hohe Chor mit dem [404] Hochaltar, den wiederum Jutta von Kranichfeld erbaute. – Hinter der Sakristei befindet sich die sogenannte Zitter, ein Raum, der eine Menge wertvoller Antiquitäten birgt, alte, von den Frauen des Stiftes verfertigte Gobelins, prächtige Reliquienkasten und Reliquien, den Bartkamm Heinrichs I, aus Elfenbein geschnitzt und mit Edelsteinen besetzt; ein Gefäß aus durchscheinendem Travertin, das als ein Krug von der Hochzeit zu Kana bezeichnet wird. Die Kaiserin Theophania, Ottos I Gemahlin, soll ihn aus Griechenland mitgebracht und ihrer in Quedlinburg lebenden Schwiegermutter Adelheid geschenkt haben.

Ewald von Kleist.

Herrliche alte Manuskripte sind hier vorhanden, darunter mehrere Evangelistarien, in Goldblech gebunden, mit Edelsteinen verziert und mit großer Knust geschrieben oder gemalt. Auch zwei Exemplare des Sachsenspiegels werden aufbewahrt: der eine kleinere aus dem Ende des 13. Jahrhunderts; der zweite, in großer, schöner Schrift, dadurch merkwürdig, daß er einst im Besitze des berühmten Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke gewesen ist. Außer diesen und vielen andern Schätzen, reich mit Edelsteinen und Schnitzwerk geschmückten Reliquienkästen und Behältern, giebt es hier auch wertvolle Schriftstücke, darunter zwei Briefe von Luther und einen von Melanchthon.

Wir lassen uns alles eingehend von dem verständnisvollen und bereitwilligen Führer erklären und verlassen endlich das Gotteshaus, ganz erfüllt von den Schauern stolzer deutscher Vergangenheit.

Unser freundlicher Erklärer hat uns noch eine Ueberraschung vorbehalten; er führt uns noch einmal durch die dämmernde Krypta, in der wir uns im Vorüberschreiten an einem prächtigen alten Taufstein erfreuen, er öffnet hier eine Thür nach Süden, durch welche uns eine Fülle goldenen Lichtes entgegenflutet, und wie wir das schmale rasenbewachsene, von niedriger Mauer eingefriedete Gärtchen betreten, da erfassen unsere Blicke ein wundervolles Bild – unter uns die roten Dächer des Westendorfes, aber jenseit derselben, fortschweifend über die stolzen Bäume des Lustwäldchens Brühl, über lachende Felder und traute Dörfer – die Berge des Harzes, in blauen Duft gehüllt; dort Victorshöhe, dort Tanzplatz und Roßtrappe, seitwärts der alte sagenumwobene Brocken, und rechts eine Reihe eigentümlich geformter kleiner Hügel, auf deren einem der berühmte Regensteiner sein Raubschloß erbaute, der bekannte Graf Albert von Regenstein, der in heftiger Fehde am 7. Juli 1336 von den Quedlinburgern gefangengenommen und in einem hölzernen Kasten zwanzig Monate lang eingesperrt saß, bis er sich den Forderungen der Städter unterwarf. Der ungefüge Käfig ist noch heute im Rathause zu sehen. Die Chronik besagt, daß der Raubgraf, bereits zum Tode verurteilt und auf den Richtplatz geführt, dennoch begnadigt wurde, erzählt aber nicht, unter welchen Bedingungen; nur weist die Chronik nach, daß er die Mauern der westlichen Seite der Stadt habe ausbessern und mit sieben neuen Türmen versehen müssen. Julius Wolff, der berühmte Quedlinburger, hat diese Episode der Geschichte seiner Vaterstadt und des Stiftes besonders reizvoll geschildert in seinem „Raubgrafen“.

Nur ungern reißen wir unsere Blicke los von der herrlichen Rundsicht und stehen bald wieder auf dem Schloßhof. In den uralten Linden spielt der Sommerwind und auf der Bank unter ihnen sitzt das hübsche Töchterlein des Kastellans und sieht fragend zu uns herüber. Auf unsere Erkundigung, ob wir das Schloß besehen können, verschwindet das nette Mädel, um ihre Mutter zu benachrichtigen, und wir sehen uns inzwischen die alten Gebäude an, thun einen Blick in den Schloßhof und bewundern die herrlichen Rosen im Gärtchen des Kastellans, wirklich eine seltene Pracht! Man sieht, die mit Blüten fast überdeckten Sträucher lohnen dem gütigen Pfleger durch immer neue Knospen.

Die Frau Kastellanin erscheint mit einem Schlüsselbund in der Hand, und wir treten unsere Wanderung an. Eine breite, hohe, überdachte Treppe führt empor in die Prunkgemächer des Freien deutschen Reichsstiftes Quedlinburg. Zunächst empfängt uns ein gegipster kahler Vorraum, über dessen mächtiger Thür das holzgeschnitzte Stiftswappen den einzigen Schmuck bildet, zwei ins Andreaskreuz gesetzte silberne goldschalige Tafelmesser im roten Felde.

Beim Raritätenschrank.

Die Führerin heißt uns nun in ein Gemach treten, das den Altar der Schloßkirche beherbergt, den man, als nicht stilgerecht, bei der Restauration entfernte. Gewiß sind sie von feiner Arbeit, diese durchbrochenen Säulen, dies geschnitzte, reich vergoldete Laubwerk, diese schwebenden Engelsgestalten. Der großen Figuren zu Füßen des Gekreuzigten erinnere ich mich noch aus meiner Kinderzeit; es ist mir, als müßten auch sie mich wiedererkennen, die Jünger des Herrn mit den endlos kirchenfensterlangen Gesichtern. Aber sie schauen stumm und fremd ins Leere hinaus wie damals schon. Ich kenne alte Leute in Quedlinburg, die noch heute um diesen reichen Schmuck ihrer Schloßkirche trauern, und ich kann mir wohl vorstellen, daß sie ihn vermissen. Sie haben vielleicht ihre Konfirmationsgelübde vor ihm abgelegt, das Ja! ihrer jungen Ehe vor ihnen gesprochen, ihre Kinder taufen lassen, und jetzt schauen sie den edlen nackten Sandstein dafür und fein gemalte hohe Fenster und können es nicht verstehen, daß der Zeuge ihrer schönsten und heiligsten Stunden fehlt. Aber wahr ist’s doch, passen thut er nicht mehr, [405] der bunte Altar, in die Einfachheit des herrlichen Gotteshauses.

Schloß und Kirche von Quedlinburg.

Nun treten wir in einen weiten Raum, den sogenannten Blauen Saal, den größten des Stiftes. Ein riesiges Gemach mit fein gearbeiteter Stuckdecke. Einige Stühle aus alter Zeit mit zerfetztem Lederbezug, der noch Spuren starker Goldpressung zeigt, stehen da, sonst kein Möbel, der weite Raum ist ganz leer. Aber von den Wänden schauen die Porträts der letzten zwölf Aebtissinnen herab, die einstens hier das Scepter schwangen, und zwar sind es die evangelischen Aebtissinnen von Anna von Stolberg an bis zur Sophie Albertine, Prinzessin von Schweden. Und während wir an ihnen vorüberschreiten und uns von der Frau Kastellanin die Namen nennen lassen, durchwandern wir ein großes Stück Weltgeschichte. Uns interessieren von ihnen besonders die Aebtissin Anna von Stolberg II, ferner die Pröpstin Maria Aurora von Königsmark und die schöne Anna Amalia, königliche Prinzessin von Preußen, Friedrichs des Großen Schwester. Anna von Stolberg, die 25. Aebtissin des Stiftes, kam dreizehnjährig zur Regierung; sie war es, die im Jahre 1534 aus eigner Machtvollkommenheit und im ernsten Glauben an die neue reine Lehre zum lutherischen Bekenntnis übertrat. Sie schaffte den katholischen Gottesdienst ab und führte den einfachen evangelischen Ritus dafür ein, die Geistlichen wurden auf die Augsburgische Konfession verpflichtet. Ganz ohne Unruhe ging solch gewaltiges Ereignis natürlich nicht ab, wie denn auch Anna von Stolberg es gespürt haben mag. Jedenfalls war sie eines Tages genötigt, sechsunddreißig Ratspersonen ihrer getreuen Stadt Quedlinburg ins Gefängnis zu setzen, die sich an den Schutzherrn des Stiftes gewandt hatten, um Annas Befehle und Verordnungen, die sie infolge der neuen kirchlichen Einrichtung erlassen mußte, zu umgehen. Dieser Schutzherr, Moritz von Sachsen, scheint gegen Anna gewirkt zu haben, denn die Sache wurde schließlich vor den Kaiser gebracht und der Herzog Moritz erhielt ein scharfes Mandat; gleichwohl währten die Streitigkeiten durch die Dauer ihrer Regierung fort.

Anna gründete auch, auf Luthers und Melanchthons Rat, das jetzt noch bestehende Gymnasium zu Quedlinburg, vereinigte die altstädter und neustädter Schulen in demselben und überwies dem Magistrat das nunmehr verlassene Franziskanerkloster in der Breitestraße, woselbst das Gymnasium bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts verblieb.

Im Jahre 1574 starb Anna und wurde in der Schloßkirche beigesetzt. Ihre Regierung war eine sehr bewegte und bedeutungsvolle, achtundfünfzig Jahre herrschte sie, und in der Geschichte des Freien Stiftes Quedlinburg wird Anna von Stolberg stets einen ersten Platz einnehmen.

Vor dem Bilde der Aurora von Königsmark, einer üppigen dunkelhaarigen Schönheit, verweilen wir wiederum längere Zeit. Sie kam von dem lebenslustigen Hofe Augusts des Starken, dessen Geliebte sie gewesen war, im Jahre 1698 nach Quedlinburg, [406] um, zunächst als Pröpstin, in das Stift zu treten, und gedachte, dermaleinst ihre Laufbahn als Aebtissin desselben zu beschließen. Aber dieses Ziel zu erreichen, war ihr versagt; vierzehn Jahre kämpfte sie gegen Intriguen aller Art, und während dieser vierzehn Jahre blieb das Stift ohne Aebtissin. Zwei ältere Gräfinnen von Schwarzburg, welche die schöne, kluge, in allen höfischen Künsten, ja selbst in der Staatsweisheit nicht unerfahrene Dame förmlich haßten, strebten mit ihr nach dieser Würde.

Aurora und jene beiden Gräfinnen bildeten seit dem Ableben der Aebtissin Anna Dorothea von Sachsen-Weimar das Kapitel, dem die Regierung bis zur Bestätigung einer Nachfolgerin oblag, kein Wunder, daß sie einander haßten und sich nie einigen konnten. Aurora besaß unstreitig die größte Aussicht, Aebtissin zu werden, ja ein offenbares Recht zur Nachfolge, denn auf Augusts des Starken Empfehlung hatte Anna Dorothea sie zur Koadjutorin in der Abtei erklärt, und daher ist es zu verwundern, daß Aurora ihr Recht nicht nachdrücklicher verfolgt hat.

Fenstersitz in den Gemächern der
Aurora von Königsmark.

Die Frau Kastellanin meinte freilich im Vertrauen, das Vorhandensein des spätern Marschalls von Sachsen sei ihren Plänen hinderlich gewesen, und vom Standpunkt sittenstrenger Stiftsfrauen läßt sich das begreifen, so tolerant auch die damalige Zeit gegen die Gunstdamen großer Herren verfuhr. Jedenfalls wurde Aurora nicht Aebtissin; die beiden Schwarzburgischen Gräfinnen freilich auch nicht.

Nachdem das Stift lange Zeit verwaist gewesen, nachdem Preußen und Sachsen sich in die Angelegenheit gemischt hatten und lange Verhandlungen gepflogen waren – die Gräfin Eleonore Sophie starb darüber hin – wurde endlich eine Aebtissin, Maria Elisabeth, Herzogin von Holstein, gewählt und bestätigt.

Maria Aurora von Königsmark blieb Pröpstin, doch hat sie den Akten nach als solche wenig Einfluß geübt, da sich kaum einige Unterschriften von ihr vorfinden. Sie starb in ihrem fünfzigsten Jahre; sie verwundete sich mit einer Nadel, erkrankte an Blutvergiftung und endete in der Nacht vom 15. zum 16. Februar 1728 ihr Leben, das, in fürstlichem Glanz und Aufwand begonnen, in Sorge und Not seinen Abschluß fand. Der Hof zu Sachsen hatte ihr zuletzt die Einkünfte entzogen, die es ihr bisher ermöglichten, ein sorgloses, den Künsten und Wissenschaften gewidmetes Leben zu führen. Wie die Frau Kastellanin berichtet und die Chronik erzählt, hinterließ Aurora nur fünfundzwanzig Thaler, zehn Groschen, acht Pfennig, und viele, viele Schulden. Ihre Ausstattungstruhe, deren Beschläge dick vergoldet waren, steht in einem Winkel der einst von ihr bewohnten Gemächer und zeigt ihr Wappen. In der fürstlichen Gruft der Schloßkirche schlummert sie, wie ich vorhin schon erzählt habe, aber der Ruf ihrer Schönheit lebt noch fort im Munde der Quedlinburger, und der Fremde, der die Gruft betritt, fragt zuerst nach dem Sarge der schönen Aurora, dieser ungewöhnlichsten aller Stiftsdamen.

Die lieblichste unter den hohen Frauen, deren Porträts in diesem Saale hängen, dünkt uns die Prinzessin Amalia von Preußen, deren große blaue strahlende Augen an die ihres Bruders, des Großen Friedrich, erinnern. Zweiunddreißig Jahre hindurch war sie Aebtissin des Stiftes. Am 12. April 1756 huldigten ihr Rat und Magistrat, sowie die gesamte Bürgerschaft auf dem Markte, und unter ihrer Regierung erfuhren Stadt und Stift die Drangsale des Siebenjährigen Krieges. Die Frau Aebtissin residierte übrigens nicht in Quedlinburg, sie schenkte dem Stift nur dann und wann einen gnädigen Besuch; war sie aber zugegen, so sah das Schloß glänzende Tage, Gastmähler und Bälle.

Zum letztenmal kam sie im Jahre 1785, um eine neue Kanonissin und eine neue Pröpstin einzuführen. Ihre Gesundheit war erschüttert, sie hatte ja viel, sehr viel Schmerzliches erlebt, und der Tod Friedrichs des Großen brach ihre letzte Kraft. Am 30. März schloß sie die blauen bewunderten Augen für immer. Ihre Nachfolgerin, die letzte Aebtissin, war Sophie Albertine, königliche Prinzessin von Schweden, Schwester Gustavs III.

Mit dem Frieden von Luneville erlosch der Glanz des Stiftes, es verlor nun seine Reichsstandschaft und die Aebtissin ihre Landeshoheit, denn bis dahin war die Aebtissin ein eigner Reichsstand und die vornehmste unter den Reichsfürstinnen. Sie hatte Sitz und Stimme auf den Reichstagen und saß, wie schon im Beginn dieses Artikels bemerkt, auf der rheinischen Prälatenbank. Das Stift wurde jetzt als Fürstentum Quedlinburg dem preußischen Staat einverleibt, jedoch behielten die Frau Aebtissin und die vorhandenen Kapitularinnen ihre Einnahmen unbeschränkt und ebenso ihre Rechte und Freiheiten bis an ihr Ende.

Der Münzenberg.

Im September 1803 reiste Sophie Albertine nach Schweden, nicht ahnend, daß sie nie zurückkehren sollte; der Eroberungszug Napoleons bereitete ihrer Herrschaft das Ende. Der Friede von Tilsit raubte das Fürstentum Quedlinburg der Krone Preußen und teilte es dem Königreich Westfalen zu; es gehörte fürderhin dem lustigen Jérôme. Am 24. Januar 1808 wurde ihm öffentlich gehuldigt.

Im Jahre 1812 war es, als das Stift seinen Todesstoß empfing, seine sämtlichen Liegenschaften, Propsteien, Domänen, Vorwerke, Mühlen, Gärten und Aecker wurden verkauft, ebenso die Güter der Schloß- und Stiftskirche, die Kapitalien wurden eingezogen, die Hofgemeinde aufgehoben und der Gottesdienst eingestellt. Selbst die Altarleuchter und Kelche nahm man in Beschlag; ein Wunder, sagt [407] die Chronik, daß man der so beraubten Kirche die Glocken ließ. Das Mobiliar des Schlosses wurde gleichfalls, auf Befehl von Kassel aus, verkauft.

Als Quedlinburg, nach Napoleons Sturz und Internierung auf Elba, wiederum an Preußen kam, entsagte die Frau Aebtissin ihrer Regierung und nahm vom König von Preußen eine Entschädigung an; die Stiftsbedienten behielten bis zu ihrem Tode die Gehälter.

Dann sind die Jahre gekommen und haben die großen Gemächer verödet.

Nur der Fremde geht nachdenklich ob des Wechsels alles Irdischen über das kunstvolle Parkett des Krönungssaales und durch die Zimmer, die Friedrich Wilhelm IV bewohnte, wenn er hier der Jagd oblag, betrachtet die Bilder, darunter eines, welches den Dichter des Frühlings, Ewald von Kleist, darstellt, die ziemlich unkünstlerische Kopie eines trefflichen Originals, welches sich im Besitz meines Vaters befindet, und läßt sich von der Frau Kastellanin verschiedene Raritäten zeigen, die in einem Wandschrank aufbewahrt werden, unter anderem herrliches altes Zinngerät mit dem Stiftswappen, eine Theekanne des Großen Friedrich und – angeblich – einige Knochen aus dem Grabe Heinrichs I.

Dann bewundert man eines der reizvollsten Städtebilder, die es giebt.

Blick vom Schloß auf die Stadt.

Am eigenartigsten ist es von den Gemächern aus zu sehen, die Aurora bewohnt haben soll. Da steht ein alter Lehnsessel in der Fensternische, und wer dort sitzt, der erblickt den „Münzenberg“, einen Hügel, auf dem ehemals das dem Stifte gehörige Marienkloster stand, und der jetzt ein Dörfchen trägt, dessen Bewohner zu meiner Kinderzeit sich noch eines eigenartigen Rufes erfreuten; sie waren dazumal nicht g’rad’ beliebt in der Stadt. Die Männer zogen meistens als sogenannte Bettelmusikanten in der Welt umher, die Frauen blieben daheim mit ihren Scharen von ungezogenen Kindern, sofern nicht die eine oder andere, behufs Absingung von gruseligen Mordgeschichten, sich ihrem Eheherrn anschloß. Das Dorf besitzt übrigens noch heute seinen eignen Bürgermeister, und seine Einwohner sind mit der Zeit, wie unsre Begleiterin uns mitteilt, kreuzbrave Leute geworden.

Vom Nordfenster aus sieht man wunderbare Dachmotive. Meine kunstverständigen Begleiterinnen versichern es; und in der That, dies Gewirr von roten Dächern und spitzen Giebeln, diese altersgrauen zum Himmel aufsteigenden Türme, diese stolzen Kirchen, St. Nicolai, St. Blasii, St. Aegidii und wie sie alle heißen, sind einzig stimmungsvoll.

Man denkt sich hinein in die Seele einer jener fürstlichen Frauen, wie sie im Abendscheine hier am Fenster gestanden haben mag, sich freuend über die treue gute Stadt, die so friedlich zu ihren Füßen lag und unter einer segensreichen Regierung sich wohl fühlte. Ob nicht auch manche Blicke ihrer schönen Augen über die Stadt hinaus in weite Fernen geschweift sind, in denen sie ein Glück gelassen hatte, um dieser Würde teilhaftig zu werden? Wer kann es wissen!

Eins aber weiß ich! Wehmütiger mag ihr auch nicht zu Mute gewesen sein als mir, da ich dort stand und hinabschaute auf das Meer der roten Dächer, auf die engen Gassen, und nun mein Auge hängen blieb an einem langgestreckten Hause, in dem vor vielen Jahren meine Eltern wohnten mit uns Kindern.

Was hat man nicht erträumt und erhofft von der Zukunft unter diesem Dache, wie hat sich das Kinderherz hinausgesehnt in das weite unbekannte Leben, welche glühenden Hoffnungen knüpfte man nicht an die Zukunft! Und nun ist der größte Teil des Lebens vorübergezogen, zuweilen so ereignislos, als stehe es still, zuweilen wie die Wogen eines erregten Meeres, die uns verschlingen wollten. Dann wieder strahlender Sonnenschein und oft trübes Wetter und Regenflut, aber alles so anders, so ganz anders, als man erhoffte. Und nun steht man da mit grauen Haaren, und die Thränen verschleiern das Bild des alten Hauses da unten. – Meine Gefährtinnen reißen mich aus meiner Versunkenheit, zum Aufbruch mahnend. Sie haben mit der Frau Kastellanin verabredet, daß sie morgen wiederkommen werden mit ihren Skizzenbüchern.

Als wir, von ihr geleitet, wieder hinaustreten ins Freie, da liegt noch der vollste Sonnenschein über dem Schloßhof, und die Rosen des Gärtchens senden uns ihren Duft entgegen.

Die Luft ist erfüllt von Glockengeläute, in der Schloßkirche findet eine Trauung statt.

Frisches, neues Leben überall; die Vergangenheit schläft, schläft wie Kaiser Heinrich, wie die stolzen Aebtissinnen und die schöne Aurora von Königsmark, wir aber wachen noch und leben. Und Deutschland hat wiederum einen Kaiser!

Gott schütze Kaiser und Reich!


[408]

Einem Sommergeborenen.

Von Ernst Scherenberg.[1]

Junisonne,
Mit glühendem Kusse
Küßtest wach du die knospende Rose,
Daß sie blühe, flamme und dufte,
Krone der Blumen,
Sich selbst zum Ruhme,
Zur Freude der Welt!

Junisonne,
Doch nicht nur Rosen
Weckte dein Strahl!
Urquell des Lichts,
In leuchtender Stunde
Ließest du stillverschwiegen erblühn
Herrlichste aller irdischen Blüten:
Eine unschuldvoll noch träumende,
Holde, keusche Menschenknospe!

Du junges Leben,
Vom Glück geweiht,
Der Sommersonne lachender Sproß,
Bleibe
– Nicht weiß ich köstlichern Wunsch –
Immer wie heute
Ein Kind des Lichts!

Doch nicht die Junisonne allein –
An deiner Wiege strahlen
Zwei andre Sonnen noch,
Wie einmal nur im Leben
Sie aufgehn über dem Pfad des Menschen
In den Augen
Glückselig sorgenden Elternpaares.
O, leuchte lang’ noch dies Zwiegestirn,
Dir schützend des Daseins Schatten zu scheuchen!

Denn wisse,
Selbst dem Sonnenkinde,
Als Erdgebornem,
Nahen zu Zeiten
Die Schatten der Nacht!
Doch wenn dich umlagern
Einst auf der langen Meerfahrt des Lebens
Die Nebel des Unmuts
Ueber die Tücke und Falschheit der Welt,
Die Wetter des Zorns,
Die dunkeln Schleier
Trostloser Trauer
Um unwiederbringlich zerbrochenes Glück,
Oder die schwärzesten
Aller Wolken.
Nagende Reue und brennende Schuld – –

Gäbe dein Gott dir dann,
Daß sieghaft
Ueber alle gespenstischen Schatten
Aus dem eigenen Innern heraus
Triumphiere das ewige Licht,
Das dir jüngst
In der Stunde des Werdens
Als unvergängliches Angebinde
Ins Herz gestrahlt
Die Sonne des Juni!

Aber
Dir nicht allein
Sollst du durchleuchten
Das Leid der Erde!
Sei den Deinen
Ein Quell der Freude
Und spende dereinst auch Licht
Selbstlos
In die dunkeln Tiefen des Elends
Krankender Menschheit!

Sommergeborene Menschenblume,
So sei uns gegrüßt,
So sei uns gesegnet
Heut und immer
Als Kind des Lichts!



  1. Dieses Gedicht ist eine der vielen neuen Gaben, um welche die in Vorbereitung befindliche sechste Auflage der „Gedichte“ von Ernst Scherenberg den reichen Blütenstrauß seiner Lyrik bereichern wird. Da am 21. Juli Ernst Scherenberg sein sechzigstes Lebensjahr vollendet und vor vierzig Jahren sein erstes Auftreten als Dichter erfolgte, so bezeichnet das Erscheinen dieser neuen Auflage ein Jubiläum, zu welchem auch die „Gartenlaube“ ihrem treubewährten und hochgeehrten Mitarbeiter die herzlichsten Glückwünsche darbringt. „Aus tiefstem Herzen“ war die erste Sammlung von Scherenbergs Gedichten betitelt; „aus tiefstem Herzen“ sind auch seine späteren Lieder emporgeklungen, in denen sein persönliches Erleben, seine Liebe zu Heimat und Vaterland so innigen Ausdruck fand, die patriotischen Gesänge, mit welchen er begeistert die großen Geschicke des deutschen Vaterlands in den gewaltigen Epochen von 1859 bis 1870, von 1871 bis 1898 begleitet und gefeiert hat. Möge dem Dichter, der selber ein „Sommergeborener“ ist, es noch lange vergönnt sein, sich im Sinne des oben abgedruckten Gedichts weiter als „Kind des Lichts“ und als Herold des Lichts zu bewähren! D. Red. 




Ueber Scheintod.

Von Dr. W. A. Nagel.

Wodurch unterscheidet sich das Lebende vom Scheintoten und vom wirklich Toten? Wonach beurteilen wir, ob ein Körper, den wir beobachten, lebendig, scheintot oder tot ist? – Das sind biologische Fragen, die nicht nur theoretisch und wissenschaftlich vom größten Interesse sind, sondern auch unter Umständen eine erhebliche praktische Bedeutung gewinnen können, wenn es sich nämlich um die Frage handelt, ob in einem menschlichen Körper noch Leben vorhanden ist oder nicht. Wir werden im folgenden sehen, daß es verhältnismäßig leicht ist, für den menschlichen Organismus die Grenze von Leben und Tod zu ziehen, daß wir aber, wenn wir auch die Tiere in den Kreis unserer Betrachtung aufnehmen, Fälle vorfinden, in denen es selbst nach sorgfältigster wissenschaftlicher Untersuchung äußerst schwer ist, zu sagen, ob man das betreffende Tier als lebend bezeichnen kann.

Wir wollen davon ganz absehen, daß beim Tode eines Menschen oder eines Tieres durchaus nicht in allen Körperteilen gleichzeitig das Leben erlischt, sondern einzelne Organe noch tagelang die Eigenschaften des Lebendigen behalten können; auch wenn wir den Körper als ein Ganzes betrachten, ist es oft schwer, zu sagen, ob er lebt. Wenn ein Tierkörper lange Zeit bewegungslos ist, beweist das natürlich noch lange nicht, daß er tot ist. Die selbständigen Bewegungen und noch viele andere Eigenschaften, die wir an lebenden Wesen zu finden gewohnt sind, können bei einem Geschöpf, Mensch, Tier oder Pflanze, vorübergehend oder dauernd vermißt werden, ohne daß man ihm darum die Lebendigkeit absprechen dürfte.

Das, was wir als Leben eines Menschen oder eines der höheren Tiere bezeichnen, ist eine Summe von sehr zahlreichen und verschiedenartigen Erscheinungen, die wir an diesem Wesen beobachten können. Niedere Tiere aber, oder vollends Pflanzen, zeigen sehr viele von diesen „Lebenserscheinungen“ des Menschen nicht, und doch leben auch sie!

Indem wir diese Thatsache anerkennen, d. h. auch dem niederen Tiere und der Pflanze Leben zusprechen, stützen wir uns auf das Vorhandensein gewisser allgemeiner Lebenserscheinungen, d. h. auf gewisse Aeußerungen der Lebendigkeit, die allen lebenden Geschöpfen, Menschen, Tieren und Pflanzen, gemeinsam sind. Diese allgemeinen Lebenserscheinungen müssen wir kennenlernen, wenn wir die drei Zustände, Leben, Tod und Scheintod, voneinander unterscheiden wollen.

Zwei Eigenschaften, untrennbar miteinander zusammenhängend, sind es, die allen von uns für gewöhnlich „lebendig“ genannten Geschöpfen gemeinsam sind, die Reizbarkeit und der Besitz eines Stoffwechsels. Andere allgemeine Lebenserscheinungen, die Ernährung, die Entwicklung, die Fortpflanzungsfähigkeit, der Form- und Kraftwechsel, lassen sich in letzter Linie auf jene beiden Erscheinungen zurückführen.

Die Begriffe der Reizbarkeit und des Stoffwechsels streng wissenschaftlich und erschöpfend zu definieren, ist außerordentlich schwierig, und ich verzichte daher hier auf diesen Versuch, der uns allzutief in die Theorie hineinführen würde. Es mag genügen, festzustellen, daß man die Reizbarkeit bezeichnen kann als die Eigenschaft, auf eine äußere Einwirkung durch eine

[409]

Mammut im Eise, von Wölfen entdeckt.
Nach einer Originalzeichnung von F. Specht.

[410] bestimmte Thätigkeit zu antworten, zu reagieren, wie man zu sagen pflegt.

Der Stoffwechsel eines Wesens besteht darin, daß dasselbe Stoffe aus der Außenwelt in sich aufnimmt, einen Teil derselben seinem eigenen Bestande einverleibt und den Rest derselben, zusammen mit den Produkten der Körperthätigkeit, wieder nach außen abgiebt. So wird z. B. die gewöhnliche atmosphärische Luft in die Lunge eingeatmet, dort ein Teil davon in den Körper (speciell ins Blut) aufgenommen, der Rest wieder ausgeatmet, zusammen mit einem Produkt der Körperthätigkeit, dem Kohlensäuregas.

Ich will nicht unterlassen, anzuführen, daß man die Erscheinungen der Reizbarkeit und des Stoffwechsels, so wie wir sie hier für unseren Gebrauch abkürzend definiert haben, schließlich auch bei jeder Dampfmaschine und jedem Gasmotor wiederfinden könnte und daraus vielleicht schließen möchte, der lebende Organismus sei überhaupt nichts anderes, nichts Höheres als eine derartige Maschine. Das wäre nicht richtig, denn, wie ich schon andeutete, ist das Charakteristische für den lebendigen Körper eine ganz eigentümliche und komplizierte Verknüpfung der Reizbarkeit mit dem Stoffwechsel, eine Verknüpfung, durch die nun etwas dem toten Dinge Fremdes zustande kommt, die Fähigkeit der Selbsterhaltung. Doch wir können den Unterschied zwischen dem lebenden Körper und der Maschine, so interessant er ist, hier nicht weiter verfolgen. Ich mußte diese Dinge hier nur erwähnen, weil ohne sie das wissenschaftliche Interesse, welches die Erscheinungen des Scheintodes bieten, nicht verständlich wäre.




Manche lebende Wesen können in einen Zustand geraten, in welchem sie selbst bei einer nicht allzu oberflächlichen Beobachtung als leblos, tot, erscheinen, während sie gleichwohl die Fähigkeit noch besitzen, in den Zustand des unzweifelhaften, unverkennbaren Lebens zurückzukehren. Jenen eigentümlichen Zustand bezeichnet man bekanntlich als Scheintod, oder als latentes oder potentielles Leben, die Rückkehr zum wirklichen oder aktuellen Leben hat man „Anabiose“ (Wiederaufleben) genannt.

Beispiele von Scheintod finden wir bei den verschiedensten Geschöpfen, bei den höchsten wie bei den niedersten Organismen, beim Menschen wie bei Tieren sowie bei Pflanzen. Nun werden allerdings unter dem Namen Scheintod Dinge zusammengefaßt, die innerlich ziemlich verschiedenartig sind; nur eine äußere Uebereinstimmung besteht insofern, als es in allen diesen Fällen schon einer genaueren Untersuchung und einer gewissen Zeit des Abwartens bedarf, um zu entscheiden, ob Tod oder Scheintod vorliegt.

Für weitere Kreise bieten naturgemäß diejenigen Fälle von Scheintod am meisten Interesse, welche den Menschen betreffen. Wissenschaftlich interessanter aber ist der Scheintod mancher Tiere, namentlich gewisser niederer Tiere, zum Teil deshalb, weil hierüber sorgfältigere Untersuchungen vorliegen als über den Scheintod des Menschen, zum Teil aber auch aus einem anderen Grunde, den ich schon hier erwähnen will. Beim Scheintode des Menschen handelt es sich nämlich, soviel wir wissen, niemals um einen völligen Stillstand der Lebensfunktionen, sondern nur um eine gewisse Herabsetzung derselben, und nur der Unvollkommenheit der Untersuchung ist es zuzuschreiben, daß der Eindruck des Totseins entsteht. Anders bei niederen Tieren und Pflanzen: bei ihnen ist es nach neueren Erfahrungen möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß in den allgemeinen Lebenserscheinungen (mit Ausnahme einer einzigen, der Reizbarkeit) ein völliger Stillstand für längere oder kürzere Zeit eintritt.

Unter den verschiedenen Schauernachrichten, mit denen die Zeitungen dem modernen sensationslüsternen Publikum eine angenehm unheimliche Nervenerregung zu verschaffen wissen, gehören zu den wirksamsten die Berichte über Fälle von Lebendigbegrabenwerden. Spekulative Novellenschreiber haben das Schauerliche, das diesem Gegenstände ohnehin anhaftet, noch auf Kosten der Naturwahrheit zu erhöhen gewußt, indem sie den Lebendigbegrabenen noch dazu bei Bewußtsein sein lassen, während er für tot erklärt wird und die Vorkehrungen zu seiner Bestattung getroffen werden. Der Arme hört alles, was um ihn her vorgeht, ist aber außerstande, die geringste Bewegung zu machen oder zu sprechen. – Das ist, nach allen unseren Erfahrungen zu urteilen, Erfindung: ein derartiger Zustand ist undenkbar. Wenn Herzschlag und Atmung so schwach geworden sind, daß sie sich bei ärztlicher Untersuchung nicht nachweisen lassen, dann muß auch das Bewußtsein erloschen sein, und damit ist der Mensch unfähig, irgend etwas zu hören oder zu denken.

Andrerseits ist nicht zu bestreiten, daß ab und zu wirklich die Atmung und der Herzschlag so schwach werden können, daß sie sich der Wahrnehmung, zumal eines ungeübten Beobachters, recht wohl entziehen können, und damit ist die Möglichkeit des Scheintodes und des Lebendigbegrabens gegeben. Bei Bewußtsein kann ein solcher Scheintoter aber nicht sein.

Daß die Atmung bei Menschen und Tieren unter Umständen sehr schwach werden kann, ja fast unmerklich, ist zweifellos. Zweck der Atmung ist es bekanntlich, das durch die Lunge fließende Blut mit frischer Luft in möglichst nahe Berührung zu bringen. Das Blut entnimmt dann der Luft den lebenswichtigen Bestandteil, den Sauerstoff, und führt ihn den übrigen Körperteilen zu. Nun müssen wir bedenken, daß ein Körper, der so absolut regungslos und unthätig daliegt, wie es ein Scheintoter thut, außerordentlich viel weniger Sauerstoff verbrauchen wird als ein thätiger Körper; es wird also für den ruhenden Körper eine geringere Lüftung der Lunge ausreichen. Wichtig ist es auch, daß es bei allen Fällen von Scheintod sich nicht um ein plötzliches Aufhören der Atmung handelt, sondern um allmählichen Uebergang zu einem Zustande verminderter Lebensthätigkeit, ähnlich dem Eintritt des Winterschlafes bei manchen Tieren (Murmeltier, Igel etc.). Den Winterschlaf, der gewissermaßen ein Mittelding zwischen gewöhnlichem Schlaf und Scheintod bildet, faßt ein französischer Physiologe, R. Dubois, auf Grund von Studien an Murmeltieren, als eine Art Selbstvergiftung mit Kohlensäure auf. Die Kohlensäure, bekanntlich ein betäubendes Gas, entsteht im Körper und wird durch die schwache Atmung nicht genügend aus der Lunge entfernt, so daß das Tier sich gewissermaßen in den Zustand der Betäubung hineinsteigert und eines äußeren Reizes bedarf, um wieder aufzuwachen. Die Tiere im Winterschlafe werden dabei kalt und starr wie Scheintote. Doch ich muß mich mit diesem Hinweis auf die Beziehungen zwischen Scheintod und Winterschlaf begnügen, ohne die Frage hier im einzelnen ausführen zu können.

Inwieweit bei scheintoten Menschen die Atmung herabgesetzt sein kann, darüber sind unsere Erfahrungen noch unvollkommen. Die üblichen Methoden, die dazu dienen sollen, das Vorhandensein oder Fehlen der Atmung festzustellen, sind recht mangelhaft: Beobachtung des Brustkastens und Vorhalten eines Spiegels vor Mund und Nase, der sich, wenn noch geatmet wird, mit einem Hauch beschlagen muß. Gerade für den wesentlichsten, wichtigsten Teil der Atmung, den Uebertritt von Gasen aus der Luft in das Blut der Lunge, und umgekehrt, haben wir keine praktisch verwendbare Untersuchungsmethode.

Als Schutz gegen das Lebendigbegrabenwerden im Scheintode hat man gewisse gesetzliche Vorschriften erlassen, von denen zweifellos die wichtigste in der vorgeschriebenen Mindestzeit zwischen mutmaßlichem Todeseintritt und Bestattung zu sehen ist. Im allgemeinen ist die Wahrscheinlichkeit der Bestattung eines Scheintoten außerordentlich gering, und die meisten derartigen Fälle, von denen die Zeitungen berichten, stellen sich bei näherer Nachforschung als einfach erfunden heraus. Am ehesten noch mag derartiges bei großen Epidemien vorkommen, wo die Zahl der Sterbenden groß ist, daher unter Umständen die Bestattung früh vorgenommen wird und der überbürdete und ermüdete Arzt die Untersuchung nicht mit der nötigen Sorgfalt vornimmt. Doch sind das, wie gesagt, jedenfalls Seltenheiten.

Die bisher besprochenen Fälle von Scheintod hatten wir als Folge einer Krankheit aufzufassen, und zwar einer Krankheit, die das gesamte Nervensystem in eine Art Lähmung versetzt. Man berichtet aber auch von Menschen, die imstande sein sollen, sich willkürlich in Scheintod zu versetzen. Diese Fälle sind es, denen wir jetzt einige Aufmerksamkeit schenken wollen. Am bekanntesten ist der willkürliche Scheintod der indischen Fakire, doch sind auch von Europäern ähnliche Produktionen bekannt geworden. Bei allen diesen Fällen kann man jedoch einen gewissen Zweifel nicht unterdrücken; die Berichte darüber, wenigstens die mir [411] bekannt gewordenen, sind zu ungenau, als daß sie im wissenschaftlichen Sinne beweisend wären. Das schließt nicht aus, daß sie trotzdem ein gewisses Interesse bieten, denn um einfachen groben Betrug scheint es sich doch in vielen von diesen Fällen nicht zu handeln, etwas Auffallendes muß vielmehr in den Lebensfunktionen jener Leute immerhin angenommen werden.

Von den verschiedenen Berichten, die uns vorliegen, hat einer den Vorzug, von einem Arzt herzurühren, von einem Dr. Cheyne aus Dublin, der mit zwei Kollegen den Scheintod eines Oberst Townsend beobachtete und folgendermaßen beschrieb (ich citiere aus Verworns „Allgemeiner Physiologie“):

„Oberst Townsend konnte nach Belieben sterben, d. h. aufhören zu atmen, und durch bloße Willensanstrengung oder sonstwie wieder ins Leben zurückkommen. Er drang so sehr in uns, den Versuch einmal anzusehen, daß wir schließlich nachgeben mußten. Alle drei fühlten wir erst den Puls; er war deutlich fühlbar, obwohl schwach und fadenförmig, und sein Herz schlug normal. Er legte sich auf den Rücken zurecht und verharrte einige Zeit regungslos in dieser Lage. Ich hielt die Hand, Dr. Baynard legte seine Hand aufs Herz und Herr Skrine hielt ihm einen reinen Spiegel vor den Mund. Ich fand, daß die Spannung des Pulses allmählich abnahm, bis ich schließlich auch bei sorgfältigster Prüfung und bei vorsichtigstem Tasten keinen mehr fühlte. Dr. Baynard konnte nicht die geringste Herzkontraktion fühlen und Herr Skrine sah keine Spur von Atemzügen auf dem breiten Spiegel, den er ihm vor den Mund hielt. Dann untersuchte jeder von uns nacheinander Arm, Herz und Atem, konnte aber selbst bei der sorgfältigsten Untersuchung auch nicht das leiseste Lebenszeichen an ihm finden. Wir diskutierten lange, so gut wir es vermochten, diese überraschende Erscheinung. Als wir aber fanden, daß er immer noch in demselben Zustande verharrte, schlossen wir, daß er doch den Versuch zu weit geführt habe, und waren schließlich überzeugt, daß er wirklich tot sei, und wollten ihn nun verlassen. So verging eine halbe Stunde. Gegen neun Uhr früh (es war im Herbst), als wir weggehen wollten, bemerkten wir einige Bewegungen an der Leiche und fanden bei genauerer Beobachtung, daß Puls- und Herzbewegung allmählich zurückkehrten. Er begann zu atmen und leise zu sprechen. – Wir waren alle auf das Aeußerste über diesen unerwarteten Wechsel erstaunt und gingen nach einiger Unterhaltung mit ihm und untereinander von dannen, von allen Einzelheiten des Vorganges zwar völlig überzeugt, aber ganz erstaunt und überrascht und nicht imstande, eine vernünftige Erklärung zu geben.“

So lautet der Bericht – ein nicht sehr vertrauenerweckender Bericht! Man erfährt aus demselben nicht einmal, wie lange der Scheintod dauerte, denn die Zeitangabe „eine halbe Stunde“ scheint eher die Zeit zu bedeuten, welche die Herren zu ihrer Diskussion nach beendigter Untersuchung brauchten. Dagegen ist gesagt, daß es neun Uhr früh und daß es Herbst war, was für die Sache ganz bedeutungslos ist. Es ist ferner über die Temperatur nichts gesagt, nichts gesagt, ob die Haut des „Scheintoten“ während des Versuches etwa kühl oder blaß wurde, auch nicht, ob etwa noch die sogenannten Reflexbewegungen vorhanden waren, ob also z. B. die Pupille des Auges sich noch bei Belichtung verengerte oder nicht. Das alles wäre für die Beurteilung des Falles von größter Wichtigkeit.

Recht auffallend ist es auch, daß diese Herren Aerzte, als sie glaubten, der Oberst habe den Versuch zu weit getrieben, ruhig von dannen gehen wollten, ohne den geringsten Versuch, ihn wieder aus seinem Totenschlaf zu erwecken, und andrerseits, daß der tote Oberst gerade den Augenblick zu treffen wußte, wo jene weggehen wollten, und ihnen so noch sein Erwachen zeigen konnte.

Offenbar hatte der Oberst die Fähigkeit, auffallend lange die Atmung anzuhalten; auch manchen Tauchern gelingt das ja bekanntlich in erstaunlicher Weise. Thatsächlich vermögen manche Menschen die Geschwindigkeit des Herzschlages willkürlich zu verändern, und daß man die Stärke des Pulses durch Veränderung der Atmung beeinflussen kann, ist jedem Physiologen bekannt. Freilich gelingt derartiges in der Regel nur für kurze Zeit, und etwas Ungewöhnliches müßte in der Organisation des Oberst Townsend doch wohl gelegen haben.

Daß sein Herz während des Versuches wirklich stillgestanden habe, geht aus dem Berichte nicht hervor und ist auch im höchsten Grade unwahrscheinlich. Durch Befühlen des Pulses und Auflegen der Hand auf die Herzgegend bekommt man kein sicheres Urteil darüber, ob das Herz noch schlägt oder nicht.

Das beste Untersuchungsmittel, das wir dafür haben, das Auflegen des Ohres, kann auch nur unter günstigen Bedingungen als sicher gelten, d. h. wenn die Brustwand nicht zu dick ist, im Zimmer absolute Stille herrscht und der Untersucher ein feines Gehör hat. Ist eine von diesen Bedingungen nicht erfüllt, dann kann ein recht leiser Herzschlag wohl verborgen bleiben. Es können noch besondere Umstände hinzukommen: es braucht z. B. nur bei einem Scheintoten das Herz, statt wie gewöhnlich links, einmal rechts zu liegen, wie es ab und zu vorkommt, dann wird dem untersuchenden Arzte, der an diese Möglichkeit nicht immer denken wird und links nach den Herztönen horcht, selbst ein nicht allzuschwacher Herzschlag entgehen können.

Um auf den Oberst Townsend zurückzukommen, so fragt sich, was wir uns hinsichtlich seiner Atmung für eine Vorstellung machen sollen. Daß der vorgehaltene Spiegel sich nicht sichtbar beschlug, beweist nicht allzuviel. Vor allem ist es nicht ausgeschlossen, daß der Oberst von seiner Fähigkeit, den Atem lange anzuhalten, den Gebrauch machte, daß er die Beobachter auf die Meinung brachte, er könne stundenlang in diesem Zustande verharren, während er dies in Wahrheit gar nicht that, sondern die Gelegenheit, wo die Herren Aerzte ihrer naiv kritiklosen Verwunderung über das seltsame Phänomen gegeneinander Ausdruck gaben, vielleicht dazu benutzte, um sich zwischenein wieder einmal einen Atemzug zu gönnen. Sicheres läßt sich nachträglich darüber nicht sagen, aber es wäre das erste und einzige Mal nicht gewesen, daß Aerzte auf ihrem eigenen Thätigkeitsgebiete Opfer einer Täuschung geworden sind. Ich erinnere nur an manche Affairen aus der Geschichte des Hypnotismus einerseits und des Spiritistenschwindels andrerseits.

Gegen das Verhalten des Herrn Townsend erweckt am meisten Verdacht die Angabe, daß er „durch bloße Willensanstrengung oder sonstwie“ habe wieder zu sich kommen können. Das macht die ganze Sache unglaubwürdig. Menschen, deren Atmung lange stillsteht, machen keine „Willensanstrengung“. In dieser Hinsicht steht die Sache bei den indischen Fakiren besser, die sich, den Berichten zufolge, durch allerlei Manipulationen von anderen erwecken lassen.

Fakir ist ein arabisches Wort und bedeutet einen „Armen“; es wird aber in Europa speciell für die Asketen oder Büßer mohammedanischer und buddhistischer Religion angewandt, die sich selbst die härtesten Quälereien auferlegen, zum Teil wohl wirklich in religiös fanatischer Geistesstörung, zum andern Teil wohl aber auch mit der Absicht, aus diesen Schaustellungen Kapital zu schlagen und damit ihr Ansehen und ihren Einfluß zu heben und zu erhalten. Gerade bei den Fakiren der letzteren Art mag denn auch viel Lug und Trug mit unterlaufen.

Am besten werden wir auch hier an einen speciellen Bericht anknüpfen (den ich ebenfalls nach Verworn citiere):

„Am Hofe des Runjeet Singh war in einem viereckigen Gebäude, das in der Mitte einen ringsherum geschlossenen Raum besaß, ein Fakir, der sich willkürlich in den leblosen Zustand versetzt hatte, in einen Sack eingenäht und eingemauert worden, wobei die einzige Thür des Raumes mit dem Privatsiegel des Fürsten versiegelt worden war. Runjeet Singh, der selbst nicht an die wunderbare Fähigkeit der Fakire glaubte, hatte, um jeden Betrug auszuschließen, außerdem noch einen Kordon seiner eigenen Leibwache um das Gebäude gelegt, vor dem vier Posten aufgestellt waren, die zweistündlich abgelöst und fortwährend revidiert wurden. Unter diesen Bedingungen blieb der Fakir sechs Wochen in seinem Grabe.

Ein Engländer, der als Augenzeuge dem ganzen Vorgange beiwohnte, berichtet über die nach sechs Wochen erfolgte Ausgrabung folgendes: Als man das Gebäude in Gegenwart des Runjeet Singh eröffnete, zeigte sich, daß das Siegel und die ganze Vermauerung unversehrt war. In dem dunklen Raum des Gebäudes, der bei Lichtschein untersucht wurde, lag in einem ebenfalls versiegelten Kasten der Sack mit dem Fakir. Der Sack, der ein verschimmeltes [412] Aussehen zeigte, wurde geöffnet und die zusammengekauerte Gestalt des Fakirs herausgeholt.

Der Körper war völlig steif. Ein anwesender Arzt stellte fest, daß nirgends am Körper eine Spur von Pulsschlag zu bemerken war. – Inzwischen übergoß der Diener des Fakirs dessen Kopf mit warmem Wasser, legte einen heißen Teig auf seinen Scheitel, entfernte das Wachs, mit dem die Ohren- und Nasenlöcher fest zugeklebt waren, öffnete gewaltsam mit einem Messer die fest aufeinandergepreßten Zähne, zog die nach hinten umgebogene Zunge hervor, die immer wieder in ihre Stellung zurückschnellte, und rieb die geschlossenen Augenlider mit Butter.

Alsbald fing der Fakir an, die Augen zu öffnen, der Körper begann konvulsivisch zu zucken, die Nüstern wurden aufgeblasen, die vorher steife und runzelige Haut nahm allmählich ihre normale Fülle wieder an und wenige Minuten später öffnete der Fakir die Lippen und fragte mit matter Stimme den Runjeet Singh: ‚Glaubst du mir nun?‘“ –

Es ist nicht leicht, zu sagen, wie man sich zu einem solchen Bericht stellen soll. Nehmen wir als erwiesen an, daß der Fakir während der sechs Wochen das Gebäude nicht verlassen hat, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß er nun auch wirklich die ganze Zeit in dem versiegelten Sack gelegen hat. Nach den Produktionen, die wir heutzutage oft von geschickten Taschenspielern und von Spiritisten zu sehen bekommen, erscheint eine Täuschung durch den Fakir leicht möglich. – Viele unserer Leser werden schon in sogenannten antispiritistischen Vorstellungen erlebt haben, wie sich eine gefesselte Person im Dunkeln auf irgend welche Weise von ihren versiegelten Fesseln befreit, um dann nach Ausführung von allerhand Spuk schließlich wieder gefesselt aufzutauchen, mit unversehrten Siegeln. Hiergegen erscheint das, was der Fakir zu thun hätte, kinderleicht.

Verdächtig erscheint gerade die Einmauerung des Fakirs, die ja übrigens, wie aus dem Bericht hervorgeht, keine luftdichte war; der Raum hatte eine Thür, es kam also Luft hinein. Weit überzeugender wäre das Ganze, wenn der Fakir, uneingemauert, für alle sichtbar, dagelegen hätte.

Wenn wir nun aber auch einmal annehmen wollen, der Fakir habe während der sechs Wochen wirklich in seinem Sacke gelegen, so wissen wir damit noch immer nicht, ob sein Zustand während dieser Zeit thatsächlich als Scheintod bezeichnet werden kann. Es wäre ganz gut möglich, daß der Fakir in seiner Kammer die ganze Zeit teils schlafend, teils wachend in beschaulicher Ruhe zugebracht hat, vielleicht dabei fastend – wir kennen ja solche Hungerkünstler auch in Europa, und die Indier mögen darin noch weiter gekommen sein –, vielleicht kann er auch etwas Nahrung mit eingeschmuggelt haben.

Der Täuschung verdächtig sind alle bis jetzt beschriebenen Fälle – es braucht natürlich nicht eine so grobe Täuschung zu sein, wie man sie kürzlich bei einigen Fakiren entdeckte, die in Europa Gastrollen gaben und zu der Zeit, wo sie scheintod in ihren Särgen liegen sollten, von der auf eine Denunciation hin eindringenden Polizei dabei betroffen wurden, wie sie auf ihren Särgen saßen, Bier tranken und – glaube ich – Skat spielten.

Jedenfalls aber geben die Berichte über die Fakire, selbst wenn man gar keine absichtliche Täuschung dabei annimmt, uns keinen Beweis dafür, daß diese Leute imstande wären, wirklich ihre Lebensfunktionen ganz zu unterbrechen, namentlich das Herz und die Atmungsorgane zum völligen Stillstand zu bringen.

Mir scheint es am glaubhaftesten, daß diese Leute – ohnehin sehr bedürfnislos – sich durch Selbsthypnotisierung in einen Zustand verminderter Lebensthätigkeit und völliger Ruhe hineinbringen, der mit dem Winterschlafe mancher Tiere Aehnlichkeit haben mag, den Namen Scheintod aber doch kaum verdient.

Der Hokuspokus, der von diesen Leuten aus begreiflichen Gründen um ihre Produktion herum gemacht wird, erschwert uns eine klare Einsicht in das, was daran echt ist, natürlich sehr.

Wenn wir nun überlegen, was als wesentlichstes Ergebnis aller der genannten Beobachtungen über Scheintod zu bezeichnen wäre, so scheint das mir darin zu liegen, daß der Scheintod beim Menschen sich stets nur als eine Verminderung der Lebensthätigkeit darstellt, infolgederen bei einer nicht allzusorgfältigen Untersuchung der Eindruck der Leblosigkeit entstehen kann. Eine Aufhebung der wichtigsten Lebensfunktionen, ein Stocken des Blutumlaufs und der Atmung, im weiteren überhaupt ein Erlöschen des Stoffwechsels und der Reizbarkeit anzunehmen, haben wir jedoch keinen Grund. Wir müssen annehmen, daß das Herz auch beim scheintoten Menschen noch immer schlägt, wenn auch schwach. Damit ist dann aber auch ein gewisses geringes Maß von Stoffwechsel gegeben, da auch das arbeitende Herz stets Material, speciell auch Sauerstoff verbraucht und dafür Kohlensäure produziert.

Anders als beim Menschen liegen in Bezug auf den Scheintod die Verhältnisse bei gewissen Tieren. Da sind Beobachtungen gemacht worden, die sehr stark für einen vorübergehenden Stillstand der Lebensvorgänge sprechen.

Wir müssen freilich gleich einen großen Sprung im Tierreiche machen, nämlich zu den sogenannten niederen Tieren. Ich kann hier natürlich aus dem großen Material von Thatsachen, die vorliegen, nur einiges wenige nennen.

In dem trockenen Staube, den man von alten Dachrinnen abkratzen kann, und in dem Moos an alten Baumstämmen findet man zuweilen kleine Tierchen in vollkommen eingetrocknetem Zustand, ihrem Aussehen nach kaum von einem Sandkörnchen zu unterscheiden. Nur wer sie oft in dem trockenen Zustande gesehen hat, kann in diesen formlosen Klümpchen überhaupt etwas Tierisches vermuten. Von irgend welcher Bewegung ist gar nicht die Rede. Bringt man solche eingetrocknete Tierchen aber ins Wasser, so sieht man bald, daß sie nicht tot, sondern scheintot sind. Sie quellen auf, der Körper dehnt sich aus, wird durchscheinend und nimmt schließlich eine bestimmte tierische Form an.

Es sind zum Teil die sogenannten Rädertierchen, mikroskopisch kleine Geschöpfe, die mit den Würmern verwandt sind und an ihrem Vorderende ein sogenanntes Räderorgan besitzen, einen Kranz von Haaren, die in fortwährender zitternder Bewegung sind und mit deren Hilfe das Tier im Wasser vorwärts schwimmt. Andere derartig scheintote Geschöpfe sind die Bärentierchen oder Tardigraden, wie man sie wegen ihrer langsamen plumpen Bewegungen nennt. Sie haben acht kurze Beinchen und sind mit den Milben und Spinnen verwandt.

Man giebt an, daß diese Tierchen den Zustand der Austrocknung, in dem sie natürlich keine Nahrung aufnehmen können, jahrelang ertragen. Dies ist also ein typischer Fall von Anabiose, von Wiederaufleben nach einem totähnlichen Zustand. Er steht aber durchaus nicht vereinzelt; auch die Kleisterälchen, kleine fadendünne Würmchen, die in Weizenkörnern leben, können nach dem Eintrocknen wieder aufleben.

Am weitesten verbreitet ist aber die Anabiose bei niedersten Geschöpfen, die auf der Grenze von Tier- und Pflanzenreich stehen, und die man unter dem Namen Protisten (d. h. die ersten ursprünglichsten Geschöpfe) zusammengefaßt hat. Die Sache liegt aber bei ihnen etwas anders als bei den Bären- und Rädertierchen. Die Infusorien und Bakterien vermehren sich außerordentlich schnell, entweder dadurch, daß das kleine Geschöpf sich einfach in zwei Hälften teilt, die dann getrennt weiterleben und wieder bis zur ursprünglichen Größe heranwachsen, oder dadurch, daß der Leib in lauter kleine Körnchen zerfällt, die man als Sporen bezeichnet und welche die Eigenschaft haben, daß aus jedem von ihnen wieder ein ganzes Infusorium oder Bakterium entstehen kann.

Sind nun die äußeren Lebensbedingungen für diese Geschöpfe ungünstig, fehlt es beispielsweise an dem zum normalen Leben notwendigen Wasser, oder an Luft oder Nahrung, so werden Sporen von einer ganz besonderen Art gebildet, sögenannte Dauersporen, welche die Eigenschaft haben, gegen äußere Einflüsse außerordentlich widerstandsfähig zu sein. Sie bestehen aus einer mikroskopisch kleinen, äußerst festen Kapsel, die in ihrem Innern den eigentlich lebenswichtigen Teil, das Protoplasma, birgt. Durch die Kapsel wird die kleine Menge Wasser, welche zum Bestande eines lebensfähigen Keimes notwendig ist, zurückgehalten, auch wenn die Dauerspore lange Zeit an trockener Luft liegt, wenn sie, wie man zu sagen pflegt, lufttrocken geworden ist.

Solche lufttrockene Sporen ertragen nun Einwirkungen lange [413] Zeit, denen andere lebende Wesen in kürzester Frist erliegen. Während wirkliche lebende Tiere regelmäßig zu Grunde gehen, wenn ihre Innentemperatur in die Nähe von 50° Celsius Wärme kommt, können manche Bakteriensporen sogar einige Zeit gekocht werden, ohne daß sie absterben. Sie können auch in einen luftleeren Raum gebracht werden und dort lange Zeit belassen werden. Wenn sie nachher wieder in günstigere Lebensbedingungen kommen, Wasser, Luft, Nahrung und geeignete Temperatur erhalten, so entwickelt sich alsbald wieder die mit eigner Beweglichkeit versehene Form, die man unter dem Mikroskop lustig herumschwimmen sehen kann.

Die Fähigkeit, aus dem Scheintod der Dauersporen zum aktuellen Leben zurückzukehren, behalten manche Bakterien jähre- und jahrzehntelang, ja vielleicht noch viel länger.

Noch bekannter als von den Bakterien ist es von den höheren Pflanzen, daß sie einen Zeitpunkt in ihrer Entwicklung aufweisen, während dessen sie scheintot sind, d. h. scheinbar ganz unverändert bleiben und jeder Lebensäußerung entbehren, nämlich als Samen. Viele Samen kann man mehrere Jahre lang trocken aufheben, ohne daß sie die Fähigkeit verlieren, bei Einwirkung von Feuchtigkeit zu keimen. Gewisse Samen, die man in römischen Gräbern gefunden hat, und die dort über tausend Jahre gelegen haben müssen, sollen noch keimfähig gewesen sein. Man hat das auch von Getreidekörnern behauptet, die in ägyptischen Mumien gefunden wurden und demnach mehrere tausend Jahre alt waren. Es scheint aber, daß das ein Irrtum und dieser sogenannte Mumienweizen gefälscht war. Bei neueren Versuchen mit echtem Mumienweizen hat man immer gefunden, daß die Körner, die braun aussahen und mumienartig rochen, bei der Befeuchtung mit Wasser lehmartig zergingen. Niemals kamen sie zum Keimen.

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Erfreuliche Nachricht.
Nach dem Gemälde von Th. Grust.

Interessant sind auch die Beobachtungen von de Candolle, nach denen auf Alpenbergen an Stellen, wo jetzt ewiger Schnee liegt, im Erdreich unter dem Schnee keimfähige Samen gefunden wurden, die dort wahrscheinlich jahrhundertelang geruht haben. Ferner hat man in trockenem Waldboden Samen von Pflanzen gefunden, die dort gar nicht wachsen konnten, weil sie beispielsweise Sumpf- oder Wiesenboden brauchen. Man nimmt nun an, daß sie von einer früheren Vegetationsperiode herrühren, d. h. von einer längstvergangenen Zeit, wo an der Stelle des jetzigen Waldes Sumpf- oder Wiesenland war. Und diese ganze Zeit hindurch sind die Samen keimfähig geblieben.




Es bleibt uns jetzt noch übrig, festzustellen, inwieweit sich der wahre Scheintod, den wir bei Tieren und bei Pflanzenkeimen beobachten, vom Tode unterscheidet, d. h. was von den allgemeinen Lebenserscheinungen in diesem Zustand noch nachweisbar ist.

Zunächst können wir konstatieren, daß eine Lebenseigenschaft sicher erhalten geblieben ist, die Reizbarkeit. Denn wenn ein solcher Samen zu keimen beginnt, oder wenn ein Bärentierchen wieder auflebt, dann thun sie das ja nicht aus einer inneren Ursache, „spontan“, aus eigenem Antriebe, sondern stets nur auf einen äußeren Reiz hin. Die geeignete Keimtemperatur muß einwirken, Feuchtigkeit und Luft müssen vorhanden sein. Alles das sind Reize für das Tier oder den Samen. Besäßen die scheintoten Individuen nicht Reizbarkeit, so könnten sie nie mehr zum Leben erwachen.

Wir dürfen also sagen: Wo keine Reizbarkeit ist, ist kein Leben.

Nun fragt es sich noch, ob auch das zweite Hauptmerkmal, das wir bei allem und jedem Leben finden, der Stoffwechsel, auch im wahren Scheintod ununterbrochen fortbestehen muß, oder ob er unterbrochen sein kann.

Neuerdings scheint sich die Entscheidung dieser Frage mehr und mehr dahin zu neigen, daß in gewissen Fällen der Stoffwechsel, speciell die Atmung auf lange Zeit ganz aufgehoben sein kann, daß also bei Tieren und Pflanzen das vorkommt, was wir für den scheintoten Menschen unbedingt bestreiten mußten.

Die Bakterienkeime und die Bären- und Rädertierchen sind natürlich zu klein, als daß man an ihnen feststellen könnte, ob sie im scheintoten Zustande atmen, das heißt, ob sie Sauerstoff aufnehmen und Kohlensäure produzieren.

Dagegen hat man an Pflanzensamen und Tiereiern Untersuchungen über diesen Punkt anstellen können. Bohnen, Erbsen, oder Maiskörner hat man in ein Gefäß gebracht, aus dem alle Luft nach Möglichkeit ausgepumpt war, oder man hat sie in Gefäße gethan, in denen sie ganz von Quecksilber umschlossen waren.

In beiden Fällen fehlte also den Samen die Luft zur Atmung. Bei den Samen im luftleeren Raum hat man auch durch besonders feine Methoden nachweisen können, daß sie keine Kohlensäure ausgeatmet haben. Trotzdem sind sie nicht erstickt, denn als man sie an die Luft brachte und befeuchtete, keimten sie zum allergrößten Teile. Sie waren also wahr und wirklich scheintot im streng wissenschaftlichen Sinne.

Auch Schmetterlingseier hat man so behandelt. Auch sie halten den Aufenthalt im luftleeren Raum ziemlich lange aus. Bringt man sie nachher an die Luft, so schlupfen die kleinen Räupchen aus.

Ich möchte jetzt schließlich noch einen Umstand erwähnen, der für die Lehre vom Scheintod sehr wichtig ist, und den wir gelegentlich schon berührt haben, nämlich den Einfluß der Kälte.

Für alle Lebensprozesse giebt es eine bestimmte Temperatur, bei welcher der Prozeß am besten und energischsten vor sich geht; bei niedrigerer Temperatur läßt die Energie der Lebensvorgänge dann nach, und es giebt eine Temperaturgrenze, bei welcher die Thätigkeit der lebendigen Substanz überhaupt stockt.

Bei diesem Kältegrad braucht nun aber das Leben nicht für immer zu erlöschen, es braucht nicht Tod einzutreten, sondern es kann Scheintod eintreten.

Eine Annäherung an Scheintod finden wir ja schon bei dem mehrfach erwähnten Winterschlaf mancher Tiere, der (beim Murmeltier) übrigens nicht bei großer Kälte, bei Frost, eintritt, [414] sondern am leichtesten bei etwa 10° C Wärme. Die Gefrierpunktstemperatur erweckt das Tier sogar aus seinem Schlafe.

Interessante Beobachtungen hat man nun auch wieder über die Einwirkung von Kälte auf niedere Tiere machen können.

Man hat darüber gestritten, ob es möglich sei, daß Tiere, die gefroren sind, zu Eis erstarrt, nach dem Auftauen wieder zum Leben zurückkehren können. Früher hat man das allgemein behauptet, man sagte z. B., in Grönland frören die Fische in den bis auf den Grund gefrierenden Bächen mit ein und würden beim Auftauen im Sommer wieder lebendig; auch von den Karauschen in sibirischen Seen hat man das angegeben.

Entgegen diesen Angaben hat der Physiologe Kochs kürzlich allerdings bestritten, daß es überhaupt möglich sei, durch und durch gefrorene Tiere wieder zum Leben zu bringen. Er hat Frösche und Wasserkäfer, die im Wasser eingefroren waren, untersucht; solange die Tiere nur von Eis umgeben waren, konnten sie nach dem Schmelzen des Eises wieder lebendig werden; waren sie aber bis ins Innere gefroren, so waren und blieben sie tot.

In einem noch nicht aufgeklärten schroffen Gegensatze zu diesen Ergebnissen stehen die Resultate der Versuche Pictets, die in den letzten Jahren viel von sich reden machten. Nach diesen sollen hartgefrorene Fische, Frösche und einige andere niedere Tiere bei langsamer Erwärmung wieder aufleben können.

Zum Schlüsse möchte ich das Hauptergebnis der vorstehenden Betrachtungen nochmals in Kürze zusammenfassen: die Lebensvorgänge in einem Organismus können durch eine Zeit völligen Stillstandes unterbrochen werden, zwar nicht beim Menschen und den höchststehenden Tieren, wohl aber bei vielen niederen Tieren, bei den Eiern mancher Tiere und bei den Samen vieler Pflanzen.

Solch ein Stillstand des Lebens kann durch Austrocknung und große Kälte erzeugt werden. Während dieses Scheintodes fehlen alle Aeußerungen des (aktuellen) Lebens, und nur die Eigenschaft der Reizbarkeit bleibt immer bestehen. Für das eingetrocknete Tier ist es das Wasser, für das gefrorene die Wärme, die den Reiz zur Anabiose, zum Wiederaufleben, bildet. – Der Scheintod beim Menschen ist von ganz anderer Art, er stellt keine Unterbrechung, sondern nur eine zeitweilige Verminderung der Lebensvorgänge dar, und genaue Untersuchung wird ihn in allen Fällen vom wahren Tode unterscheiden lassen, auch durch andere Kennzeichen als das Fortbestehen der Reizbarkeit, nämlich durch Stoffwechselvorgänge, besonders aber auch durch Fortbestehen der wenngleich stark verminderten Atmung und Herzthätigkeit.




Ausgeglichen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

Frau Marie Swarteborn saß in ihrem Wohnzimmer vor dem festlich geschmückten Frühstückstisch. Sie hielt eine schön gehäkelte Schlummerrolle in den Händen und strich mit den rundlichen Fingern sanft über die bunten, weichen Fäden. „Ich danke dir, Kind, daß du den Geburtstag deiner armen Mutter nicht vergessen hast,“ sagte sie zu ihrer Tochter. Dann legte sie das Geschenk hin, suchte ihr Taschentuch hervor, um sich damit über die Augen zu fahren, und fuhr in weinerlichem Tone fort: „Ich werde zwar wenig Freude an ihr haben, denn du sollst sehen, heute bekomme ich meine Kopfschmerzen nach Tisch wieder, und dann jeden Tag, wer weiß wie lange – wie jedesmal im Frühling; und sie sind immer am stärksten, wenn ich mit dem Nacken auf etwas Gehäkeltem liege. Ich bin eben eine unglückliche Frau; wenn mir einmal einer eine Freude machen will, geht es immer schief, und selbst an meinem Geburtstag fängt der Aerger gleich frühmorgens an. Die Milch ist sauer geworden, und die Brötchen sind alle angebrannt, da sieh nur! Nimm die Rolle nur weg, Gertrud, sonst kommt gewiß ein Butterfleck darauf.“

Das Mädchen erfüllte schweigend den Befehl. Es war an diese Aufnahme seiner Geschenke gewöhnt. Es wußte stets im voraus genau, was die Mutter sich zu Weihnachten und zum Geburtstag wünschte, und es wußte ebenso genau, daß sie das Gewünschte nur mit Klagen und Seufzen annehmen und als eine Bereicherung ihrer Leiden betrachten werde. Diese Aufnahme entsprang nicht etwa aus irgend einem mütterlichen Groll. Gertrud hatte sich nie etwas gegen die Mutter zu schulden kommen lassen, und Frau Marie war in ihrer Weise stets liebevoll und dankbar gegen sie; auch würde sie es noch viel schmerzlicher beklagt haben, wenn das Geschenk der Tochter einmal ausgeblieben oder anders ausgefallen wäre, als sie es sich bestellt hatte. Beklagen aber mußte sie es auf jeden Fall; denn das war ihr unerläßlich zum Leben. Seufzer und Klagen waren das Echo, mit dem ihre Seele wie eine Aeolsharfe auf jeden Hauch antwortete.

Eine solche Vollendung in der Trauerseligkeit erwirbt man sich erst allmählich, wie jede Virtuosität. Als Herr Swarteborn um seine Liebste freite, trug ihr Wesen nur erst einen sanften Hauch von Schwermut, der den Liebreiz des hübschen Mädchens noch erhöhte – wenigstens in den Augen des Liebhabers. In dem stillen Klima einer gesicherten, von wirklichen Sorgen ungetrübten Häuslichkeit hatte sich der Nebelhauch dann nach und nach zu einem dauerhaften Landregen verdichtet. Etwas Selbstgerechtigkeit war wohl auch dabei. Frau Marie war eine gute Hausfrau, sie war so sehr Hausfrau, daß sie sich in ihrem wohlgeordneten häuslichen Kleinstaat allmählich gegen die Außenwelt ab- und einspann wie eine fleißige Spinne, und so empfand sie es als ein unverdientes Unglück, wenn doch einmal ein Fädchen riß, bis sie zuletzt zu der Ueberzeugung kam, daß sie nun einmal bestimmt sei, unverdient zu leiden.

Die Beweise für diese Ueberzeugung suchte sie sich, auch in diesem Punkte ganz die ordnungsliebende und emsige Hausfrau, unermüdlich und mit einem gewissen Behagen zusammen; wenn es ihr einmal glückte, an einem Tage eine ganze Summe verdrießlicher Zwischenfälle und kleiner Mißgeschicke zu erleben, dergleichen eine heitere Frau mit einem Scherz oder einem Liebesgedanken übergeht, so fühlte sie sich fast so wohlig, wie wenn sie am letzten Tage eines großen Hausputzens todmüde und im doppelten Sinne „fertig“ durch ihre Wohnung wandelte. Der Gatte ergab sich in ihr Wesen, nach mehreren ungeschickten Versuchen, es zu ändern; er fuhr fort, mit der vielen Männern eigenen Eitelkeit, seine Frau vor anderen und zumal vor unverheirateten jüngeren Freunden als Vorbild eines wahrhaft häuslichen Weibes zu preisen, und suchte für die edlere Geselligkeit, die sie ihm versagte, Ersatz in ruheloser kaufmännischer Arbeit. Er rechnete und spekulierte, bald gut, bald schlecht; als ihn, noch in besten Jahren, ein schneller Tod am Schreibtisch überraschte, hinterließ er immerhin genug, daß seine Witwe und sein einziges Kind davon anständig und sorgenfrei leben konnten.

Seitdem waren fünfzehn Jahre verflossen. Gertrud hatte sich in dieser Frist zu einem schönen, großen Mädchen entwickelt, und Frau Marie hatte unablässig an ihrem grauen Gespinst weitergesponnen, sie empfand sich vollkommen als Märtyrerin. Sie gedieh aber dabei zu einer behäbigen Rundung, da sie sich und ihren Hausgenossen nichts abgehen ließ. Lange hielt es gleichwohl keiner bei ihr aus; ihre Dienstboten wechselten wie die Gäste in einer Bahnhofwirtschaft, ihre Freundinnen hatten sich mehr und mehr von ihr zurückgezogen, da es keiner erträglich schien, auf die Dauer mit einer Frau zu verkehren, die sämtliches Hausfrauenelend für sich beanspruchte und teilnahmesuchende Klagen stets mit einem „Ach, wenn Sie erst an meiner Stelle wären“ – ablehnte. Auch die Mieter, für welche Frau Marie einige hübsch ausgestattete Zimmer zu billigem Preise offen hielt, blieben selten lange, denn die schönste Gegend wird unleidlich, wenn es in ihr immer regnet, und es gab unter ihnen einige – besonders jüngere Herren – die das kühle, zurückhaltende Benehmen der schönen Tochter mit dem Groll enttäuschter Eitelkeit nur für einen Vorzustand der mütterlichen Trauerseligkeit nahmen und ihren Bekannten versicherten: „Passen Sie auf, die wird gerade so!“

Weit besser gefiel diesen Menschenkennern eine Freundin der Haustochter, ein Fräulein Siebold, das am meisten von allen früheren Schulschwestern Gertruds in dem Swartebornschen Hause verkehrte. Diese junge Dame war stets geneigt, etwas länger zu bleiben, wenn sie bei ihren Besuchen mit einem neuen Mietsherrn zusammentraf; sie lehnte auch eine im Hinblick auf die abendliche [415] Unsicherheit der Straßen angebotene Begleitung nach Hause niemals ab und nahm jedes galante Gespräch an, mit einer gewissen Schüchternheit, die aber schlecht eingeübt war und deshalb nie recht klappte; es kam vor, daß sie manchmal eine gewagte Schmeichelei selbstgefällig und freundlich anhörte, aber gleich darauf das unverfänglichste Wort mit einem „Aber nein, mein Herr, ich muß doch bitten –“ entrüstet abwies. Wie alle von Haus aus harmlosen und kindgebliebenen Menschen besaß sie einen starken Hang zu Süßigkeiten und Näschereien, sie konnte ganze Teller von Frau Swarteborns berühmtem Eingemachten auslöffeln, während sie mit großer Geduld die Klagen der gastfreien Dulderin anhörte und nur zuweilen mit einem mitleidig gläubigen „Kolossal!“ unterbrach. Dies war ihr Lieblingswort; es stand in einem wunderlichen Gegensatz zu ihrer Erscheinung, denn sie war, was man in manchen Gegenden ein Pusselchen nennt, eine kleine Blondine mit roten Pausbacken, runden Aermchen und kurzen dicken Fingerchen; dazu kleidete sie sich mit Vorliebe in majestätische Farben, tiefrot oder purpurn, wodurch das Wulstige ihrer Gestalt noch mehr hervortrat. Uebrigens war sie die einzige Tochter eines alten Freundes von Gertruds Vater, eines höheren Postbeamten, und hieß mit Vornamen Therese, nannte sich aber Thea, weil sie das romantischer fand; „und für das Romantische bin ich kolossal,“ pflegte sie zu versichern.

Zu der ruhigen, überlegenden Art Gertruds paßte Thea keineswegs, auch war ihr Verkehr eben nur eine Fortsetzung der Schulkameradschaft, des gemeinsamen Schulwegs, zusammen verfertigter Aufsätze und wechselnder Kinderbesuche von Haus zu Haus. Dergleichen wächst sich leicht zu einem Umgange aus, der unter dem Namen und gewissen zärtlichen Formen der Freundschaft das Ende der Schul- und Pensionatszeit jahrelang überdauert, zumal wenn die eine der beiden „Freundinnen“ leiblich und geistig der andern weit genug nachsteht, um in keinem Punkte ihre Eifersucht zu wecken. Wenn Gertruds Vorstellungen von einer wahren Freundschaft über diese Art Umgang hinausgingen, so sagte sie Thea jedenfalls nichts davon; sie nahm die Besuche Theas freundlich auf, erwiderte sie, wenn auch seltener, hörte ihre „romantischen“ Schwärmereien und Einfälle an, widersprach ihnen und grämte sich nicht viel, wenn Thea sich nicht an den Widerspruch kehrte. Neuerdings hatte sie sich aber durch Theas Bitten zu einer Hilfeleistung verleiten lassen, die ihr arge Gewissensbisse machte.

Das romantische Fräulein hatte ihr eines Tages gebeichtet, daß es mit einem Herrn in schöngeistigem Briefwechsel stehe, und zwar, was die Sache noch romantischer machte, ohne daß die beiden briefwechselnden Schöngeister einander auch nur mit dem Namen kannten. Der Unbekannte hatte sich durch eine Zeitungsanzeige unter wehmütigem Hinweis auf seine Sehnsucht nach poetischem Gedankenaustausch mit einem edlen weiblichen Wesen und auf seinen Mangel an Damenbekanntschaft bereit erklärt, mit einem idealstrebenden Fräulein in Briefwechsel zu treten. Thea Siebold hatte darauf nach der in dem Gesuch angegebenen Handelsstadt unter der gleichfalls angegebenen Aufschrift „Marquis Posa 713 postlagernd“ einen ersten Brief gesandt, den sie mit „Psyche 111 postlagernd“ unterzeichnete. Der durchaus romantische Stil der „postlagernden Psyche“ schien dem neuen Marquis Posa zu gefallen, er erwiderte darauf mit einem Briefe, in dem eine Menge poetischer Lesefrüchte auf einer ganz für Theas Geschmack geschaffenen Brühe von weltschmerzlichem Selbstlob und billigen Schmeicheleien schwamm, und so hatte sich der zierliche Gedankenaustausch drei- oder viermal wiederholt. Nun aber war für Thea ein sehr betrübender Zwischenfall eingetreten: die Putzfrau, von der sie bisher – aus Angst vor der postalischen Wachsamkeit ihres Vaters – die Briefaufschriften besorgen und die postlagernden Ansichten des „Marquis Posa“ abholen ließ, war aus dem Ort verzogen, und dies gerade zu einer Zeit, wo Thea einen unvergleichlichen Brief fertig hatte und einen ähnlichen Herzenserguß ihres „Marquis“ erwartete. In dieser Not wandte sie sich an Gertrud, um dieser die Geschichte zu beichten und sie zu bitten, daß sie einstweilen die Rolle der Putzfrau übernehme.

Gertrud erschrak doch, als sie von dieser neuesten romantischen Dummheit ihrer Freundin hörte; sie sagte ihr sehr deutlich ihre Ansicht und weigerte sich entschieden. Thea war sehr zerknirscht, bat immer kläglicher und versicherte zuletzt, im Vertrauen auf Gertruds Unkenntnis der Postbestimmungen, der nicht sogleich abgeholte Brief des „Marquis“ werde ihrem Vater zum Durchlesen gegeben werden, der an gewissen Anspielungen die Adressatin erkennen müsse. Sie habe ohnedies jetzt so viel von ihrem Vater zu leiden, da er sie durchaus mit einem seiner jungen Beamten verlobt sehen wolle. Auf die Erörterung dieser neuen Herzensangelegenheit ließ sich Gertrud nicht ein, in der Hauptsache gab sie schließlich nach, nachdem ihr Thea versprochen hatte, in einer Nachschrift den Briefwechsel aufzukündigen und Zurücksendung der Briefe zu fordern.

Für Thea war die Angelegenheit damit nach Wunsch erledigt, sie umarmte Gertrud stürmisch, trocknete ihre Thränen und machte sich alsbald auf, um noch eine andere Freundin zu besuchen, in deren Hause ein sehr interessanter Vetter, ein Maler aus München, auf der Durchreise eingekehrt sei. Gertrud aber wandelte die nächsten Tage mit dem lähmenden Unbehagen umher, welches das Bewußtsein einer unerledigten lästigen Verpflichtung auferlegt.

Als sie zum erstenmal – gegen Abend – an den Schalter trat, über dem die Inschrift „Postlagernd“ prangte, erschrak sie über die Menge von Nachfragenden; es war ihr, als ob sie plötzlich auf einer Anklagebank neben allerlei anderen Verbrechern säße; als dann die Reihe an sie kam und der alte Beamte hinter dem Schalter sie wirklich mit einer Art Untersuchungsrichterblick fragend anstarrte, brachte sie ihr „Psyche 111“ so undeutlich hervor, daß der Alte nur mit einem ungeduldigen „Wie?“ antwortete. Sie errötete sehr, als sie das alberne Merkwort lauter wiederholte und dabei die Augen eines jüngeren schwarzbärtigen Herrn, der im Innern des Zimmers arbeitete, neugierig auf sich gerichtet sah. Zu allem Unglück war auch gar nichts für Psyche da.

Gertrud hätte am liebsten das Postgebäude niemals wieder betreten. Aber Thea drängte und bat, und so wagte sie sich am Geburtstag der Mutter nochmals hin, diesmal vormittags, da Thea sie belehrt hatte, daß es um diese Zeit vor den Schaltern nicht so voll sei. Sie war auch wirklich die einzige in dem langgestreckten Warteraum; dafür folgten ihr jetzt hinter allen Schaltern her neugierige Blicke der Beamten, und unter der Aufschrift „Postlagernd“ saß diesmal jener junge dunkelbärtige Sekretär, der sie das vorige Mal so prüfend betrachtet hatte. Er war weniger schwerhörig als der Alte und erwiderte sehr höflich: „Bedauere sehr, mein Fräulein!“ Dabei aber sah er ihr wieder mit einem so seltsamen Ausdruck, zugleich bewundernd und verwundert, in das errötende Gesicht – sie hätte nun doch viel lieber den alten Mürrischen mit seinem geschäftsmäßig kurzen „Nichts da!“ vor sich gehabt. Sogleich nahm sie sich vor, am Nachmittag Thea aufzusuchen und ihr den lästigen Freundschaftsdienst zu kündigen. Als sie aber zur üblichen Theebesuchszeit diesen Vorsatz ausführte, hörte sie, daß Thea auf ein paar Wochen aufs Land verreist sei, zu einem weizenbauenden Onkel, und sie mußte sich begnügen, ihr ihre Meinung in einem Briefchen zurückzulassen.

Bei der Heimkehr sah sie vor der Hausthür eine große Handkarre halten, mit mehreren Koffern und Kisten beladen, während zwei Dienstmänner eben eine schwere Bücherkiste die Vortreppe hinaufschleppten. Bei ihrem Eintritt vernahm sie von diesen, das gehöre alles dem neuen Mieter für die beiden Zimmer im ersten Stock nach dem Garten zu. Es scheine ein sehr feiner Herr zu sein; die Sachen hätten noch auf dem Bahnhof gestanden, er sei erst seit ein paar Wochen in der Stadt und habe bis jetzt im Gasthof gewohnt.

Während Fräulein Gertrud sich noch berichten ließ, kam Frau Swarteborn mit dem neuen Meter aus den Zimmern; sie schien ziemlich gut bei Mute, wie immer wenn es etwas Tüchtiges und Eiliges im Hause zu thun gab, und lächelte sogar ein wenig, als sie ihre Tochter mit dem neuen Hausgenossen bekannt machte. Gertrud aber verging das Lächeln; denn der Herr Postsekretär Hartwig Hoven, den ihr die Mutter da vorstellte, war derselbe Beamte, der sie am Vormittag so freundlich bedient hatte; und obgleich sie – vermutlich wegen des durch die geöffneten Thüren grell einfallenden Abendlichtes – die Augen wegwandte, meinte sie doch deutlich auf ihren heißen Wangen wieder den verwundert forschenden Blick zu fühlen, während Herr Hartwig Hoven sich mit einigen scherzhaften Worten äußerst höflich und ruhig wegen seines plötzlichen Einbrechens entschuldigte.


2.

Eine freundlich gelegene, schön ausgestattete Wohnung mit aufmerksamer Bedienung hatte Frau Swarteborn auf ihrem [416] Anschlagzettel verheißen, und Hartwig Hoven konnte mit der Erfüllung des Versprechens in jeder Hinsicht zufrieden sein. Die Wohnung war wirklich freundlich, sie wurde es noch mehr durch die Gunst des Frühlings, der jetzt nach den letzten Rückzugsgefechten des April als ein milder Sieger herrschte und die reinlichen, wohlausgestatteten Räume mit Sonnenschein und Fliederduft erfüllte. Und eine Bedienung hatte Hartwig Hoven, so aufmerksam, gewandt und anmutig, wie sie sich kein Fürst besser wünschen konnte. Ein Umstand, der für Frau Swarteborn freilich ein Quell schwerer Bekümmernis und endloser Klagen war, bot den Anlaß hierzu. Das Dienstmädchen hatte wieder einmal gekündigt, ein neues ließ sich trotz aller Anstrengungen von Mutter und Tochter nicht so schnell gewinnen, und so kam es, daß auf Hovens Zimmern, wenn auch meist nur in seiner Abwesenheit, ein angenehmerer Hausgeist waltete. Kein Grenadierschritt geschirrzerbrechender Mägde störte ihn in den Stunden des Ausruhens und Studierens, auch die elegische Aufmerksamkeit der Wirtin behelligte ihn nur ab und zu auf der Treppe oder im Hausflur, wo er dann die Aufzählung etlicher Posten aus ihrer Kummerrechnung höflich anhörte und sich mit einem Trostworte loskaufte. Hatte er aber einmal ein besonderes Anliegen, so erschien die schöne Haustochter, um seine Wünsche entgegenzunehmen, mit einer sanften und fast demütigen Miene, als hätte sie ihm stets etwas abzubitten.

Hartwig Hoven durfte sich dieser weiblichen Sanftmut ohne Verwunderung freuen, da er bisher ja mit Gertrud nicht näher verkehrt hatte. Frau Marie Swarteborn aber war schon längst durch ihre unablässige Selbstbetrauerung davon entwöhnt, auf den Seelenzustand ihrer Umgebung zu achten; sonst hätte ihr wenigstens die heitere Ergebung auffallen müssen, mit welcher Gertrud jetzt auch die ungerechtesten Vorwürfe hinnahm. In den ersten Tagen hatte Gertrud sich nur mit Zittern und Zagen der Mutter genähert; denn trotz aller Bemühungen war es ihr ja doch nicht möglich, zu verhindern, daß der neue Mieter mit der Hausfrau zusammentraf und vielleicht mit einer ganz harmlosen Bemerkung auf ihre heimlichen Postgänge anspielte. Alsdann aber hätte die beredteste Darlegung des unverfänglichen Sachverhalts nichts geholfen – die Mutter würde den winzigen dunklen Punkt im Betragen ihrer Tochter doch in ihre Klageliste aufgenommen haben, um ihn bei jedem Anlaß in ungeheuerer Vergrößerung wieder hervorzuheben. So oft Gertrud in diesen Tagen das Taschentuch in der mütterlichen Rechten sah und den wohlbekannten Eröffnungsseufzer vernahm, war sie auf ein peinliches Verhör gefaßt. Sie fühlte sich unendlich erleichtert, wenn dann nur eine Klage über nachträglich entdeckte Sünden der vorigen Magd oder über einen nächtlichen Straßenlärm erfolgte, oder eine mit breiter Sachkenntnis vorgetragene Betrachtung über eine drohende Gesundheitsstörung, die sich zweifellos hinter dem Ausbleiben der sonst üblichen Frühlingskopfschmerzen verberge. Herr Hoven hatte also noch nichts von ihrem ersten Zusammentreffen verraten! Während der ersten Tage hielt sie es für Zufall, jedesmal, wenn sie ihm begegnete, war sie fest entschlossen, ihn zu bitten, daß er auch ferner darüber schweige, aber sie fand das erste Wort nicht und es blieb stets bei dem einleitenden Erröten. Da er aber auch ihr gegenüber nie auf die Begegnung am Postschalter anspielte, so fing sie allmählich an, sein Schweigen auf Rechnung einer rücksichtsvollen Ritterlichkeit zu setzen, und ihre Angst vor dem gefährlichen Mitwisser verwandelte sich in eine wunderliche Neugier, was er wohl von der Sache denke.

Jedenfalls fühlte sie sich ihm zu Dank verpflichtet, und für ihr einfaches und gesundes Empfinden war dieses Gefühl gleichbedeutend mit dem Bestreben, den Dank auch zu bezeigen. Bescheiden danken ist eine weibliche Kunst, oder vielmehr die weibliche Natur versteht es von selbst besser, als alle männliche Philosophie es lehren mag: sie beschränkt ihre dankbare Fürsorge nicht auf den Spender, sie läßt sie auch allem zu gute kommen, was ihm besonders wert scheint. Hartwig Hoven hatte noch nie in einem Hause gewohnt, wo er die eigensinnigen Gewohnheiten, mit denen sich jeder Mann nach seiner besonderen Weise den Wohnraum erst wohnlich macht, so folgsam beachtet fand – aber auch noch nirgendwo hatte man seine mancherlei Andenken an eine allzu früh verlorene Heimat, an Freunde und Freuden: Bilder und andere schmückende Kleinigkeiten auf dem Schreibtisch und an den Wänden, so sorgsam und sauber gehütet – vor allem seine Bücher, die in schönen Einbänden ein stattliches Doppelregal füllten und alles in allem wohl seine treuesten Gesellen waren. Kein Stäubchen auf Einband und Schnitt entging Gertruds Federbesen. Hier allein fühlte sie sich zuweilen auch versucht, eigenmächtig in die Ordnung des Eigentümers verstohlen einzugreifen; denn wie alle Frauen betrachtete sie auch die Aufstellung von Büchern vor allem nach den Regeln des Ebenmaßes, und es war ihr eine Art Augenschmerz, einen kleinen Oktavband mit goldener Aufschrift auf dem roten Rücken einsam und fern von seinen gleichgroßen und gleichgekleideten Genossen zwischen zwei dicken Riesen in braunem Lederband zu sehen, wie einen lustigen Pagen zwischen zwei Kapuzinern, bloß weil vielleicht der Inhalt irgend eine fachliche Verwandtschaft mit den braunen Nachbarn aufwies.

Ueber solchen rebellischen Gedanken traf Hartwig Hoven sie eines Tages, als er zu ungewohnter Stunde seine Wohnung betrat. Er entschuldigte sich höflich und bat sie, sich nicht stören zu lassen – er wollte nur einige Cigarren einstecken. Sehr eilig schien er es damit nicht zu haben, er kramte ziemlich lange an dem Tische hinter ihr herum, und als sie sich verstohlen umsah, saß er sogar auf dem Sofa und betrachtete sie so angelegentlich, als ob er die Cigarren völlig vergessen habe. Sie wurde rot, und um nur etwas zu sagen, bemerkte sie: „Sie haben aber viele Bücher! Wozu brauchen Sie die nur alle?“

Es war jedenfalls eine sehr dumme Bemerkung, sie fühlte das, während sie sprach, und war schon auf ein spöttisches Lachen gefaßt. Hartwig Hoven aber lächelte nur ein wenig und erwiderte, indem er sich erhob und näher trat: „Wissen Sie denn, was in den Büchern steht?“

Sie nahm sich zusammen. „Hier diese“ antwortete sie und deutete mit dem Federwedel auf das erste Regal, „handeln alle von Geographie, Staaten- und Völkerkunde, Forschungsreisen und dergleichen. Ich habe es von den Einbänden abgelesen. Sie sind aber doch kein Forschungsreisender und überhaupt kein Gelehrter von Beruf.“

„Das nicht,“ erwiderte er ungekränkt. „Aber ich gebrauche sie doch für meinen Beruf als Postbeamter; oder vielmehr für mich, um diesen Beruf, in dem ich nur ein einzelner Soldat bin, recht aufzufassen, seine Grundlagen, seine Ursache und Bestimmung, alles, was ihn fördert und hemmt, schätzen zu lernen.“

Sie sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. „Das verstehe ich noch nicht,“ sagte sie ehrlich und erhob ihre Augen lernbegierig zu ihm.

„Nun,“ fuhr er fort, „ich will versuchen, Ihnen zu sagen, was ich meine. Sehen Sie, alle diese Bücher da, deren Inhalt Sie an den Aufschriften erkannt haben, dienen am letzten Ende doch alle dem einen Zweck, unser Wissen über die Erde und die Völker und Staaten der Erde zu erweitern. Dieses Wissen aber ist erst die Grundlage dessen, was wir den Weltverkehr nennen; oder vielmehr es steht damit in Wechselwirkung: je mehr die Völker voneinander wissen, um so geordneter und häufiger können sie miteinander verkehren, und je mehr sie friedlich miteinander verkehren, um so mehr lernen sie voneinander kennen. Und unter all den Einrichtungen, die diesem friedlichen Verkehr dienen, ist die scheinbar bescheidenste vielleicht doch auch die wichtigste: die Post! Es ist ja heute leichter und sicherer, über den Ocean zu reisen, als früher von einer Stadt zur nächsten; aber es ist doch immer nichts Leichtes. Der Mensch ist eine schwerfällige Ware. Da schickt er statt seiner das leichte Wort: er vertraut es geschrieben, gedruckt dem Papier an, oder er giebt es dem elektrischen Strom, der es im Augenblick Hunderte von Meilen weit trägt. Das alles besorgt die Post. Sie sammelt die Aufträge von all den Millionen Menschen eines großen Landes, und indem sie deren Ausführung in ihrem einen gewaltigen, bis ins kleinste geregelten Betrieb zusammenfaßt, verringert sie für den einzelnen die Kosten, während sie ihm zugleich für die Sicherheit und Unverletzlichkeit seiner Bestellung bürgt. Sie verknüpft die Völker und Länder rund um die Erde mit friedlichen Verträgen und läßt das Schreckliche des Raumes schwinden, der vordem den armen Auswanderer auf immer von den daheimgebliebenen Lieben schied; denn für wenige Pfennige trägt sie aus dem fernen Lande, über Meere und Erdteile, seine Grüße herüber, sicherer, als ein heimreisender Freund es vermöchte.“

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Abschiedsstunde.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[418] Während Hartwig Hoven so sprach, lauschte Gertrud aufmerksam, ihre Züge waren nachdenklich gespannt und ihre großen braunen Augen glänzten. Ihre bisherige Vorstellung von dem Wesen der Post hatte sich eigentlich auf die wenigen Punkte beschränkt, an denen sie mit diesem Wesen unmittelbar in Berührung kam. Die Post war für sie eine selbstverständliche Staatseinrichtung, mit einem Briefkasten am einen Ende und einem Briefträger am andern, und angenehm zu benutzen: hatte man eine geschäftliche oder freundschaftliche Bestellung in der Stadt und keine Zeit, die Sache mündlich zu erledigen, so schrieb man sie auf eine Postkarte, steckte diese in den Kasten und am selbigen, spätestens am folgenden Tage trug der Briefträger die Karte zum Empfänger. Zuweilen, besonders um Weihnachten und Neujahr, verspätete sich eine Sendung, und dann pflegte man auf die Post zu schelten. Von dem Innern dieses seltsamen Betriebes und seiner Bedeutung aber hatte sie sich nie eine Auffassung gebildet, selbst im Hauptpostgebäude ihrer Vaterstadt war sie nur selten und ungern gewesen, und ihre jüngsten Besuche dort lasteten ihr noch schwer auf dem Gewissen. Nun trat ihr aus den begeisterten Worten des jungen Beamten auf einmal ein so gewaltiges Bild entgegen, daß sie Mühe hatte, es zu erfassen. Ebenso neu aber und noch ergreifender war ihr eben dies, einen Mann so begeistert und groß von seinem Beruf reden zu hören. Denn ihr Umgang war, dank der wehleidigen Art ihrer Mutter, nicht ausgedehnt, und die jungen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, pflegten den Beruf mehr oder minder deutlich als eine Lebensversorgung zu betrachten oder als die Leiter zu einem, wie sie klagten, nur zu spät zu erreichenden sorgenlosen Genießen.

Da sie noch immer schwieg, lächelte Hartwig Hoven etwas verlegen und sagte in seinem gewöhnlichen Tone: „Ich fürchte, ich bin mit meinem Erklärungsversuch nur erst recht ins allgemeine gekommen und habe Sie mehr verwirrt als überzeugt.“

„O nein,“ antwortete sie lebhaft, „ich bin Ihnen sehr dankbar! Ich glaube, ich habe es verstanden und werde noch viel darüber nachdenken. – Wie glücklich Sie sind, daß Sie einen Beruf erwählen durften, der Sie so voll befriedigt! – Ich meine, darin sind die Herren überhaupt bevorzugt. Unsereins hat es selten so gut.“

Er sah sie überrascht an. „Darüber wird ja jetzt viel gedruckt und geredet,“ sagte er. „Man verlangt mehr weibliche Erwerbszweige, Zulassung der Frauen zu Berufen, die ihnen bisher verschlossen schienen – es ist viel guter Wille in diesen Bestrebungen, und sie werden gewiß auch ihr Gutes bewirken. Aber im großen und ganzen ist es doch nur eine Sache der Not, eine Forderung zu gunsten solcher, die unter dem Zwang ungesunder äußerer Verhältnisse leiden. Der Beruf des Weibes liegt nicht draußen in der Oeffentlichkeit, und es bleibt eine Verirrung, sich ohne dringende Veranlassung aus ihm nach irgend einem minder hohen Wirkungskreise zu sehnen, denn kein anderer Beruf ehrt seine Arbeiterinnen so hoch und keiner braucht sie so nötig.“

Nun lächelte sie, fast schalkhaft. „Ich würde aber doch gern auch teilnehmen an den höheren Interessen, um derentwillen die Herren so viel studieren.“

Er lachte ein wenig und steckte nun wirklich seine Cigarren ein. „Trösten Sie sich,“ sagte er, „manche Dinge lernt man auch anders als aus Büchern, und am besten ist es, wenn man sie gelernt hat, ohne es zu wissen.“ Damit schüttelte er ihr herzhaft die Hand und empfahl sich.

Es vergingen einige Tage, ehe sie wieder ihr wirtschaftliches Amt zu einer Unterhaltung mit dem jungen Beamten kommen ließ, der von seinem Berufe so hoch dachte. Vom Buchbinder waren einige frischgebundene Werke für ihn abgegeben worden und er hatte sich erlaubt, Fräulein Gertrud herbeizurufen, um ihren Rat bei der Unterbringung der Bände in Anspruch zu nehmen. „Die Bücher hier auf dem zweiten Regal,“ fragte sie dabei, „brauchen Sie doch aber nicht zu Ihrem Beruf?“

„Nein,“ erwiderte er. „Die brauche ich, um mich vor meinem Beruf zu schützen. Oder auch, wenn Sie lieber wollen, um mich für ihn stark zu erhalten. Denn ein Mensch, der für seine Arbeit keinen Sinn hat, kommt gewiß nicht weit, aber ein Mensch, der nur für seine Arbeit Sinn hat. der verkommt geistig rettungslos. Das gilt für jeden, ich glaube, sogar für die Dichter selbst gilt es, aber am meisten für uns, die wir in einem ungeheueren Getriebe als einzelne mitarbeiten. Denn was der einzelne da liefern muß, das ist an sich eben größtenteils Holzhackerarbeit und wiederholt sich von einem Tag zum andern. Der beste Teil des Geistes ist dabei nicht nötig, und er würde eindorren oder absterben wie ein Glied, das man nicht gebraucht, wenn man ihm nicht auch zuweilen sein Recht gäbe und von allem Beruf absähe, um nur dem einen zu dienen: sich selbst zu erbauen und zu bilden. Wer diesem Beruf nicht dient, dem hilft alle andere Tüchtigkeit nicht zum Glück, er versauert, wird mißmutig in sich selbst und zuletzt auch den anderen unleidlich.“

Gertrud nickte traurig. Sie mußte bei seiner Schilderung an ihre Mutter denken, und es that ihr weh, daß sie dabei an sie denken mußte. Hartwig Hoven aber war so befangen in seinen eigenen Gedanken, daß er ihre Betrübnis übersah und fröhlich fortfuhr: „Sehen Sie, solche Bücher da – das ist auch eine Post, aber freilich eine schönere als die unsere. Das sind die Briefe, die uns die großen Dichter und Denker, von Jahrtausenden her bis auf die noch mit uns lebenden, senden, und es verwehrt uns niemand, ihnen zu antworten, mit Gedanken, die sie uns erwecken, und vielleicht auch mit einem gefaßten und heiteren Herzen, das sie in uns stärken.“

Sie nickte ernst, doch nicht mehr traurig wie zuvor, dankte kurz und ging. Als er am Abend nach Hause kam, stand sie mit Thea Siebold im Gespräch unter der Thür. Das romantische Fräulein war von seiner Reise zurückgekehrt, nachdem es, laut seiner eigenen Versicherung, mehreren ländlichen Verehrern die Köpfe kolossal verdreht und sich zweimal beinahe verlobt hatte. Ueber diesen wichtigen Ereignissen, die es „nur im Vorbeigehen“ und immer „auf dem Sprunge“ mit großer Wortfülle schilderte, vergaß es fast die Freundin auszuschelten, weil sie sich den Botengängen nach der Post nicht ferner unterziehen wollte. Eben als es sich diesem Thema zuwendete, schritt Hartwig Hoven mit höflichem Gruße an ihnen vorüber.

„U je,“ flüsterte Thea, „wohnt Der jetzt bei euch’? Na, dann natürlich nicht. Das hättest du mir ja nur zu schreiben brauchen. Du, das finde ich aber kolossal! Weißt du, das ist ja gerade Der, mit dem Vater mich durchaus unter die Haube bringen möchte. Vater spricht den ganzen Tag von ihm. Ein langweiliger Mensch, viel zu ernst. Aber nun muß ich wirklich fort – es ist so schon kolossal, wie lange ich mich aufgehalten habe.“ Damit nahm sie zärtlichen Abschied und hüpfte davon, da sie auf eine interessante Begleitung diesmal nicht zu hoffen schien.

Hartwig Hoven erschrak über das verstörte Gesicht Gertruds, als er gleich darauf im Vorflur ihrer ansichtig wurde, aber sie versicherte, es sei nur ein wenig Kopfschmerz. Doch als darauf Hoven sein Zimmer öffnete und sie bemerkte, daß das inzwischen gemietete neue Mädchen darin das Kaffeegeschirr aufzuräumen vergessen hatte, schritt sie an ihm vorüber, um es selbst zu thun, und fragte dabei obenhin: „Kannten Sie die Dame, die eben bei mir war?“

„War es nicht Fräulein Siebold?“ fragte er gleichmütig.

„Ja,“ antwortete Gertrud. „Ihr Vater ist wohl Ihr Vorgesetzter?“

„Gewiß,“ erwiderte er.

„Er schätzt Sie gewiß sehr.“

„Daß ich nicht wüßte,“ versetzte er lachend. „Er ist ein freundlicher und gerechter Chef, mehr verlangt man ja nicht. Als ich bei ihm im Hause den üblichen Antrittsbesuch abstattete – daher kenne ich auch das Fräulein – da machte er ja wohl einige schmeichelhafte Bemerkungen, sprach von dem hoffentlich glänzenden Verlauf der Prüfung für die höheren Stellen, vor oder vielmehr in der ich jetzt stehe, von geselligem Verkehr und dergleichen. Aber das ist eben das Uebliche. Es würde fast verletzen, wenn es nicht gesagt würde, aber Bedeutung hat es nicht.“

„Hab’ ich es doch gedacht!“ murmelte Gertrud.

„Was?“ fragte er.

„Ach – da sehen Sie nur,“ versetzte sie hastig. „Unser neues Mädchen; nun hat sie Ihnen wieder ein Stückchen an der Milchkanne abgestoßen. Und es dann nicht zu sagen! Aber so macht sie es immer,“ fuhr sie zornig fort, doch es klang nicht echt, und ihre vorher so blassen Wangen färbte ein heiteres Rot, das zur vollen Farbe der Verwirrung umschlug, als er gelassen erwiderte: „Diesmal thun Sie ihr doch unrecht. Der Sprung ist alt, das können Sie am Rande sehen.“

(Schluß folgt.) 

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Blätter und Blüten.



Der Kaiser Wilhelmturm auf dem Großen Schneeberg. (Zu dem Bilde S. 389.) Der mittlere Teil der Sudeten, das Glatzer Gebirge, bildet einen von grünen Waldbergen gleich einem Riesenwall umschlossenen Bergkessel, welcher in Urzeiten ein großer See war. Sein Hauptstock ist das Schneegebirge, der südöstliche, von schönem Forste reichbesetzte Wall dieses im ganzen 1640 qkm (rund 30 deutsche Quadratmeilen) umfassenden Ländchens.

Nur ein einziger Aussichtspunkt, wenn wir den in das Neissethal weit vorgelagerten „Spitzigen Berg“ mit seinem romantischen Wallfahrtskirchlein „Maria-Schnee“ abrechnen, ist in diesem Teile des Glatzer Landes vorhanden: der Große Schneeberg, 1425 m ü. d. M., auch Glatzer und Spieglitzer Schneeberg genannt. Aber kaum lohnend nannte man bisher seine Besteigung; in mühsamem, ein- bis zweistündigem Rundgange, durch hobes Heidelbeerkraut watend, mußte man die Ausblicke in die Ferne einzeln aufsuchen, während der Blick in die nächste Umgebung verschlossen blieb, denn der gewaltige, kahle Gipfel dieses schon seiner Formation wegen interessanten Berges umfaßt ein überaus weites Plateau.

Dem Glatzer Gebirgsverein gebührt das Verdienst, durch den Bau eines Aussichtsturmes diesem Uebelstande abgeholfen zu haben: ungefähr in der Mitte der weitgedehnten, freien, baum- und strauchlosen Fläche ragt nunmehr der in den Jahren 1895 bis 1899 erbaute monumentale „Kaiser Wilhelm-Turm“ empor, dessen feierliche Einweihung für den 9. Juli d. J. vom Gebirgsverein geplant ist.

Dem Gedächtnis Kaiser Wilhelms I ist er geweiht und auf Hohenzollerngrund aufgebaut, denn der Grund und Boden gehört dem Prinzen Albrecht von Preußen, Prinzregenten von Braunschweig, welcher dem Vereine unter bestimmten Bedingungen die Bauerlaubnis erteilte. Der Turm wurde vom Architekten Henry in Breslau entworfen, während Maurermeister Gießer in Glatz den Bau ausführte; er zeigt burgartigen Charakter in mittelalterlicher Form und besteht aus dem 34,35 m hohen Hauptturm, dem 17 m hohen Neben- oder Treppenturm und der Schutzhütte, welche im unteren Stockwerke ein Gastzimmer – als Glatzer Bauernstube stilgerecht ausgestattet – und im Dachraume Schlafkammern für Touristen enthält.

Die beiden unteren Stockwerke des Hauptturmes bilden die Gedächtnishalle; in die eigentliche, von fünf Pfeilern getragene Halle zu ebener Erde führt der Haupteingang von außen; ihm geradeüber thront auf Sandsteinsockel am Mittelpfeiler die überlebensgroße Bronzebüste des Heldenkaisers; die übrigen vier Pfeiler werden mit Glatzer Städtewappen, Fahnen und anderen Emblemen ausgeschmückt. Das Kuppelgewölbe zeigt in der Mitte eine 2 m breite Oberlichtöffnung, durch welche aus dem Obergeschoß fünf große Fenster Licht spenden. Dieses Obergeschoß ist mit breitem Rundgange versehen und gewährt Einblick in die untere Halle. Gewaltig sind die Dimensionen des Bauwerkes. Der Umfang des großen Hauptturmes beträgt allein 36 m. Die massig emporstrebenden Cyklopenmauern sind aus altersgrauem, dem Gestein des Plateaus entnommenem Gneis errichtet, der im Gegensatze zu dem gelblichweißen Sandstein der Gesimsbekrönung sehr malerisch wirkt.

Der Große Schneeberg, im Osten von Kamnitz aus aufgenommen, steigt in unserem Bilde über den hochromantischen „drei Schneegründen“ und über dem dichtbewaldeten „Pfefferkuchenhübel“ auf. G. Nentwig.     

Von den Karolinen und Marianen. (Mit Abbildungen.) Nördlich von Neuguinea ist der Stille Ocean mit Scharen von Inseln übersät, die so klein sind, daß man ihnen den Gesamtnamen Mikronesien gegeben hat. Zu ihnen gehören auch die Karolinen, die schon seit langer Zeit das öffentliche Interesse in Deutschland in Anspruch nehmen. Die Inseln wurden im sechzehnten Jahrhundert von Portugiesen und Spaniern entdeckt und von den letzteren eine Zeitlang besetzt gehalten, dann aber völlig aufgegeben. Erst zu Anfang dieses Jahrhunderts wurden sie sozusagen von neuem entdeckt. Missionare ließen sich auf ihnen nieder und Deutsche gründeten dort Pflanzungen und Handelsfaktoreien. Im Jahre 1885 wollte Deutschland von den Karolinen Besitz ergreifen, und das Kanonenboot „Iltis“ hißte auf der Insel Yap die deutsche Flagge. Dies erregte einen stürmischen, von Straßenunruhen begleiteten Protest in Spanien, das ältere Ansprüche auf die Karolinen geltend machte. Fürst Bismarck suchte den Streit friedlich beizulegen; er schlug vor, das Schiedsrichteramt dem Papste zu übertragen, und dieser bestätigte die Ansprüche Spaniens. – Heute ist die ehemals so große Kolonialmacht Spaniens zusammengebrochen und die Regierung in Madrid hat sich entschlossen, die Karolinen mit den Palauinseln und dem Spanien noch verbliebenen Rest der Marianen an Deutschland zu verkaufen. Sobald der mit der deutschen Reichsregierung abgeschlossene Staatsvertrag von den Cortes genehmigt sein wird, soll dem Deutschen Reichstag die erforderliche Vorlage zur Beschlußfassung zugehen.

Hütte von Eingeborenen der Karolinen.

Für Deutschland ist der Erwerb dieser Inseln insofern von besonderem Vorteil, als er unseren Kolonialbesitz in der Südsee auf Neuguinea, im Bismarckarchipel und auf den Marschallinseln abrundet und die Inseln auch als Schiffs- und Kohlenstationen von Bedeutung sind. – Die Karolinen, deren westlichen Teil die Palauinseln bilden, liegen zerstreut auf einem Meeresstreifen, dessen Länge annähernd der Entfernung von Memel bis Gibraltar gleich ist, während dessen Breite ungefähr der Entfernung von Hamburg bis Nürnberg entspricht. Ihr Gesamtflächeninhalt wird auf 1500 qkm geschätzt, ist also kaum viermal so groß wie das Gebiet der Freien Stadt Hamburg. Die Eilande sind zumeist Koralleninseln, nur einige sind vulkanischen Ursprungs und ragen als hohe Berge aus der Meeresflut empor. Das Klima wird als gesund bezeichnet und die Fruchtbarkeit und landschaftliche Schönheit der einzelnen Inseln gepriesen. Vielen Menschen können sie natürlich Unterkunft nicht bieten. Man schätzt die Gesamtzahl der Eingeborenen auf 36000 und die der Weißen auf etwa 1000. Die wichtigsten Nahrungsgewächse der Karolinen waren von Anfang an der Brotfruchtbaum und die Kokospalme; jetzt gedeihen dort auch Bananen, Zuckerrohr, Gewürznelken und anderes mehr. Mit Ausnahme von Fledermäusen gab es auf den Karolinen ursprünglich keine Säugetiere; die Europäer haben jedoch Ziegen, Schweine, Rindvieh und andere Haustiere eingeführt. Ziemlich reich sind dagegen die Wasservögel vertreten, und das Meer bietet Fische, Schildkröten, Trepang und Seekrebse. Die größten der Eilande sind Yap, Rug, Ponape und Kusai. Yap hat einen guten Hafen und etwa 3000 Einwohner. Ponape zeichnet sich durch seine hohen Berge aus, deren höchste Spitze, der Regenpik, bis zu einer Höhe von 870 m emporsteigt; die Landschaften auf dieser Insel sind zum Teil wild romantisch, zum Teil lieblich, von paradiesischer Schönheit. Kusai ist die östlichste der Karolinen, ihre stark bewaldeten Berge erreichen eine Höhe von 600 m, sie besitzt nur 600 Einwohner.

Geldsteine.   Mann und Frau
 von den Karolinen.

Wenn wir bedenken, wie zerstreut im Ocean die Inseln liegen, so werden wir verstehen, daß die eingeborene Bevölkerung in politischer Hinsicht keine einheitliche Entwicklung durchmachen konnte. Es giebt in der That auf den Karolinen mehr Reiche als Inseln; fast jedes Dorf bildet eine selbständige unabhängige Gemeinde. Die Bevölkerung ist, was ihre Abstammung anbelangt, eine Mischrasse, es finden sich in ihr polynesische, papuanische und auch malayische Elemente vertreten. Im großen und ganzen ist der Karoliner geweckt und gutmütig; seine sozialen Einrichtungen, soweit sie sich noch erhalten konnten, sind überaus eigenartig.

So leben dort die jungen Leute in Genossenschaften oder Gilden, die man „Clöbbergöll“ nennt; sie bewohnen besonders für diesen Zweck gebaute Häuser, während die Verheirateten sich Hütten bauen. Die letzteren sind einfache viereckige Bretterbauten, mit Palmblättern gedeckt. Im Verkehr untereinander bedienen sich die Eingeborenen eines eigenartigen Geldes. Es sieht Mühlsteinen ähnlich und besteht aus gelblichem Kalkspat, der auf Korror gefunden wird. Centnerschwere Steine bedeuten ein Vermögen. Unter dem Einfluß der Kultur und mit der zunehmenden Verbreitung des Christentums schwinden jedoch die alten Sitten. Auch das alte Gerät kommt außer Gebrauch. Steinsplitter und Muschelscherben, die früher als Schneidwerkzeuge benutzt wurden, sind durch eiserne Werkzeuge ersetzt.

Die Berührung mit der Kultur hat den Karolinern schwere [420] Prüfungen gebracht. Allerlei ansteckende Krankheiten, namentlich die Pocken, decimierten die Bevölkerung, und der Stamm scheint mehr und mehr seinem Untergange entgegenzugehen. Die Vorfahren der heutigen Karoliner scheinen mehr Energie und Thatkraft besessen zu haben; auf einigen der Inseln findet man Ruinen aus Basaltsteinen errichteter Mauern, die davon zeugen, daß hier einst ein stärkeres Geschlecht gewirkt hat.

Hafen von Yap.

Weiter nördlich von den Karolinen liegen die Marianen. Sie wurden von Magellan auf seiner Ruhmesfahrt durch den Stillen Ocean entdeckt und von ihm Ladronen, d. h. Diebsinseln, genannt, weil die Eingeborenen ihm übel mitgespielt hatten. Dieser Inselschwarm hat insgesamt einen Flächeninhalt von etwa 1200 qkm und nur 10000 Einwohner. Zum Teil sind die Inseln korallinisch, zum Teil vulkanisch. Auf den nördlichen sind die Feuerberge noch heute thätig. Die niedrigen Inseln zeichnen sich durch Fruchtbarkeit aus und weisen neben Reis- und Maisfeldern Baumwolle-, Kakao- und Zuckerrohrpflanzungen auf. Die Eingeborenen waren in vielfacher Hinsicht den Karolinern ähnlich, haben aber ihre Eigenart zumeist abgelegt, da die Bevölkerung längst zur katholischen Kirche bekehrt worden ist. Auf der größten der Inseln, Guam oder Guajam, die in den Besitz Amerikas übergegangen ist, befand sich der Sitz des spanischen Gouverneurs.

Der Kaiser kommt! (Zu dem Bilde S. 392 und 393.) Nur eine Minute soll der kaiserliche Zug an der Station des in den Bergen malerisch gelegenen Städtchens halten. Zu einem festlichen Empfang mit langen Reden wird die Zeit nicht reichen, aber ohne ein Zeichen der Liebe und Verehrung darf der Kaiser die Stadt nicht passieren. Mit einigen kernigen Worten und einem Hurra wird ihn der Bürgermeister begrüßen und ein Töchterchen der Stadt ihm den Blumenstrauß überreichen. Sehr frühzeitig, lange vor der Ankunft des Zuges, haben sich Behörden und Einwohner auf der Station versammelt und jeder wahrt beharrlich den günstigen Posten, den er auf oder neben dem mit Laubgewinden geschmückten Zaune gewonnen hat. Zum Glück herrscht ein prächtiges „Kaiserwetter“ und die Sonne verklärt mit ihrem Glanze die alten Türme und Mauern des Städtchens, das schon in alten Zeiten manchen Kaiser in seinen Thoren begrüßt hat.

Dorf auf Kusai. 

Der Regenpik auf Ponape.  

Mammutfunde. (Zu dem Bilde S. 409.) Seit alten Zeiten fand man in verschiedenen Ländern Europas beim Graben im Erdreich gewaltige Knochen, die keinem der jetzt lebenden Wesen angehörten und für Gebeine vorweltlicher Riesen gehalten wurden. Mit dem Fortschritt der Wissenschaft erkannte man, daß jene Knochen von einer Elefantenart herstammen, die gegenwärtig ausgestorben ist, in vorgeschichtlicher Zeit aber in großen Massen die nördlicher gelegenen Gebiete der Erde bewohnt hat. Man nannte das Tier Mammut (Elephas primigenius). In Sibirien waren die Mammutreste so überaus häufig, daß die Stoßzähne des Mammuts zur Herstellung verschiedener Gegenstände benutzt wurden und seit altersher als fossiles, d. h. gegrabenes Elfenbein einen wichtigen Handelsartikel bildeten. Von dort kam auch die Kunde, daß in dem Eise noch vollständig erhaltene Leichen des Mammuts von den Eingeborenen gefunden werden. Das bewog die Petersburger Akademie gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts auf die Entdeckung solcher Leichen Preise auszusetzen. Gerade vor hundert Jahren, 1799, fand ein Tunguse in den Tundren des Lenaflusses eine solche Leiche. Er sägte ihr die Stoßzähne ab und verkaufte sie für 50 Rubel. Sieben Jahre darauf kam der Forschungsreisende Adams an jene Fundstelle. Der Kadaver war bereits von Hunden und wilden Tieren zerfleischt, aber Adams konnte noch die Knochen und Bänder, Stücke Haut, gegen 30 Pfund Haare, ein Auge und Reste von Eingeweiden sammeln, auch die Stoßzähne kaufte er den Jakuten ab. Diese kostbaren Reste wurden nach Petersburg gebracht, und das zusammengesetzte Skelett ist noch heute im kaiserlichen Naturalienkabinett zu sehen. Später wurden derartige Mammutfunde häufiger gemacht. Aus ihnen haben wir erfahren, daß das Mammut größer als der heutige indische Elefant war und auch längere bogenförmig gekrümmte Stoßzähne hatte; seine Haut war dicht mit Haaren bedeckt, und im Nacken und am Halse hatte es eine Art Mähne.

Diese Mammutfunde lehren uns, wie außerordentlich gut Tierleichen im Eise erhalten werden. Seit dem Tode jener Mammuts sind vielleicht Jahrtausende vergangen, aber die Kadaver sind so vortrefflich konserviert, daß die Eingeborenen das Fett verwerten und mit dem Fleische ihre Hunde füttern! Auch die Raubtiere Sibiriens, Wölfe und Eisbären, nähren sich von den Ueberresten des Mammuts, wenn sie zufällig durch Tauwetter bloßgelegt werden. *      

Dur und Moll. (Zu unserer Kunstbeilage.) Hell und freudig hat die eine ihr Lied gesungen und horcht nun lächelnd, vom letzten Abendstrahl beschienen, dem Wiederhall drüben am Walde, während die andere in stillem Sinnen schwermütige Weisen ausdenkt, die erklingen werden, wenn die Dämmerung völlig niedergesunken ist und der Mondschein sich im nächtlichen See spiegelt. Zwei ungleiche Schwestern – jede hold und schön, untrennbar verbunden und doch so verschieden im Wesen und im Klang der Stimme wie – Dur und Moll. Bn.     



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.



Holzschälchen mit gepreßten Blumen.

Holzschälchen mit gepreßten Blumen. Heute bringen wir für unsere jungen Freundinnen eine neue Art, getrocknete Blumen zu verwenden. Die Kunst dabei besteht hauptsächlich im verständnisvollen Suchen geeigneter Pflanzen. Unsere Abbildung zeigt ein Büschelchen von einer kleinen Alpenpflanze, mit kräftig grünen Blättern und gelben Blüten; es wurde im ganzen herausgenommen, auf gewöhnliches graues Fließpapier gleich zierlich angeordnet, ungefähr so wie es verwendet werden sollte; natürlich blieben die kleinen Zweige nicht in der gewünschten Stellung liegen, sondern mußten durch eine darauf gedeckte, ganz dünne Schicht Watte auf dem rauhen Grunde festgehalten werden, ehe das zweite Papier darüber gelegt wurde. Als es nach einigen Tagen tüchtigen Pressens flach und trocken war, wurde es auf eine kleine flache Holzschale gelegt, noch etwas zurechtgeschnitten und gezupft, dann mit starkem Gummi festgeklebt und nach längerem Trocknen mit starkem Firnis, Kopallack, mehrmals übergangen, wieder mit entsprechenden Pausen zum Trocknen. So liegt schließlich der Pflanzenschmuck ganz geschützt und solid auf dem Holzgrund, den man auch vorher beizen oder mit Farbe tönen kann. Glatte, dünne Pflanzen eignen sich am besten zum Aufkleben, Moose muß man nicht verwenden, da sie den Firnis aufsaugen und dick und rauh trocknen.

Reisehülle.

 

Einwickeltuch für Schuhe.

Reisehülle. Ein praktisches, geräumiges, und mit wenig Kosten herzustellendes Behältnis für kleines Gepäck zeigt unsere Abbildung. Das Material ist braunes Segeltuch, gefüttert mit grauem Leinen; der Schnitt ein Quadrat von 95 cm, der Breite des Stoffes; geschlossen wird es der Länge nach durch eine Reihe von Knöpfen, der Schluß seitwärts wird am solidesten, wenn man vom Sattler an jeder Seite neun Ringe einschlagen läßt, durch die eine feste Schnur zum Zubinden läuft. Es muß eine ungerade Zahl sein, damit die beiden Enden der Schnur nach außen kommen. Braune, runde Wollpompons schließen dieselben ab. Lederne Bügel zum Tragen findet man meist vorrätig beim Sattler; das Befestigen und Verwahren derselben durch ein innen dagegengenähtes Stückchen Leder überläßt man diesem am besten auch, dann ist der Gegenstand dauerhaft und allen Reisestrapazen gewachsen.

Unterröcke aus buntfarbigen Waschstoffen. Die praktische Mode, Unterröcke aus karrierten, gestreiften oder sonst gemusterten Baumwollstoffen – Zephyr, Kattun etc. – anzufertigen, gestattet auch eine gute Verwertung nicht mehr ganz tadelloser Waschkleider. Der Rock wird kürzer und etwas enger gemacht und dann mit Volant, Baumwollborte, Blenden, Einsätzen etc. garniert, wofür auch noch die Taille nutzbar gemacht werden kann. Sollte der Stoff sehr von der Wäsche gelitten haben, sonst aber noch recht kräftig sein, so kann man ihn auch färben und bedrucken lassen.

Eine praktische Verpackung für Manschetten sieht man jetzt von rotem oder hellem Leder in den Reisebazars etc. Die Form läßt sich aber auch in starkem Leinen, in Seide oder Kanevas herstellen, mit einem Streifen von abstechender Farbe gefüttert, der um den Rand nach außen umgeschlagen und entweder einfach

Manschettenhülle.

aufgesteppt oder noch von einem gestickten Rändchen begleitet werden kann. Ein ganz schmaler Lederriemen mit Schnalle wird der Länge nach auf der Mitte des Streifens befestigt; zwei bis drei kleine Schlingen aus schmalem Band oder aus Schnur, durch die man den Riemen zieht, in gleichen Abständen angenäht, genügen dazu. Das Maß richtet sich nach dem Format der Manschetten, der Streifen muß ein gutes Stück weit übergreifen, um gut zu schließen. Für Kragen empfiehlt sich mehr eine runde Schachtel.

Einwickeltuch für Schuhe. Eine praktische Art, Schuhe zu verpacken, empfiehlt uns eine erfahrene Reisende an Stelle der bekannten Schuhtaschen, die öfter zu klein oder zu groß sind. Sie fertigt aus gewöhnlicher Leinwand viereckige Tücher, die sie an zwei Ecken mit Bändern versieht. Wenn sie den Gegenstand verschenken will, so wendet sie ein wenig leichte Stickerei oder auch ein Monogramm für die eine Ecke daran. Das Tuch wird dann über den Schuhen von allen vier Seiten eingeschlagen, so daß die Ecken mit den Bändern zum Zubinden des Pakets obenauf zu liegen kommen. Unsere Zeichnung würde sich auch zur Dekoration eines einfachen Stuhlkissens für den Garten eignen.

Mottenschutz. Um wollene Kleider und Mäntel, die man nicht gern monatelang verpacken mag, gegen die Motten zu schützen, empfiehlt es sich, sie in Säcken aus Nesseltuch aufzuhängen, welche man durch einen Zug oben sorgfältig verschließt. Wer an Kampfer glaubt, thut ein Stück davon in den Sack, Naphtalin soll eher geeignet sein, die Menschen zu vertreiben als die Motten. Fest abschließen ist der einzig wirksame Schutz.

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Hauswirtschaftliches.

Allerlei Kaltschalen für warme Sommertage. Nichts ist erquickender an heißen Tagen als eine kalte Suppe zur Vorspeise mittags, die selbst dem Hausherrn, der sonst allen süßen Suppen abhold ist, willkommen ist. Der Hausfrau sind diese Kaltschalen ebenfalls sehr lieb, da sie dieselben schon tags zuvor in kühler Abendstunde zubereiten kann und ihre Herstellung meist rasch von statten geht. Die folgenden Rezepte erbringen dafür den Beweis.

Bierkaltschale. 75 g Korinthen wäscht man und stellt sie mit Wasser bedeckt zur Seite. Man reibt darauf 125 g Schwarzbrot, vermischt dies mit 1/2 Löffel Citronenzucker, einer Messerspitze Zimmet, ebensoviel geriebenem Ingwer und 125 g Zucker, 1 1/4 l Weißbier wird mit 1/8 l leichtem Weißwein vermischt, über das gewürzte Brot gegossen und mit den abgetropften Korinthen vermengt.

Citronenkaltschale. In 3/4 l Wasser löst man 200 g Zucker, thut 3/4 Flasche leichten Weißwein daran, rührt mit dem Rest 25 g Mehl glatt und giebt dies nebst 4 Eigelb und einer Prise Salz dazu. Man schlägt alles bis zum Kochen, thut nun 5 Eßlöffel Citronensaft und 3 Eßlöffel Citronenzucker daran und läßt die Kaltschale gut abkühlen.

Milchkaltschale mit Erdbeeren. 1 l Milch wird mit 75 g Zucker, etwas Citronenschale oder Vanille aufgekocht, etwas gesalzen und mit 15 g glattgerührtem Maismehl verkocht. Die Milch wird mit 3 Eigelb abgezogen und kalt gestellt. Beim Anrichten werden 10 Eßlöffel vorher eingezuckerte Erdbeeren und vier zerbröckelte kleine Zwiebäcke hineingethan.

Heidelbeerkaltschale. 500 g gewaschene Heidelbeeren kocht man in Wasser mit etwas Citronenschale und 40 g Perlsago weich, streicht sie durch, süßt sie genügend, giebt eine Flasche roten Fruchtwein daran und stellt sie kalt. Die Kaltschale wird mit Zwieback serviert.

Buttermilchkaltschale. Man reibt 100 g Schwarzbrot und röstet es langsam unter stetem Rühren mit 60 g Zucker braun, doch darf es nicht anbrennen, weil es dann sofort bitter schmeckt. Man vermischt kurz vor dem Anrichten 1 l Buttermilch mit 6 Löffeln saurer Sahne, giebt etwas Zucker und Zimmet hinein und vermischt das inzwischen abgekühlte Brot damit.

Preußische Kaltschale. Recht fein geriebenes Schwarzbrot wird mit 1/2 l süßer Sahne und dann mit 3/4 l nicht bitterem Bier begossen, genügend gesüßt und mit feinem Zimmet gewürzt.

Apfelweinkaltschale. 50 g Reis werden dreimal abgekocht, dann in Wasser mit etwas Salz gar gekocht, was etwa 25 Minuten dauert. Man schüttet den Reis auf einen Durchschlag, übergießt ihn mit kaltem Wasser, damit er klar wird. 2 Eßlöffel Korinthen hat man indes in Wasser ausquellen lassen, die man nun abgießt und zum Reis giebt. Wenn beides abgekühlt ist, thut man die Zuthaten in eine Terrine, giebt eine Flasche Apfelwein, der mit 1/4 l Wasser, 50 g Zucker und etwas abgeriebener Citronenschale vermischt wurde, darüber und stellt die Kaltschale kühl.

Gutes Vertreibungsmittel für Fliegen. Daß Fliegenfallen oder gar Leimstöcke zum Wegfangen der im Hochsommer wirklich lästig fallenden Fliegen etwas angenehm Anzusehendes sind, wird wohl kaum jemand behaupten und nur in Ermangelung eines Besseren dazu greifen. Die mit Spiritus gefüllten Fliegengläser dagegen sind von sehr fragwürdigem Nutzen, sie fangen ja allerdings viele Fliegen, aber der Geruch des Alkohols lockt auch immer neue Plagegeister ins Zimmer. Fliegengift bewährt sich weit besser, aber es kann in manchen Haushaltungen mit Rücksicht auf die Kinder nicht angewandt werden. Das folgende Mittel nun ist nur für Fliegen schädlich und kann deshalb unbesorgt gebraucht werden. Man rührt mehrere Eigelb mit zwei Löffeln feinem schwarzen Pfeffer und ebensoviel feinem Zucker gut durcheinander und schüttet von dieser Masse etwas in flache Schalen, die man in den Räumen verteilt. Man wird dadurch bald von den Fliegen befreit sein. – Um übrigens nicht allzuviel neue Fliegen Tag für Tag in die Zimmer zu bekommen, muß man es vermeiden, Fenster, auf welche die Sonne scheint oder kurz vorher geschienen hat, zu öffnen, weil die Fliegen wie alle geflügelten Insekten am meisten ins Helle fliegen. L.     

Italienischer Rindsbraten. Ein großen Stück Rindslende (Beiried) wird von allem überflüssigen Fett befreit, mit Salz und Pfeffer eingerieben, auf der unteren Seite mit Essiggurkenstreifchen, Speck, Schinken und geräucherter Zunge, einigen gelben Rübenstreifchen gespickt, mit den ausgelösten Knochen und fein geschnittenem Wurzelwerk gebraten. Die Sauce wird leicht mit etwas Mehl angestäubt und mit der nötigen Suppe vergossen. Man giebt dazu den Saft von einer viertel Citrone, sowie einige Eßlöffel Wein, worauf die Sauce gut aufgekocht und mit dem Braten und hart gedünstetem Reis serviert wird.

Panierte Eier. Man kocht die Eier hart, schreckt sie des bessern Schälens wegen in kaltem Wasser ab, schält sie, taucht sie in frisch geschlagenes Ei, wendet sie dann mit etwas Salz in geriebener Semmel und bratet sie rasch ungefähr zwei Minuten lang in brauner Butter. Man giebt sie kalt oder warm zu Thee und Butterbrot.

[420 b]
Allerlei Kurzweil.

Bilderrätsel.


Wechselrätsel.

Was ist das? – Einmal mit dem G
Und zweimal hast du’s mit dem D.
 F. Müller-Saalfeld.


Litterarisches Füllrätsel.

H. von Schmid
R. Ortmann
W. von Hillern
J. Boy-Ed
W. Heimburg
V. Blüthgen
E. Marlitt

In die leeren Felder trage man Werke der nebenstehenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen ein, die von der „Gartenlaube“ veröffentlicht wurden. Bei richtiger Lösung ergeben die Anfangsbuchstaben jener Werke den Titel eines Romans aus der Feder einer sehr beliebten Erzählerin dieses Blattes.


Rösselsprung. Von Oscar Leede.


Dominoaufgabe.

A, B und C nehmen je acht Steine auf. Vier Steine mit 33 Augen bleiben verdeckt im Talon. C hat auf seinen Steinen 18 Augen mehr als B. Es wird nicht gekauft.

A hat:

A setzt Doppel-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er seine Steine zuerst los wird. Als letzten Stein setzt er Drei-Blank. B kann nur bei der ersten, fünften und sechsten Runde ansetzen. C muß bei der dritten, vierten und siebenten Runde passen. Dadurch behält B fünf Steine mit 12 Augen übrig. Die 15 Steine der Partie haben 90 Augen.

Welche Steine behält B übrig? Welche Steine liegen im Talon? Wie ist der Gang der Partie? A. St.     


Scherzrätsel.

Als die Mitte – und das Ende –
Wer den Städtenamen fände!  E. S.


Auflösung des Homogramms auf
dem Umschlag von Halbheft 12.

Auflösung des Inschrifträtsels „Der alte Kalif“ auf dem Umschlag von Halbheft 12.

Wenn man Zeile für Zeile (von oben nach unten) erst alle Buchstaben, die in den Rauchwolken stehen, abliest und dann ebenso die Buchstaben, welche übrig bleiben, so erhält man:

1) Ruhe ist die
2) erste Bürgerpflicht.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 12.

 Nichtraucher! – . ich . . auch . . !


Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 12.

1. S e 7 – f 5 K e 4 – d 5: A. 1. ………. K e 4 – f 5:

2. D c 3 – b 3 + beliebig. 2. D c 3 – h 3 + beliebig.

3. L d 4, S d 6 matt. 3. D d 3, S c 3 matt.

Auf 1. …… f 4 – f 3 folgt 2. S f 5 – e 7 nebst 3. D c 3 – e 3, c 2 matt; alle andern Gegenzüge von Schwarz widerlegt die Drohung 2. S f 5 – d 6 + K e 4 – d 5: 3. D c 3 – e 5 matt.


Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 11.

Der Spieler in Mittelhand hat, da er auf Null ouvert gereizt worden ist, Grand angesagt. Die Karten sind ursprünglich so verteilt:

Skat: s9, s8.
Vorhand: e9, e8, e7, gD., gZ., gK., gO., g8, g7, sK. = 32.
Mittelhand: eW., gW., eD., eZ., eK., eO., g9, aD., sZ., sO.
Hinterhand: rW., sW., rD., rZ., rK., rO., r9, r8, r7, s7 = 32.

Der Spieler hat nur den zweiten und vierten Stich mit 28 Augen erhalten, also mit Schneider verloren, da Hinterhand die übrigen Stiche macht.




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.