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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[356 c]

12. Heft. Preis 10 cents. 13. Juni 1899.

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Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (3. Fortsetzung) 357
Das Volkstrachten-Museum in Berlin. Von Gustav Klitscher. Mit Illustrationen von Ewald Thiel 368
Deutsche im Auslande. Eine Reisestudie von Johannes Schmal 371
Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Das siebente Buch Mose. Von Hans Boesch 372
Bauern-Pferderennen in Südtirol. Von Karl Wolf 373
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (Schluß) 374
Schneewächten. Von Theodor Wundt. Mit Illustration von R. Reschreiter 385
Blätter und Blüten: Velazquez. (Zu dem Bilde S. 357 und unserer Kunstbeilage.) S. 385. – Die Stephan-Denkmäler in Berlin. (Zu den Bildern S. 386 und 387.) S. 386. – François Champollion in Aegypten. (Zu dem Bilde S. 361). S. 386. – Sonntagmorgen auf der Stadtmauer. (Zu dem Bilde S. 365.) S. 387. – Ertappt. (Zu dem Bilde S. 376 und 377.) S. 387. – Kunstwebeschule des Lettevereins in Berlin. S. 387. – Das Demmersche Haus in Braunschweig. (Zu dem Bilde S. 388.) S. 387. – Neues von dem „Schiff der Wüste“. S. 388.
Illustrationen: Velazquez. Selbstbildnis des Malers. S. 357. – Der Altertumsforscher Champollion der Jüngere bei den Memnonssäulen in Aegypten. Von M. Orange. S. 361. – Sonntagmorgen auf der Stadtmauer. Von Paul Hey. S. 365. – Abbildungen zu dem Artikel „Das Volkstrachten-Museum in Berlin“. Von Ewald Thiel. S. 368, 369, 370. – Abbildungen zu dem Artikel „Bauern-Pferderennen in Südtirol“. Initiale. Haflinger Bauern, zum Start abreitend. S. 373. – Ertappt. Von Ferd. Brütt. S. 376 und 377. – Durchhauen einer Schneewächte. Von R. Reschreiter. S. 381. – Das Denkmal Heinrich von Stephans im Reichspostmuseum zu Berlin. S. 386. – Das Grabmal Heinrich von Stephans. S. 387. – Das Demmersche Haus im „Sack“ zu Braunschweig. S. 388.
Hierzu Kunstbeilage XII: „Reiterbildnis des Prinzen Don Baltasar Carlos“. Von Velasquez.




Kleine Mitteilungen.


Jubelfeier des „Akademischen Gesangvereins Arion“ zu Leipzig. In den Tagen vom 24. bis 27. Mai beging der „Akademische Gesangverein Arion“ zu Leipzig in allerlei festlichen Veranstaltungen, Konzerten, Festspiel, Kommers, Ball etc. die Jubelfeier seines 50jährigen Bestehens. Abweichend von der Gründungsgeschichte anderer studentischer Vereine ist der „Arion“ nicht als Kind des akademischen Lebens geboren worden; seine Wiege stand vielmehr in der altehrwürdigen Thomasschule, die von jeher durch den wohlgeschulten Sängerchor ihrer Alumnen berühmt war.

Als in den vierziger Jahren das gute Einvernehmen dieser jungen Sänger beständig durch Streitigkeiten gestört ward, gründete am 12. Mai 1849 Richard Müller (geb. 25. Februar 1830 zu Leipzig) mit noch zwei anderen Thomanern einen Verein, um, verbunden durch Pflege des Gesanges, der Geselligkeit und Freundschaft zu ihrem Rechte zu verhelfen. Bald aber brachte der Grundsatz, alle früheren Thomaner, welche nun studierten, auch ferner als Mitglieder anzusehen, den Vereinsangehörigen die Anfeindungen von Mitschülern und Lehrern ein, und doch sollte sich, gestützt auf ihn, noch im ersten Jahrzehnt der jungen Gründung der studentische Gesangverein „Arion“ herausbilden. Als bedeutende Förderer des Vereins erwiesen sich der Meister deutschen Männergesangs Karl Zöllner und der berühmte Thomasschulkantor Moritz Hauptmann. Richard Müller, der den „Arion“ gründete, war zugleich musikalischer Leiter desselben und führte ihn unentwegt seiner heutigen Bedeutung zu. Am 12. Mai 1850 war der „Arion“ zum erstenmal mit einem Konzert vor die Oeffentlichkeit getreten und hatte mit dem Vortrag von Zöllners „Müllerliedern“ großen Erfolg gehabt. Im Jahre 1853 ward er als studentischer Verein anerkannt, indem vom Universitätsgericht seine Statuten genehmigt wurden. Die Bestimmung darin, daß auch Nichtthomaner beitreten durften, war für das fernere Gedeihen des Vereins von größter Bedeutung. Heute zählt der „Arion“ 165 aktive Sänger und 700 „alte Herren“. Die alljährlich stattfindenden zwei Konzerte dieser ansehnlichen gesangstüchtigen Sängerschar gestalten sich zu musikalischen Ereignissen, deren Ruf über die Grenzen der alten Musikstadt dringt. Ein schmerzliches Ereignis in der Geschichte des Vereins bedeutete der Rücktritt Professor Richard Müllers von der musikalischen Leitung des Vereins, der im Jahre 1893 nach 44jähriger erfolgreicher Thätigkeit aus Gesundheitsrücksichten stattfand. Ihm folgte Dr. Paul Klengel als neuer würdiger Dirigent, den nach seiner Berufung ins Ausland 1898 Alfred Richter, ein Sohn des ehemaligen Thomasschulkantors, ersetzte und unter dessen Führung sich des Vereins Wahlspruch auch heute bewährt, welcher lautet: „Goldnes Leben im Gesang“.

Zur Ueberbürdungsfrage. Der vormittägige Unterricht ist beendet. Er stellte mit seinen wechselnden Unterrichtsfächern nicht geringe Anforderungen an Kinder und Lehrer. Der Erfolg entsprach nicht überall den aufgewendeten Mühen. Denn manches Kindes Auffassungskraft erwies sich als zu gering; trotz treuen Aufmerkens erzielten nicht alle ein klares Erfassen und Festhalten des Gebotenen. Der Geist erlahmte und sie sahen matt und abgespannt aus.

Besonders um dieser willen erfreuen wir uns der jetzt in den Schulen verlängerten Zwischenpausen und der Mittagspause, die für Körper und Geist Erquickung bringen soll. Leider verkürzt das Elternhaus diese dem kindlichen Organismus so nötige Ruhe oft durch neue Anforderungen. Dem übermüdeten Kinde wird kaum Zeit gewährt, in Hast das Mittagsbrot einzunehmen; dann eilt es mit der Notenmappe am Arm in die Musikstunde, die schon um 1 Uhr beginnt, oder es muß für dieselbe üben. Das oft zarte Mädchen muß ohne Lehne in gerader Haltung eine Stunde auf dem Klaviersessel sitzen und sich – natürlich meistens vergebens – bemühen, Neues zu begreifen. Wer hätte diese kleinen Märtyrerinnen der edlen Musica in den Mittagsstunden nicht schon ihrem Ziele zustreben sehen? Ich sehe sie stets mit herzlichem Bedauern und möchte mich in ihrem Interesse an die Einsicht der Eltern wenden.

Die preußische Regierung erließ im Jahre 1894 eine Reihe dankenswerter Verfügungen über das Mädchenschulwesen, die neben methodischen Verbesserungen besonders das körperliche Wohl der heranwachsenden weiblichen Jugend im Auge hatte. Ein Paragraph dieser Bestimmungen verbietet direkt „jede häusliche Aufgabe vom Vormittag auf den Nachmittag“. Es soll den Mädchen genügende Zeit zum Ausruhen gegeben werden, und jede geistige Anstrengung in dieser Zeit ist als gesundheitswidrig verpönt.

In Fachkreisen wurden diese für den öffentlichen Unterricht verbindlichen Bestimmungen mit Freuden begrüßt, sie sollten auch in Elternkreisen beachtet werden. Praxis.     

Gesellschaftsspiele. Sobald es im Kreise der großen oder kleinen jungen Leute einigermaßen gemütlich geworden, taucht die Frage auf: „Was fangen wir nun an?“ Neben dem Altbewährten wird dann gern etwas Neues begrüßt. Noch nicht allgemein bekannt ist z. B. das „Klubraten“. Die Gesellschaft teilt sich in zwei Parteien und sitzt in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern; von jeder Partei wird eine Person hinausgeschickt, und diese zwei Abgesandten beraten auf dem Vorsaal über eine bestimmte Person oder einen Gegenstand, worauf sie wieder in die Zimmer zurückkehren. Von den Dringebliebenen werden sie nun mit einer Flut von Fragen, um den betreffenden Gegenstand herauszubringen, bestürmt und dürfen auf alle Fragen nur mit Ja oder Nein antworten. Den Hauptreiz des Ratens bildet hier die Konkurrenz, denn die Partei, welche zuerst richtig rät, darf zum Lohn ein Mitglied der andern zu sich herübernehmen; dies wird fortgesetzt, bis eine Partei die andere ganz aufgerieben hat. – Eine andere Art des Ratens bilden die „Geflügelten Worte“. Jemand von der Gesellschaft geht ins Nebenzimmer; währenddessen wählen die übrigen ein Sprichwort oder Dichtercitat, das sie unter sich verteilen, so daß ein Wort auf jeden kommt. Nun wird der zum Erraten Bestimmte hereingerufen und richtet an jeden der Reihe nach eine beliebige Frage, welche der Angeredete mit einem Satze beantworten muß, in dem das auf ihn entfallende Wort vorkommt. Derjenige, dessen Antwort den Ratenden auf die richtige Spur bringt, muß dann seinerseits raten. – Nur den Zweck unfreiwilliger Komik verfolgt das Spiel „Verlegenheit und Aushilfe“. Von der rechten Seite wird jedem Teilnehmer eine verlegene Situation – „Was würden Sie thun, wenn etc.“ – gesagt, vom Nachbar links eine Aushilfe aus irgend welcher schlimmen Lage. Nun fragen die Teilnehmer, die einander gegenübersitzen, sich gegenseitig, das heißt jeder fragt mit der ihm gesagten Verlegenheitsfrage, und der andere antwortet mit der gleichfalls ihm gesagten Aushilfe, die natürlich nie paßt. – Viel Spaß macht das „Löffelsuchen“. Einer der Teilnehmer wird mit verbundenen Augen in den Kreis der übrigen geführt und hält einen großen Kochlöffel, mit dem er alle Anwesenden befühlen darf, um ihre Individualität festzustellen; noch kann er dabei von jedem verlangen, daß derselbe einmal seine Stimme hören läßt. Wessen Name erraten wird, der muß den Suchenden ablösen. – Die meiste Schadenfreude genießen die Beteiligten bei folgendem Spiel: Eine feste Steinkruke, wie sie für Mineralwässer benutzt werden, oder ein runder Holzklotz wird der Länge nach auf den Boden gelegt, und darauf muß sich jemand setzen, der in der einen Hand ein brennendes, in der anderen ein unangezündetes Licht hält. Seine Aufgabe besteht nun darin, letzteres Licht am ersteren anzuzünden; da aber bei der leisesten, durch die Armbewegung verursachten Schwankung des Gleichgewichts die runde Walze unter ihm zur Seite rollt, braucht er zu der einfachen Handlung eine unverhältnismäßig lange, durch komische Verrenkungen und Grimassen ausgefüllte Zeit, wobei die Freude der Zuschauer groß ist – bis die Reihe des Hinsetzens an sie kommt.

[356 e]

Nach einem Kohledruck von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. Els., Paris, New York

REITERBILDNIS DES PRINZEN DON BALTASAR CARLOS.
Nach dem Gemälde von Velazquez

[357]

Halbheft 12.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(3. Fortsetzung.)


Sabine und Achim kamen sich jeden Tag näher und jeden Tag kam es ihnen selbstverständlicher vor, daß sie miteinander verkehrten, weil ihre Gespräche von den hohen, erschütternden Seelenleiden herabgestiegen waren zum kleinen Inhalt des Alltagslebens.

Sie glaubten auch, daß niemand ihre Zusammenkünfte bemerkt habe. Aber es war natürlich unmöglich, sich acht Tage lang so dicht vor den Thoren von Mühlau zu treffen, ohne daß man gesehen wurde.

Eines Tages fragte die Oberamtmännin: „Was ist denn das für ein Offizier gewesen, mit dem du gestern vor dem Berliner Thor auf dem Heideweg auf und abgingst? Davon hast du ja nichts erzählt!“

Das war harmlos gefragt, einfach aus der Annahme und Gewohnheit heraus, daß alle Familienmitglieder auch die nebensächlichsten Ereignisse des Tages mitzuteilen pflegen. Der Rechnungsrat Müller hatte Sabine gesehen und auch Herrn von Körlegg zu erkennen geglaubt, doch eher seinen Augen mißtraut, ehe er so Unmögliches annahm.

„Ich?“ sagte Sabine, „ich erinnere mich nicht.“

„Herr Gott, Rechnungsrat Müller hat dich doch gesehen und noch zu seiner Frau gesagt, wie er sich freue, daß du nicht mehr an allen Menschen so stolz und stumm vorbeigehest.“

„Ach ja,“ sagte Sabine und gewann allmählich ihre Farbe wieder, „es war Bläser, der sich lang und breit nach Leo erkundigte.“

„Bläser ist ein netter Mensch,“ bemerkte die Oberamtmännin und dachte dabei: Wie konnte dieser Schafskopf von Müller sich nur einbilden, daß sie mit Herrn von Körlegg sprechen würde.

An diesem Abend war „Trio“. Sabine mußte, da Leo schon seit halb Sieben fest schlief, wieder zugegen sein.

Das unglückliche H dur-Trio von Brahms war von den Spielern immer noch nicht so bewältigt, daß sie glaubten, mit sich zufrieden sein zu dürfen. Aber Kolvater sowohl als Turibius hatten ihren Part nun merklich besser inne als die Oberamtmännin. Sie erlaubten sich Ungeduld zu markieren, und beim Beginn des Scherzo sagte Turibius:

„Na, auf Wiedersehen bei der Fermata.“ Von Streitereien und Empfindlichkeiten unterbrochen, zog das Allegretto dahin; Sabine hörte es zuletzt nur noch im Takt in ihrem Kopf bumsen.

Der Schreck über die Frage ihrer Mutter kehrte zurück. Sie grübelte hin und her. Wer in aller Welt konnte etwas in ihrem Verkehr mit Achim finden!

Wäre ich arm, meine Kinder in Not, weil uns der Ernährer fehlt, würde nicht die ganze Welt begreifen, daß Achim den Wunsch hätte, uns sein


Nach einem Kohledruck von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E., Paris und New York.

Velazquez.
Selbstbildnis des Malers.

[358] Vermögen zu Füßen zu legen? Eine so brutale Wohlthat brauchen wir nicht. Hat die Welt für die feinere, die tiefere, die bessere, die er mir erweist, kein Verständnis? Kann man nicht sagen: er hat das Unglück gehabt, meinen Kindern den Vater zu töten, dafür haben wir eine Forderung an ihn? Und er giebt, was er kann: seine Teilnahme giebt mir Frische und Kraft!

Dennoch machte sie sich klar, daß ihr Verkehr aufhören müsse, sobald er entdeckt sei. Heute hatte man sie nur „mit einem Offizier“ gesehen und zum Glück hatte sie gerade vorher wirklich Bläser gesprochen und konnte ihn anführen, ohne zu lügen. Wenn man sie morgen „mit Herrn von Körlegg“ sähe, würde es Auseinandersetzungen mit ihren Eltern geben, vor denen ihr graute.

Am andern Tage besprach sie mit Achim das Vorgefallene.

Sie sprachen lebhaft davon, daß sie vorurteilsloser und freieren Geistes seien als alle diese Philister von Mühlau. Und wenn zwei mit so lauten Reden ihre Freiheit vor den Schranken der andern preisen, wollen sie sich nur betäuben, um sich über eben diese Schranken hinwegzusetzen.

Davon hatte Achim eine ganz deutliche Empfindung. Aber er wollte sie nicht in Worte kleiden. Sie hätten die arme Sabine verletzt. Er war es ihr schuldig, dergleichen Anwandlungen mit sich allein abzumachen. Er wußte und fühlte es mit jedem Herzschlag: diese flüchtigen Augenblicke mit ihm, oft unter klatschendem Regen oder bei pfeifendem Wind – sie waren ihr der Lichtpunkt des Tages.

Es war ihm deshalb fast wie eine Erleichterung, daß sie vorschlug, man wolle sich, bis zur völligen Wiederherstellung Leos, nur noch jeden dritten Tag sehen. Aber indem er zustimmte, fühlte er zugleich, daß die beiden Tage zwischen den Begegnungen für ihn selbst tote Zeit bedeuten würden.

Die Genesung des Kleinen schritt langsam weiter, doch blieb er merkwürdig schwach. Da entstand in Sabinens Kopf ein Plan: sie wollte fort aus diesem engen Hause, hinaus aufs Land, wo ihr Knabe sich erholen könne und sie selbst Freiheit fände.

Sie begann von einer nötigen Badereise zu sprechen, wußte Sebold dafür zu stimmen und beharrte dabei, daß Leo sich hier und so nie erhole. Der Oberamtmann und seine Frau sahen in einer Badereise ein ganz außerordentliches Unternehmen, das mit viel Umständen und besonders auch mit viel Kosten verknüpft war. Ihr Mißfallen an dem Plan war so groß, daß sie sich förmlich entlastet fühlten, als Sabine eines Tages erklärte: einen teuren Badeaufenthalt, wie Sebold ihn so dringlich wünsche, halte sie für überflüssig und glaube, daß ein mehrwöchiger Aufenthalt auf Heinsdorf denselben Effekt haben werde. Erleichtert stimmten die Eltern freudig bei. So erreichte Sabine auf Umwegen, was sie wollte. Daß sie aber, um sich den so einfachen Wunsch zu erfüllen, einige Zeit bei dem Bruder auf dem Familiengut zu verleben, Umwege brauchen mußte, erbitterte sie von neuem gegen ihre Lage. Ihr Herz drängte sie wieder mehr zu dem Bruder hin. Sie hoffte, ihm während des Heinsdorfer Aufenthalts recht, recht nahe zu kommen und auch vielleicht Martha Seiten abzugewinnen, die diese wertvoll und tief erscheinen ließen. Ihr Herz war voll Liebebedürftigkeit.

Als sie an dem Tage, wo es entschieden war: übermorgen sollte übersiedelt werden! zum Stelldichein ging, erfuhr sie eine aufregende Ueberraschung. Ihre Gedanken waren so thätig gewesen, auszumalen, wo auf den Heinsdorfer Geländen sie zuweilen mit Achim zusammentreffen könne, „um ihn über Leos Befinden zu unterrichten“, daß sie zusammenfuhr vor Schreck, als ein Soldat an sie herantrat.

„Frau von Zeuthern?“ fragte er, die Rechte an die Mütze, die Linke an die Hosennaht legend.

„Ja, was wollen Sie?“ sagte Sabine unfreundlich und erstaunt.

„Dies abgeben!“ Er überreichte einen Brief und machte Kehrt.

Der Brief zitterte in Sabinens Hand. Sie ging noch fünf Mnuten vorwärts, sah einen Vermessungsstein am Wege und hockte darauf nieder. Sie las:

  „Theure, innig verehrte gnädige Frau!
Eine unverhoffte dienstliche Angelegenheit verhindert mich heute, Sie selbst nach dem Befinden Ihres Lieblings zu fragen. Ich habe nur die Wahl, Sie vergebens auf mich warten zu lassen, oder den Versuch zu wagen, Sie mit diesen Zeilen zu benachrichtigen. Mein Bursche ist leidlich intelligent. Ich werde ihm beschreiben, daß eine schlanke Frau im weißen Kleid und schwarzem Jacket, mit einem schwarzen Hut, darauf weiße Schleifen sind, ihm vor dem Berliner Thor begegnen muß. Sie sehen, gnädige Frau, daß ich den Anzug kenne, den Sie bei schönem Wetter zu tragen pflegen. Hoffentlich stimmt es auch heute, und obenein werde ich dem Burschen sagen, daß Sie ganz anders aussähen als alle anderen Damen von Mühlau. Dann kann er nicht das Unheil anstiften, den Brief in eine unrechte Hand zu legen.

Unmöglich erscheint es mir aber, infolge der heute mir auferzwungenen Entsagung sechs volle, lange Tage nichts von Ihnen und Ihren Kindern zu hören. Darf ich die Bitte wagen, mich morgen treffen zu wollen? Ich bin jedenfalls zur Stelle und warte.

  Ihr tief ergebener
A. v. K.“ 

Ein Gefühl von unsinnigem Glück überwältigte Sabine. Diese Zeilen, die im Grunde doch viel weniger sagten, als was sein Mund, seine Blicke, sein ganzes Wesen schon so oft gesagt, erschienen ihr wie ein Pfand ihrer Zusammengehörigkeit, wie eine ganz intime Annäherung.

Die Notwendigkeit, ihm antworten, ihm schriftlich irgend einen Punkt bei Heinsdorf als Rendezvous andeuten zu müssen, erfüllte sie mit Wonne und Schreck. Noch Minuten saß sie und las seinen Brief wieder und wieder, als könnte ihr ein Wort oder ein geheimer Sinn entgangen sein, und erquickte sich an dem Anblick seiner großen, klaren Handschrift.

Dann eilte sie heim, unterwegs bedenkend, daß es fast eine Unmöglichkeit für sie war, heimlich einen Brief zu schreiben und noch sogleich zur Post zu besorgen. Und doch mußte das geschehen. Die Post war der einzig mögliche Weg; die Sicherheit, daß Achim morgen früh ihre Zeilen empfange, nur gegeben, wenn sie dieselben noch heute in den Kasten steckte. Die Eltern wußten zu genau, daß Sabine nur mit drei Menschen, mit Susanne Osterroth, mit ihrem Schwager Benno von Zeuthern und mit Onkel Fritz Osterroth, korrespondiere und stets am Abend schreibe.

Mit dem Hute auf dem Kopfe setzte sie sich an ihren Schreibtisch, und ohne Besinnen schrieb sie: „Ich darf Sie morgen nachmittag nicht der Langenweile aussetzen, hochverehrter Herr von Körlegg, vergebens auf mich zu warten. Wir siedeln übermorgen nach Heinsdorf über, d. h. die Kinder und ich; und meine liebe gute Mama fände es sicherlich unbegreiflich, wenn ich morgen mich vom Einpacken für eine halbe Stunde abzumüssigen wüßte. In Heinsdorf wird mein Leo sich hoffentlich schnell und ganz erholen. Es ist sehr schön dort. Auch finde ich Lieblingsplätze aus meiner Jugend wieder, vor allem den unter der Franzosenlinde, wo ich so oft, ach, in noch glücklichen Tagen die Sonne untergehen sah.

Ich danke Ihnen noch einmal für alle Teilnahme während Leos Krankheit. Sie wurden mir dadurch in vielem Sinne zum Wohlthäter.

 Ihre
S. v. Z.“ 

Sie lächelte, beinahe stolz über ihre jesuitische Schlauheit.

Wenn sein Herz verstehen wollte, würde es den Ruf verstehen: vor Sonnenuntergang, an der Franzosenlinde harre ich dein! Und wenn sein Herz nicht so wachsam war, konnte er die letzten Worte wie ein Lebewohl für unbestimmte Zeit auffassen. Nein, ich vergebe mir nichts mit diesen Zeilen, dachte sie beruhigt.

Frau Oberamtmann stand in der Küche und besprach mit Guste, daß man übermorgen Erdbeeren einkochen wolle. Zu ihrem Erstaunen sah sie Sabine, die vor zehn Minuten vorbeigeeilt war, noch einmal weglaufen.

„Was ist? Was willst du?“ rief sie neugierig.

„Ich habe was vergessen!“ rief Sabine von der Treppe zurück. Und nach weiteren zehn Minuten kam sie heim und wies ein Päckchen Nähwaren vor. „Es ist besser, man hat alles bei sich, wenn die Kinder was zerreißen.“

„Na,“ sagte der Oberamtmann, „Zwirn und Seide kannst du schließlich auch im Dorf haben.“

Wie glücklich war Sabine, als sie am übernächsten Tag bei ihrem Bruder einzog. Reinald hatte ihr so liebevoll alles geschmückt, Kränze flochten sich um die Thüren ihrer drei Zimmer, und Martha, seine Braut, hatte riesige Blumensträuße gebunden von bunt prahlenden Bauernblumen. Die Braut war mit ihrer [359] Mutter von Wendessen herübergekommen und blieb zum Abendessen. Gleich bestand Sabine darauf, daß Reinald von morgen an, wie er es gewohnt gewesen, nach der Tagesarbeit nach Wendessen reite. Niemand sollte irgend eine Störung durch sie erleiden, am wenigsten sollte Martha den geliebten Bräutigam entbehren. Mit einem bezaubernden Lächeln bat sie um Erlaubnis, gelegentlich mit nach Wendessen hinüberkommen zu dürfen, wenn sie erst etwas wohler geworden sei. Martha und ihre Mutter waren wieder entzückt und Sabine hatte für sich und die andern die Situation ganz klar festgelegt.

Nun konnte das Idyll anfangen. Sabine wartete sozusagen empfangsbereit darauf, daß die Landluft ihr und den Kleinen wohlthun und das Zusammensein mit dem geliebten Bruder ihrem Gemüt Frieden geben solle. Aber schon gleich am andern Tag stellte sich heraus, daß die Geschwister nicht recht etwas miteinander anzufangen wußten. Und zwar trotzdem sie beide eine seltene seelische Feinheit von Natur besaßen. Aber bei ihm war diese Feinheit zur keuschen Verlegenheit geworden, bei ihr zur vollkommenen inneren Freiheit und äußerlichen Gewandtheit. Waren sie nun zusammen, so fühlte Reinald eine Art Scheu, Sabine eine leise Ungeduld. Dennoch liebten sie einander von Herzen.

Mit den Kindern war Reinald ganz besonders liebevoll. Sie hatten auch gleich von Heinsdorf Besitz ergriffen, als sei es bloß ihretwegen da. Sie tobten im großen alten Garten umher und sahen mit nie ermüdendem Interesse in den Ställen dem Vieh zu. Kein Ackerwagen verließ den Hof, ohne daß Leo nicht stolz auf dem Handpferd bis zur Thorpforte mitritt, vom Knecht gehalten. Von Leos Pflegebedürftigkeit war gar keine Rede mehr, alle Schwäche hatte er in Mühlau gelassen.

Am zweiten Tage ihres Aufenthalts ging gegen Abend ein solches Gewitter nieder, daß Sabine begriff, sie könne nicht zur Franzosenlinde wandern.

Am dritten Tag erwartete sie fieberhaft die Zeit. Während Lisbeth die Kleinen zu Bett brachte und Reinald nach Wendessen ritt, verließ Sabine den Wirtschaftshof. Der war ein Viereck, gebildet durch die Front des Schlosses, die beiden Riesenscheunen und vorn an der Chaussee das hohe Gitter, darin eine mächtige Pforte ihre Flügel offen hielt. Geradegegenüber führte von der Chaussee ein Landweg zwischen Feldern hin, zu einem kleinen Erlenbusch. Die Felder trugen das grünwogende junge Korn, bräunlich schimmernd reckten sich die Ähren aus den Halmen. Der Erlenbusch bestand aus ein paar Dutzend alten Bäumen, die sich unregelmäßig um einen Wassertümpel gruppierten. Dann hob sich das Gelände, und wenn man dem Weg noch zehn Minuten weiter folgte, kam man zu einem Aussichts- und Höhepunkt, welcher den Stolz des Gutes Heinsdorf bildete.

Da stand eine uralte Linde, unter welcher einmal ein Franzose erschossen worden sein sollte. Das vermooste Steinkreuz neben dem Baum sollte von seinen Angehörigen errichtet sein. Unter dem Großen Kurfürst hatte sich dies, der Legende nach, begeben. Von dem Höhepunkt stieg eine lange schmale Thalmulde ziemlich steil hernieder. Man übersah sie ganz, denn ihre Sohle war nur von Wiesengrün ununterbrochen bedeckt. Aber zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken zogen sich breite Waldstreifen hinab, die ihre ersten Bäume bis zur Linde heraufschickten.

Fern, unten mündete die Thalmulde im flachen Land, durch das sich breit und flimmernd der Fluß wälzte. Drüben blieb die Gegend flach und erschien anmutig bunt überwürfelt von Dörfern, Feldern, Waldflecken.

Weit war der Horizont, wie herrschend über der Landschaft stand man, wenn man sie von der Franzosenlinde aus betrachtete. Schon stand die Sonne sehr tief. Blank und ein vibrierendes Strahlengefunkel rund um sich aussendend, ging sie am hellen Himmel nieder.

Sabine saß auf der Bank, das graue Steinkreuz neben, den Lindenstamm hinter sich, und wartete.

Das Thal ward grüner, der Wald dunkler, die Luft feuchter. Die Linien und Farben drüben jenseit des Flusses verschwammen in bläulichen Tönen. Die Sonne war weg, und hoch oben am weißklaren Himmel färbte sich ein dünnes Gewölk schimmernd rosig.

Kein Schritt erklang. Niemand kam. Fröstelnd, mit Schwere in allen Gliedern ging Sabine heim. Die Enttäuschung lähmte ihr Seele und Leib. Sie fühlte sich geradezu krank.

So hatte sein Herz doch nicht verstanden – – Ihr Stolz wachte auf und beruhigte sie: ihre Schlußworte waren ja ein Abschied gewesen. Und dennoch fuhr sie fort zu leiden.

Enttäuschung erschien ihr von allen Qualen des Lebens eine der grausamsten. Stunden, Tage, Nächte sind nur erträglich gewesen durch heimliches, wonniges Warten auf einen Augenblick des Glücks. Der Augenblick kommt, das Glück bleibt aus – ach, das that wohl allen Menschen gleich weh! Mir besonders, dachte Sabine, ja, mir besonders, denn ich habe so heiß gewartet und schon so viel gelitten!

Am folgenden Tage kündigte Reinald beim Frühstück schon freudestrahlend für den Abend den Besuch seiner Schwiegereltern und seiner Braut an. Kaum erzwang Sabine ein blasses Lächeln. Sie kommen etwas oft hierher, die guten Leute, dachte sie. Mit dem festen Vorsatz war sie aufgestanden, heute abend keinesfalls zur Franzosenlinde zu gehen, um nicht die Marter einer neuen Enttäuschung zu erleben. Nun sie gewiß wußte, daß die Umstände sie verhindern würden, zu gehen, dachte sie erbittert: Also auch hier Zwang.

Der vierte Tag auf Heinsdorf schien sich in eine qualvolle Ewigkeit umgewandelt zu haben. Sabine sah so bleich aus, daß Reinald sich ängstigte. Er fürchtete, sie entbehre eine Zerstreuung.

„Sonntag essen Hallendorf und Bläser hier. Martha kommt allein. Da du hier bist, kann sie es ganz gut. Wir wollen recht vergnügt sein. Hallendorf ist ein Prachtmensch,“ erzählte Reinald.

An diesem Tag fehlte Sabine selbst die Kraft und das Interesse, sich viel um ihre Kinder zu kümmern.

Aber endlich neigte es sich zum Abend und Sabine eilte mit unsicheren Schritten und klopfendem Herzen an ihren Lieblingsplatz, ohne Hut, ohne Mantel, wie jemand, der nur fünf Minuten in den Garten will. Sie hatte es sich gelobt: kommt er heute nicht, so bin ich ihm gleichgültig und will ihm auch keine Gedanken mehr gönnen. Dabei fühlte sie, daß dies Gelöbnis eine Selbsttäuschung erzwungenster Art war. „Fünf Minuten will ich warten, länger nicht,“ sprach sie zu sich.

Und als sie noch drei Schritte von der Linde war, schrie sie auf.

Da saß er. Der alte Stamm hatte ihn ihr verdeckt. Ihr Schrei erreichte ihn. Er sprang auf. Bleich, in sinnloser Erregung standen sie einander gegenüber. Sabine glaubte umzusinken. Er legte den Arm um sie und führte sie zur Bank.

„Acht Tage – acht Tage!“ murmelte sie.

Ja, acht Tage hatte sie ihn nicht gesehen. Das Warten hatte sie zermürbt. Sie wußte nichts mehr davon, daß sie sich bewachen wolle und müsse, daß ein Weib sich nicht so verrät. Sie fühlte nur ein sinnloses Glück, ihn zu sehen, ein wildes, leidenschaftliches Glück. Ihre Blicke hingen an seinen Zügen, ihre eiskalte Hand preßte wieder und wieder die seine.

„Oh mein Gott!“ sagte er erschüttert.

Sie saßen still zusammen. Sabine sah ihn an, als könnte sie es immer noch nicht fassen, daß er es sei. Langsam breitete sich ein strahlendes Lächeln über ihr Angesicht, und ihre Leichenblässe schwand.

Achim saß mit fest verschlossenen Lippen. Ein eiserner Ausdruck trat in seine Züge. Ich muß Mann bleiben! dachte er verzweifelt. Er sah es, er mußte es begreifen, was er längst bebend gefürchtet und gehofft: dieses heiße, schöne Weib glühte für ihn.

„Wie geht es Leo?“ fragte er endlich.

„Gut!“ sagte Sabine mechanisch.

Und wieder Schweigen.

„Gestern war ich hier vergebens,“ sprach er.

„Und ich vorgestern.“

Er drückte ihr die Hand; sie hatten einander noch gar nicht losgelassen.

Unten, jenseit der weiten, friedlichen Landschaft sank die Sonne. Hinterm Waldstreifen rechts lag das Dorf; man sah es nicht, aber ein klingendes Hämmern kam schwach daher. Quer über die Thalmulde schritten ein paar Arbeiter, sie gingen durch den Wald heim ins Dorf.

Sabine trachtete, sich zu sammeln.

„Wie sind Sie gekommen? Doch nicht zu Fuß? Fanden Sie den Platz leicht?“ fragte sie.

„Ich habe mein Pferd beim Krüger im Dorf eingestellt. [360] Die Franzosenlinde habe ich mir gleich, als ich Ihre Zeilen empfing, auf der Generalstabskarte gesucht,“ erzählte er.

Nun wußten sie sich nichts mehr zu sagen. Das, was sie qualvoll durchströmte, mußten sie beschweigen. Jedes andere Wort erschien ihnen so nebensächlich. Die ganze Welt zu unbedeutend, um von ihr zu reden.

Die Minuten rannen. Langsam ermattete die Helle, so zögernd schlich das Licht davon, als wollte es die schöne Sommererde nicht gern verlassen.

Achim war sich der Gefahr bewußt, die in diesem langen Schweigen lag. Wie sollte er es enden, ohne ihr, ohne sich weh zu thun?

Sabine war es. die es schroff zerriß. Wieder war es ihr gewesen, als rufe eine klägliche Kinderstimme: Papa – Papa – und noch einmal verhallend, verhauchend: Papa – – Wollte diese Einbildung sie denn immer äffen? Ihr jedes Zusammensein vergällen?

„Es wird dunkel und kalt,“ sprach sie und stand auf.

„Kalt und dunkel – –“ wiederholte er gedankenlos.

„Morgen kann ich nicht hierherkommen, übermorgen auch nicht. Dann hat mein Bruder Gäste,“ sagte sie.

„Ich weiß. Hallendorf erzählte bei Tisch, daß er nach Heinsdorf geladen sei. Hallendorf spricht sehr viel von Ihnen.“

Sie zuckte die Achseln. Langsam ging sie den Weg, der gerade auf den Erlenbusch zuführte. Die Bäume standen schwarz vor dem lichten Abendhimmel. Kein Lüftchen rührte an ihren Wipfeln. Ueber der kleinen Wasserfläche braute ein weißlicher Dunst.

Achim ging neben Sabine her. Das Wort des Abschiednehmens wollte gefunden sein; es fand sich nicht. Endlich reichte sie ihm stumm die Hand. Sie standen schon unter den Bäumen und es dunkelte stark. Er sah in das weiße Gesicht, ihm kam vor, als wäre es flehend zu ihm empor gewandt, als zuckten herbe Bitterkeiten um den Mund. Und doch konnte er deutlich nur die brennenden Augen erkennen.

Er nahm ihre Hand, mit seinen beiden Händen hielt er sie umschlossen.

„Gute Nacht!“ flüsterte Sabine.

„Gute Nacht!“

Sein Haupt neigte sich zu ihr und das ihre bog sich ihm entgegen. Er küßte ihr Haar. Es war nur wie ein Hauch.

Sie lief fort. Er sah ihr weißes Kleid noch schimmern, bis sie im Hofthor von Heinsdorf verschwand.

Wie still es schon auf dem Hofe und im Hause war. Ganz verschlafen und arbeitsmüde schien diese kleine Welt.

Das that Sabine wohl. Niemand sprach zu ihr, fragte sie, störte sie. Sie schwelgte förmlich in der Wonne der gedankenschweren Einsamkeit, jeder Nerv in ihr durchkostete noch einmal die letzte so wortkarge und so unendlich inhaltsreiche halbe Stunde – –

Und während es draußen völlig Nacht ward und die Geräusche des Lebens allmählich ganz erstarben, saß Sabine und schrieb. Einmal hörte sie noch die klappenden Hufschläge eines Pferdes. Ihr Bruder kam heimgeritten. Bald danach knarrte das große Hofthor und fiel krachend ins Schloß. Dann blieb alles still.

Sabine konnte ihr Herz nicht verschlossen halten. Ihr Temperament drängte übermächtig nach irgend einem Ausbruch. Sie mußte es hinaus schreien und jubeln, was sie ganz erfüllte. Ihrer treuen Freundin Susanne durfte sie ihr Inneres ganz offenbaren.

„Warum soll ich Dir verhehlen, was ich mir selbst nicht länger verhehlen kann und will! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!! Hörst Du es wohl? Und vielleicht haben es Dir schon alle meine Briefe verraten. Und vielleicht entsetzest Du Dich davor. Ich liebe den Mann, der meinen Gatten erschossen hat! Und in mir ist kein Zittern und keine Furcht. Ich stehe nicht unter dem Drucke der Hoffnungslosigkeit. Jeder Pulsschlag sagt es mir: er liebt mich wieder. Sage mir nicht, daß dies in meinem Fall nicht genügt, hoffnungsfreudig zu sein. Sage mir nicht, daß die Verhältnisse Achim und mich voneinander trennen. Ich erkenne sie gar nicht als Hindernisse an, diese Verhältnisse.

Denke doch nach, sieh doch ein bißchen um Dich! Erinnerst Du Dich noch an die Geschichte Witzow-Hamsta? Die ganze Gesellschaft sprach schon zwei Jahre lang über den Baron Witzow und Frau von Hamsta. Natürlich Hamsta war der letzte, der es erfuhr. Dann forderte er Witzow, und Witzow erschoß ihn und heiratete nach einem Jahre Frau von Hamsta.

Dann jene andere Geschichte, die Volkners passiert ist! Frau von Bärenburg lebte in namenlos unglücklicher Ehe, ihre eigenen Eltern drangen auf Scheidung, jedermann wünschte ihr Freiheit. Sie gewann ihren Prozeß und das Gericht sprach ihr auch die beiden Kinder zu. Später lernte sie den Professor Volkner kennen und schloß mit ihm eine sehr, sehr glückliche Ehe. Volkner ward den Kindern ein zärtlicher Vater. Aber Bärenburg verfolgte seine einstige Frau und seine Kinder. Mehr als einmal mußte Professor Volkner ihm Annäherungsversuche energisch verweisen lassen. Umsonst. Bärenburg wußte den Kindern auf Schul- und Spazierwegen aufzulauern, versuchte sie zu beeinflussen, trübte ihre unbefangene Jugendfröhlichkeit. Da forderte Volkner den früheren Gatten seiner Frau, und diesmal behielt das Recht den Sieg: er erschoß Bärenburg.

Solche Geschichten könnte ich Dir ein Dutzend erzählen. In der ersten spielte ein ungeheurer Frevel mit, eine fluchwürdige Todsünde. Und die beiden, die sich liebten, kamen doch zusammen!

Auf Achim und mir lastet nicht der Schatten einer Schuld. Wir lernten uns erst kennen, als ich frei war.

Und solche Komplikationen, wie die arme Frau Professor Volkner erlebte, sind durchaus ausgeschlossen: es lebt niemand, der Achim meine Liebe und die Zärtlichkeit der Kinder mißgönnt.

Soll ich nicht gerade eine wunderbare Fügung des Geschickes darin sehen, daß der Mann, der – Du weißt es – nur erzwungen in jenes Duell ging – der meinen Kindern den Vater nahm, ihnen wieder Vater sein könnte – und sicher ein besserer, als der Tote war?

Aber ich will Dir noch mehr sagen: selbst wenn da Schuld wäre, wenn mich Untergang bedrohte, Elend und Tod! Ich liebe ihn und ich werde mir mein Glück erringen, einer Welt zum Trotz. Es giebt kein Hindernis, wo Liebe ist. Es giebt kein Vorurteil, wo Leidenschaft spricht. Es giebt keine Entsagung vor dem übermächtigen Willen des Gefühls.“


6.

In Verzweiflung ritt Achim heim. Er fühlte es: diese Flammen ergriffen ihn, diese Glut glühte weiter und zu ihm hinüber. Seine Pulse klopften. Er verwünschte sein Schicksal.

Es war ihm, als sei er verdammt gewesen, eine unmännliche Rolle zu spielen, weil er das Weib, das ihm entgegenzitterte, nicht in seine Arme genommen hatte und ihre durstigen Lippen nicht wundgeküßt.

Ich muß ein Ehrenmann bleiben, dachte er.

An ihm war es, zu handeln und die Gefahr zu ersticken, ehe sein Leben und das ihre darin umkam.

Langsamer und langsamer ließ er sein Pferd gehen.

Rings die Landschaft lag in sanftem Schweigen der hellen Sommernacht. Auf einer Koppel, an der er vorbeiritt, ruhten dicht aneinander gedrängt die schweren Leiber schlafender Kühe. Fern blinkte ein Licht aus einem kleinen Gehöft. Weiße Nebelfetzen zogen über tiefer gelegene Wiesen.

Dann kam er in den Kiefernwald und die Stille um ihn her schien bedeutungsvoller zu werden.

Allmählich beruhigten sich seine Nerven. Klar lag vor ihm, was er zu thun hatte. Sabine und er durften sich nicht mehr sehen. Nie mehr!

Auch er saß in der Nacht und schrieb. Aber seine Feder flog nicht über das Papier, seine Lippen öffnete kein trunkenes Lächeln. Auf seiner Stirn stand es feucht, und zehnmal zerriß er, was er geschrieben, ehe er die rechte Fassung fand.

Jede schien ihm brutal. Immer fürchtete er, daß ihr schnöder Sinn war: Sie lieben mich, meine gnädige Frau, ich lehne aber das Geschenk Ihrer Liebe dankend ab. Er durfte nur von sich sprechen, nur von seinen Gefühlen, von der Gefahr, die er für sich empfand. Was er aus ihrem Wesen erraten hatte, das mußte er vergessen, mußte blind und verständnislos scheinen.

Schließlich gab er seinem Brief diese Fassung:

„Meine hochverehrte teure Freundin! Nicht wahr, so darf ich Sie nennen, Ihre Güte scheint mir das Recht zu geben, und offen, wie ein Freund zum andern, will ich mich zu Ihnen aussprechen. Ich nahe mich Ihnen in einer schweren Stunde, schwer, weil ich mich Ihnen in all meiner menschlichen Schwachheit zeigen muß.

[361]

Der Altertumsforscher Champollion der Jüngere bei den Memnonssäulen in Aegypten.
Nach dem Gemälde von M. Orange.

[362] Meine teure gnädige Frau – welcher Mann könnte mit Ihnen so oft zusammensein, wie Ihre Gnade mir in diesen letzten Wochen es erlaubte, ohne ein tiefstes Interesse an Ihnen zu gewinnen. Und jedem Mann ist gestattet, was mir allein das Schicksal verbietet: sich Ihnen liebend, werbend zu nahen!

Lebte Ihr Gatte noch – dem Lebenden machte ich Sie streitig. Dem Toten, dem, den ich getötet, kann ich es nicht! Sein Schatten verwehrt mir alles, selbst die karge Freiheit, noch weiter das Glück eines ohnehin so versteckten, so flüchtigen Verkehrs mit Ihnen zu genießen.

Denn dieser Verkehr bringt für mich eine Gefahr mit, der ich nicht erliegen darf. Wer kann sein Herz in Ketten legen, wer es stumm und tot machen, wenn es erst einmal laut gesprochen?

Und wenn ich auch hoffen darf, Ihnen ein Freund und ein wenig wert zu sein – ich fürchte, Ihre Sympathien würden sich in Haß wenden, wenn mein Wille eines Tages nicht mehr stark genug wäre, mein Gefühl zu bändigen.

Deshalb muß ich mir den Schmerz zufügen, mich selbst von Ihrem Angesicht zu verbannen, ehe Sie es thun!

Haben Sie heißen Dank für alles, was Sie mir waren! Gott segne Sie und Ihre beiden lieben, schönen Kinder. Mögen sie, wie sie es äußerlich thun, einst auch innerlich ihrer Mutter gleichen.

Vergessen Sie nicht, meine heißverehrte Freundin, daß der Mann, der Ihnen fortan fernbleiben muß, auch in der Ferne Ihr und Ihrer Kinder bester Freund bleibt, der opferwilligste, der jedem Ruf nach Hilfe gehorcht.

 Ihr ganz ergebener
 Achim.“

Noch in der Nacht trug er den Brief fort. Er hatte Furcht, anderen Sinnes zu werden. Immer sah er versuchend und Mitleid heischend das schöne, liebeglühende Angesicht vor sich.

Er biß die Zähne zusammen.

„Aus und vorbei! – Der Tote hat sich gerächt. – Ich hab’ es damals wohl vorausgeahnt, als ich’s so schwer nahm und so lastend trug – – aus jener Stunde erwuchs mir ein Schicksal.“

Deutlich sah er wieder den zusammengekrümmten Körper des Erschossenen auf dem Rasen liegen und fühlte wieder den kalten Schreck.

„Aus und vorbei! Es muß sein!“

Am andern Morgen kam für Körlegg der Dienst, und das Leben mit den Kameraden, und der Alltag lief ab wie eine aufgezogene Uhr. Bei Tisch sprachen Hallendorf und Bläser von ihrem morgigen Ausflug nach Heinsdorf, und Hallendorf erzählte, daß sowohl die Kinder als auch die gnädige Frau sich draußen schon völlig erholt haben sollten. Wenn im Kasino von den Mühlauer Damen die Rede war, hieß es: „die Landrätin“, oder „die Assessorin“, oder „sie“ – das war die Kommandeuse – oder „die gnädige Frau“, und das war immer Sabine.

Achim fand, daß Hallendorf ein unerträglicher Mensch sei und aussähe wie ein blonder Don Quixote.

Am Montag hörte er dann den Bericht der beiden Herren. Der Tag war unter der Erwartung geblieben. Das Brautpaar, in steter Zärtlichkeit ineinander versunken, langweilte jeden geschmackvollen Menschen. Oberamtmanns waren ausgeblieben, der alte Herr hatte es in den Füßen; er litt zuweilen an Stechen darin und Anschwellungen. So hatte man nach dem Kaffee keinen dritten Mann zum Skat gehabt, was sehr empfindlich gewesen wäre, weil die gnädige Frau sehr, sehr elend sich gefühlt habe und gleich nach Tisch unsichtbar geworden sei. Bläser sagte, sie habe erbärmlich ausgesehen, und Hallendorf berichtete, daß er heute hinausreiten und sich erkundigen müsse.

Achim hörte jedes Wort.

Ein schwerer Gram drückte sein Herz. So elend war sie durch seinen Brief. Er fühlte es mit vernichtender Gewißheit.

Vor zwei Tagen hatte sie in blühender Gesundheit gestrahlt. Und nun – – Um ihn! Seinetwegen! Sie liebte ihn und verging, weil sie ihn nicht mehr sah. Wie sollte er dies Bewußtsein ertragen? Und die ganze Woche hindurch hatte Hallendorf keine anderen Berichte.

„Der gute Reinald ist verzweifelt. – Sie scheint sehr nervös. – Sie hat keinen Ton von Farbe mehr, aber sie sieht einfach bethörend schön aus. Am gescheitesten wäre es, sie heiratete wieder, das wäre auch für ihre Nerven gut.“

Achim fühlte sich verletzt bis in seine tiefste Seele. So sprachen diese Männer von dem Heiligsten! Also einen Mann sollte sie nehmen, wie andere eine Medizin nehmen. Und dieser Hallendorf bildete sich ein, der Rechte zu sein.

Wenn nur erst das Manöver käme. Dann konnte Hallendorf nicht mehr so oft nach Heinsdorf reiten und er selbst kam auch in eine andere Umgebung. Vielleicht überwand sich’s da leichter.

Wenn Sabine nur wieder hereinziehen wollte in die Stadt! Da konnte er sie doch manchmal von fern beobachten, hinter seinen Gardinen stehend, wenn sie zum Thor hinaus ging.

Das Mitleid quälte ihn, und er wünschte, wie ein Märchengeist unsichtbar um sie sein und sie trösten zu können. Wäre ihm das gegeben gewesen, würde sein Mitleid nur leidenschaftlicher geworden sein. Sabine litt mehr, als selbst er ahnte. Als sie seinen Brief bekommen hatte, war ihr einen Augenblick, als hasse sie den Mann! Wie ein Feiger erschien er ihr, der keinen Mut hatte, dem Ungewöhnlichen zu trotzen. Ein Mann, der vor einem Schatten zurückweicht! War das ein Mann?!

Dann aber, mit der Erkenntnis ihres unaussprechlichen Unglücks, brach die Leidenschaft in rasenden Flammen noch mächtiger hervor. Sie wollte hin zu ihm – ihm kühn und groß sagen: Ich liebe dich; kein Hindernis ist stark genug, uns zu trennen. Ich trotze dem Himmel und der Hölle. Ich liebe dich!

Aber der wilde Vorsatz ward nicht ausgeführt. Die Phantasie ist rasch mit außerordentlichen Thaten bei der Hand.

Wie ein lähmender Bann legte sich die matte, platte Wirklichkeit auf Sabinens loderndes Verlangen.

Nein, derlei thut man nicht, das ist unweiblich! Unweiblich?! Immer giebt es irgend ein Vorurteil, wenn es sich um das Glück eines ganzen Daseins handelt.

Sabine lächelte bitter in sich hinein und bückte ihr Haupt unter das Joch.

Ihr fiel zunächst gar nicht ein, daß sie antworten könne. Alles in ihr war zerbrochen, selbst der Mut zu schreiben.

Auch von Susanne Osterroth kam ein Brief.

Er atmete Angst und Schrecken:

„In welches Verhängnis bist Du verstrickt! Es erscheint mir entsetzlich. Und Du wagst an eine Verbindung mit ihm zu denken?! Vergißt Du, daß Leo eines Tages kein Kind mehr sein wird, sondern ein Mann? Ich bezweifle nicht, daß Achim von Körlegg Deinen Kindern ein guter Vater sein würde, vielleicht ein besserer, als mein Vetter es gewesen wäre, denn der schien mir launisch und ungleich mit den Kleinen. Alles, was Du mir von Körlegg schreibst, ist so sympathisch, das heißt, wenn Du nicht blind bist. Milly und Leo würden wahrscheinlich den neuen Papa vergöttern – ich will wenigstens einmal annehmen, daß es so schön würde. Aber später? Wenn Leo ein Mann ist? Wenn er dann erfährt: sein Papa fiel im Duell und eben der, den er so oft geküßt, zu dem er aufgeschaut, den er liebt – eben der erschoß seinen leiblichen Vater? Wird Leos Liebe sich nicht in Empörung wandeln? Wird ihm nicht sein, als habe man ihn betrogen? Was wird er Dir sagen? Wie willst Du ihm ins Auge blicken?

Beantworte Dir doch alle diese Fragen!

Meine geliebte Sabine, mir scheint, es giebt nur noch eine Hilfe, und zwar die Flucht. Du mußt fort von Mühlau. Ich weiß wohl, es ist scheinbar unmöglich. Ich werde mit Onkel Fritz sprechen; ohne ihm Dein Geheimnis zu verraten, werde ich ihm sagen, daß Mühlau Dich umbringt. Er kommt demnächst zurück nach Berlin. Mir ist zu Mute, als müßte ich Dich retten – wie soll ich es anfangen! Besinne Dich! Mache doch Deine Augen auf!“

Eine Stimme in Sabine schrie: Sie hat recht! Tausendmal ja – so ist es, so wird es sein!

Aber in düsterem Trotz wollte sie auf diese Stimme nicht hören. Niemand versteht mich, dachte sie, niemand wird mich verstehen! Erhebt man sich denn mit einer solchen Leidenschaft auf so einsame Höhen, daß man dem Auge der anderen Menschen entwächst?

Und sie kam sich größer vor als die andern, weil sie fühlte, daß sie ihnen unverständlich sein würde, und weil doch das, was in ihr brannte, nichts Kleines oder Kleinliches war. Ein Tag nach dem anderen ging hin; Hallendorf sprach täglich vor, es fiel Sabine zunächst nicht einmal auf.

[363] Einmal fuhr sie in die Stadt, weil sie sich sehr über das Befinden ihres Vaters beunruhigte. Wenn der alte Herr es in den Füßen hatte, führte ihre Mutter auch kein leichtes Leben, ärgerte sich über die Reizbarkeit des Gatten und litt infolgedessen mehr an der Leber.

Doch fand sie die Eltern in unerwartet leidlichem Zustande. Der Oberamtmann trank geduldig „seinen“ Thee, die Oberamtmännin ebenso gewissenhaft „ihren“ Brunnen. Man merkte wohl, sie entbehrten die Gegenwart und Pflege der Tochter nicht, Guste verstand sich völlig auf die Bedürfnisse und Stimmungen ihrer Herrschaft. Und die Oberamtmännin ließ sogar einfließen, „es sei auch jetzt so schön still im Hause“. Der Alte gab ihr wieder einmal einen heimlichen Knuff, den aber Sabine sah und der für ihr Empfinden die Aeußerung der Mutter nur noch verschärfte.

Als sie nach Heinsdorf zurückfuhr, sah es schlimm in ihr aus.

„Wohin ich sehe: es ist im Leben kein Platz für mich. Nirgends habe ich ein Recht. Man duldet mich nur. Nicht einmal das Recht soll ich haben, zu lieben, wo ich liebe!“

Hallendorf begegnete zu Pferde ihrem Wagen. Er hielt sein Pferd an und beklagte, die gnädige Frau draußen verfehlt zu haben.

Sabine begriff sich selbst nicht ganz: aber wie ein Blitz zuckte der Gedanke durch ihr Hirn: wenn ich wieder heiratete – zum Beispiel diesen Mann da! Dann wäre alles zu Ende: die Hoffnung, die Qual, die Heimatlosigkeit! Stolz und höhnisch trete ich Achim gegenüber: – „du hattest keinen Mut – siehe, was ich nun gethan habe!“ Holdselig lächelte sie Hallendorf an. Der sah nicht, daß nur der Mund so lächelte, daß der Ausdruck leer und künstlich war. Hochbeglückt ritt er von dannen. Nun schien er nahe am Ziel! Er beschloß, noch vor dem Manöver das Jawort sich zu holen. Dann konnte man gleich nach dem Manöver heiraten.

Auf Heinsdorf fand Sabine wieder einmal Martha und ihre Mutter vor. Immer mehr sah es Sabine ein, daß Martha ein tüchtiges Menschenkind war, mit einem warmen, selbstlosen Gemüt und mit einer Fülle praktischer Kenntnisse; Reinald konnte keine bessere Frau bekommen. Aber es machte sie nervös, wie das Brautpaar aneinander klebte. Immer standen sie Hand in Hand oder Reinald mit dem Arm um Marthas Taille, oder Martha mit der Hand auf Reinalds Schulter. Es reizte sie auch, daß es Menschen gab, die sich so ungehindert ihres stillen, kleinen Glückes freuen durften. Bei denen wuchs nichts über das Maß hinaus! Da gab es keine Verzweiflung und keine Not des Herzens!

Nach einer schlaflosen Nacht, die ihr nicht einmal die Wohlthat eines Thränenausbruches brachte, stand sie vernichtet auf.

Ich kann nicht mehr! dachte sie.

Da brachte ihr die Morgenpost einen Brief, dessen Aufschrift ihr schon die Fassung raubte. Gerade saß Milly auf ihrem Schoß, und gerade wollte Leo von ihr wissen, ob der Storch auch die kleinen Kälber bringe, heute nacht sei eines im Stall angekommen. Sie schickte die Kinder fort, auszugucken, ob Onkel Reinald schon vom ersten Inspektionsritt heimkomme, und dem die Storchfrage vorzutragen.

Er hatte geschrieben! Der Brief brachte ihr das Leben zurück!

„Teure, hochverehrte gnädige Frau! Auf meine Zeilen, die ich Ihnen vor vierzehn Tagen sandte, haben Sie geschwiegen. Ich durfte es nicht anders erwarten. Wenn mir auch dies Schweigen zu verbieten scheint, mich Ihnen brieflich noch einmal zu nähern, so muß ich dennoch einem sehr angstvollen Gefühl gehorchen und Ihnen schreiben. Fortwährend höre ich davon sprechen, daß Sie erschreckend leidend aussehen. Ich flehe Sie an, beruhigen Sie mich durch ein einziges Wort über Ihre Gesundheit. Mir scheint, das Schicksal hat mich vorbestimmt, die Ursache aller Ihrer Leiden zu sein, und die Furcht will nicht von mir weichen, daß mein neulicher Brief vielleicht allzu lebhaft Ihre Erinnerungen an den erlittenen Verlust aufgewühlt hat. – Irre ich mich, verzeihen Sie mir die Zudringlichkeit der Frage und strafen Sie mich durch Schweigen. Beinahe scheint es, daß ich mich irren könnte! Denn Hallendorf, welcher mit den Kameraden offen von Gefühlen und Hoffnungen zu sprechen pflegt, die man sonst höchstens einem intimsten Freunde anvertraut, deutet an, daß wir noch vor dem Manöver eine Verlobung im Regiment haben werden. Wird das wahr, dann, meine teure gnädige Frau, wissen Sie, wer mit blutendem Herzen, aber in heiligem Ernst den Segen des Himmels auf Sie herabfleht. Hallendorf betet Sie an. Er darf es. Er! Wie sollte er nicht danach streben, Ihnen Glück zu geben!

Darf auf eine Zeile über Ihre Gesundheit hoffen
 Ihr stets ergebener
 A. v. K.“

Wie kennt er mich! dachte Sabine jubelnd. So scharf sieht nur die Liebe. Er hat gefürchtet, daß ich aus Trotz Hallendorf heiraten könne! Und habe ich es nicht schon zwei Minuten lang vorgehabt! Seine Eifersucht ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht auch die Sorge nicht. – Jedermann hat mir’s ja förmlich ins Gesicht geschrieen, daß ich krank aussähe. – Ich bin eben keine von denen, die lachen können, wenn ihnen heimlich das Herz bricht.

Lange dachte sie darüber nach, ob die Stelle, wo er auf den „erlittenen Verlust“ hinwies, eine Redensart sei – gemacht, um nicht offen einzugestehen: ich weiß, du leidest um mich; oder ob er wirklich des Glaubens lebte, sie habe an ihrem Gatten den Gefährten einer glücklichen Ehe verloren.

Sie antwortete noch am gleichen Vormittag und schrieb:

„Was sollte ich einem Manne sagen, der mir gestand, daß er eine Gefahr flieht? Ich dachte immer, es sei Mannespflicht, die Gefahr nicht zu scheuen. – Sie sprachen so oft zu mir davon, daß ich über Ihr Leben und Ihr Gut verfügen könne. Und Sie entziehen mir die Wohlthat, die für mich darin lag, zuweilen mit Ihnen mich aussprechen zu dürfen. Denn Sie allein wissen es, daß ich sehr einsam bin. Mit Ihnen darf ich und kann ich, gerade in Anbetracht des ungewöhnlichen Schicksals, welches uns in einem Atem trennt und bindet, alles besprechen. Gerade in diesem Augenblicke bedürfte ich eines Freundes, der mir rät. Daß mein Leben so nicht weiter gehen kann, ist mir klar. Meinen Eltern eine Last, bei meinem Bruder nur Gast – heimatlos bin ich. Liebe geben mir die Meinen; sie sind reich obenein. Dennoch darbt mein Herz und ich stehe da fast wie eine Bettlerin.

Wollen Sie mir eine Stunde schenken, damit ich Ihnen mein früheres Leben darlegen kann? Wollen wir dann fortan auf jeden direkten Verkehr miteinander verzichten, so lassen Sie uns nicht scheiden in der Form, die Ihr Brief von neulich uns auferzwang, sondern als Menschen, die nicht als Fliehende, sondern als Erkennende einander meiden.

Morgen abend muß ich meinen Bruder nach Wendessen begleiten, Sie werden schon wissen, daß mehrere Herren vom Regiment dorthin Einladungen zu einem Fest erhielten. Aber übermorgen abend. Ich erwarte Sie.
  Sabine.“

Als Achim diesen Brief erhielt, erschreckte ihn der entschlossene Ton. Vor dem Vorwurf, den die Eingangszeilen ihm machten, rötete sich sein Gesicht. Und doch fühlte er sich getroffen. Auch ihm schien plötzlich, daß es mutvoller gewesen sei, sich zu bezwingen, als Sabine zu meiden. In der Angst um Sabinens Gesundheit, in der brennenden Neugier, ob sie sich wirklich mit Hallendorf verloben werde, konnte er sein Vorgehen von damals gar nicht begreifen. Jetzt, wo er die verhängnisvollen Zauber ihrer Gegenwart nicht auf sich wirken fühlte, jetzt glaubte er, fest genug gegen jede Gefahr gefeit zu sein. – Ihre Betrachtungen über die Notwendigkeit, ihr Leben anders einzurichten, nahm er für ein Zeichen, daß sie doch sehr ernstlich an eine Heirat denke.

In verzehrender Ungeduld wartete er auf den bestimmten Abend. Am Mittag hörte er den Festbericht von Wendessen. Das Ereignis des Abends war gewesen: Sabine von Zeuthern hatte ihre Halbtrauer abgelegt. In einem hellen Gewand von grünlicher Seide, mit einem leuchtenden Glanz in ihren nächtigen Augen war sie geradezu unheimlich schön anzusehen gewesen. Langhans sagte etwas von „Melusine“ und „dämonischem Zauber“. Bläser erklärte ihren Hals und ihre Arme für klassisch und stellte fest, daß sie wie ein Schwan unter Hennen ausgesehen. Hallendorf sagte heute nichts, sondern strich sich unruhig den Schnurrbart, lächelte geheimnisvoll und hatte einen roten Kopf.

In Achim wuchs die Sehnsucht. Ein heimlicher Stolz erfüllte ihn. Dies Weib, über das sie alle redeten wie über ein schönes Rätsel – er allein kannte es genau. Er allein war ihr wert.

[364] Diesmal brauchte er nicht auf sie zu warten. Sie saß schon unter der Franzosenlinde, als er vom Dorf her zu Fuß einen schmalen Waldweg heraufkam. Schon von weitem sah er sie sitzen. Sie aber konnte ihn noch nicht sehen, und er gönnte sich die Wonne, lange Minuten sie heimlich zu betrachten.

Ja, die Kameraden hatten recht, wenn sie in überschwänglichen Ausdrücken von ihr redeten. In ihrer düsteren Schönheit lag ein Reiz ohnegleichen. Selig der Mann, der sie besitzen durfte!

Er kam hinter den Stämmen, die ihn verborgen hatten, hervor. Jede Besinnung verließ ihn, er eilte auf sie zu und kniete neben ihr nieder, ihre Hände mit Küssen bedeckend.

„Nicht so …“ bat sie zitternd.

Er erhob sich. „Ja, wir wollen ruhig sein,“ sagte er.

Sie saßen wieder nebeneinander. Aber diesmal breitete sich kein lachender Abendfriede vor ihnen aus; der überwölkte Himmel verbarg die Sonne. Nach einem frischen Regentag waren Rasen und Büsche noch von Feuchtigkeit schwer. Unten auf dem Fluß kroch ein Kettendampfer hin, seine schwarze, wolkige Rauchfahne ward von der schweren Luft niedergedrückt.

„Meine Kameraden,“ begann Achim, „haben mir heute mittag viel zu hören gegeben. Sehr heiter und schön seien Sie gewesen; in einem farbigen Festkleid hätten Sie geglänzt. Muß ich da noch fragen: leiden Sie noch? Darf ich weiter fragen: war das schon bräutliche Freude?“

Sabine lächelte ein wenig. „Das Festkleid galt nicht der Gesellschaft, sondern mir selbst – einer heimlichen Freude! Ich leide nicht mehr, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Und von einer Brautschaft ist noch keine Rede. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: bis vor ungefähr fünf Tagen habe ich gar nicht bemerkt, daß Hallendorf mir die Kur macht.“

„Nicht bemerkt! Eine Frau und nicht bemerken, wovon ganz Mühlau seit Monaten spricht,“ rief er.

„Ach nein. Ich bin nicht kokett. Es ist mir so gleichgültig, ob ich den Männern gefalle. Und ich war so beschäftigt! Meine Gedanken waren so ganz, ganz ausgefüllt. Aber neulich war mein Herz so voll Bitterkeit. Ich fühlte mich so heimatlos. Da – o mein Freund, Sie kennen mich gut – da …“

„Was: Da? …“ drängte Achim.

„Da dachte ich trotzig, ich wolle irgend einen heiraten. Ich äußerte dergleichen meinem Bruder gegenüber und er verriet mir, daß Hallendorf mich liebe – oder vielmehr, daß er sich einbildet, mich zu lieben. Und dann, auf dem Fest gestern, da mußte ich es wohl bemerken. Mein Bruder und seine Braut scheinen sehr eingenommen für die Idee. Sie finden sie vernünftig. Nun habe ich meine Vernunft gefragt, was sie findet …“

„Und …“

„Und ich will mit Ihnen beraten, was klug, was gesund ist,“ sprach Sabine. „Sie wissen, daß ich Hallendorf nicht liebe. Reinald, der es wissen muß, sagt, Hallendorf begnüge sich mit meiner Achtung. Soll ich nun auf dem Fundament der Achtung eine Vernunftheirat eingehen? Still – Sie können noch nicht antworten. Ich will erst zu Ihnen sprechen! Wenn es hart klingt, was ich sage, – richten Sie mich nicht!“

Erwartungsvoll sah Achim sie an. Es fiel ihm auf, daß ihr Blick ihn mied und sich in unbestimmte Fernen richtete.

„Erfahren Sie denn, daß ich meinen Mann nicht geliebt habe und in einer sehr unglücklichen Ehe lebte.“

Er erschrak furchtbar vor der Härte ihres Ausdruckes und der Härte der Thatsache. Zugleich überkam ihn ein Gefühl von Unruhe. Ihm war, als fiele eine der Schranken zwischen ihm und Sabine, als habe er da eben etwas erfahren, das sein Gewissen und seine Ehre schmeichlerisch vergiften könne. „Weshalb haben Sie Herrn von Zeuthern denn geheiratet?“ fragte er.

Sie sah ihn immer noch nicht an.

„Weshalb heiratet man, wenn man siebzehn Jahre ist? Von hundert Frauen werden Ihnen nur zwei antworten dürfen: aus voll erkannter Liebe, die sich auch erprobte. Und die Achtundneunzig? Die meisten werden nicht den Mut der Wahrheit haben. Viele kommen auch nicht zur Erkenntnis. Aber ich, warum sollte ich mich schonen? Wenn man so viel gelitten hat, wird man unbarmherzig wahr gegen sich. Ich heiratete aus Neugier, aus der Einbildung verliebt zu sein, geschmeichelt, hauptsächlich wohl aber aus der Lust an Veränderung. Die machte schon meine Kindheit phantastisch und unruhig. Wenn Wochen vergingen, ohne daß etwas geschah, bekam ich einen förmlichen Hunger nach Ereignissen.“

„Und aus einer solchen Sucht nach Veränderung könnten Sie zum zweitenmal einen ungeliebten Mann heiraten?“ fragte er entsetzt.

Nun sah sie ihn voll an.

„Die Verhältnisse liegen heute anders,“ sagte sie mit schwermütigem, sanftem Ausdruck, „was ich damals that, geschah in Selbsttäuschung, aus Illusion. Damals kannte ich mich nicht, wie ich mich heute kenne. Damals war ich schön, jung, reich. Das Leben lag vor mir; verstand ich zu warten, konnte mir das Glück kommen. Aber ich war thöricht und verstand weder das Leben noch mich. Jetzt – mein Gott – ich habe alle Illusionen begraben. Auch mein Geld habe ich verloren und damit die Freiheit, die es giebt. Meine Eltern ernähren, ein guter Verwandter meines Mannes kleidet mich. Meine Eltern können sich nicht zu der Vorstellung aufschwingen, daß ihnen und mir besser gedient sei, wenn sie mir von ihrem großen Vermögen eine Rente aussetzten. Die bescheidenste genügte mir. ‚Was würden die Leute sagen, wenn du nicht bei uns lebst!‘ Die Leute – die sind auch ihre Herren! Die Herren fast von uns allen. Aber von mir nicht – nein, von mir niemals,“ rief sie leidenschaftlich.

„Hallendorf ist aber keine Versorgungsheirat,“ sprach Achim. Alles alles verletzte und quälte ihn sehr. Sabine lächelte.

„Bei der ungemeinen Inkonsequenz, welche mit dem Vorurteil immer Hand in Hand geht, bin ich sicher, daß Papa meinem Gatten, wenn ich wieder heirate, noch einmal so viel Geld, wie er mir verweigert, als Zuschuß giebt. Die unversorgte Tochter gehört ins Elternhaus; für die standesgemäß verheiratete etwas zu thun, gebietet die Familienehre. Lachen Sie doch mit darüber!“

Aber es war ihm unmöglich.

„Sie begehren meinen Rat? Sie thaten wenigstens so. Mir scheint aber, Sie sind entschlossen,“ sagte er finster.

„Vielleicht,“ sprach sie mit rätselvollem Ausdruck. „Es giebt da noch einen Grund …, was schrieben Sie doch neulich von Gefahren, die man besser flieht?! Eine vernünftige Ehe hat etwas von einem Zufluchtsort.“

Er glaubte, Spott aus ihren Worten zu hören, und antwortete gereizt. Sie wußten es selbst nicht, wie es gekommen war, aber feindlich und kalt saßen sie nebeneinander.

„Nun, Sie haben es ja erprobt, was dabei herauskommt,“ bemerkte er.

„Doch nicht. Meine Ehe war eine Illusionsehe, keine bewußte Vernunftehe, sagte ich Ihnen schon. Aber sie hätte trotzdem gut ausgehen können. Mir scheint, ich war ein Material, aus dem sich etwas hätte machen lassen. Die Seele eines jungen Weibes ist für den Ehemann wie das Pfund in der Bibel, das er klug verwalten muß, wenn es ihn bereichern soll. Mit den Schätzen, die vielleicht auch in meiner Seele lagen, hat er nicht gewuchert. So sind sie verkümmert.“

„Nein, Sabine!“ rief er plötzlich wieder aufwallend, „nicht verkümmert! Tausend Reichtümer sind in Ihnen …“

Sie lächelte schmerzlich.

„Und die ungenützt dahinrosten. – Sehen Sie, damit meine Ehe glücklich werde, hätte es vielleicht schon genügt, daß ich zu meinem Manne aufzublicken vermocht hätte. Aber er … er hatte Streberwünsche ohne Strebermut; er hatte unanständige Gedanken, aber infolge von Feigheit und Erziehung handelte er anständig. Er schlug nie drein mit ehrlicher Männerfaust – er nörgelte und schimpfte. Ah – das ist nicht für eine Frau, die denkt, nicht für eine Frau, die Enthusiasmus hat. Gern hätte ich teilgenommen an allem, was ihn beschäftigte. Aber das Kleinliche widert mich an.“

„Und Sie wähnen, in Hallendorf einen Mann von großen Zügen zu finden?“ rief er erstaunt. Er sah sie scharf an.

Sie saß und schaute vor sich nieder. Ueber ihr Gesicht zog wechselnder Ausdruck – er sah, sie kämpfte mit einem Entschluß.

[365]

Sonntagmorgen auf der Stadtmauer.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[366] Als sie dann den dunklen Blick auf ihn richtete, war ihr Antlitz plötzlich heiter. „Nein!“ rief sie, „das wähne ich nicht. Und ich will ihn auch nicht. Ich habe mir das nur so vorgemacht, weil es mich trieb, mit Ihnen über mich zu sprechen. Sie sollten mich besser kennenlernen. Sie sollten erfahren, daß ich sehr viel Enttäuschungen hinter mir habe und dabei so fest und reif geworden bin, daß ich mir schon zutrauen darf, von mir und – anderen Gefahren fernzuhalten.“

„Sabine!“

„Wollen Sie nach all diesen Geständnissen immer noch Ihre Freundin verlassen? Sie wissen nun ganz, wie arm sie war und ist! Nicht einmal eine Aussicht hat sie, ihrer drückenden Lage zu entrinnen, denn sie will weder diesen Freier noch irgend einen andern. Sie will vom Schicksal nur ein Almosen: Ihre Freundschaft, lieber Achim!“

„Vergeben Sie mir,“ bat er und küßte ihre Hände. Lange saßen sie noch zusammen und sprachen von Sabinens Ehe und von ihren Kindern, von der peinlichen Lage, die nie geändert werden konnte, wenn man nicht die im Grunde so gütigen Eltern verletzen wollte.

In Achims Seele war völlige Unbefangenheit eingezogen. Der unfreundliche Abend, die ernsten Gespräche – all das ließ keine schwüle Stimmung aufkommen. Und weil er jetzt keine Gefahr mehr bemerkte, glaubte er, sie sei für immer verscheucht. Er bildete sich ein, zu Sabinen nun in ein neues, geklärtes Verhältnis getreten zu sein, und empfand darüber ein reines Glück.

Sie verabredeten ihre nächste Zusammenkunft, und auch zugleich, daß sie sich stets brieflich benachrichtigen wollten, wenn Hindernisse entständen.

Aber elend und bleich lag Sabine nachts auf ihren Kissen. Sie hatte sich ihn zurückerobert und sein argloses Vertrauen! Doch um welchen Preis der Selbstbeherrschung! Ihr ganzes leidenschaftliches Wesen zitterte darunter. Aber sie war mit sich zufrieden. Kein Blitz der Augen, kein Zucken ihrer Lippen hatte ihm verraten, was in ihr tobte. –

Fast drei Wochen gingen ihnen ungestört dahin. Sie gewöhnten sich, einander in langen Briefen die Eindrücke des Tages und daran anknüpfend ihre Ansichten von Welt und Menschen mitzuteilen. Mit großem Takt hatte Sabine zu verhindern gewußt, daß Hallendorf eine formelle Werbung anbringe und sich einen Korb hole. Sie ernannte ihn „zu ihrem besten Freund“ und Achim war entzückt, an Hallendorf zu beobachten, wie klug und schmerzlos sie das alles zu machen verstand.

Immer vertrauter ward ihr persönlicher Verkehr. Sie nannten sich stets beim Vornamen. Sabine strahlte in Schönheit und Gesundheit und Achim hörte auf, sich zu bewachen.

Mit Bekümmernis sprachen sie schon von dem nahe bevorstehenden Manöver, das ihnen eine vierwöchige Trennung auferlege. Die Sommerwochen schienen nur so dahinzufliegen. Gelb stand das Korn. Abends war es oft so schwül und so dunkel, daß Achim sich beunruhigte, Sabine allein den Weg zum Gutshof zurücklegen zu lassen. Die ganze Dienerschaft und Arbeiterschaft von Heinsdorf wußte und besprach es längst, daß die junge Frau sich häufig abends mit einem Offizier unter der Franzosenlinde ein Rendezvous gäbe. Die Gutgesinnten meinten, sie wolle wohl bald wieder heiraten. Andere kicherten und machten den Versuch, zu spionieren.

An einem Augustabend, der so dunkel war, daß vom wolkenverhangenen Himmel nicht das Flimmern auch nur eines einzigen Sternes herabdrang, ängstigte sich Sabine um Achims Heimritt und Achim um Sabinens Rückweg. Peinlich empfanden beide, daß sie zu lange im Gespräch verweilt hatten, und Achim fühlte plötzlich, daß es für zwei „Freunde“ doch ein sonderbares Ding sei, sich so heimlich im Dunkeln zu treffen und so lange bei einander zu sitzen. Gerade heute hatte er erst so spät abreiten können, daß die Sonne schon herab war, als er bei der Franzosenlinde ankam.

In schönen, ernsten Gesprächen hatten sie ruhig nebeneinander gesessen. Aber gesetzt den Fall, irgend jemand erführe von diesem Verkehr – würde nicht alle Welt ihn verdächtig finden?

Sehr beunruhigt dachte er: Es geht auch nicht in der Freundschaft. Er schritt mit ihr durch den Erlenbusch. Er wollte sie nicht früher verlassen, als bis man die Lichter von Heinsdorf sah.

Mit dem wachsamen Ohr des Soldaten hörte er im Busch etwas rascheln. Das Geräusch konnte nicht von einem Tier kommen.

Sabine hörte es nicht. Sie war von schweren Gedanken plötzlich geängstigt: mit jenem sechsten Sinn der liebenden Frau spürte sie, daß eine Veränderung im Wesen des Geliebten vorgehe, daß ihn irgend etwas zerstreue, unangenehm verstimme.

„Gute Nacht, Achim,“ flüsterte sie, „lassen Sie mich morgen wissen, ob Sie gut nach Mühlau gekommen sind.“

„Das hat keine Not. Mein Pferd ist zuverlässig und ganz in meiner Hand. Gute Nacht!“

Er stand unbeweglich, aber diesmal nicht, um ihr weißes Kleid noch zu verfolgen, bis es ihm entschwand, sondern er lauschte mit allen Sinnen in den Busch. Die schwarzen Stämme hatten ein anderes Schwarz als das nächtige Dunkel um sie; ihre Körper waren undurchsichtig, die Nacht aber erschien dem an sie erst gewöhnten Blick doch transparent. Wieder war es Achim, als regte sich da etwas. Gewiß, da bewegten sich zwei dunkle Formen zwischen den Stämmen.

„Wer ist da?“ rief er scharf.

Alles blieb still.

Er rief noch einmal. Da ertönte ein kurzes Gelächter, und schwere Schritte im eiligen Lauf verloren sich in der Richtung nach der Franzosenlinde.

Im Dunkel der Nacht stieg Achim das Flammenrot ohnmächtiger Wut und Scham ins Gesicht. Wo hatten sie nur beide ihren Verstand gehabt, er und Sabine? Sie hätten sich doch sagen müssen, daß man sie entdecken und belauern könne. Vielleicht waren sie schon in aller Mund. Und er konnte Sabinens Ruf nicht einmal wieder herstellen!

Sein Zorn gegen sich selbst kannte keine Grenzen. Er beschloß sofort und unverbrüchlich, daß er Sabine nicht mehr sehen, sie nicht mehr kompromittieren wolle. Der Anteil, den sie aneinander nahmen, brauchte sich auch nicht in persönlichem Verkehr zu bethätigen. Wenn sie sich zuweilen schrieben, konnten sie einander viel geben und bleiben.

Er hatte die Vorsicht gebraucht, sein Pferd bald beim Krüger im Dorf, bald eine halbe Stunde entfernt beim Windmüller an der Chaussee, bald in einem kleinen Gehöft kurz vor Heinsdorf einzustellen. Heute stand es zum Glücke in jenem kleinen Gehöft, dessen ärmlicher Besitzer die Mark Trinkgeld immer strahlend einstrich; diesmal wurde Achim geradezu verlegen, als er sein Pferd holte und dem Mann das Geld in die Hand drückte.

Ich bin von Sinnen gewesen, mich und sie in solche Situation hineinzurasen, dachte er.

Aber jetzt hatte er es nicht so eilig, an Sabine einen sie erschreckenden Brief zu schreiben. Er beschloß, das nächste Rendezvous unter einem dienstlichen Vorwand abzusagen, das folgende ebenso. In vierzehn Tagen war das Manöver. Dann wollte er brieflich offen zu ihr sprechen und auch um seine Versetzung einkommen.

Zu seinem Erstaunen bekam er am anderen Mittag einen Brief von Sabine. Sie hatte es gewagt, ihn durch einen Boten hereinzusenden. Er lag auf seinem Tisch, als er vom Dienst heimkam. Da mußte es sich um eilige und wichtige Dinge handeln. Sollte sie auch Beobachtungen gemacht haben wie er gestern abend? Das wäre schrecklich, das hätte er ihrem Stolz gern erspart.

Nein, Gottlob! Ganz andere, geradezu erlösende Nachrichten enthielt der Brief. Er spürte aber aus jeder Zeile die Aufregung, in welcher Sabine geschrieben hatte.

„Mein teurer Freund! Die Morgenpost bringt mir soeben einen Brief, dessen Inhalt von mir schnelle Entschlüsse fordert, die ich aber nicht fassen will, ohne vorher Ihren Rat, Ihren Willen gehört zu haben.

Oft sprach ich Ihnen von meiner treuen Freundin Susanne und vom guten Onkel Fritz. Susanne war noch sehr jung, als sie mir nahetrat, eben sechzehn Jahr. Aber sie hat seitdem alles treu mit mir getragen, begriff schon das Elend meiner Ehe und auch jetzt die Schwierigkeit meines Lebens in Mühlau, die Pein, meinen lieben, ruhebedürftigen Eltern zur Last fallen zu müssen. Sie behauptet schon lange, ich würde das Leben leichter tragen, wenn mein Gedächtnis, statt mit lauter bitteren Erlebnissen, mit schönen Eindrücken und Erinnerungen gefüllt würde. [367] Eine große, erhebende Arbeit könne man mir leider nicht verschaffen, die mich, neben der Erziehung von Leo und Milly, ganz in Anspruch nähme. So hat diese liebe Susanne denn gebohrt und intriguiert, mir wenigstens eine interessante Abwechselung zu verschaffen, und Onkel Fritz bestimmt, mich zu einer zweimonatigen Reise nach Italien einzuladen.

Onkel Fritz und ich sind uns aber zu fremd, um viel miteinander anfangen zu können; so soll denn die Anstifterin dieses schönen Planes, Susanne, auch mit.

Ich dürfte und sollte freudig jubelnd einstimmen. Meine Kinder sind liebevoll bei meinen Eltern aufgehoben. Ja, ich weiß sogar, daß meine Eltern eine gewisse Befriedigung empfinden werden, die Erziehung und Ernährung von Leo und Milly einige Wochen allein zu überwachen; Papa und Mama haben in diesen Dingen gänzlich von der meinen abweichende Ansichten und schütteln oft den Kopf über unsern reichlichen Verbrauch von Wasser und Luft.

Warum ich nicht juble, oder noch nicht? Zuerst, mein teurer Freund, fiel es mir schwer auf die Seele, daß ich Sie sechs Wochen länger entbehren müsse, als ohnehin schon bevorstand. Denn unsere Reise soll am 1. September beginnen, und dann ist von Ihrer Manöverzeit erst die Hälfte abgelaufen.

Die letzten Wochen haben ein so herzliches und so wundervolles Verständnis zwischen uns erblühen lassen, daß ich gar nicht weiß, wie das Leben aussehen sollte, in welchem unsere Begegnungen fehlten.

Aber dann durchzuckte mich wie ein Blitz die Idee zu einem Plan, der so bezaubernd ist, daß ich mir gar nicht vorzustellen wage, er sei unausführbar!

Haben wir es nicht oft beklagt, daß wir, zwei Freie, zwei Schuldlose, zwei Reine, uns heimlich sehen und sprechen, als hätten wir eine Sünde zu verstecken? Beugen wir uns damit nicht tiefer, als unser Stolz erlauben sollte, einem Vorurteil?

Wie denn, wenn wir im Auslande, fern von bewachenden, engherzigen Philistern, uns begegneten und schöne Stunden gemeinsamen Genusses in Kunst und Natur verlebten? Haben wir nicht zuweilen davon gesprochen, daß für Zwei, die so gleichen Charakters sind, so voll gleicher Interessen, so voll gleicher Lernbegier, es eine höchste Freude sein müsse, zusammen die Welt zu sehen?

Nehmen Sie nach dem Manöver Urlaub und schließen Sie sich uns an, sei es auch nur für Tage!

Meine Susanne ist ein viel zu großdenkendes Menschenkind, um unsere Freundschaft, trotz der Vergangenheit, nicht zu begreifen. Wenn ich mich auf den Markt stellen und es in alle Welt hinausschreien dürfte: ‚ich war sehr elend in meiner Ehe,‘ würden die brutalen Menschen vielleicht auch begreifen, daß ich Sie nicht hassen kann und nicht meiden will. – Susanne also wird begreifen.

Und Onkel Fritz? Ach du meine Güte, Onkel Fritz hat zweiundzwanzig Neffen und Nichten, um die alle er sich ein wenig kümmert und deren Schicksale er heillos durcheinander wirft. Nur Susanne steht ihm wahrhaft nahe; ihr Vater war nicht nur sein Vetter, sondern auch sein Jugendfreund. Und mit Susanne verkehrt er viel. Uns andern, soweit wir Geld von ihm bekommen, läßt er es von seinem Bankier ein für allemal überweisen, und unsere Korrespondenz ist einseitig: sie besteht aus unsern Dankbriefen. Ich selbst sah ihn nur einmal bei meiner Hochzeit. Ich bin sicher, daß er schon oft die Todesart meines Mannes vergaß; den Namen des Duellgegners hat er sich gewiß nie gemerkt.

So können Sie sich uns anschließen, ohne aufzufallen. Warum sollte der Zufall es nicht fügen, daß ich, die ich einst in Berlin mit so vielen Menschen verkehrte, einen Bekannten treffe?

Schwindlig vor Freude und Glück könnte ich werden, wenn ich es mir ausmale: freudig und frei werden wir miteinander, begleitet von der treuesten Freundin und dem guten Alten, durch die Straßen wandern, von Schönheit zu Schönheit! Stunden werden wir erleben, so reich, daß sie noch ihr Licht werfen können über viele Jahre der Zukunft, die so rätselvoll, so dunkel, so drohend vor mir liegt.

Sagen Sie nicht Nein, Achim! Und Ihr Ja sagen Sie mir schnell!
  Sabine.“

Er fühlte den Ton des verzehrendsten Verlangens. Aus jeder Zeile atmete ihre Liebe, die sie kaum zu verhüllen verstand. Er wußte es: er war für sie alles, alles! Seinetwegen würde sie einer Welt trotzen, betteln gehen, Elend, Verachtung tragen. Und dies Bewußtsein berauschte ihn wieder, riß ihn hin, wie es jeden Mann hingerissen hätte.

Er redete sich vor, daß sie recht habe: solche Stunden reichsten Inhalts konnten ihr noch Jahre des Lebens nachher vergolden, und er beschloß, ohne Besinnen, sie ihr zu gewähren.

So gab er ihr einmal, was er ihr geben durfte. Und die Gegenwart ihrer Reisegenossen schloß jede Gefahr des Sichvergessens aus.

Dann, nach so verlebten Tagen voll reinster Geistesgenüsse, dann wollte er von ihr scheiden für immer, und dann würde sie dankbar und zufrieden ihm die Hand zum Lebewohl versöhnt reichen.

Er vergaß, daß die rechte Liebe an ihrer Sättigung immer hungriger wird.

„Teure Sabine,“ schrieb er, „Ja also und aus freudigstem Herzen: Ja! – Lang wird der Urlaub freilich nicht werden, den ich erbitten kann. Aber unter solchen Bedingungen können wenige Tage reichsten Inhalt haben!

Lassen Sie uns, ich beschwöre Sie, bis dahin jede Begegnung vermeiden. Wir wollen nichts mehr wagen, weil uns zu leicht dann das schöne Vorhaben gestört werden möchte. Ich fürchte, man hat uns schon beobachtet und besprochen.

Heute nur dies, mit tausend Grüßen
 Achim.“

Ihre kurze Antwort war ein Jubelruf.

„Vor Wonne weiß ich mich kaum zu fassen! Dank, mein Freund, Dank! Und wenn Sie es klüger finden, daß Sie nicht mehr hinauskommen, so ist es selbstverständlich, daß wir uns nicht sehen. Aber ob die Leute uns beobachten, beklatschen, belauern – das ist mir ganz egal! Ich stehe darüber, denn mein Gefühl ist größer als der Klatsch. Nicht wahr? Sind wir nicht mehr als jene?

Sobald ich unsern Reiseplan genau weiß, schreibe ich.
 Sabine.“

Achim staunte ihre Kühnheit an. „Das ist mir ganz egal!“ Ueber alle Aeußerlichkeiten ging sie hinweg, für ihren stolzen freien Sinn existierten die kleinen Alltagsmenschen gar nicht.

Ich, der Mann, bin wieder einmal der Feige, dachte er.

Nun flogen die Briefe hin und her, bis Achim ins Manöver rückte.

Da erhielt Sabine als letzten Gruß aus Mühlau noch all seine Manöveradressen und sein Bild, das sie sich erbeten. Sie hatte ihm das Bild ihrer Kinder gesandt und versprochen, sich in Mühlau gleich photographieren zu lassen.

Die Truppen zogen am Heinsdorfer Gutshof vorbei. Es war ein lachender Hochsommermorgen. Der Tau perlte im Gras am Rain, und auf den Feldern vor dem Erlenbusch standen bleichgelbe Roggengarben mit melancholisch geneigten Aehrenhäuptern. Die Sonne flimmerte erst hinter den hohen Gartenbäumen, so lag der Gutshof noch im feuchten Schatten.

Und vorn am Thor, Leo an der Hand, stand Sabine; ihr Bruder neben ihr, die kleine Milly auf dem Arm.

Sabine hatte ein weißes Morgenkleid an und einen großen, grünen Sonnenschirm geschultert. Von dem farbigen Rund hob sich ihr schönes Haupt herrlich ab.

Sie nickte allen bekannten Offizieren zu. Aufhalten konnten sich die Herren nicht, sie sollten die anderen beiden Bataillone des Regiments treffen, die aus der nächsten Stadt kamen.

Es war ein Lachen und Grüßen und Leo jauchzte.

Auch Achim von Körlegg kam vorüber und sie wechselten Gruß und Blick. So nahm er das Bild ihrer in Freude glühenden Schönheit mit hinweg.

Sein Mannesstolz regte sich und sein klopfendes Herz sagte ihm:

„So leuchtet sie mir!“

(Fortsetzung folgt.)


[368]

Das Volkstrachten-Museum in Berlin.

Von Gustav Klitscher.0 Mit Illustrationen von Ewald Thiel.

Das „Volkstrachten-Museum“ – so heißt es schlechtweg unter den Kundigen, deren Kreis leider ein allzukleiner ist im Verhältnis zu der Einwohnerzahl Berlins und den Scharen von Fremden, welche tagtäglich durch die Straßen der Reichshauptstadt strömen. Sein rechter Name ist freilich länger und klangvoller. „Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes“ steht an einer Thür im Vestibül der alten Gewerbeakademie (Klosterstraße 36), deren Institute längst nach Charlottenburg hinausgelegt sind.

Die Klosterstraße war einstmals eine der vornehmsten der königlichen Residenzstadt, und in der Mitte des Jahrhunderts konnten es sich nur Auserwählte leisten, hier zu wohnen. Heute ist sie außer Kurs gesetzt. Dicht neben ihr flutet der gewaltige Verkehr zwischen Alexanderplatz und Friedrichsstadt durch die Königsstraße vorüber, sie selbst bleibt still und leer. Und in diesem öden, weltabgeschiedenen Winkel liegt die Sammlung, die mit gleichem Recht einen Platz im ethnographischen Museum beanspruchen könnte wie all die interessanten Gegenstände aus Botokudenland und von den Fidschi-Inseln. Der Besucher ist überrascht, was hier auf engem Raum in kleinen, schlecht beleuchteten Stuben zusammengehäuft ist. Die Zimmer sind in Wahrheit mit Urväter Hausrat vollgepfropft. An den Wänden steht Glasschrank neben Glasschrank, darin ganze Anzüge und einzelne Kleidungsstücke, Krüge und Gläser, Teller und Messer, Kruzifixe und Heiligenbilder, Brauthauben und Schürzenbänder, Mangelhölzer und Kinderwiegen, dazwischen alte Truhen und Schreine, Stühle und Spinnräder, lebensgroße Wachsfiguren in den Trachten verschiedenster deutscher Gegenden, Modelle ganzer Häuser in verkleinertem Maßstabe und einzelner Stuben in den Verhältnissen der Wirklichkeit, staunenerregend und sinnverwirrend zugleich. Herr Lehrer emer. Höft, der alte Kustos, führt uns mit unermüdlicher Liebenswürdigkeit von einem zum andern. Er hängt mit ganzem Herzen an den seiner Obhut anvertrauten Gegenständen, am liebsten möchte er auf jeden einzelnen aufmerksam machen. Aber er kann nur bedauernd mit den Achseln zucken: „Es ist mehr ein Raritätenkabinett als ein Museum.“ Das Ganze ist allzu unübersichtlich. Eine Sehenswürdigkeit drückt die andere tot. Doch wer suchet, wird auch hier finden. Ja, auf Schritt und Tritt wird er finden. Die kleine Mühe belohnt sich reichlich, obwohl die Fülle der kostbaren Schätze, welche im Laufe eines Jahrzehnts hier zusammengeströmt sind, die zur Verfügnng stehenden Räumlichkeiten als völlig unzureichend erscheinen läßt. Andere sind aber bis jetzt leider noch nicht zu haben gewesen, denn das Museum ist Privatbesitz und muß mit bescheidenen Mitteln rechnen. Eine Uebernahme auf den Staat ist von diesem bisher noch immer mit Hinweis auf die Kosten abgelehnt worden, was man im Interesse der guten Sache nur beklagen kann. Neuerdings wird von einem Museumsbau gemunkelt, der in der Königgrätzerstraße entstehen und in dem auch die Volkstrachtensammlung ihren Platz finden soll. Nichts Gewisses aber weiß man noch nicht, wie der Berliner sagt. Wer’s erlebt, wird ja sehen!

Am Ende der achtziger Jahre tauchte zum erstenmal der Gedanke auf, in Berlin eine Sammlung deutscher Volkstrachten und Geräte zu begründen. Kein geringerer als Rudolf Virchow schrieb damals in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1889, S. 447): „Die Entwicklung der älteren Museen ist begreiflicherweise vorzüglich den bildenden Künsten zugewendet gewesen. Selbst die Architektur wurde gegenüber der Bildhauerei und der Malerei stark in den Hintergrund gedrängt. Sehr langsam und spät erst ist das Kunstgewerbe aus seiner Vergessenheit erweckt worden. Die höchsten Leistungen menschlicher Kunstthätigkeit wirken, indem sie die Bewunderung des Beschauers erregen, nicht bloß erhebend und erweckend auf den Geist, sondern sie reizen zur Nachfolge und geben ganzen Geschlechtern die Richtung für die eigene Thätigkeit. So werden sie zu Maßstäben für die Kultur überhaupt. Aber die Kultur ist nie und nirgend auf einmal entstanden. Viele Geschlechter mußten ihre beste Kraft aufwenden, um in langsamer Arbeit die Kunstübung zu finden und heimisch zu machen.…

Bauer und Bäuerin aus dem
Pyritzer Weizacker.

So hat sich vor die eigentliche Kunstgeschichte die Geschichte der Arbeit gesetzt, eine lange Geschichte, die in der fernsten Vorzeit begonnen hat, und die sich noch immer fortsetzt und fortsetzen wird.… Geschichte und Vorgeschichte sind nur äußerlich getrennt, innerlich hängen sie untrennbar zusammen … Derartige Zusammenhänge ältester Tradition bieten in erster Linie Sprache und Sage. Sie zu verfolgen, bedarf es keiner Museen. Aber in zweiter Linie sind es wirkliche, materielle Gegenstände, und zwar Gegenstände des Gebrauches, an welche sich freilich nicht selten altertümliche Bezeichnungen und sagenhafte, meist abergläubische Deutungen knüpfen, welche aber auch ohne solche durch ihre Form, ihre Verzierung, ihre Verwendung bestimmte Andeutungen des Alters darbieten. Diese Gegenstände zu sammeln, ist die Aufgabe des Museums der Trachten und Geräte, welches Wir vorhaben, nicht die einzige, denn es giebt auch in der historischen Entwicklung der Völker viele Stadien, welche in Tracht und Gerät ihre Erinnerung hinterlassen, aber eine vorzügliche. Ein Museum der Trachten und Geräte schließt daher die Lücke zwischen den ethnologischen und prähistorischen Museen einer-, den historischen Museen andererseits. Es wird für unser Volk dasjenige thun, was die ethnologischen Museen für die fremden, insbesondere die Naturvölker gethan haben; es wird in der Gegenwart Gegenstände auffinden lassen, wie sie die prähistorischen Museen aus den Gräbern und Wohnplätzen der Vorzeit aufdecken; es wird für das gewöhnliche Thun und Treiben der Völker leisten, was die historischen Museen vorzugsweise für das kirchliche und höfische Leben zu stande bringen.“

[369]

In diesen Worten liegt das Programm für das damals neue Unternehmen. Wie das deutsche Volk denkt und glaubt und fühlt und spricht und singt und tanzt, das hat die germanistische Wissenschaft so ziemlich festgestellt. Aber wie die Gegenstände aussehen, welche es geschaffen hat, wie es seine Häuser fügt und aufbaut, wie es seine Höfe und Dörfer, Gärten und Fluren angelegt hat, wie es in Stube, Küche und Keller wirtschaftet, und wie der Hausrat beschaffen ist, wie es sich ankleidet, in welcher Weise es Viehzucht, Ackerbau, Jagd und Fischfang betreibt, wie die kunstvolle Hand- und Hausarbeit des Bauern, der Bäuerin gefertigt wird, welcher Fahrzeuge es sich in Handel und Verkehr bedient, welche Dinge uraltem Herkommen nach bei Geburt, Hochzeit, Tod und Begräbnis, bei Aussaat und Ernte, bei den verschiedenen Jahresfesten, im Gemeindeleben und in der Volksmedizin üblich sind – das ist den meisten zum größten Teil noch verborgen. Es ans Licht zu ziehen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen, war das Ziel der Männer, die sich damals zusammenthaten. Dabei strebte man nicht etwas völlig Unerprobtes an. In Stockholm war durch Hazelius eine geradezu mustergiltige Sammlung dieser Art für alles, was die nordischen Völker angeht, zusammengebracht worden. Auch in Moskau und Amsterdam sind ähnliche Einrichtungen vorhanden. Wollte man auch für Deutschland Wertvolles schaffen, so galt es, keine Zeit zu verlieren, denn von Jahr zu Jahr, ja von Tag zu Tag verschwinden in unserer Zeit der fabrikmäßigen Herstellung die Erzeugnisse alter Hausindustrie.

So bildete sich denn ein Komitee, in dem Rudolf Virchow von Anfang an bis heute den Vorsitz geführt hat. Vor zehn Jahren war es eine dankenswerte Unterstützung, daß der preußische Kultusminister, Herr v. Goßler, die bescheidenen Räume in der gerade leerstehenden Gewerbeakademie zur Verfügung stellte. Daß aber das neue Unternehmen gleich bei seiner Eröffnung in würdiger Weise vor das Publikum trat, dafür sorgte in erster Linie die liberale Freigebigkeit einer großen Anzahl von Freunden desselben aus allen Gegenden Deutschlands.

Am 27. Oktober 1889 waren die Vorarbeiten so weit gefördert, daß das Museum durch eine Feierlichkeit vor eingeladenen Gästen würdig eingeweiht werden konnte. Dem Publikum wurde es am 10. November 1889 geöffnet. Anfänglich war der Besuch sehr stark, aber die erste Liebe erkaltete bald, als die erste Neugier befriedigt war. Die Unterhaltung des Museums wurde zunächst durch größere Zuschüsse einiger Freunde und durch einen jährlichen Beitrag von seiten des Museumskomitees gedeckt. Aber bald erwiesen sich diese Einkünfte als ebenso ungenügend wie das bescheidene Eintrittsgeld von 50 Pfg., das von den Besuchern erhoben wurde. So wurde denn im Jahre 1891 ein besonderer Museumsverein gegründet, der seinen Sitz in Berlin hat. In den Statuten wird als sein Zweck angegeben: die Eigentümlichkeiten der Bevölkerung Deutschlands in Trachten, Hausanlagen und Erzeugnissen des Hausgewerbes zu sammeln und zur Anschauung zu bringen. Es wäre wohl zu wünschen, daß der Verein, der neue Mitglieder auch jetzt noch recht gut gebrauchen kann, solche in reicher Anzahl finden möchte. Der jährliche Beitrag von zehn Mark, der auch durch eine einmalige Zahlung von mindestens 250 Mark abgelöst werden kann, ist wahrhaft gering in Anbetracht der großen, idealen Ziele. Augenblicklich ist Sekretär des Vereins Herr Sökeland, nicht nur bekannt durch die Pumpernickel, die aus seiner Bäckerei hervorgehen, sondern auch als Sammler geschätzt, dessen Sachkunde und Geschäftsklugheit das Museum manche wertvolle Erwerbung verdankt. Seine Erfahrung wurde auch diesem Aufsatze nützlich.

Bei der durch die engen Räumlichkeiten bedingten mangelhaften Aufstellung der Sammlung ist es schwer, ja fast unmöglich, sie gründlich zu beschreiben. Tausende von Einzelheiten, nicht systematisch geordnet, sondern meist nur nach dem Ort ihrer Herkunft zusammengestellt, liegen in buntem Gemisch durcheinander. Und das will etwas heißen! Denn der Katalog umfaßt gegen 7500 Nummern, darunter 6 Stubeneinrichtungen, 8 Hausmodelle und annähernd 200 vollständige Trachten, von denen aber mehr als 70 eingepackt in den Truhen liegen, weil kein Platz da ist, um sie auszustellen. Neuerdings hat man auf Sökelands Anregung wenigstens versucht, Zusammengehöriges auch wirklich zusammenzubringen. So ist die instruktiv eingerichtete Sammlung aller Geräte entstanden, welche zur Flachsbereitung und Flachsbearbeitung gehören, so auch die Sammlung aller Gerätschaften zur Herstellung von Holzschuhen mit Beigabe von Holzschuhen in allen Herstellungsformen vom einfachen Holzklotz bis zum vollendeten Stück. Aehnlich ist auch die häusliche Cichorienfabrikation veranschaulicht. Dies sind aber nur schwache Anfänge. Das erstrebenswerte Prinzip, die gleichartigen Gegenstände verschiedener Gegenden, die nicht besonders zur Charakteristik einer Gegend gehören, zu Gesamtbildern instruktiv zusammenzustellen, ließ sich leider bis jetzt noch nicht durchführen.

Die bunte Gesamtheit, welche die engen Zimmer füllt, besteht aus verschiedenen größeren Unterabteilungen. Zu dem ursprünglich vom Komitee gesammelten Stamm kam zunächst eine schleswig-holsteinische Sammlung, die allerdings bis auf einige Stücke dem Museum wieder entzogen und von dem Besitzer nach Kopenhagen verkauft wurde. Die Direktion des Kunstgewerbemuseums überwies eine Sammlung von Trachten, Schmuckgegenständen, Geräten, Fayencen etc. der Siebenbürgener Sachsen und der Esthen. Im allgemeinen werden zwar nur Sachen aus dem Deutschen Reich, allenfalls auch noch aus den angrenzenden deutschen Ländern gesammelt; aber man nahm die Zuwendung der [370] nichtdeutschen Stücke dieser Sammlung dennoch gern entgegen. Zum siebzigsten Geburtstag Virchows stifteten ihm vierzig bis fünfzig Freunde aus dem Verein eine vollständige Stube, die nach dem Gelehrten benannt wurde und meist Sachen aus dem Altenlande in Hannover enthält. Eine ganz bedeutende Vergrößerung hat das Museum durch die Sammlung erhalten, welche zur Ausstattung des Deutschen Dorfes auf der Weltausstellung in Chicago diente und von da wieder in die Heimat zurückkehrte.

Diese in ihrer Art einzige Ausstellung, deren Wert auf 80 000 Mark geschätzt wird, wurde von der Nationalbank für Deutschland, welche das Unternehmen finanziert hatte, dem Museum gestiftet. Damit gelangten mehrere Stubeneinrichtungen, zweiundvierzig Kostüm-Wachsfiguren, eine Anzahl von Hausmodellen, eine prachtvolle Sammlung von Schmuckgegenständen u. a. m. unentgeltlich in den Besitz des Museums.

Aus der reichen Fülle der aufgestapelten Schätze hat unser Maler eine Reihe der interessantesten herausgegriffen. Der Giebel aus Oldenburg (S. 368) zeigt noch in den Pferdeköpfen, die ihn schmücken, Anklänge an altgermanisches Heidentum. Ein geschnitzter hölzerner Kaminvorsetzer (S. 368) diente zugleich dazu, die Kaffeekanne, die in ihn hineingestellt wurde, warm zu halten. Die darunter abgebildeten Stofjen wurden mit heißem Wasser gefüllt und zum Wärmen des Betts und der Füße benutzt. Ferner sind da Trachten aus Holstein, den Halligen, Nordfriesland, von dem Pyritzer Weizacker in Pommern und aus dem Chiemgau in Oberbayern. Zum oberbayrischen Hausrat gehören der Kleiderhaken aus Gamskrickeln und der Brautkrug, ein Bierseidel, mit seidenen Bändern umwunden, auf die allerhand schöne Sachen aufgestickt sind. Von dem Schmuck (S. 369) stammt die Miedernadel aus Dachau, die Brustspange aus Hannover und das Anhängsel aus Schleswig-Holstein. Die hübsch geschnitzten hölzernen Löffelkörbchen (S. 369), die noch Spuren bunter Bemalung zeigen, sind ebenso wie der Brautstuhl (S. 368) Erzeugnisse Hessens. Dagegen ist die Elle (S. 369) in der Niederung von Drömling an der Grenze von Braunschweig und Hannover hergestellt worden. Die höchst einfachen, aus Steinen und Hölzern zusammengefügten Anker (S. 369) sind heute noch bei den Fischern Rügens im Gebrauch. Nach dem Norden weisen auch die sog. Besmer oder Desmer (S. 369), merkwürdige Wiegestäbe, die in der Mitte aufgehängt wurden. Auf der einen Seite war ein Gewicht befestigt, auf der andern wurde der zu wägende Gegenstand angehängt, und der Handgriff so lange nach rechts oder links verschoben, bis der Stab balancierte. Aus einer an dem Stab verzeichneten Skala konnte ein Kundiger dann das Gewicht ablesen. Sehr spaßig sind die – man verzeihe das harte Wort – Kleikotzer aus Westdeutschland (S. 368), deren fratzenhaftes Aeußere zunächst an tolle Fastnachtsmasken erinnert. Sie wurden den Mahlgängen einer Mühle vorgeschraubt und spieen die Kleie aus.

Ein sogen. Milchstuhl für stillende Frauen und die Wiege auf S. 369 sind aus der Virchowstube.

Die Hindelopener Stube (S. 370) ist die neueste Erwerbung des Museums und sein besonderer Stolz. Sie ist erst kürzlich für die große Summe von annähernd 10000 Mark, welche ein verdienstvoller Gönner des Museums, Herr Meyer Cohn, gestiftet hat, durch Herrn Sökeland auf einer Auktion in Amsterdam erstanden worden. Es ist eine echte altholländische Stube aus dem kleinen Städtchen Hindelopen am Zuyder See, wie sie in dieser Zusammenstellung nur noch ganz selten erhalten ist. Die Familie ist in ihrer charakteristischen Tracht um den Tisch versammelt, auf dem allerhand Geschirr steht. Die Familienschlafstätte, welche hinter einem Verschlag eine ganze Schmalwand des Zimmers einnimmt, ist durch bunt bemalte Thüren zu verschließen. Blauweiße Kacheln ziehen sich in halber Höhe an den übrigen Wänden entlang. Der Ofen fehlt nicht und ebensowenig das Betpult mit einer mächtigen alten Bibel. Die Schränke sind schön im Stil der Renaissance geschnitzt.

Hindelopener Stube.

Dies sind natürlich nur Stichproben aus der großen Sammlung, die diese nicht erschöpfen können, aber doch vielleicht auf das Ganze neugierig machen. Der Gelehrte wird immer eine reiche Ausbeute im Museum finden. Für den jungen Germanisten liegen hier noch zahlreiche Themata zu Doktorarbeiten ungenutzt. Denn viele der aufgestellten Gegenstände sind wissenschaftlich noch nicht vollkommen sicher bestimmt und erfordern ein Spezialstudium. Aber auch für alle andern, die ein Interesse für unser Volkstum haben, ist der Besuch des Museums lehrreich und lohnend, obwohl noch nicht alles so ist, wie es die Gründer selbst wünschen.




[371]

Deutsche im Auslande.

Eine Reisestudie von Johannes Schmal.


Es waren einmal zwei Vergnügungsreisende, die trafen sich auf der Fahrt nach Capri, und da sich ihnen Gelegenheit bot, ihre Meinungen über etwas auszutauschen, so begannen sie eine Unterhaltung auf italienisch. Sie waren aber der Sprache Dantes und Ariosts nicht recht mächtig und deshalb versuchten sie es auf französisch. Auch da haperte es jedoch. Erst als einer der Männer in seinen Ausführungen stockte und, mit dem Fuß auf den Boden des Bootes stampfend, in seiner Muttersprache ausrief: „Alle Wetter, wie heißt das doch gleich auf französisch?“ da kam das Gespräch in flotten Zug, denn beide waren Deutsche und die verstehen sich, wenn sie wollen, auch ohne Diktionär untereinander.

Wer dies Geschichtchen zuerst erzählt hat, der mag es erfunden haben. Aber es ist hundertmal passiert und wird sich noch unzähligemal wiederholen. Der Deutsche schleppt wie ein Erbübel die Gewohnheit mit sich in der Fremde herum, es in zweifelhaften Fällen mit allem andern eher als mit seiner Muttersprache zu versuchen. Kommt er draußen in ein Hotel, so fragt er um Unterkunft gewiß auf französisch oder englisch. Daß man in einem fremdländischen Gasthof deutsch sprechen könnte, das kommt ihm zu allerletzt in den Sinn. Da weiß der Engländer sich resoluter Geltung zu verschaffen. Dem ersten besten dienstbaren Geist, der ihm bei seinem Eintreffen in die Hände fällt, wird auf englisch kommandiert, daß er wie der Wirbelwind davonfliegt und jemand schickt, der der Sprache des Fremden kundig ist. Und seiner Sprache ist stets jemand kundig. Den Besitzer eines besseren Hotels in einem civilisierten Lande möchte ich sehen, der nicht für englischredendes Personal sorgte! Das englische Nationalbewußtsein würde ihn boykottieren und er möchte sich bald eines andern besinnen.

Nun sind bekanntermaßen 40% aller Vergnügungsreisenden in Italien Deutsche. Aber welche Rolle spielen sie? Ich habe noch nie von einem gehört, daß er vor einem Hotel gewarnt hätte, weil man in demselben nicht deutsch sprach. Lieber quält er sich mit seinen schlecht auswendig gelernten Polyglottphrasen herum, als daß er denen, die sein Geld nehmen, zumutete, sich mit der Uebersetzung des Deutschen in ihre eigene Muttersprache ein wenig abzumühen.

Seit zwanzig Jahren komme ich nach Italien und in die Levante, und mit einer Art grimmen Humors denke ich der verschiedenen Zwischenfälle, die meine deutschen Reisegefährten durch ihre angeblichen Sprachkenntnisse dort heraufbeschworen haben. In Palermo bin ich mit einem solchen „Sprachkundigen“ einmal in ein Zimmer eingedrungen, in welchem nach einer am Hause angebrachten Gedenktafel 1787 unser Goethe gewohnt hat. Es war dem Besuch eine umständliche Unterredung zwischen meinem Begleiter und dem Hüter des Hauses, einem parterre in einem finstern Loch arbeitenden Schuhmacher, vorausgegangen, die mit dem üblichen „Si, si, signore!“ (Jawohl, mein Herr!) geschlossen und uns die Gewißheit verschafft hatte, daß man das Goethezimmer ungeniert betreten dürfe. Na, da kamen wir schön an! Daß wir nicht die Treppe hinuntergeworfen worden sind, dafür danke ich meinem Schöpfer heute noch. Es war die alte, immer wiederkehrende Geschichte: Landsmann meiniges hatte sich mit dem Portier italienisch unterhalten. Keiner hatte den andern verstanden und sie waren vergnügt mit dem in solchen Fällen sehr bequemen „Si, si, signore!“ voneinander geschieden. Tausendmal geschieht das. Aber das Ueble ist dabei, daß der an solchen linguistischen Spielereien Unbeteiligte, der sonst zuverlässige Auskünfte einzuziehen gewohnt ist, die verursachten Mißverständnisse mit auskosten muß.

Ließe sich wohl je ein Franzose zu solchen Lächerlichkeiten herbei? Ich war vor kurzem in Paris und habe mich überzeugt, daß die französischen Offiziere das Studium der deutschen Sprache recht energisch betreiben; aber wenn die Herren als Reisende nach Deutschland kommen, haben sie Nationalgefühl genug, zunächst ihre eigene Sprache zu sprechen. Und das stände auch uns im Auslande gut an.

Da lob’ ich mir den alten Rüstow-Pascha. Den sah ich, einen feztragenden Rodensteiner, in Janys Restauration in Pera mit dem Rücken gegen die Wand sitzend seinen fünften Krug Bier herbeiwinken, und als seinem Wunsche nicht rechtzeitig Folge geleistet wurde, da fuhr er mit einem deutschen Kreuzmillionendonnerwetter drein, daß deutsch- und andersredenden Kellnern ein heilsamer Schreck in die Glieder fuhr und das Bier im Handumdrehen auf dem Tisch stand. Unsere westfälischen Füsiliere wußten im Feldzuge 1870/71 widerspenstigen französischen Quartierwirten gegenüber eine gleich eindringliche Sprache zu reden, die dann aber zumeist von einer bezeichnenden Handbewegung begleitet und schon deshalb nicht gut mißzuverstehen war.

Dagegen erhält man heute im Ausland oft den Eindruck, als ob sich viele Deutsche ihrer Muttersprache schämten. Es war ein paar Tage nach der Ermordung der österreichischen Kaiserin in Genf, da kam ein deutscher Offizier mit zwei Damen ins Hotel Beaurivage. An den ersten Kellner, dessen er habhaft wurde, richtete er die Frage: „Garçon, parlez-vous français?“ War nun die Frage in einem Genfer Hotel schon nicht sonderlich geistreich, so fiel auch die Antwort demgemäß aus. „Ich bin Deutscher, spreche also geläufig deutsch, mein Herr, aber ich spreche auch französisch und englisch,“ sagte der Kellner, der in dem Fremden trotz des Civils sofort den deutschen Offizier erkannt hatte. Und dabei blickte er mit dem harmlosesten Gesicht drein, dessen so ein internationaler Kellner fähig ist. Der Offizier stutzte einen Augenblick, dann aber, vielleicht aus Rücksicht auf die Damen, machte er gute Miene zum bösen Spiele und, von da an deutsch redend, attachierte er sich den Kellner, den einzigen, der im Beaurivage des Deutschen mächtig war, für die Dauer seines Aufenthalts. Er hatte es nicht zu bereuen, denn Fritz war ein fermer Bursch, der in seiner hannoverschen Heimat der Militärpflicht genügt hatte und sich nun ein besonderes Vergnügen daraus machte, die deutschen Gäste mit allen möglichen Bequemlichkeiten zu umgeben.

Ein bezeichnendes Bild für unsere nationale Bescheidenheit bot der letztjährige internationale Preßkongreß in Lissabon. Dort waren bei den Sitzungen unter 100 bis 120 Teilnehmern 40 Reichsdeutsche und deutschredende Oesterreicher anwesend und hörten mit namenloser Geduld die Vorträge Batailles, Taunais und anderer Franzosen an. Nun ist Französisch die Verhandlungssprache des Kongresses und ich möchte das beileibe nicht bemängeln. Aber es that mir doch im Innersten wohl, als am zweiten Verhandlungstage, während die Deutschen in stumpfer Ergebenheit dasaßen, ein alter Herr aufstand, um – in englischer Sprache einen Antrag zu stellen und zu begründen. Wenigstens doch ein nationales Aufflackern von irgend einer Seite! Hat dem Gang und der Würde der Verhandlungen auch nicht im mindesten geschadet! Das deutsche Element hat sich nicht gemuckst, weder in den Sitzungen, noch bei den zahlreichen Banketten, weder bei offiziellen, noch bei wilden Toasten. Doch nein, es haben auch Deutsche gesprochen, aber nicht in ihrer eigenen, sondern immer in einer fremden Sprache.

Selbst untereinander deutsch zu reden war wie verpönt; wer’s konnte und wer’s nicht konnte, sprach französisch. Saßen wir da eines Abends zu zweien im Café Suisse bei einem späten Nachttrunk und leisteten uns das Vergnügen einer Unterhaltung in heimischer Mundart, als unverhofft sich drei andere Personen, Kongreßteilnehmer, zu uns gesellten. Ein Herr von der russischen Grenze mit Gemahlin und ein zweiter Herr, der noch weiter von Frankreich daheim war. Gab das ein Geschnatter! Die drei sprachen natürlich französisch und das ging, als ob sie dafür bezahlt würden. Wir hätten nun in das Konzert einstimmen sollen, aber mein Gegenüber machte dem grausamen Spiel ein schnelles Ende mit den Worten: „Wie wär’s, Kinder, wenn wir untereinander deutsch sprächen. Das können wir ja auch besser!“ Der das sagte, war einer, dem wirklich das Französische geläufig war wie seine Muttersprache; es war der Präsident des Preßkongresses, Wilhelm Singer.

Wenn unsere vorübergehend in die Fremde kommenden Landsleute glauben, daß sie sich mit mangelhaftem Französisch oder Englisch mehr Ansehen geben als mit ihrem guten Deutsch, so befinden sie sich in einem thatsächlichen Irrtum. Der Deutsche genießt im Auslande allerwärts Achtung, man schätzt seine Zuverlässigkeit und kauft gern von ihm. In jeder größeren Stadt des südlichen Europas giebt es deutsche Kolonien; in Lissabon z. B., wo bis vor kurzem die Engländer die kommerziellen Alleinherrscher waren, halten ihnen die Deutschen jetzt die Wage, und [372] selbst in Porto, obgleich von dort der Hauptexportartikel, der Portwein, fast ausschließlich nach England geht, bilden sie schon eine respektable Macht. In dem berühmten Börsengebäude von Porto sind die Luftheizvorrichtungen von einer deutschen Firma installiert, in Lissabon und Madrid sind von einer anderen Bierbrauereien eingerichtet und in San Sebastian die elektrischen Straßenbahnen von deutschen Ingenieuren erbaut. Deutsche haben das antike Griechenland wieder ans Tageslicht gefördert und das moderne Athen geschaffen. Man könnte die Beweise von dem Ansehen und der Leistungsfähigkeit der Deutschen ins Unendliche vermehren. Wie ist der deutsche Handel im Orient emporgeblüht! Mit welcher Achtung wird die deutsche Flagge an allen Küsten des Weltmeeres gegrüßt! Warum also diese Verzagtheit und Schüchternheit?

Es wird keinem vernünftigen Menschen einfallen, von einem Fellachen am Blauen Nil zu verlangen, daß er auf eine deutsche Frage Antwort gebe. Aber eine nachhaltige Selbständigkeit und etwas nationalen Stolz, den Gebrauch der Muttersprache da, wo man auf Verständnis zu rechnen das Recht hat, sollte der Deutsche im Auslande sich zur nationalen Pflicht machen. Er erhöht dadurch den nach ihm Kommenden die Annehmlichkeiten der Reise und kann gleichzeitig manchem Landsmann förderlich sein. Die Kellner, die draußen servieren und lernen, verlieren sich ja nicht alle dort spurlos; viele kommen zurück und verwerten ihre Erfahrungen im Betriebe eigener Unternehmungen, dem inländischen Fremdenverkehr neue schätzenswerte Dienste leistend. Andere Landsleute, Handels- und Gewerbetreibende, Künstler etc. gründen ihr Heim im Auslande und bringen dort durch Tüchtigkeit und Rechtlichkeit den deutschen Namen zu Ehren. Ihnen allen wird direkt und indirekt der Weg geebnet, wenn auch die Vergnügungsreisenden ihre Stammesangehörigkeit nicht hinter dem erborgten Schein einer fremden Nationalität verbergen, der wir, möge sie wie immer heißen, uns denn doch gewachsen fühlen! Daß infolgedessen auch im Auslande einige Leute, die vom Fremdenverkehr leben, Deutsch lernen müssen, braucht uns dabei keine Sorgen zu machen.



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Alle Rechte vorbehalten.

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Das siebente Buch Mose.

Der Aberglaube, der nie ganz auszurotten sein wird, und namentlich bei Ungebildeten, in der Erziehung Vernachlässigten, sowie bei geistig Beschränkten immer einen Unterschlupf findet, wo er gut konserviert und weiter überliefert wird, begnügt sich nicht mit den fünf Büchern Mose, welche die Heilige Schrift enthält. Er hat noch ein weiteres Buch geschaffen, aber nicht das sechste, sondern, dieses überspringend, gleich das siebente, denn Sieben, die durch eine Eins zusammengeschlossene doppelte Drei, ist eine verhängnisvolle Zahl, eine viel seltsamere als die Sechs. In diesem siebenten Buch Mose sind nun allerlei geheime Künste enthalten, welche dem Besitzer dieses Buches übernatürliche Kräfte verleihen. Er wird von seinen abergläubischen Mitmenschen mit der Ueberzeugung angesehen, daß er mehr kann als Brotessen, daß er in die Zukunft schauen und hexen und zaubern könne, weshalb man sich mit solchen Leuten halten müsse und es ja nicht mit ihnen verderben dürfe. Daß diese angeblichen Besitzer des siebenten Buches Mose aber auch nicht in glänzenden Verhältnissen leben und ihre Kunst doch vor allem zur Verbesserung ihrer Vermögenslage verwenden müßten und würden, wird von den Thörichten und Leichtgläubigen in der Regel vollständig übersehen.

Die Drechslersehefrau Veronika Röder in Nürnberg, die schon 27 mal mit dem Strafgesetzbuche in Konflikt gekommen war, lebte auch der Meinung, daß der Besitz des siebenten Buches Mose sehr vorteilhaft sein müsse. Da sie aber keines hatte, auch niemand kannte, der ein solches besaß, so konstruierte sie sich eine Frau Bartel, die ihre lebhafte Phantasie zur Eigentümerin des geheimnisvollen Buches machte. Sie meinte, auch auf diese Weise könne das siebente Buch Mose ihr Vorteil bringen. Sie hatte sich auch nicht getäuscht. Als sie die Arbeitersehefrau Ursula M. kennenlernte, erkannte sie bald, wie schätzenswert dieses Buch sei. Frau Ursula schüttete der neuen Freundin ihr Herz aus; sie vertraute ihr, daß ihr Mann sich viel mehr als notwendig mit dem Stillen seines ausgezeichneten Durstes beschäftige; Vorstellungen, die sie ihm gemacht, hätten ihr Mißhandlungen eingetragen, und zuletzt hätte sie die Zuneigung ihres Mannes verloren. Die Röder tröstete sie und versprach ihr zu helfen. Sie vertraute Frau Ursula an, daß sie eine Hexe, Frau Bartel, kenne, welche im Besitze des siebenten Buches Mose sei, allerlei Zauberkünste verstehe und glückliche und unglückliche Leute machen könne. Sie hause oben im Gemäuer der Burg. Diese Hexe könne helfen. Doch dürfe man mit niemand davon sprechen und auch nicht direkt mit ihr verkehren. Sie aber mache gerne die Mittelsperson. Und die arme Arbeitersfrau ging auf den Leim und wurde nun von der Röder ganz gehörig geschröpft, wenn die „alte Bartli“ für ihre Hexereien auch nur geringen Lohn beanspruchte.

Die Röder spiegelte der Frau Ursula nun weiter vor, die Hexe könne dafür sorgen, daß sie auf ein Los der Steinbühler Kirchenlotterie den Haupttreffer von 70000 Mark mache. Frau Ursula glaubte dies alles, und nun ging die Zauberei los. Sie mußte der Röder einen Hemdkragen und ein Paar Strümpfe ihres Mannes sowie eine Gabel bringen. Mit den Strümpfen wurde Hokuspokus getrieben, und sie wurden dann dem nichts ahnenden Manne wieder zum Anziehen gegeben. In den Griff der Gabel ward ein halbes Dutzend Kreuze eingeschnitten, und der Mann sollte sie dann wieder in Benutzung nehmen. Auch einige Gläschen einer Flüssigkeit sollten dem Manne in die Suppe gethan werden; der scheußliche Geruch derselben öffnete der Frau Ursula vorübergehend die Augen: sie goß die Gläschen aus. Dann aber kam über die Frau wieder die geistige Blindheit, und sie glaubte der Röder, daß die Bartel noch kräftigere Mittel wisse.

Die Röder solle nämlich Wallfahrten machen, eine zum heiligen Rock nach Trier, eine „hinter“ München und eine „hinter“ Wunsiedel. Zu letzterer müsse ein unschuldiger Knabe mitgenommen werden, der einem Kreuze dortselbst etwas anhängen müsse. Natürlich brauchte man auch geweihte Kerzen, von welchen die eine geopfert, die andere von Frau Ursula zur selben Zeit zu Hause angezündet werden mußte. Das alles kostete Geld und die gute Frau Ursula opferte gerne die mühsam erworbenen Spargroschen. Selbstverständlich fiel es aber der Röder gar nicht ein, nach Trier oder anderwärts hinzugehen; sie ließ sich ihre Beute zu Hause gut bekommen. Der Durst des Mannes nahm leider auch nicht ab. Frau Ursula jammerte deshalb eines Tages: „Wenn das nicht bald ein Ende nimmt, halt ich’s nimmer aus, ich muß nur immer zahlen und helfen thut’s nicht!“ Worauf ihr die Röder versicherte: „Jetzt ist’s gar, jetzt ist er bekehrt!“ Aber der Gatte der Frau Ursula ließ sich durch diese Zauberei nicht stören – er trank weiter.

Um den Gewinn von 70000 Mark zu machen, mußte Frau Ursula zwei Lose kaufen, sodann nach Vorschrift sechs Päckchen von Kochsalz machen und diese „unbeschrieen“ in Zwischenräumen in den Ludwigskanal werfen. Zum vollständigen Gelingen war es aber noch nötig, daß Frau Ursula drei Blumensträußchen band und sie auf Kindergräber steckte. Das kam der Frau seltsam vor. Aber die Röder sagte ihr: „Fragen dürfen Sie nicht, warten Sie nur, Sie gewinnen 70000 Mark und dann werden Sie uns dankbar sein!“ Frau Ursula gewann natürlich nichts; sie wurde wütend, ließ sich aber wieder besänftigen und – ging wiederum auf den Leim.

Der durstige Mann der Frau Ursula hatte sich vor dem Gericht wegen Körperverletzung zu verantworten. Die Röder machte der leichtgläubigen, beängstigten Gattin nun weis, auch dafür könne die Frau Bartel helfen. Diese schrieb, der Mann solle seine Strumpfsocken verkehrt anziehen, beim Betreten des Verhandlungssaales seine Blicke auf die Fenster richten und still für sich das nachfolgende Sprüchlein sprechen: „Ich trete vor das Gericht, da sitzen drei schwarze Männer, der eine hat keine Zunge, der zweite hat keine Lunge, der dritte soll verstummen. So wahr mir Gott helfe.“ Der Mann war seiner Frau würdig. Er that, wie ihm vorgeschrieben war. Der Erfolg war ebenso großartig wie bei den anderen Hexereien der Frau Bartel: der Mann erhielt acht Tage Gefängnis!

Nun ward es der Frau Ursula doch zu dumm! Nachdem sie bereits der Röder ihre Spargroschen im Betrage von 492 Mark geopfert hatte, erkannte sie, daß sie einer Schwindlerin in die Hände gefallen und daß die zwei Dutzend Briefe der Hexe Frau Bartel von der Röder selber geschrieben waren. Allerlei kräftige Zaubermittel wurden in diesen Briefen verraten, namentlich aber auch Frau Ursula zum Vertrauen zur Röder aufgefordert, da sie eine gar gute Frau sei, die nur das Beste der Frau Ursula wolle. Die Röder warnte dagegen ihrerseits vor Mißtrauen gegen die Hexe Bartel: sie habe einmal einen Soldaten, der sie gereizt habe, um das Augenlicht gebracht.

Die Röder wußte den Leuten das Geld aber auch ohne Hexerei abzunehmen, indem sie diesen vorspiegelte, Frau Ursula mache eine reiche Erbschaft oder sie habe die 70000 Mark gewonnen. Der Tochter eines Bäckermeisters schwindelte sie über 2000 Mark ab und sogar einem Dienstknecht 40 Mark. Einer Frau W. schwindelte sie vor, ihre Tochter sei Pfarrersköchin und sei von dem verstorbenen Pfarrer zur Alleinerbin eingesetzt worden. Diese gewährte der Röder einen Kredit von 300 Mark, nachdem sie der Frau W. versprochen hatte, ihrem Onkel beim Ausgraben des Schatzes des großen Hunnenkönigs behilflich zu sein. Der Onkel der Frau grub nämlich schon monatelang bei einer Eisengrube in der Oberpfalz nach dem Schatze und dem goldnen Sarge des Hunnenkonigs. Die Röder aber sagte, sie habe einen Onkel, der könne es machen, daß der Schatz noch viel früher gefunden werde. Das Lesen von Messen sollte dies ermöglichen. Gelesen wurden diese natürlich nie.

Der Frau Röder hat die Ausbeutung des Aberglaubens ihrer leichtgläubigen Mitmenschen nach Nürnberger Zeitungen, denen diese Mitteilungen entnommen sind, sechs Jahr Zuchthaus eingetragen. Wir fürchten aber, daß wenn sie wieder herauskommt, sie sich sofort wieder an das Hexen und Zaubern machen und sich auch ferner auf Kosten beschränkter Menschen ernähren wird, was ja, wie es scheint, gar nicht so schwer ist. Hans Boesch.     




[373]
Bauern-Pferderennen in Südtirol.
Von Karl Wolf.


Der Reisende, welcher mit der Eisenbahn thalauf fährt, von Bozen nach Meran, hat keine Ahnung von der herrlichen Hochebene auf dem mächtigen Bergstock, dessen Abhänge, bald als öde Schutthalden, dann wieder streckenweise von Busch und Niederwald bedeckt, gegen die Etsch zu abfallen.

Es wohnt da oben ein ganz eigener Volksstamm, grundverschieden von den Bewohnern des Thales. Er hat eine eigene Mundart und eine eigene Nationaltracht und zum Teil auch eigene Volksgebräuche. – Der Bergstock erstreckt sich von den Granitwänden des Ifinger bis hinunter, wo sich die Talfer aus dem Sarnthale bei Bozen ihre wilde Bahn bricht. Die Bewohner der Dörfer dieses Hochlandes, Hafling, Vöran, Mölten und Jenesien, werden im Volksmunde „Hössen“ genannt, und sie sollen thatsächlich von einem hessischen Volksstamme übrig geblieben sein, welcher sich in dieser Gegend zur Zeit der Völkerwanderung niedergelassen hatte. Die Leute treiben Feldbau und Alpenwirtschaft, Viehhandel und ganz besonders Pferdezucht. Durch eine glückliche Wahl geeigneten Materials wurde mit der Zeit eine konstante Züchtungsrasse herausgebildet, welche im Handel unter dem Namen „Haflinger“ bekannt ist.

Der Haflinger ist mittelgroß, hat einen charakteristisch geformten, stockigen Kopf mit breitem, schön getragenem Hals, gedrungenen Leib, breite Brust und starke, wohlgeformte Füße mit kräftigem Huf. Von den Bauern werden die Haflinger Pferde als Reit- und Tragtiere verwendet. Der Reiter benutzt als Sattel meist nur ein aufgeschnalltes wolliges Schaffell; die Steigbügel, wenn er überhaupt solche mag, hängen fast vorne beim Hals des Pferdes – und das Zaumzeug? Hängt gerade eine Trense zur Hand, so ist es gut; wenn nicht, so zieht er dem Gaul einen Riemen oder einen Strick durch das Maul; dann schwingt er sich mit einem Satz auf den Rücken, schlägt den weichen Hut dem Tiere um die Ohren, und wie das Wetter geht es über Stock und Stein, über Wiesen, über Zäune, Abhänge hinunter, Abhänge hinauf, und ein heller Jauchzer um den andern giebt Zeugnis, daß der Reiter noch immer nicht den Hals gebrochen hat. Als Gangart liebt der Bauer nur Schritt oder Galopp. Die Weiber, wenn sie in die Sommerfrische, auf eine Wallfahrt oder zu Besuch reiten, sitzen nach Männerart zu Pferde. Der Knabe erwischt auf der Weide einen Gaul an der Halfter, zerrt ihn zum nächsten Zaune und klettert hinauf. Wie ein Frosch sitzt er oben, und es hilft kein Bocken und Schütteln. Er behält seinen Sitz, und wird der Gaul endlich der Geschichte überdrüssig, so muß er sich legen, will er den mutwilligen Reiter abbringen.

Benutzt man das Pferd als Tragtier, so wird ihm ein breiter, hölzerner Sattel übergeworfen und es bekommt links und rechts einen Korb für kleinere Gegenstände oder zwei lederne Säcke für Getreide. Der Wein wird in kleinen, einen Meter langen zugespitzten Fässern verladen.


Haflinger Bauern, zum Start abreitend.

[374] Die Pflege des Pferdes macht dem Bauer keine sonderliche Mühe, und Striegel sowie Bürste finden einen schlechten Absatz beim Krämer. Ebenso fällt es dem Hössen nicht im Traume ein, die Fesseln auszuscheren, Schwanz und Mähne auszukämmen, die Nüstern auszuwaschen oder sonstige für die Pflege eines Pferdes nützliche Verrichtungen zu unternehmen. Ein bekannter Hösse sprengte einmal in Carriere bei meinem Hause vor, um mir einen Besuch zu machen, hauptsächlich Wohl, um mir einige Krüge Tiroler abzutrinken. Dem Pferde flogen die Flanken von der gehabten Anstrengung, und als der Bauer mit einem Satz absprang, mahnte ich: „A Deckn werst’n doch überwerfn, dei’m Gaul?“ Da schaute er verwundert auf und sagte lakonisch: „Wirft miar oaner a Deckn über?“

Als man zur Ergänzung der Tiroler Landwehr berittene Schützen aufstellte, war die Meinung verbreitet, das beste Rekrutenmaterial hierfür dürfte unter den Hössen zu finden sein.

Das war jedoch nicht der Fall. Diesen Naturreitern war selbst mit der größten Mühe nicht ein halbwegs tauglicher militärischer Sitz beizubringen und die heimatgewohnte Haltung auszumerzen. Der Hösse sitzt fast auf dem Halse seines Pferdes, mit hochgezogenen Knien, sogenanntem Wadenschluß, und gekrümmtem Rücken.

Das Haflinger Pferd wird als Reittier oder für leichte Bespannung hochgeschätzt und gerne gekauft. Es gehört aber schon ein geübtes Auge dazu, die Vorzüge eines solchen Struwwelpeters unter den Pferden zu erkennen.

Auf die Teilnahme dieser Hochlandbewohner hatte man auch hauptsächlich gerechnet, als Heuer im Kurorte Meran ein Bauern-Pferdewettrennen für Sonntag nach Ostern ausgeschrieben wurde. Die Sportsleute werden gelächelt haben beim Durchlesen der Rennbedingungen: „Vollständige Freiheit im Sattel und Zaum. Anmeldetermin bis eine Stunde vor Beginn des Rennens. Die Pferde müssen im Besitze von Bauern sein, von ihnen selbst, deren Söhnen oder Knechten geritten werden.“ Diese Vorschriften waren notwendig, um die Leute heranzuziehen.

Beim Sulfner in Hafling war vorher eine Zusammenkunft der dortigen Pferdebesitzer, und dort fand eine Besprechung des ausgeschriebenen Rennens statt. Die getäfelte Stube war voll von qualmenden und rauchenden Männern, so daß die Tochter des Bauern, mit der ich eintrat, erschrocken zurückprallte und lachend sagte: „Heilige Muater Anna, thut’s denn Menschenfleisch selchen (räuchern) da herinnen?“

Fast mitten in der Stube saß der angesehenste Bauer und teilte seine Weisungen aus: „Alsdann nit zu viel Heu füttert’s in der Woch’n, dafür a zwei Maßl Haber. Nachher schaut’s drauf, daß die Viecher an Fried haben und nit die Buaben in ganz’n Tag drauf ummer hängen. Jedweder reitet sein Gaul Vormittag und nach’m Avemaria-Läuten auf z’ Nacht dreimal linksum auf der Gmoanweide. Laßt’s den Roßnen Luft. Die Zügl, oder die Strick, was halt einer hat, in die zwoa Fäust, die Fäust außi bis auf’n Hals vom Roß und in Buggl stellt's auf, wia bei an Hagelwetter. Sitz’n müaßt’s a sou woach, als hätt’s a purzelanenes Taller unter. A sou hat’s Roß a Hilf von sei’m Reiter.

Und will enk a Stadtherr an Rat geben, seid’s nit grob. Nit annehmen den Rat, aber a nit grob sein. Höchstens kann einer sag’n: Esel, kann er sag’n, i bin a Haflinger und reiten kann i selber. Aber lei alleweil höfli.

Und anmelden thuan mir uns all mitnand. Daß mir koaner a Anmeldung schreibt. ’s Gschriebene ist Advokat’nfuater! Merkt’s enk selb!“

Am Sonntag nach Ostern ging das Rennen vor sich. Nebst den Bauern aus den Seitenthälern mit ihren meist größeren Pferden rückten über fünfzig Hössen an. „Sattel und Zaum vollste Freiheit,“ das konnte man auf den ersten Blick beobachten. Eine ungeheure Menschenmenge umsäumte den Rennplatz, Menschen, man kann dies in einem Kurorte mit Fug und Recht sagen: aus aller Welt.

Die Bauern fügten sich bereitwilligst den Anordnungen der Starter, und kaum erklang das Zeichen, flogen, Feld um Feld, immer zehn Reiter die Bahn entlang. Wie die Wilden rasten die Leute dahin. Man meinte, es sei fast unmöglich, daß nicht da und dort ein Stürzender überritten werde; aber ohne nennenswerten Unfall verlief das Rennen, und als beim Meisterschaftsrennen um den Hauptpreis ein Haflinger siegte, kannte der Jubel keine Grenzen.

Noch spät in der Nacht konnte man auf der steilen Bergstraße nach „Kathrein in der Scherle“ die brennenden Kienfackeln der Heimreitenden beobachten, und jeder von ihnen freut sich heute schon auf das Rennen im nächsten Jahre.





Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(Schluß.)



Unter ziehenden Nebeln graute der Morgen über dem Gaisthal, über den Tillfußer Wäldern und Almgehängen.

Doch lange vor dem ersten Grau, schon um drei Uhr morgens, war im Försterhäuschen ein Licht lebendig geworden. Als Praxmaler, um seinen Herren zu wecken, mit der Laterne zum Jagdhaus hinaufging, sah er, daß im Schlafzimmer des Fürsten schon Licht war, das mit flimmerndem Schein in die vom Nebel durchwobene Dämmerung hinausleuchtete.

Droben pochte er an die Thüre.

„Duhrlaucht?“

„Ich danke, ja, ich bin schon auf!“ klang es mit heller Stimme aus dem Zimmer.

„Schlecht schaut’s aus mit’m Wetter!“ berichtete Pepperl durch die geschlossene Thüre. „Nebel haben wir. Ich mein’, Sie sollten heut daheimbleiben, Duhrlaucht.“

„Nein, nein, ich gehe! Mag das Jagdwetter sein, wie es will!“

„No ja, wenn S’ meinen! Aber ein’ Gamsbock bringen S’ heut’ kein’ net heim … heut’ marschieren S’ umsunst!“

Ein frohes Lachen war die Antwort.

„Nebel hin oder her … den freut heut’ ’s Leben!“ dachte Pepperl, während er die Treppe hinunterging. „Und mich freut’s auch!“

Drunten in der Hütte, um den Förster nicht aus dem besten Schlummer aufzustören, setzte er möglichst geräuschlos die Wasserpfanne übers Feuer. Bis das Wasser kochen würde, blieb ihm genügende Zeit, ein „Sprüngerl“ in die Sennhütte hinunterzumachen. Da kam er gerade recht, um seinem Mädel den Schlaf aus den Augen zu küssen.

Lachend streckte sich Burgi in ihrem Heubett und schlang die Arme um den Hals des Jägers. „Du … so ein Bußl beim Aufwachen … das ist fein was Gut’s!“

„Halt ja! Aber jetzt gieb nur g’schwind noch eins her zum B’hüt-dich-Gott! Auf'n Abend hast mich wieder!“

Es dauerte lang, dieses „g’schwinde Bußl“ – so lange, daß das Wasser, als Pepperl wieder in die Hütte kam, schon kochend aus der Pfanne sprudelte. –

Der helle Morgen begann, und durch die grauen, im Fluge sich klüftenden Nebel schimmerte ein armseliges Stücklein des blauen Himmels, als Ettingen mit raschem Gang vom Jagdhaus herunterkam, auf dem Hut einen blühenden Zweig der Edelrose. Pepperl stand schon wegfertig mit der Büchse vor seiner Hütte. Einem Menschen, der froh und glücklich ist, fällt nur der fremde Kummer auf, doch nicht so leicht die Freude des anderen – denn Freude erscheint ihm als das Selbstverständliche. Als aber Pepperl seinen Herren sah, fiel ihm doch der Glanz dieser Augen auf, so daß er dachte: „Teufi, Teufi, der muß sich heut’ ein’ guten Birschgang derwarten, weil er gar so gottsfreudig dreinschaut! Und den Bruch hat er schon aufs Hütl g’steckt, noch eh, daß er g’schossen hat … Teufi, Teufi, da kriegen wir g’wiß nix … da hab’ ich ein’ Aberglauben drauf!“ Dem Jäger ging’s wie ein Schatten über die eigene Freude. Er hätte so gern dazu geholfen, daß sich die frohe Jägerhoffnung seines [375] Herrn erfüllen möchte – aber der verfrühte Bruch und solch ein Wind und Nebel dazu – da wußte er’s ganz gewiß: „Wir kriegen nix!“ Auf diese Enttäuschung mußte er seinen Herrn vorbereiten.

„Schön’ guten Morgen, Duhrlaucht!“

„Guten Morgen, Pepperl! Und kommen Sie nur gleich! Wir wollen keine Minute mehr verlieren und tüchtig ausgreifen!“

„No ja … d’ Füß’ mach’ ich gern so lang, wie’s geht … aber heut’ hab’ ich kein’ rechte Schneid’ auf d’ Jagd!“

„Ich auch nicht!“ erwiderte Ettingen lachend.

„Gott sei Dank, weil S’ Ihnen nur net z’viel derwarten. Und gelten S’, ich hab’ recht g’habt gestern … heut’ wird’s ein Hakerl haben mit der Sonn’!“

„Mir wird sie scheinen! Kommen Sie nur!“

„Ja, wär’ mir selber recht, wenn d’ Sonn’ grad’ Ihnen z’lieb ein’ Ausnahm’ machen thät!“

Sie schritten gegen den Wald hinunter. .

Da wurde im oberen Stock des Fremdenhauses ein Fenster geöffnet. „Guten Morgen, Heinz! Und Glück auf den Weg!“

Mit seinen „gottsfreudigen“ Augen grüßte Ettingen zu dem Freunde hinauf. „Ich danke dir, Goni! Das war lieb von dir!“

Pepperl aber schüttelte bedenklich den Kopf zu diesem Wunsch und dachte: „Glück hat er ihm auch noch g’wunschen … jetzt is’ erst recht g’fehlt!“ Und er wollte sich kaum fassen darüber, daß ein so fermer Jäger wie Graf Sternfeldt sich so schwer gegen den Weidmannsbrauch verfehlen konnte. Glück – was Schlimmeres als das kann einem Jäger gar nicht gewunschen werden!

Raschen Ganges wanderten die beiden durch das lange Thal hinauf; sie waren schon eine Stunde unterwegs, doch der Morgen wurde nicht Heller. Wohl klüftete sich manchmal der unruhig ziehende Nebel und gab einen dunklen Waldgrat oder ein Stück der düsteren Wände frei, doch alle Höhen schienen von dunklem Gewölk überlagert, und wenn sich der Nebel teilte, trieb ihn der Wind immer wieder zu dichten Massen zusammen, so daß man im Wald oft kaum auf zwanzig Schritte die Stämme unterscheiden konnte. Aus diesen wehenden Dünsten ging ein dünnes Geriesel nieder, bei dem sich alles wie mit feinem Tau beschlug, und alle Geräusche klangen trüb’ gedämpft: das Rauschen des Baches, die schreienden Stimmen, die man irgendwo in der Ferne von den Almen hörte, und das Geläut und Brüllen der Rinder, die heute mit solcher Unruhe ihre Aesuug zu suchen schienen wie nach einem Schneefall, der alles Grün bedeckte.

Immer sorgenvoller wurde das Gesicht des Jägers. Auf seinen Herren aber schien das unfreundliche Bild der Landschaft mit seinem trostlosen Grau keine Wirkung zu üben. Der wanderte zu und immer zu, mit so treibendem Gang, daß ihm der Jäger kaum zu folgen vermochte – versunken in stille Gedanken, immer mit diesem träumenden Lächeln, mit diesem Leuchten in den Augen, als wäre frühlingsblauer Himmel mit heller Sonne über ihm und um ihn her das lachende Grün im Duft der Blumen.

Schon ein paarmal hatte Praxmaler verwundert den Kopf geschüttelt. „Das is aber doch ein g’spaßiger Nebel! Der riecht ja schier wie der Dampf, der von der Kohlstatt kommt!“

Und was war denn das für ein Rauschen, fern in der Höhe? Sie hatten noch eine gute Wegstunde bis zum See – da konnte man doch den Wasserfall des Seebaches noch nicht hören? Und waren denn die Leute auf der Sebenalm verrückt geworden – sie schrieen ja, daß man’s auf eine halbe Stunde weit hören konnte! Was die nur haben mochten?

Während der Jäger sich diese Frage stellte, kamen ein paar Kühe in wilder Flucht durch den Wald heruntergerannt. Jetzt meinte er zu wissen, was auf der Sebenalm los war – den Leuten war das Milchvieh scheu geworden und durchgegangen. Aber da hörte er im Wald einen Laut, der ihn ganz verblüfft machte – den Pfiff einer Gemse. Und jetzt ein Jagen und Brechen, als würde ein ganzes Rudel flüchtig! Das begriff er nicht. Gemsen hier unten im Thalwald? So tief steigen sie nicht einmal herunter im schwersten Winter!

„Herr Fürst! Ich weiß net was … aber es muß was los sein heut’. Da saust ein Rudel Gams durch’n Wald … Wie kommen denn die Gams da ’runter?“

Ettingen schien nur halb zu hören. Und da er sah, daß der Jäger stehen blieb, drängte er mit Ungeduld: „So kommen Sie doch! Lassen Sie die Gemsen … ich will ja nicht jagen heute! Kommen Sie doch!“

„Net jagen?“ Das war für Praxmaler von allen Wundern dieses Morgens das größte. „Ja warum denn steigen wir nachher ’nauf zum See?“

Er bekam keine Antwort; aber da er in seiner Verblüffung mit diesem Schweigen nicht zufrieden war, begann er zu grübeln, während er mit langen Schritten hinter seinem Herrn einhermarschierte. Und da er den Maßstab seiner eigenen Natur an dieses dunkle Rätsel legte, fragte er sich: Wär’s nicht im Dienst oder der Jagd zuliebe – was könnte mich denn zwingen, bei solchem Wetter einen solchen Weg zu machen? „Ich wüßt’ net, was … oder es müßt’ mein Burgerl droben sein und warten!“ Da machte sein Scharfsinn einen jähen Gedankensprung, und verdutzt betrachtete er seinen Herrn, der es so eilig hatte. „Ah, da schau!“ Hatte nicht gestern der Förster erzählt, er hätte das Maler-Fräulein zum Sebensee hinaufreiten sehen? Und hatte der Fürst nicht gleich darauf gesagt: „Pepperl, morgen machen wir eine Birsche zum Sebensee?“ Er dachte an jenen Morgen, an dem er seinen Herrn im Blumengarten des kleinen Seehauses gefunden hatte – dachte an die drei Hirsche im Gaisthal, die ihr Leben dem Maler-Fräulein zu danken hatten – dachte an jene Gewitternacht in der traulichen Waldstube dort oben, und da ging ihm jählings ein Licht auf, bei dessen Schein er das Rätsel dieses Nebelmarsches flink und leicht gelöst hätte, auch wenn es noch viel dunkler gewesen wäre. „Ah, da schau!“ Schmunzelnd musterte er seinen Herrn – und jetzt verstand er auch das Wort von der Sonne, die heute scheinen würde. „Das glaubst! Die hat freilich Sonn’schein in die Aeugerln … da kann der Nebcl so dick sein, wie er mag!“

Dieses Mitwissen, das vor seinem Scharfsinn so plötzlich aufgedämmert war, konnte sich nicht verborgen halten und mußte aus ihm heraus mit einem Wort.

„Drei Viertelstünderln noch, Herr Fürst, und ich mein’, wir sitzen droben im Seehäusl! Und nachher haben wir d’ Sonn’! Werden S’ sehen … nachher haben wir’s!“

Da sah sich Ettingen nach dem Jäger um, schweigend wohl, doch lächelnd und mit einem Blick, der so deutlich redete, daß Pepperl vergnügt vor sich hinschmunzelte: „Hab’s schon ’troffen … ’s Richtige!“

Ein sausender Windstoß riß den Nebel entzwei, und man sah den steilen Tejakopf von einer schwarzen Wolke umlagert.

„Ja Duhrlaucht! Schauen S’ doch nur da ’naus! Was is denn jetzt das für ein G’wölk? So pechschwarz kann ja doch ums Himmelswillen kein Wetter net aufziehen?“

Doch ehe der Blick des Fürsten die Höhe fand, nach welcher der Jäger deutete, hatte der jagende Nebel die Bergspitze mit ihrer finsteren Haube schon wieder verhüllt.

Sie schritten aufwärts durch den steigenden Wald. Da hörten sie wieder von der Sebenalm die schreienden Stimmen. Jetzt blieb auch Ettingen stehen, wie von einer Sorge befallen.

„Praxmaler! Hören Sie doch! Was können die Leute nur haben?“

„Was da droben los sein muß … ich kann mir’s gar net denken! Und da müssen ja viel mehr Leut’ bei ’nander sein als wie d’ Sennleut’ und der Hüter! Und in der Luft… wie’s in der Luft liegt! Als ob’s in der Näh’ wo brennen thät’! Es wird doch ums Herrgottswillen d’ Almhütten net im Feuer stehn!“

Da hörten sie das Keuchen eines Menschen und ein Gerappel von Steinen, als käme einer wie in wahnsinnigem Lauf über den Steig heruntergerannt.

„Ja um Christiwillen,“ stammelte der Jäger, „was is denn?“

Ein Mensch tauchte im Nebel auf. Es war der Sebener Senn. Jetzt stand er vor den beiden, zitternd an allen Gliedern, nach Atem ringend, das fahle Gesicht wie mit Ruß bestrichen. Die Augen waren rot verquollen, wie verweint, und die Aermel seiner Joppe von kleinen Brandlöchern durchsiebt, als wäre er durch einen Regen glühender Funken gelaufen. Mit beiden Fäusten packte er den Jäger an der Brust und keuchte: „Der Förstner … wo is der Förstner? Ich muß den Förstner haben und d’ Holzerleut …“

[376]

Ertappt.
Nach dem Gemälde von Ferd. Brütt.

[377] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [378] Ettingen rüttelte ihn am Arm. „Aber Mensch, so sagen Sie doch … was ist denn geschehen?“

„Der Sebenwald brennt … der ganze Wald bis übern See ’nauf … alles ein einzig’s Feuer! ’s ganze Jungvieh droben … alles muß hin sein, alles, alles! Jesus Maria! D’ Höll’ kann net ärger sein! Und ’s Fräul’n is droben seit gestern … das arme Fräul’n! Und alles muß hin sein droben. Jesus! Jesus! … der Förstner? Ja, sag’ mir doch, Jager, wo is denn der Förstner?“

„Mar’ und Josef! … draußten im Tillfuß is er! Lauf, Senn, lauf, ja lauf doch ums Himmelswillen, was d’ lausen kannst!“

Der Senn wollte rennen, doch Ettingen hielt den Arm des Mannes umkrampft wie mit eiserner Faust.

„So lassen S’ doch aus, Herr!“ keuchte der Senn. „Ich muß ja um d’ Leu?! Es brennt ja ’s Fuier schon z’ruck gegen d’ Alm … und die Küh’ sind närrisch, wir zwingen s’ ja nimmer .. .ich muß ja Leut’ haben, Leut’… aber so lassen S’ doch aus!“

Ettingen rang nach Worten. „Giebt es noch einen Weg …“ die Stimme brach ihm wieder, „einen Weg durch das Feuer … zum See hinauf …“

„Kein’ nimmer! Kein’! ’s ganze Seethal is zu mit Fuier! So lassen S’ doch aus … verflucht!“ Mit Gewalt befreite der Senn seinen Arm und rannte davon, mit keuchender Stimme betend: „Jesus, Jesus Maria … und Vater, Vater unser, der du bist im Himmel …“ Er verschwand im Nebel, und das Geklapper seiner schweren Schuhe erstickte die betende Stimme.

Zitternd klammerte sich Ettingen an den Ast einer Fichte, als müßte er eine Stütze haben, um sich aufrecht zu erhalten. Dem Jäger schössen vor Erbarmen die Thränen in die Augen, als er das verstörte Gesicht seines Herren sah und diesen verzweifelten Blick. „Um Christiwillen … mein lieber, lieber Herr Fürst!“

Ettingen erwiderte keinen Laut. Aber seine Glieder streckten sich, als wären sie Stahl geworden – und ein Blick nur sagte dem Jäger: „Kommen Sie!“

Wortlos eilten sie durch den Wald hinauf und erreichten das Almfeld. Hier lag der Nebel nicht mehr so dicht wie im tieferen Thal. Man sah die Leute, die mit Geschrei umherrannten, um die Kühe einzufangen und nach dem Stall zu bringen – man sah den Wald und über seinen Wipfeln den schwarzen, von trübem Feuerschein durchflackerten Qualm, der von Wand zu Wand die ganze Breite des Seethals füllte.

Mit brennenden Augen spähte Ettingen durch die Schleier des Nebels. „Nein … da giebt es keinen Weg mehr! Nicht durch den Wald hinauf!“ sagte er mit erloschener Stimme. „Aber einen anderen giebt es! Sie muß sich ja vor dem Feuer geflüchtet haben … in die Felsen hinauf! Dort müssen wir sie finden! Wir müssen!“ Er eilte den Latschengehängen zu, die sich oberhalb des Almfeldes steil emporhoben gegen den Tejakopf, dessen gewaltige Felsenmauer zwischen dem Prantlkar und dem brennenden Seethal aufstieg und mit seiner Zinne in schwarzem Rauchgewölk verschwand.

Erschrocken lief der Jäger seinem Herren nach. „Mar’ und Josef! Duhrlaucht! Wo wollen S’ denn hin?“

„Hinauf! Dort hinauf! Durch das Prantlkar und über den Paß … den Weg, den wir neulich gingen, als das Gewitter kam … und die schöne Nacht …“ Seine Stimme erlosch wie in einem Schluchzen, das keine Thränen hatte.

„Ja, ja, Herr Fürst … aber da müssen wir wieder ’nunter durch’n Wald und drüben ’nauf!“

„Nein! Ich sehe einen Weg ins Kar, der näher ist. Dort hinauf!“ Ettingen deutete nach den Latschenbändern, welche schräg über die Felswand emporkletterten gegen die Höhe des Kars. „Da sparen wir eine Stunde!“

Praxmaler wischte sich den Schweiß von der Stirn und stammelte: „Um Gott’swillen, Duhrlaucht … alles was recht is … aber da steig’ ja ich kaum durch! Sie kommen net ’nauf!“

„Ich muß hinauf!“ Ettingen hatte schon den Latschenhang erreicht und begann zu klimmen.

Ohne Widerrede legte der Jäger alles ab, was er trug, die Büchse, den Rucksack, die beiden Wettermäntel – jetzt brauchte er freie Arme, denn er wußte, daß es um das Leben seines Herren ging.

Sie kamen zum Fuß der Felswand und begannen zu klettern, wortlos, mit schwerem Atem – Ettingen immer voran. Mit Rasseln und Sausen stürzten unter seinen Tritten die Steine in die Tiefe – er hatte keinen Blick für sie, seine Augen suchten nur immer die Höhe. Nie bedurfte er der Hilfe des Jägers – und wenn Praxmaler schon ratlos innehielt, immer wieder fand Ettingen eine Schrunde im Gestein, einen Tritt für seine Füße, der ihn höher brachte, so rasch, daß der Jäger Mühe hatte, sich dicht hinter seinem Herrn zu halten.

Als sie die Kuppe der Wand erreichten, schlug Praxmaler ein Kreuz und sah mit bleichem Gesicht in die schwindelnde Tiefe.

Nur eine kurze Strecke hatten sie noch zu steigen, weniger mühsam, und dann kam über Griesfelder und Latschenrücken ein ungefährlicher Weg in das Kar.

Der Nebel begann sich langsam zu heben – und von der Höhe, auf der die beiden waren, konnten sie den Eingang des brennenden Thals überblicken. Zwischen Qualm und Dämpfen sah man die flammenden Bäume. Auf weite Strecken war der Grund schon kahlgebrannt – und bald erschienen diese Stellen grau, bald wieder, wenn der Wind die Asche verwehte, verwandelten sie sich in rote Glut. Und alles, die Flammen der Bäume, Rauch und Qualm, die Aschenwolken – alles strebte im jagenden Winde hinauf und immer hinauf, dem See entgegen.

Ettingen bedeckte mit den Händen das Gesicht, als könnte er diesen grauenvollen Anblick nicht ertragen, als müßte er mit Gewalt die martervollen Bilder ersticken, welche die Angst seines Herzens ihm vor Augen stellte.

Schwere Thränen rannen ihm über die Lippen, als er sich wandte und den Weg ins Kar begann.

„Ich bitt’ Ihnen, mein lieber Herr,“ bettelte der Jäger, „thun S’ doch ein bisserl rasten!“

Ettingen schüttelte den Kopf und eilte weiter.

Sie stiegen eine Stunde und eine zweite. Je näher sie im Kar der letzten Grieszunge kamen, von deren Ende der Steig über brüchige Wände hinaufkletterte zum Paß, desto ungeduldiger wurden die Schritte des Fürsten, obwohl ihm Atem und Kräfte schon fast zu Ende gingen. Auch der Jäger war so erschöpft, daß er die letzte Kraft seiner Glieder geben mußte, um sich an der Seite seines Herrn zu halten.

Einer steilen Felswand nahe, ging der Weg zwischen mächtigen Felsblöcken dahin, die ein Bergsturz über das Griesfeld geworfen hatte. Wohl war der Nebel gestiegen und hatte sich schon über Thal und Bergen zu einer grauen, regungslosen Decke gesammelt – aber das ganze Kar lag verschleiert vom dünnen Geriesel der Asche, die aus den Lüften fiel, und vom Rauch, der drüben aus dem brennenden Seethal aufstieg und im Kar sich wieder niedersenkte über die Wände.

Nur einen Weg von wenigen Minuten hatten sie noch bis zu der Stelle, an welcher der Paßweg beginnen mußte, und Ettingen suchte ihn schon mit brennenden Blicken. Da rollten Steine aus der Wand herunter, an der sie vorüberschritten. Im gleichen Augenblick riß der Jäger seinen Herren hinter einen Felsblock und stammelte: „Mar’ und Josef! Kein’ Laut … nur um Gottswillen kein’ Laut nimmer! … Da schauen S’ ’nauf!“

Hoch über dem Griesfeld, in der steilen Felswand, welche pfadlos schien, bewegte sich unter dem Schleier des Rauches langsam eine Gestalt.

„Lo’!“ glitt es mit ersticktem Klang über Ettingens Lippen. Sein erstes Gefühl war ein Sturm von Freude. Sie nur wiederzusehen! Lebend! Doch dieser Rausch der Freude ging ihm unter in Angst und Grauen, das ihn fast um die Sinne brachte. Jeder Schritt in dieser Wand war ein Schritt in den Tod.

Ettingen raffte sich auf mit schluchzendem Laut und streckte die Arme. Nur helfen, helfen, dieses stürzende Leben schützen – kein anderer Gedanke mehr war in ihm! Er wollte schreien: Ich komme, Lo’! – doch seine Stimme war nur ein Lallen. Und da preßte ihm der Jäger die Hand auf den Mund und riß ihn zurück und flüsterte:

„Ein’ Laut, Herr Fürst, und Sie bringen das Fräul’n um! Da giebt’s kein Helfen … wir stehen ja da mit leere Händ’, ohne Seil und Eisen, ohne alles! Sie muß allein da ’runter … da hilft ihr keiner, bloß die eigne Kraft! Und schauen S’ nur ’nauf, wie s’ jeden Schritt probiert und wie sie sich ruhig halt’t! [379] Sie derzwingt’s … passen S’ auf, sie derzwingt’s! Aber ein’ Laut von Ihnen … ein’ Merker von ihr, daß wer da herunten steht, und Sie g’rad’, Sie, Herr Fürst … und sie hat ihr’ Ruh verloren und …“ der Jäger sprach das Wort nicht aus, das ihm schon auf der Zunge lag. „In Rauch und Nebel hat s’ den Steig verfehlt und hat sich in d’ Wand’ verstiegen. Jesus, Jesus Maria… Was muß das Fräul’n für ein’ Weg g’macht haben in der Nacht!“

Nun standen sie regungslos hinter dem Felsblock und spähten durch den ziehenden Rauch in die Wand hinauf. Sie sprachen kein Wort mehr, aber es hämmerte in ihrer Brust, daß einer den Herzschlag des anderen hören konnte. Mit beiden Händen klammerte sich Ettingen an den Fels und preßte die Lippen aufeinander, um auch den Ton seines Atems noch zu ersticken.

Immer wieder schloß er die Augen, als ginge die Marter dieses Anblicks über seine Kräfte – und immer wieder spähte er hinauf mit einem Blick, in dem seine ganze Seele war, all seine Angst und all sein Hoffen. Und fielen Steine aus der Wand, dann zuckte er zusammen, als träfe ihn jeder Steinschlag ins Leben.

Sie schwirrten und sausten, diese stürzenden Steine, und wenn sie das Griesfeld erreichten, machten sie noch weite Sprünge. Der Staub, den sie aufwirbelten, dampfte an der Felswand empor und mischte sich mit den Schleiern des braunen Qualmes. Der umhüllte bald die Verirrte in der Wand, bald gab er sie wieder frei. Mit ausgebreiteten Armen die Brust an die Felsen schmiegend, suchte sie Tritt um Tritt. Manchmal blickte sie über die Schulter in den Abgrund, wie um den Weg zu messen, den sie noch finden mußte. Tiefer und tiefer kam sie, und eine glattgeschwemmte Wasserfurche überspringend – Ettingen zitterte, als sie sprang – erreichte sie ein Steinband, das ihr sicheren Grund für die Tritte gab. Sie ging, bis das Band zu Ende war, und dann rastete sie, lange, lange, wie um all ihre Kraft für dieses letzte und schwerste Stück ihres Weges zu sammeln. Schräg nach abwärts hatte sie eine Felsplatte zu überqueren, die nur von wenigen Rissen durchzogen war und so kahl erschien, daß der Blick, der aus der Tiefe hinaufspähte, kaum einen Vorsprung fand, auf dem ein Fuß hätte ruhen können.

„Unmöglich … das ist unmöglich!“ hauchte Ettingen. Sein Gesicht war weiß, und er zitterte an allen Gliedern.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, nur Ruh’ ums Himmelswillen!“ flüsterte der Jäger. „Von droben schaut’s besser aus als wie von unt’ auf! Und sie derzwingt’s, sie hat die richtig’ Ruh’ … und nachher is alles g’wonnen!“

Ja, war dieses Schwere überwunden, dann war’s gewonnen. Denn unter der Felsplatte winkte ein Rasenfleck, auf dem sie sicher wieder rasten konnte, und nur noch so hoch über dem Griesfeld, daß ein Steinwurf ihn erreicht hätte. Wohl war dann das letzte Stück des Weges bis auf den Sand hinunter noch immer gefährlich, aber es bot in feinen Felsen doch feste Kanten für den Fuß und Schrunden für die greifenden Hände.

Noch immer rastete Lo’. Doch während sie die Arme um einen Felszacken geschlungen hielt, prüfte sie vorgebeugten Kopfes schon den Weg, den sie nehmen mußte. Und nun wollte sie ihn beginnen – man sah, wie ihre Gestalt sich streckte und ihr Arm sich zögernd von dem stützenden Schrofen löste.

Praxmaler umklammerte die Hand seines Herrn, als hätte er Sorge, daß sich die Seelenangst, die ihm aus Blick und Zügen redete, in diesen entscheidenden Minuten durch einen Ruf, durch eine unvorsichtige Bewegung verraten könnte. Doch Ettingen stand regungslos und stumm, wie zu Stein verwandelt; auch sein Atem schien erloschen, und nur seine Augen lebten noch und griffen hinauf mit ihrem Blick, wie die Angst mit Armen und Händen greift.

Dicht angeschmiegt an den Felsen, machte Lo’ mit ruhiger Vorsicht den ersten Schritt in die Platte -- einen zweiten und dritten, und während sie mit der einen Hand immer angeklammert hing an eine Schrunde, fühlte sie mit der anderen gleitend am Gestein hin, um einen neuen Halt zu finden. Zwei Schritte noch, und dann hielt sie rastend inne, mit ausgebreiteten Armen, wie an den Fels gekreuzigt. Wieder begann ihr Fuß zu tasten, ihre Hand zu suchen, denn sehen konnte sie nicht, da sie mit Körper und Wange sich an die steile Mauer pressen mußte, um das Gleichgewicht zu halten. So erkämpfte sie Schritt um Schritt, immer rastend und wieder klimmend. Oft tastete sie mit Hand und Fuß eine lange Weile am Felsen hin ins Leere, bis sie einen Tritt und einen Griff zu finden vermochte. Schon hatte sie die Hälfte der Platte überquert, und immer näher kam sie dem Rasenfleck, der sich mit festem Sockel aus der Wand herausbaute. Doch immer kürzer wurden ihre Schritte, immer langsamer und müder suchte ihr Fuß, und immer länger währte ihre Rast, als gingen ihre Kräfte zu Ende.

„Sie zittert …“ hauchte Ettingen und krampfte die Hände um die Kante des Felsblockes, daß sie weiß wurden wie Kalk.

Beängstigend lange hing Lo’ in der Felswand an eine aus der Tiefe kaum erkenntliche Rinne geklammert, dann jählings machte sie ein paar hastige Schritte, und jetzt trennte sie nur noch ein schmaler Felspfeiler von dem Rasen.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, sie g’winnt! Sie g’winnt!“ stammelte der Jäger. Aber die Hoffnung, die er seinem Herrn einredete, schien ihm selbst zu fehlen. Denn er betete flüsternd: „O du lieber Herrgott, hilf ihr die paar Schritteln, nur die paar Schritteln noch!“

Unruhig tastete Lo’ mit dem Fuß, und immer schwerer schien ihr Körper an den Armen zu hängen, die sich länger und länger streckten. Nun fand ihr Fuß den gesuchten Tritt, aber als sie sich vorschob und ausgriff mit der Hand, wich der Stein, auf den sie getreten war – ein leiser Schrei – doch während sie schon taumelte, wagte sie noch den rettenden Sprung –

Mit stöhnendem Laut stürzte Ettingen der Felswand zu, aber da klang hinter ihm schon der Jubelschrei des Jägers.

Sausend flog der gelöste Stein aus der Wand herunter – doch Lo’ hatte im Sprung den Rasen gewonnen. Sie sank in die Kniee und wollte sich an den Felsen lehnen. Aber hatte sie den Schrei dort unten gehört und den Einen erkannt, der mit erhobenen Armen über das Schuttfeld emporstürmte? Oder löste sich, da sie an die Rettung glauben durfte, die gewaltsame Spannung ihrer erschöpften Kräfte zu einem Anfall jäher Schwäche? Ihr Kopf glitt am Felsen hin – lautlos sank sie auf den Rasen nieder und regte sich nicht mehr.

„Sie ist ohnmächtig! Hinauf!“ schrie Ettingen wie von Sinnen. „Praxmaler! Hinauf! Hinauf!“

Ehe der Jäger noch den Fuß der Wand erreichen konnte, war Ettingen über das zerklüftete Gestein schon halb bis zum Rasen emporgeklettert. Er hörte die erschrocken mahnenden Worte nicht, die ihm Praxmaler zuschrie – er stieg und stieg. Jetzt erreichte er die Bewußtlose. „Lo’ … Lo’ … meine Lo’!“ Aber der Rausch von Freude, der ihn erfüllte, als er ihre Hand erfassen konnte, verwandelte sich in neue Sorge. Wie schmal dieser Rasen war! Eine Bewegung im Erwachen – und sie mußte stürzen. Aus Angst und Liebe wuchsen ihm der Mut und die Kraft, daß er das fast Unmögliche versuchte: die Ohnmächtige über die steilen Felsen hinunterzutragen. Den einen Arm um einen Schrofen klammernd, zog er mit dem anderen die Bewußtlose an sich. Sie fiel ihm schwer entgegen, und wie leblos lag ihm ihr Kopf auf der Schulter.

Da stand schon der Jäger dicht unter ihm und stemmte den Arm an eine Kante der Felsen. „Da können S’ drauftreten, Duhrlaucht … mit aller Ruh’… meine Knochen halten’s aus!“

So stiegen sie langsam hinunter. Für jeden Schritt des Fürsten suchte der Jäger einen sicheren Vorsprung an dem Felsen, stützte ihn mit der Schulter oder hielt ihm bald den Arm, bald Wieder die Fäuste oder das Knie als Staffel hin.

Als sie den sicheren Grund erreichten, taumelte Ettingen und ließ sich niederfallen auf den Sand. Aber er fühlte die eigene Schwäche nicht, nur den Jubel, die Geliebte gerettet zu wissen, sie so zu halten, in seinen Armen, an seiner Brust! „Meine Lo’ … meine Lo’ …“ Ein anderes Wort fand er nicht, während er in Thränen ihre geschlossenen Augen küßte, ihr Haar und ihre Stirne.

Der Jäger stand vor den beiden, erschöpft, verlegen lächelnd in seiner Rührung. Dabei leckte er mit der Zunge von seiner Hand das Blut fort, das ihm über die Finger tropfte. Wohl war das Denken nicht seine Stärke – aber jetzt brachte er’s fertig, für seinen Herrn zu denken. Er eilte zu den Felsblöcken hinunter, um mit dem Hut von dem Wasser zu schöpfen, das zwischen den [380] Steinen rann. Vorsichtig brachte er den vollen Hut getragen. „Da haben S’ Wasser, Herr Fürst … Sie müssen das arme Fräul’n ein bißl derfrischen!“

Als Ettingen aufblickte, sah er das Blut an den Händen des Jägers.

„Praxmaler! Ihre Hände!“

„No ja, natürlich … Sie haben halt ein bißl scharfe Nagel an die Schuh’! Aber macht nix! Ich hab’ eh ein wengerl z’viel Blüet im Leib’ … so ein kleiner Schröpfer is mir g’sund. Aber jetzt denken S’ net an mich …“

„Wie soll ich Ihnen diese Stunde danken!“

„Was? Danken? Das wär’ mir ’s Richtige … auf die Fünfhundert und aufn Oberjager ’nauf! Aber da hab’ ich ’s Wasser! Brauchen S’ ein Tüchl? Na, um Gottswillen, wie das arme Fräul’n ausschaut! Das liebe G’sichterl … und so verstellt!“

Erst bei diesem Wort des Jägers bekam Ettingen Augen, um zu sehen. „Ach!“ Das war ein Laut, als würde ihm das Herz zerdrückt. Mit zitternden Armen preßte er die Ohnmächtige an sich, schmiegte ihr Haupt an seine Brust und streichelte ihr das Haar und die Wange. Wie müd’ und erschöpft ihr schönes Antlitz war – wie entstellt von Rußflecken und vom Staub der Asche! „Und ihre lieben Hände!“ Sie waren grau vom Steinsand, wund von Rissen, fast alle Nägel gebrochen und mit Blut unterlaufen.

Wie ein Schwindel überkam es ihn, als er sein Tuch in das Wasser tauchte, das ihm der Jäger hinbot. In scheuer Zärtlichkeit hauchte er die Asche aus ihrem Haar, wusch ihr den Ruß vom Gesicht und streifte ihr immer wieder das nasse Tuch über Stirn und Augen. Sie erwachte nicht, doch leise begann sich ihr Atem zu beleben. Er wusch ihr die Hände, küßte jede Wunde – und während der Jäger fortlief, um frisches Wasser zu holen, nahm er sie wieder in seine Arme.

Ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust, und sie schlug die Lider auf.

„Lo’!“

Sie sah das Gesicht, das sich in Glück und Sorge über das ihre beugte, fühlte schauernd den Druck der Arme, die sie umschlungen hielten, und trank den Blick der Liebe, der auf ihr ruhte. Dann lächelte sie müd’ und schloß die Augen wieder, als wüßte sie: Das ist ein Traum, der verschwinden muß, wenn ich wache und mit offenen Augen sehe!

„Lo’! … Kennst du mich nicht? … So sieh mich doch an!“

Sie öffnete die Lider.

„Lo’! … Meine liebe, gute, kleine Lo’!“

Da hörte sie es wieder – das Wort ihres Vaters! Mit dem gleichen Ton der Liebe! Nur süßer, zärtlicher noch, durchweht von einer Glut, die hinüberschlug in ihr Herz und ihr das Blut in die bleichen Wangen trieb. Als sähe sie ein Wunder, dessen Wahrheit sie fühlte und an das sie doch nicht glauben konnte, so hob sie zögernd die Arme und faßte scheu mit beiden Händen die Wangen des geliebten Mannes. Ein Zittern rann durch ihren Körper. „Du! … du!“ Und da schlang sie die Arme um seinen Hals, stark und heiß, und hing an seinen Lippen, als tränke sie neues Leben aus seinem Kuß. Dann schloß sie mit seligem Lächeln die Augen, und ihr Haupt sank auf seine Schulter, als ob sie schlummern wollte.

Er streichelte ihr Haar. „Du Starke, du Mutige du! Was hast du überkämpft in diesen grauenvollen Stunden! Was mußt du erlebt haben in dieser entsetzlichen Nacht!“

Ohne die Augen zu öffnen, flüsterte sie: „Ich weiß es nicht mehr … ich weiß nur, was jetzt ist … und das ist so schön, so schön!“

„Und ich schlief in dieser Nacht und träumte von meinem Glück, während du …“ Er konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke an alle Gefahr, die in dieser Nacht auf jedem Schritt mit ihr gegangen, machte ihn zittern bis ins Herz. „Ich habe ja nur dieses Letzte gesehen … und nicht einmal helfen hab’ ich dir können! Das sehen zu müssen, so hilflos … jeder Blick war wie ein Tod für mich! Am Morgen, als ich mein Haus verließ, um dich zu suchen, da wußt’ ich, daß ich dich liebe … aber erst in diesen Stunden der Angst und Verzweiflung hab’ ich’s empfunden, wie viel du mir bist, und daß ich nicht leben könnte ohne dich!“

Sie lauschte seinen Worten wie der Dürstende dem Quell, den er rauschen hört. Aber daß sie so stumm war, das weckte seine Sorge.

„Lo’? … Wie fühlst du dich? Ist dir wohl?“

Sie lächelte nur und atmete tief.

„Warum siehst du mich nicht an?“

Da schlug sie die Augen mit leuchtendem Glanze zu ihm auf.

„Sag’ es mir, Lo’ … bist du mir gut?“

„Ach, du …“ Sie hob die Arme zu ihm hinauf.

„Ich weiß es und fühl’ es ja … aber ich möcht’ es hören mit deinen Worten. Sag’ es mir, Lo’!“

„Du … du …“ Ein anderes Wort fand sie nicht, aber sie schmiegte sich an seine Brust, daß er das Beben ihres Körpers und ihren Herzschlag fühlte.

So hielten sie sich schweigend umschlungen, versunken in ihr Glück, bis ein Schritt sie erweckte.

Der Jäger brachte frisches Wasser, und während er langsam heraufstieg über das Griesfeld, hob er keinen Blick von dem triefenden Hut.

Ettingen richtete die Geliebte in seinen Armen auf. „Willst du nicht trinken, Lo’?“

„Ja, Heinz, mich dürstet … gieb du mir einen Trunk!“

Er schöpfte Wasser, und das schlürfte sie ihm aus der hohlen Hand.

„Wie das erquickt! … Ich danke dir, Heinz!“

Lächelnd strich er das feuchte Haar von ihrer Stirne zurück. Dann nahm er den Hut des Jägers, leerte ihn bis auf den letzten Tropfen und hob sich auf die Kniee. „Komm, Lo’… ich muß dich heimbringen, damit du ruhen kannst. Und sieh nur… deine armen Hände! Wir müssen heim …“

„Heim!“ Sie nickte ernst, und ein Schatten dämpfte den Glanz ihrer Augen. „Die Mutter … kann es meine Mutter schon wissen?“

„Daß der Wald brannte? Nein, Lo’!“ Wohl mußte er fürchten, daß die Nachricht schon hinausgeflogen wäre bis ins Dorf – aber er wollte ihr diese Sorge von der Seele nehmen. „Sie kann es unmöglich wissen … sie wird es hören mit der Nachricht, daß dein Mut dich rettete.“

Sie atmete auf.

„Fühlst du dich stark genug, um gehen zu können?“

„Sag’ mir: Gehe! … und ich kann es.“

„So komm!“

Sie begannen den Heimweg und wanderten langsamen Schrittes durch das von Rauch überschleierte Kar hinunter. Er hielt ihre Hand in der seinen und schmiegte stützend den Arm um ihre Hüfte. Immer suchte er den besten Weg für sie, und lag ein Stein im Pfad, so schob er ihn mit dem Fuß beiseite. Sie sprachen nicht. Was ihre Herzen erfüllte, war zu übermächtig für Worte. Nur ihre Augen suchten sich immer wieder und redeten mit stillem Lächeln. Während sie so hinunterschritten ins Thal, war in ihren Seelen ein Aufwärtssteigen, empor zur Sonnenhöhe des Glückes.

Eine Stunde waren sie schon gewandert, als sie Stimmen hörten.

Lo’ verhielt den Schritt. „Menschen?“ Das sagte sie, wie aus einem Traum erwachend, wie verwundert und erschrocken über die Wirklichkeit des Lebens, dessen Laute ihr entgegenschollen. Da tauchten auch wieder die Bilder der vergangenen Nacht vor ihren Augen auf, und stammelnd fragte sie: „Mazegger? … Ist er gerettet?“

Ettingen erschrak. „Mazegger?“ Und betroffen sah der Jäger seinen Herren an.

„Er wollte nach Ehrwald … und als das Feuer ausbrach, kam er, um mich zu warnen. Er nahm einen anderen Weg … durch den brennenden Wald …“ Das Grauen der Erinnerung machte sie zittern. „Ist er gerettet?“

„Ja, Lo’!“ sagte Ettingen und tauschte einen Blick mit dem Jäger.

Da lächelte sie erleichtert, als wäre mit diesem Ja der letzte Schreck der überstandenen Nacht von ihrer Seele gelöst.

Schreiend kamen ihnen die Leute entgegen. Es waren Sennen und Holzknechte, welche den Paß übersteigen wollten, um droben in den Felsenkaren des Seethals nach dem Jungvieh

[381]

Durchhauen einer Schneewächte.
Nach einer Originalzeichnung von R. Reschreiter.

[382] zu suchen. Der Jäger flüsterte ihnen eine Frage zu – sie schüttelten den Kopf, schrieen durcheinander und eilten weiter.

Eine erregte Stimme rief durch das Thal herauf: „Heinz? Heinz? Bist du’s?“ Dort unten im Latschenfeld erschien Graf Sternfeldt mit dem Förster.

„Ja, Goni!“ gab Ettingen mit lautem Ruf zur Antwort. „Wir kommen!“

Sternfeldt eilte den beiden entgegen, während der Förster seinem Herrn ein „Gott sei Dank!“ zuschrie und wieder thalwärts rannte. Er war nicht weit gekommen, als ihn Praxmaler einholte, keuchend vom überstürzten Lauf.

„Herr Förstner … der Toni geht ab.“

„Der Mazegger?“ stotterte der Förster. „War der im Sebenwald? Heut’ nacht?“

Der Jäger erzählte, was er von Lo’ gehört hatte.

„Der? Und ’s Fräul’n warnen?“ Der Förster schüttelte ernst den Kopf, als wäre eine böse Ahnung in ihm aufgestiegen. „Komm, Bub! Ich fürcht’, da hat einer d’ Höll’ versucht, und der Himmel hat ihn g’straft! Aber sei’s, wie’s mag … jetzt müssen wir thun, was g’schehen kann! D’Holzknecht’ schaffen schon bei der Brandstatt’ … jetzt müssen wir helfen! Komm!“

Sie eilten thalwärts, und Praxmaler begann zu rennen, daß der Förster weit hinter ihm zurückblieb.

Drunten im Waldthal begegneten ihm Sennleute, die zur Brandstätte liefen, und hinter ihnen kam ein Mädel gerannt, atemlos und bleich vor Angst – die Tillfußer Sennerin. Sie haschte den Förster an der Joppe.

„Mein Pepperl … is mei’m Pepperl nix g’schehen?“

Dein Pepperl! Ah, da schau her!“

„Is ihm nix g’schehen? Jesus Maria! Lebt er denn noch?“

„Ja, ja, ja … um Gottswillen! Der Schnurrbart is ihm net weg’brennt! Den hat er schon noch!“

Burgi drückte die Fäuste auf ihre Brust. „O du heilige Mutter im Himmel, ich sag’ dir Vergeltsgott … und ein Kerzl sollst kriegen!“ Dann fing sie wieder zu laufen an, und die grundlose Angst, die sie ausgestanden hatte, löste sich in ein Schluchzen der Freude. –

Die Stimmen und Schritte verhallten. Stille lag wieder im Tillfußer Wald. Kein Windhauch regte sich, kein Wipfel schwankte. Grau und unbewegt hing die glatte Nebeldecke über den Bäumen, die Felswände verhüllend. Gegen Westen lag es wie schwarzes Sturmgewölk über den Ehrwalder Bergen – gegen Osten aber schimmerte es zuweilen mit weißlichem Glanz durch die trüben Dünste, als wäre dort irgendwo die Sonne, die den grauen Schleier durchbrechen wollte.

Manchmal tönten im Schweigen des Waldes verworrene Menschenrufe aus weiter Ferne. Dann war’s wieder still.

Sichernd zog ein Rudel Hochwild über den Weg, scheu hinauswindend gegen den Sebenwald. Und lautlos trat es wieder in den stillen Forst.

Hoch in den Wipfeln schlug eine Ringdrossel. Schnalzend kam sie auf den Weg geflogen und begann ihre Käferjagd im feuchten Gras. Aber jählings hob sie das Köpfchen und flatterte davon.

Langsamen Schrittes kamen Heinz und Lo’ durch den Wald einhergegangen. Wo die Drossel aufgeflogen, blieben sie stehen, als hätte der gleiche Gedanke ihren Fuß gebannt – die Erinnerung an jenen Abend, an dem sie sich zum erstenmal im schweigenden Walde begegnet waren.

„Sieh, Lo’ … dort oben war’s!“

Sie nickte und schmiegte sich enger an ihn. So standen sie lange und blickten hinein in die blaue Dämmerung, die trotz der Mittagsstunde zwischen den stillen Bäumen lag.

Die Drossel schlug.

Sie lauschten ihr, bis sie fern im Wald verstummte, und dann schritten sie weiter.

Als sie, schon nahe der Tillfußer Alm, die Lichtung erreichten, auf welcher die von Leutasch kommende Fahrstraße zum Jagdhaus hinaufbog, rasselten zwei Leiterwagen mit galoppierenden Pferden aus dem Wald heraus. Auf jedem Wagen saßen an die dreißig Männer, dichtgedrängt, mit Aexten, Feuerhaken und schweren Seilrollen.

„Heinz!“ stammelte Lo’. „Sie wissen es schon im Dorf! Ach, meine Mutter! Und der Bub!“ Thränen schössen ihr in die Augen.

Er drückte ihren Arm an seine Brust. „Sei ruhig, Lo’! Die Sorge, die sie haben, wird sich in Freude lösen!“

Die Leute waren abgesprungen, da die Wagen auf dem schmalen Waldweg nicht weiterfahren konnten. Die jungen Bursche schleppten die schweren Seile und begannen zu rennen, dann kamen die älteren Männer mit den Aexten und Hacken. So eilig sie es alle hatten, jeder zog vor Lo’ sein Hütlein und bot ihr einen Gruß. Und ein graubärtiger Alter rief ihr zu: „Heut’, Fräul’n, heut’ sollten wir halt Enkern Herrn Vatern wieder haben … da thäten wir bald Herr sein übers Fuier da draußt!“

Lächelnd, mit nassen Augen, dankte sie dem Alten für dieses Wort, das ihr mit warmer Freude ins Herz geklungen.

„Siehst du, Lo’, wie dein Vater noch lebt für diese Menschen, denen er Gutes that!“ sagte Ettingen bewegt. „Und wie dieser Bauer an ihm die Kraft des Mannes schätzt, so wird ihn die Welt als Künstler ehren. Seine Blumen da draußen, die sind heute nacht in Asche gefallen – aber was in seiner Seele Wurzel hatte, das wird blühen für die Menschen, schön und dauernd!“

„Ja!“

Sie blieben seitwärts vom Wege stehen, um zu warten, bis die Leute vorüber wären. Als einer der letzten kam der Bauer, dessen Anwesen in Leutasch draußen an den Garten des Malerhauses grenzte.

„Nachbar!“ Ihren Arm lösend, eilte Lo’ auf den Bauern zu. „Nachbar! Weiß meine Mutter schon von dem Brand?“

„Ja, Fräul’n, ja! Und das arme Weiberl, o mein, o mein … die hat sich anders g’sorgt! No, Gott sei Lob und Dank, weil S’ nur da sind! D’ Frau Mutter wird gleich kommen mit’m Wagerl, nimmer derlitten hat sie’s daheim!“ Eine schrillende Knabenstimme klang aus dem Wald. „Da … hören S’ Ihr Brüderl!“

Die kleine Kutsche erschien am Waldsaum und mußte halten, da ihr die anderen Wagen den Weg verstellten.

„Lo’! Lo’!“ gellte die Stimme des Knaben. Und da kam er auch schon gerannt. Aber heute, mit seinem bandagierten Fuß, den er nur mit den Zehen aufsetzen konnte, da ging’s nicht so flink wie damals, als er von Innsbruck gekommen. Und Lo’, als hätte sie sich in ihre Mutter verwandelt, rief in Sorge: „Bubi! Aber Bubi! Ich bitte dich, lauf nicht so!“ Sie eilte auf ihn zu und fing ihn mit den Armen auf. Wortlos hielt sie ihn umschlungen, dann ließ sie ihn wieder und eilte der alten Frau entgegen. „Mutter! Mutter!“

Den kranken Fuß an der Wade des gesunden reibend, stand Gustl zwischen den niederen Fichten und balancierte mit den Armen. Stramm aber richtete er sich auf und zog mit einem Kompliment sein Hütlein, als Ettingen auf ihn zutrat.

„Guten Tag, Herr Fürst!“

„Grüß dich Gott, Bubi! Wie geht’s mit deinem kranken Fuß?“

„Danke, Herr Fürst, ganz gut!“

Ettingen zog den Knaben an sich. „Hast du dich gesorgt um deine Lo’?“

„Die Mama … ach, Gott! Aber ich? O nein! Ich kenn’ doch unsere Lo’ … und hab’s auch der Mama gleich gesagt: unsere Lo’, die weiß sich schon zu helfen! Und dann, ich war doch überzeugt, daß Sie bei ihr sind!“

„Wirklich?“ Ettingen küßte den Knaben auf die glühende Wange. „Davon warst du überzeugt?“

„Natürlich! Wenn ein Wald brennt, und jemand ist drin, den man lieb hat, da geht man doch gleich hin und hilft ihm.“

„Daß ich deine Schwester lieb habe … das weißt du?“

„Freilich!“ Mit strahlenden Augen blickte der Knabe an Ettingen hinauf. „Ich hab’s doch neulich schon gemerkt, viel früher als die Lo’ … der hab’s doch ich erst sagen müssen!“ Da sah er Lo’ mit der Mutter kommen und rief: „Gelt, Mutterl, gelt, ich hab’ recht gehabt!“

Lo’ mußte der Mutter schon von ihrem Glück gesagt haben. Denn in tiefer Bewegung, scheu und verlegen, mit Freude und [383] doch auch mit Angst in den feuchten Augen kam Frau Petri dem Mann entgegen, dem sie ihr Kind fürs Leben anvertrauen sollte.

„Das ist meine Mutter, Heinz!“

„Herr Fürst …“ die alte Frau vermochte kaum zu sprechen und streckte die zitternden Hände. „Sie haben mir mein Kind gebracht …“

„Ja, Frau Petri.“ Ettingen küßte ihr die Hände. „Aber ich will Ihnen Lo’ wieder nehmen. Und ich weiß … ich nehme Ihnen viel!“

„Die Hälfte von allem, was ich noch habe.“ Zwei schwere Thränen fielen ihr über die furchigen Wangen, und doch lächelte sie und atmete auf. „Aber das ist ja das Los der Mütter … wenn ihre Schmerzen und Sorgen vorüber sind, dann werden sie einsam. Das kann für mich nicht anders sein, wie es für alle ist! Und wenn Lo’ das Glück findet, das ich ihr wünsche, dann bin ich mit allem zufrieden. Ach ja!“ Sie hielt die Hände des Sohnes fest, den ihr diese Stunde gegeben, und während sie ihn ansah, sprachen aus ihrem forschenden Blick die stummen Fragen: Hast du sie lieb? Bist du gut? Wirst du sie glücklich machen? – Und als hätte sie aus diesen klaren, leuchtenden Mannesaugen allen Trost für ihre Sorge gelesen, mit so tiefer Freude faßte sie die Hand ihres Kindes. „Lo’! … Ach, Lo’! … Warum konnte dein Vater das nicht erleben! Das Glück seines Kindes hätte ihn doch entschädigt für alles andere!“

Sie blieben stumm nach diesem Wort.

Wieder rasselten zwei Wagen mit schweißtriefenden Pferden aus dem Wald heraus. Die Männer sprangen ab unter wirrem Geschrei und eilten mit ihren Aexten und Seilen über den Pfad hinaus zum Sebensee - - -

Da draußen beim Waldbrand standen schon am Nachmittage über zweihundert Leute bei der Arbeit. Nicht nur von Leutasch waren sie gekommen, auch von Ehrwald herauf, von Bieberwier und Lermoos, von allen Almen her. Die Sennleute und Holzknechte, welche den Weg über den Paß genommen, waren zurückgekehrt: der dichte Rauch, der alle die hohen Felsenkare füllte, hatte ihnen den Zutritt in das brennende Thal verwehrt. Da war auch nichts mehr zu helfen dort oben – alles Jungvieh mußte schon längst erstickt sein.

Aber auch herunten im Thal war andere Hilfe nicht möglich als nur der Versuch, das Feuer einzudämmen. Graf Sternfeldt, der Förster und Praxmaler hatten die Führung der Arbeit übernommen. Man schlug eine breite Gasse durch den Wald, um die Flammen zu hindern, gegen die tieferen Wälder hinunterzugreifen. Was schon brannte, mußte seinem Schicksal überlassen bleiben.

Bevor es noch dämmerte, begannen schwere Tropfen zu fallen, und dann rauschte es aus den Wolken nieder mit grauen Strömen.

Die Leute suchten Schutz unter den Bäumen. Jetzt wußten sie, daß sie die Arbeit sparen konnten, die der Himmel übernommen hatte.

Weiße Dampfwolken fluteten über den brennenden Wald. Es währte keine halbe Stunde, und die Bäche des Regens hatten den Brand gelöscht. Während bei sinkender Nacht der weiße Dunst noch die weite Brandstatt überwirbelte, wagte sich schon ein erster hinein in diesen Wald von schwarzen Kohlsäulen, unter deren nasser Kruste der Kern der halbverbrannten Stämme noch glühte. Es war der alte Hüter von der Sebenalm. Als ihn die anderen hindern wollten, die Brandstatt zu betreten, sagte er mit seinem hohen Kichern: „So laßts mich doch … hihihihi … das is ja gut, so glei’ nach’m Fuierl!“ Er watete in die Asche hinein. „So schön warm hab’ ich schon lang’ net g’habt an die Füß’ … hihihihi!“ –

Als jede weitere Arbeit nutzlos war und die Dunkelheit einbrach, trat Graf Sternfeldt mit Praxmaler den Heimweg an.

Es war gegen Mitternacht, und sie hatten das Jagdhaus noch nicht erreicht, als der Förster sie einholte und die Nachricht brachte: „Mazegger ist gefunden!“

„Lebend?“

Der Förster schüttelte den Kopf.

„Herr, gieb ihm die ewig’ Ruh!“ flüsterte Praxmaler und bekreuzte das Gesicht.

Eine Weile standen sie schweigend im Regen, und dann erzählte der Förster: es wäre der alte Hüter von der Sebenalm gewesen, der den Erstickten gefunden hatte, im Seebach, bis an den Hals im Wasser sitzend und umringt von den Leichen halbverkohlter Rinder.

Sie durchschritten in der Finsternis den letzten Waldstreif und erreichten das Almfeld.

„Hören Sie, Herr Förster … und Sie, Praxmaler!“ sagte Sternfeldt. „Der Fürst und Fräulein Petri sollen das nicht erfahren … nicht jetzt. In der ersten Freude ihres Glückes! Die wollen wir ihnen nicht stören durch die Nachricht, daß Mazegger die Warnung, die das Fräulein rettete, mit dem eigenen Leben bezahlen mußte! … Der arme Bursch!“

Der Förster nickte, und während er den beiden anderen folgte, murmelte er vor sich hin: „So? G’warnt hat er ’s Fräul’n? … No ja, was man glaubt, is wahr für ein’!“

Sie stiegen zum Jagdhaus hinauf, an dem alle Fenster mit hellem Schein hinausleuchteten in die Nacht und in den strömenden Regen.

Die Tropfen, die durch die Helle fielen, blitzten mit farbigem Licht.

Die ganze Nacht und zwei Tage noch währte dies Rauschen und Gießen, als hätte der Himmel seine Berge reinspülen wollen vom Ruß und von der Asche des Brandes. Dann fegte ein Sturmtag alles Gewölk von den Höhen und schüttelte die in der Sonne glitzernden Wasserperlen von allem Gezweig. Wie mit neuer Keimkraft erwachte es bei dieser linden Wärme im getränkten Erdreich. Die Bergrosen hatten eine Nachblüte, und bis spät in den August hinein sah man auf allen Gehängen die grünen Stöcke von rotem Schimmer überhaucht.

Ein stiller Sommermonat. Und ein Glück, das lächelnd im Schweigen des Waldes blühte, menschenfern und weltvergessen.

  • * *

Ende September fiel der erste Schnee, und es wurde einsam auf der Tillfußer Alm. Am Jagdhaus waren schon seit drei Wochen die Läden geschlossen – und nun stand auch die Sennhütte still und verödet.

Nur das Försterhäuschen war bewohnt. Hier braute Pepperl alltäglich seinen Sehnsuchtsschmarren, und wenn die Pfanne leer war, ging er in die Sennhütte hinunter, zündete auf dem Herd ein Feuer an, ließ sich das Herz und den Buckel wärmen und schmauchte sein Pfeiflein dazu. Am Morgen und Abend der Birschgang über die verschneiten Almen. Er hatte den Schutzdienst im Gaisthal ganz allein zu versehen, denn der neue Jäger sollte erst mit dem 15. Oktober in Dienst treten. Aber dann – ja, dann bekam der Praxmaler-Pepperl acht Tage „Hochzets-Urlab“. Und wenn er beim Feuer in der Sennhütte an diese kommende Zeit dachte, blies er in langem Faden den Rauch vor sich hin und schmunzelte: „“Teufi, Teufi! Die acht Täg’ will ich mir aber schmecken lassen!“

Trotz all seiner ungeduldigen Sehnsucht verging ihm die Zeit gar rasch. Denn im Bergwald und auf den Almen röhrten an jedem Morgen und Abend die Hirsche, daß der Orgelton ihrer Stimmen von den Wänden wiederhallte. Wenn Pepperl am Waldsaum einer Alpe saß und einen. Kronenhirsch auf hundert Schritte vorüberziehen sah, machte er seiner Aufregung mit einem heißen Seufzer Luft: „Teufi, Teufi, Teufi! Ja wann nur der Herr Fürst jetzt da wär’. Solchene Hirschen haben … und net jagen! Da hört sich doch alles auf!“ Nach solchem Aerger kam ihm aber gleich die Einsicht wieder: „Freilich, der weiß sich was Bessers jetzt!“ Und schmunzelnd dachte er an seinen fernen Herrn und an das „Maler-Fräul’n“, das jetzt Frau Fürstin wurde.--

Schon in den ersten Septembertagen war Ettingen mit Frau Petri und ihren Kindern nach dem Allgäu abgereist. Ueber München, wo sie eine Woche blieben, ging die Reise an die Donau und dann zu Schiff stromabwärts nach Bernegg, wo Graf Sternfeldt den Freund und seine Gäste erwartete.

Das waren wundersame Tage für Lo’, dieses erste Einleben in die neue Heimat, das Wandern durch alle Räume des Schlosses, der Besuch der Felder und Arbeiterhäuser, die [384] Begegnung mit den hundert neuen Menschen, deren Herrin sie wurde, die Fahrten durch die stundenweiten Buchenwälder, und die Plauderstunden im Park, dessen welkendes Laub in der Herbstsonne leuchtete wie Gold. Jede schöne Stunde nahm sie dankbar als köstliches Geschenk aus der Hand des geliebten Mannes an – und er bot ihr, glücklich und stolz, jede neue Freude wie eine Ehre, die ihr gebührte.

Zu Anfang Oktober mußte Gustl mit seinen Büchern nach Innsbruck einrücken. Aber schon einen Monat später bekam er wieder eine Woche „Extraferien“, um der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen.

In der Schloßkirche zu Bernegg wurde das Paar getraut. Außer Frau Petri und Gustl waren nur Graf Sternfeldt und die Beamten des Fürsten bei dieser stillen Feier zugegen.

Als die Nachricht von dieser Vermählung in alle Winde hinausflatterte und die Gesellschaft in Verblüffung und Aufruhr versetzte, waren die beiden Glücklichen schon auf dem Weg nach dem Süden und hörten nicht, was hinter ihnen geschwatzt, gelästert und gezischelt wurde. Und hätten sie es gehört – sie würden gelächelt haben.

Bis Gustls Ferienwoche vorüber war, blieb Frau Petri auf Bernegg. Dann brachte sie den Buben wieder nach Innsbruck und kehrte nach Leutasch zurück in ihr stillgewordenes Haus. Sie hatte es nicht anders gewollt.

„Lo’, ach ja, die lebt sich ein in das Neue und wird getragen von ihrem Glück. Aber ich alte Frau? Nein! Ich will bleiben, wo ich mich festgewachsen habe durch so viel Jahre – und wo alles noch mit mir lebt, was mein Glück gewesen ist! Und wenn ich einmal die Augen schließe, soll es dort sein, wo ich das letzte Lächeln meines Mannes sah!“

Allen Bitten ihrer Kinder gegenüber blieb sie fest in diesem Entschluß. Und sie wäre doch nur den Winter allein! Die paar Monate!

„Im Mai, da kommt ihr ja! Und dann sind wir beisammen, bis der Schnee fällt!“

Trotz dieses Trostes, den sie mit heim brachte, war ihr während der ersten Tage in dem leeren Haus das Herz zum Springen weh. Und sie weinte so viel, daß ihr die Magd einmal sagte: „Frauerl, Frauerl, ein bißl was sollten S’ ja dengerst noch übrig lassen von Jhrene Aeugerln!“

Diese Mahnung fruchtete nicht. Aber was anderes half! Eines Mittags wurde die Thüre aufgerissen, Gustl flog herein und der Mutter jubelnd an den Hals. Ihm folgte ein junger Mann, der wohl eine goldene Brille trug, aber sonst ein ganz vergnügtes Gesicht machte. Er stellte sich vor als Kandidat der Philologie und „Hofmeister des fidelen Jungen da.“ Zu seiner Beglaubigung überreichte er einen Brief:

„Capri, Hotel Quisisana, den 15. November.

Liebes Mutterl! Damit Dir der erste Winter so allein nicht gar zu hart wird, haben wir beschlossen, daß Gustl ein Jahr lang zu Hause lernen soll. Haben wir’s recht gemacht? Ja?

Deine glücklichen Kinder Heinz und Lo’.“

Jetzt war geholfen gegen Thränen und Schwermut. Denn Frau Petri hatte wieder eine Sorge – jeden Tag eine neue. „Ach Gott, der Bub im Schnee! … Ach Gott, der Bub auf dem Baum! … Gustl! Dein Halstuch!“

Aber dieses Sorgenkind war ihr zugleich auch ein Tröster für die Sorge, die in die Ferne wanderte.

Wenn der Wintersturm die Mauern umbrauste und alle Fensterläden rasseln machte, dann hieß es: „Ach Gott! Bubi! Glaubst du, daß es in Capri auch so stürmt?“

„Gott bewahre, Mammi! In Capri ist ewige Sonne und immer blaues Meer. Und weißt du, wenn das Meer auch ein bißchen aufgeregt wird, dann liegt doch Capri so hoch, daß die Wellen gar nicht Hinaufkönnen. Weißt du, Capri, das ist eine riesig hohe Felseninsel! Ja, du, das war die Lieblingsinsel des römischen Kaisers Tiberius. Du, denk’ nur, den hat man bisher für den grausamsten unter den römischen Cäsaren gehalten. Aber nach den neuesten Forschungen ist das gar nicht wahr. Er soll sogar ein sehr guter Fürst gewesen sein. Aber weißt du, so gut wie Heinz war er doch nicht … davon bin ich überzeugt!“

„Ja! Gut ist er! Von Herzen gut! Lo’ hat ein rechtes Glück gemacht!“

Und die Sorge war still – für einen Tag.

Als es März wurde, gab’s eine Aufregung, die durch Wochen dauerte. Die Bilder mußten verpackt werden, um nach München zu wandern. Denn ehe sie mit Beginn des Mai zur Ausstellung kamen, sollten sie reproduziert werden für die „Kollektion Emmerich Petri“, deren Verlag eine Münchener Kunsthandlung erworben hatte.

Pepperl zimmerte die Kisten, der Förster half beim Packen – aber an jedem Bild, das in die Bretter gelegt wurde, mußte Frau Petri ihre beiden Hände haben. Und war das Tuch darüber gebreitet und drauf das Heu gedrückt, dann fielen zwei schwere Thränen dazu. Mit jedem dieser Bilder schickte sie ja ein Stück Leben, unruhvolle Tage und schlnmmerlose Nächte ihres Mannes in die Welt hinaus.

„Ach ja! … Und die Menschen! Die Menschen! … Sehen Sie, lieber Herr Förster, ich muß es ja thun, dem Namen meines Mannes zulieb … aber mir wär’s lieber, die Bilder blieben hier. Gefallen sie nicht, dann kränk’ ich mich wieder und weiß, daß ihm Unrecht geschieht … und haben sie Erfolg, dann thut’s mir weh, weil er zu spät kommt! Nein, nein, ich geh gar nicht hin zur Ausstellung! Nein, ich kann’s nicht! … Ruhm! … Könnt’ er noch eine Stunde leben und sich an seinen Kindern freuen, das wär’ ihm lieber als aller Ruhm! … Nein! Ich muß? nur weinen! Ich geh nicht hin!“ --

Sie hielt dieses Wort, ließ den Knaben mit seinem Hofmeister nach München reisen und blieb zu Hause, obwohl ihr Lo’ am ersten Tage der Ausstellung depeschierte: „Komm, Mutter, wir bitten Dich, komm und freue Dich an Papas Erfolg. Das ist wie ein seliger Rausch für mich, vor seinen Bildern diese Menschen zu sehen, in ihrem Staunen und ihrer Andacht. Die größte Wirkung von allen Bildern übt der ,Knabe Jesus unter den Faunkindern’. Wie sich die Menschen vor diesem Bilde drängen, das mußt Du sehen. Komm doch, Mutter, komm! Wir alle bitten Dich, Heinz und Gustl und Deine Lo’.“

Als sie gelesen hatte, saß sie lange, lange, immer die Depesche vor sich, und ihre Zähren tropften nieder auf das Blatt.

„Nein, Kinder, nein! Ich kann nicht! Freut euch nur, ach ja … und laßt mich daheim! Ich kann jetzt diese Menschen nicht jubeln sehen! Ich kann nicht! Ich hab’s doch mit erlebt, wie sie gelacht haben über ihn … und wie er die Nächte lang in meinen Armen lag und weinte, als ob es ihm das Herz zerreißen möchte! Ach, ihr Menschen! Ihr Menschen! Euer Jubel … der macht ihn mir nicht mehr lebendig! … Nein! Ich geh’ nicht hin!“

Die Depesche in den zitternden Händen, saß sie in der Herrgottsecke des Wohnzimmers. Ganz erschöpft vom Weinen, lehnte sie den müden Kopf an die Mauer und blickte gegenüber auf die leere Wand, an welcher das große Bild gehangen hatte: „Der Knabe Jesus unter den Faunkindern“. Das Viereck, das der Rahmen mit der Leinwand so viele Jahre bedeckt hatte, war weiß, wie frisch getüncht, während rings herum der Kalk vom Lichte schon vergilbt war. Ein großer Haken ragte aus der Mauer.

Aber zu so viel hundert Malen hatte sie dieses Bild betrachtet, vor dem sich jetzt in der fernen Stadt die Menschen drängten – es war ihr so lebendig in die Erinnerung geprägt, daß sie es so deutlich sah, mit jeder Linie und jeder Farbe, als ob es wirklich vor ihren Augen hinge.

Ihre Thränen waren versiegt, ein glückliches Lächeln verschönte ihre welken Züge, und wie in Andacht hielt sie die Hände im Schoß, während ihre Blicke mit bewunderndem Schauen an der leeren Mauer hingen.

Breit fiel die Maiensonne durch die Fenster, und manchmal huschte etwas wie ein dunkler Falter durch diese Helle – der Schatten einer heimgekehrten Schwalbe, welche draußen das Haus umflog.




[385]

Schneewächten.

Von Theodor Wundt.0 Mit Illustration von R. Reschreiter auf Seite 381.


Ein klarer Tag im Gebirge. Die Sonne scheint, prächtig heben sich die glitzernden Schneeriesen von dem tiefblauen Himmel ab und kein Luftzug geht. Das Wetter könnte nicht schöner sein. Fröhlich strömen die Sommerfrischler hinaus nach den benachbarten Almen und Wäldern, den Tag zu genießen, und doch schütteln die Führer bedenklich die Köpfe, wenn man ihnen eine größere, schwierige Tour vorschlägt. Sie deuten hinauf nach den Gipfeln, und bei näherer Betrachtung sehen wir, wie sich dort leichte Wölklein erheben. In allen Formen tanzen sie auf den eisigen Kämmen, bald nach rechts, bald nach links sich neigend, bald wie Rauchwolken gerade in die Höhe steigend. Man möchte meinen, es sei aufgewirbelter Staub, wenn sich dieses Attribut unseres mühseligen Lebens hier unten in jene luftigen Höhen verirren könnte. In Wirklichkeit ist es Schnee, mit dem der Wind sein Spiel treibt, denn so wenig wir auch davon verspüren, so herrscht doch jetzt dort oben ein eisiger Sturm und die Führer wissen sehr wohl, weshalb sie vor einer Besteigung warnen. Auch der Wetterfesteste, der den Mut nicht so leicht verliert und seine Kaltblütigkeit zu wahren gewöhnt ist, kann demselben leicht zum Opfer fallen. Der Ausblick ist ihm in dem wirbelnden Schnee beinahe unmöglich, die Sinne werden verwirrt, der schneidende Wind geht bis auf die Knochen und ein einziger falscher Schritt kann den Tod bedeuten. Sind doch gerade diese Stellen, wo lokale Luftströmungen zu herrschen pflegen, für den Bergsteiger besonders gefährlich. Die Gletscherspalten bedecken sich mit trügerischen Hüllen, an den Vorsprüngen steiler Hänge finden lawinengefährliche Anhäufungen statt und auf den Kämmen setzt sich Schneeflocke um Schneeflocke an und bildet so mit der Zeit gewaltige Schnee- und Eismassen, die weit über die unter ihnen liegenden Hänge hinausragen und dem Fuße keinen genügenden Halt gewähren.

Diese „Schneewächten“, welche sich auf unserem Bilde in besonders schöner charakteristischer Gestaltung zeigen, gehören zu den interessantesten Erscheinungen der eigentlichen Hochalpenwelt.

Man ist lange der Ansicht gewesen, daß die Schönheit des Hochgebirges ausschließlich in der imposanten Größe und Gestalt der Berge, in dem ungehinderten Ausblick bis in die weitesten Fernen bestehe, und mancher hat sich deshalb damit begnügt, diese Welt in Schnee und Eis von unten zu betrachten oder von einem leicht zugänglichen, erhöhten Standpunkte aus das Auge über diese mächtigen Gebilde hinweg schweifen zu lassen. Mit den immer zahlreicher werdenden Besteigungen aber und der damit verbundenen intimeren Kenntnis des Hochgebirges hat sich auch mehr und mehr der Sinn für die großartige Pracht der Einzelheiten der Gletscher- und Eiswelt ausgebildet. Was der Bergsteiger, der mit offenem Auge die Schönheiten des von ihm durchschrittenen Weges betrachtet, alles sehen kann, das ist unendlich mannigfaltig. Auch wenn der Ausblick oft auf langen Strecken derselbe bleibt, so erhält er doch durch die nächste Umgebung, durch mächtige Felszacken, Spalten und Klüfte ein beständig wechselndes Gepräge, ja sogar die so verpönten Nebel, welche dieses und jenes verdecken, anderes hervorheben und, hin und her huschend, bald hier, bald dort ihren geheimnisvollen Schleier lüften, verleihen der Landschaft oft eine eigene Schönheit, die sie völlig anders erscheinen läßt als bei klarem Wetter. Gerade darin aber, in der Großartigkeit der Details und dem beständigen Wechsel der Erscheinungen liegt einer der Hauptreize des Bergsteigens, und man kann sagen, daß für den aufmerksamen Beobachter zwei Besteigungen, auch wenn sie genau dieselbe Route verfolgen, doch immer verschiedene Eindrücke hervorrufen.

So erhält auf unserem Bilde der Blick in die Ferne, welcher an sich nichts Außergewöhnliches bietet, erst durch die über uns hängenden Wächten mit ihren gewaltigen Schneemassen und riesigen Eiszapfen seine besondere eigenartige Schönheit. Und wenn wir bei einer zweiten Besteigung genötigt sein würden, auch nur zehn Schritte weiter rechts oder links die stets wechselnde Eiswand zu überschreiten, so wäre der Blick wieder ein völlig anderer.

Das Ueberschreiten einer solchen Wächte von unten gehört zu den schwierigsten Unternehmungen im Hochgebirge, und unsere Bergsteiger werden wohl schon lange fragend nach der eisgekrönten Höhe hinaufgesehen haben, ob es ihnen gelingen werde, dieselbe zu forcieren, oder ob sie nicht im letzten Augenblick auf ein unüberwindliches Hindernis stoßen werden. Nun, die Verhältnisse liegen so günstig wie nur möglich. Nicht allein zeigt der überhängende Schnee eine breite Lücke, welche ohne besondere Schwierigkeiten erklommen werden kann, sondern der sichere Standpunkt auf den Felsen ermöglicht es auch den zunächst unten Zurückbleibenden, ihrem vorausgehenden Genossen mit dem um einen Felsblock geschlungenen Seil Schutz zu gewähren. Sollte er, was nach Lage der Dinge nicht wahrscheinlich erscheint, zum Sturze kommen, so würde ihn das Seil sicher halten. Freilich ist dies keineswegs die einzige Gefahr, welche ihm droht. Mit sicherem Blick muß er die Mächtigkeit des Eises und seine schwachen Stellen erkennen, mit Kraft und Geschick seine Stufen schlagen, damit nicht größere Teile der Wächte auf ihn einstürzen. Welche Folgen daraus entstehen, ist nur zu klar. So kam einst der Grindelwalder Führer Christian Jnäbnit an einer solchen Stelle zu Fall.

Jeder, der die „Jungfrau“ von dem Aletschgletscher aus bestiegen hat, kennt jene Schneewächte, welche sich über den Rotthalsattel hinzieht und denselben wie eine Barriere versperrt. Unmittelbar unter derselben war Jnäbnit mit seinem Touristen und einem zweiten Führer angekommen und man hatte in der Wächte ein tunnelartiges Loch vorgefunden, welches eine frühere Partie eingeschlagen hatte. Dasselbe war zum Teil wieder zugeschneit und Jnäbnit machte sich nun daran, den Neuschnee mit dem Pickel auszuhauen, um so das Durchschreiten zu ermöglichen. „Wir trauten der Sache nicht recht,“ erzählte er, „aber umkehren thut man doch auch nicht gerne. Wie ich nun mit dem Pickel in die Schneehöhle hineinhieb, fiel eine schreckliche Masse Schnee, die von dem Rotthalhorn bis hinüber zu der ‚Jungfrau‘ reichte, auf uns herab, schlug uns zu Boden und riß uns mit sich in die Tiefe. Erst rutschten wir ein Stück weit, dann stürzten wir etwa 70 Fuß tief senkrecht in den Bergschrund hinunter. Die beiden andern fielen auf Schnee und kamen mit dem Schrecken davon!“ Jnäbnit selbst aber erlitt eine schwere Verletzung des Rückgrates, welche ihn Zeit seines Lebens zum Krüppel machte.

So liegen Glück und Gefahr, Freude und bitteres Weh oft unmittelbar nebeneinander im Hochgebirge, geeignet, den verständigen Bergsteiger zu mahnen, auch bei der kühnsten That, welche gewiß den Mann ziert, die Vorsicht nicht außer acht zu lassen und gegebenen Falls die Selbstüberwindung zu haben, von Unmöglichem oder Allzugefährlichem abzustehen.

Kehren wir wieder zu unserer Partie zurück! Hat sich der Vorausgehende erst auf die Höhe hinaufgearbeitet, so ist es für seine Genossen ein leichtes, ihm mit Hilfe des Seiles zu folgen, und jeder wird den Jubel verstehen, der dann dort oben herrschen wird, jene gehobene Stimmung, welche nicht allein an sich schon eine der schönsten Belohnungen des Bergsteigers bildet, sondern auch sein Herz für die Schönheiten des Ausblickes ganz besonders empfänglich und dankbar macht. Man muß das selbst erlebt haben, um es ganz verstehen zu können.

Freilich finden unsere Freunde vermutlich sofort neue Schwierigkeiten, denn der Marsch auf einer solchen Wächte entlang ist sehr gefährlich. Er verlangt die größte Sorgfalt und die genaueste Kenntnis der Verhältnisse. Oft deuten nur ganz geringe, kaum sichtbare Risse an, wie trügerisch der Boden ist, auf dem man sich befindet, und nur zu leicht werden die überhängenden Schneemassen losgetreten.

Nun, dem Mutigen lächelt das Glück.


Blätter und Blüten.


Velazquez. (Zu dem Bilde S. 357 und unserer Kunstbeilage.) Die Blüte der Malerei im 17. Jahrhundert, welche in Holland durch Rembrandt, in Belgien durch Rubens ihren höchsten Ausdruck fand, ward in Spanien durch Velazquez herbeigeführt. Mit berechtigtem Stolz wird nun dort im Juni d. J. der dreihundertste Geburtstag des großen Malers begangen, dessen Name am 6. Juni 1599 in das Taufregister der Pfarrkirche S. Pedro zu Sevilla eingetragen ward.

Don Diego Rodriguez de Silva Velazquez gehörte einem alten ritterlichen Geschlecht an; seine Eltern gaben ihm eine gute Erziehung und setzten seinem Wunsche, Maler zu werden, keinen Widerstand entgegen. Sein erster Lehrer war Francisco de Herrera, ein unbedeutender, dabei verdrossener Mann, bei dem es der Schüler nicht lange aushielt. Auch sein zweiter Lehrer, der kunstgelehrte Maler Francisco Pacheco, war von geringem Einfluß auf ihn; derselbe hielt ihn an, in der Nachahmung der großen italienischen Meister des vorausgegangenen Jahrhunderts die Meisterschaft zu erringen, während der junge Velazquez am liebsten nach der Natur zeichnete und malte. Seine ersten Bilder waren Studien nach der Wirklichkeit des Sevillaner Volkslebens. Doch blieb er Pachecos Schüler fünf Jahre, 1618 heiratete er dessen Tochter Juana. – Der Regierungswechsel, der 1621 den sechzehnjährigen Philipp IV auf den spanischen Königsthron brachte, veranlaßte Velazquez, nach Madrid zu gehen, um am dortigen Hofe sein Glück zu suchen. Er gewann hier die Gunst des mächtigen Grafen von Olivares, der später als Minister den jungen König völlig beherrschte, und gleich das erste Bild, das Velazquez für den König malte, ein Reiterbild desselben, befriedigte diesen dermaßen, daß er den jungen Künstler zum dauernden Aufenthalt in Madrid einlud. Seine förmliche Anstellung als Hofmaler erfolgte 1632; er erhielt zugleich ein Atelier im königlichen Schlosse, wo ihn der König, der ihn sehr liebgewann, fast täglich besuchte. Bald erregte seine Bevorzugung den Neid der Italiener Carduccio, Nardi und Caxesi, welche schon vor ihm den Rang von Hofmalern hatten. Da er andauernd als Bildnismaler beschäftigt war, sagten sie ihm nach, er könne nur Köpfe malen. Um Velazquez Gelegenheit zu geben, sich auch als Historienmaler zu zeigen, veranstaltete der König einen [386] Wettkampf zwischen den vier Malern. Den Gegenstand des Gemäldes, das jeder in gleicher Größe auszuführen hatte, sollte die unter Philipps Vater 1609 erfolgte Vertreibung der letzten Mauren aus Spanien bilden. Velazquez ging aus dem Wettkampf als Sieger hervor. Aber trotz dieses Triumphs, dem auch solche auf dem Gebiete der Heiligenmalerei folgten, blieb sein Hauptfach die Porträtmalerei.

Was ihm damals die Bewunderung des Königs und des Hofs vor allem eintrug, war neben der großen Aehnlichkeit seiner Bildnisse die schlichte Großartigkeit, mit der er in ihnen den spanischen Würdebegriff zum Ausdruck brachte. Die hohe Bedeutung, welche diesen Bildern gerade heute von vielen der bedeutendsten Malern eingeräumt wird, gründet sich dagegen auf die wunderbare Naturtreue in der kraftvollen Farbengebung, welche erreicht zeigt, was diese erstreben. Es ist bezeichnend für des Meisters Art, daß sein erster Aufenthalt in Rom im Jahre 1629 ihm zum Anlaß wurde, Landschaftsbilder nach der Natur zu malen. In Rom, wo ihm Kardinal Barberini ein Atelier im Vatikan anwies, während er in der Villa Medici wohnte, malte er auch sein Selbstporträt, das, in wenig Farbentönen kräftig hingestrichen, eine ungemein lebendige Wirkung ausübt. Wir geben dasselbe auf Seite 357 in Holzschnitt wieder; das Original befindet sich in der Kapitolinischen Gemäldesammlung. Nach seiner Rückkehr nach Madrid entstand jene Reihe von Bildnissen, welche den König, Prinzen und Granden in freier Luft darstellen; es waren meist Reiter- und Jägerbildnisse, was ihrer Bestimmung entsprach, die Säle des königlichen Jagdhauses im Wildpark von Prado zu schmücken. Als die Krone dieser Bilder wird mit Recht dasjenige des Prinzen Don Baltasar Carlos bezeichnet; es bildet den Gegenstand unserer Kunstbeilage. Der sattelfeste kleine Reiter sprengt im Galopp auf einem andalusischen Pony daher. Er trägt eine Jacke von Goldbrokat mit grünem, goldgesticktem Aermelaufschlag, Kollett und Beinkleid von dunkelgrünem, mit Gold verziertem Stoff, schwarzen Hut mit schwarzem Ausputz, Stiefel und Handschuhe von hellbraunem Leder. Wie ein künftiger Feldherr, so führt H. Knackfuß in seiner Schilderung des Gemäldes fort, der wir diese Farbenangaben entnehmen, trägt er eine Schärpe, rosenrot mit Goldfransen, und schwingt einen Kommandostab in der Rechten. Das feiste Pferdchen ist ein Rotschimmel mit braunem Kopf und schwarzen Füßen; Schweif und Mähne sind dunkel und sehr dicht und lang, wie man es damals als unentbehrliches Schönheitserfordernis eines edlen spanischen Pferdes ansah. Sattel und Zaumzeug sind mit Goldstoff überzogen, die Metallteile des Geschirrs vergoldet.

Die Gunst, die Velazquez für solche Leistungen bei König Philipp genoß, bürdete ihm leider in seinen späteren Jahren manche Ehrenämter auf, die ihn in seinen künstlerischen Arbeiten beschränkten. Als der König 1647 den Umbau des alten Königsschlosses in Madrid in Angriff nahm, wurde der Maler mit der Aufgabe betraut, nach dem Muster der Tribuna im Uffizienpalast zu Florenz einen Saal einzurichten, der nur die auserlesensten Werke der Kunst aufnehmen sollte. Der Ankauf solcher Werke bot den Anlaß zu einer zweiten Reise nach Rom. Diesmal konnte er zwar den Papst Innocenz X porträtieren, aber sonst kam er über seinen Geschäften wenig zum Malen. Noch weniger Muße behielt er nach seiner Ernennung zum Schloßmarschall (1652). Als solcher hatte er die Oberaufsicht über des Königs Gemächer; er führte einen Schlüssel, der alle Thüren öffnete, und mußte in dem Palaste, den der König gerade bewohnte, stets zugegen sein. Im Frühjahr 1660 trat König Philipp mit großem Gefolge eine Reise in die Pyrenäen zu einem Stelldichein mit dem König von Frankreich an; den Anlaß bildete die Verlobung der Infantin Maria Teresa mit Ludwig XIV. Velazquez hatte die Aufgabe, dem König vorauszureisen und ihm in Städten und Burgen die Wohnung zu bereiten. Die Zusammenkunft fand auf einer kleinen Insel in dem Grenzfluß Bidassoa statt, wo Velazquez in aller Eile ein Gebäude errichtet und glänzend ausgestattet hatte. Nicht minder anspruchsvoll für ihn waren die nun folgenden Feste. Die Ueberanstrengnng zog dem Künstler eine schwere Erkrankung zu, welcher er am 6. August erlag. Der tief erschütterte Fürst ließ ihn mit den höchsten Ehren bestatten. Nur wenig Bilder des großen Malers finden sich in den Galerien außerhalb Spaniens; die Mehrzahl derselben bildet den Stolz des königlichen Museums im Prado, wo sich auch das Original unserer Kunstbeilage befindet.

Die Stephan-Denkmäler in Berlin. (Zu dem untenstehenden Bilde und dem auf S. 387.) In dem großen Lichthofe des Reichspostmuseums wurde am 1. Mai feierlich das Denkmal enthüllt, das die deutschen Postbeamten dem Andenken des berühmten ersten Staatssekretärs des Reichspostamtes errichtet haben. Sein Schöpfer, der Bildhauer Josef Uphues, hatte eine schwierige Aufgabe zu lösen. Nach dem Wunsche der Auftraggeber sollte er den Reformator des deutschen Postwesens ohne äußeren Schmuck, schlicht und einfach darstellen, wie er alltäglich im Leben erschien. Es ist dem Künstler gelungen, der Nachwelt ein wirklich lebensgetreues Bildnis Heinrich v. Stephans zu schaffen.

Das Denkmal Heinrich von Stephans im Reichspostmuseum zu Berlin.
Nach einer Aufnahme von Ottomar Anschütz G. m. b. H. in Berlin.

Wir sehen auf dem Marmordenkmal den Gefeierten, wie er ruhig und überzeugend eine Rede oder einen Vortrag hält. Ueber einen Globus, der ihm als Stütze dient, ist ein Mantel geworfen. Auf dem runden Sockel sind zwei junge Mädchen, die sich die Hände reichen, als Sinnbilder der Post und der Telegraphie angebracht. – Josef Uphues hat auch das schöne Grabmal modelliert, das die Angehörigen Stephans dem Verewigten gesetzt haben. Seinen Hauptschmuck bildet eine trauernde Frauengestalt mit dem Lorbeerkranz in der Hand.

François Champollion in Aegypten. (Zu dem Bilde S. 361.) Napoleons I Kriegszug nach Aegypten gab den Anlaß zu einer kräftigen Entfaltung der ägyptischen Altertumskunde. Ein französischer Artillerieoffizier Namens Boussard, der 1799 mit dem ersten Konsul nach dem Pharaonenlande gekommen war, entdeckte in der Nähe der Stadt Rosette die berühmte dreisprachige Inschrift aus der Zeit der Ptolemäer, die den Schlüssel zum Verständnis der Sprache und der Schrift der alten Aegypter geliefert hat, denn hier stand der gleiche Text auf Griechisch neben dem der alten Hieroglyphen und dem der sogenannten demotischen Schrift, einer neueren Form der ägyptischen Sprache. Ueber zwanzig Jahre vergingen jedoch, bevor es den Gelehrten gelang, aus der Inschrift von Rosette die wahren Sprach- und Schreibgesetze der alten Aegypter abzuleiten. Der Ruhm davon kommt in erster Linie François Champollion dem Jüngeren zu, denn sein im Jahre 1824 erschienenes Buch „Précis du Système hièroglyphique“ ist grundlegend geworden für alle späteren Forschungen.

Champollion war am 23. Dezember 1791 in Figeac in Südfrankreich geboren, warf sich nach dem Vorbild seines älteren Bruders Jacques auf die Altertumsforschung und widmete sich nach kurzer Thätigkeit als Geschichtsprofessor in Grenoble ganz dem Studium der Aegyptologie. Schon mit 23 Jahren ließ er ein großes Werk über „Aegypten unter den Pharaonen“ erscheinen und mit 33 sein epochemachendes Buch über die Hieroglyphen. Obschon er sich aber mit Leib und Seele diesem Studium gewidmet hatte, konnte er erst sehr spät seinen heißen Wunsch befriedigen, das Land seiner Sehnsucht mit eigenen Augen zu sehen. Erst im Jahre 1828 erhielt er von der französischen Regierung den Auftrag zu einer wissenschaftlichen Forschungsreise im Lande der Pharaonen, die ihn zwei Jahre lang fesselte. Nach Frankreich [387] zurückgekehrt, empfing er alle Ehrenstellen und Auszeichnungen, die er sich wünschen konnte, aber er hatte durch seine rastlose Arbeit seine Gesundheit derart untergraben, daß er nur noch zwei Jahre zur Ausnutzung seiner Funde verwenden konnte. Er starb am 4. März 1832 in Paris. Nach seinem Tode fand man noch gegen 2000 Seiten Manuskript, darunter eine vollständige Grammatik und ein Wörterbuch der Hieroglyphensprache, die dann auf Staatskosten herausgegeben wurden.

Der Maler Maurice Orange, einer der besten Schüler Gérômes, der uns in früheren Bildern Napoleon als Feldherrn in Aegypten gezeigt hat, benutzte seinen Aufenthalt daselbst, um neben dem Eroberer, der seine Eroberung nicht festhalten konnte, auch den bescheidenen Gelehrten zu feiern, dessen geistige Eroberungen sich als weit dauerhafter erwiesen haben. Champollion hat bei Theben in der Nähe der sogenannten Memnonssäulen, d. h. der Kolossalstatuen Amenophis’ des Dritten, eine wichtige Ausgrabung gemacht und kehrt am Abend von der Fundstätte heim. Die einheimischen Diener tragen die eroberte Mumie und der Gelehrte hat die erbeuteten Papyrusrollen an sich genommen. Rastlos wie immer, kann er die Heimkehr nicht abwarten, um das Studium in seinem Zimmer zu beginnen, sondern schon auf dem Rücken des geduldigen Reittiers entfaltet er eine der Rollen und versucht sie zu entziffern. F. B.     

Sonntagmorgen auf der Stadtmauer. (Zu dem Bilde S. 365.) Seit der Küfermeister und Weinhändler Johann Röster, am Martinsthor, die Leitung seines blühenden Betriebs dem verheirateten Sohne übertragen hat, pflegt er um so eifriger die edle Gärtnerei. Seine Rosen und Dahlien, nicht minder seine Salat- und Kohlköpfe genießen unter befreundeten Kennern dasselbe berechtigte Ansehen wie seine Entscheidungen und Gründe im Rat des Städtchens. Und er selber behauptet, daß ihm über die schwierigsten Fragen des Stadtwohls die Erleuchtung gar oft erst im Umgange mit den stillen, dankbaren Pfleglingen komme, die er da oben – auf der Stadtmauer züchtet.

Denn der Garten des alten Herrn, hinter seinem Hause am Martinsthor, liegt mit all seinen Bäumen, Sträuchern, Ranken und Beeten auf der Stadtmauer, das heißt auf dem gassenbreiten Unterbau hinter den eigentlichen Ringmauern. Der Faßschuppen im Hof reicht nur eben mit seinem schindelgedeckten First bis zum Gartengeländer herauf. Aber das Haus selbst besteht eigentlich nur durch die Stadtmauer. In der Front, an der Martinsthorgasse, läßt sich das nicht so deutlich merken. Hier hinten an der Gartenseite sieht man aber um so besser, wie es mit seinen verschiedenen Teilen an und auf die Mauer, um sie herum, in sie hinein gebaut ist; selbst die deutsche Sprache hat nicht Vorwörter genug, um das innige Verhältnis erschöpfend zu schildern, in das so eine alte, brave, verwitterte, bemooste Stadtmauer außer Dienst allmählich zum Familiensitz ihrer Anwohner tritt.

Das ist ein wunderliches und schwer faßbares Ding für die Jugend einer „modernen“, binnen weniger Menschenalter aufgeschossenen Industriestadt. Aber von den „geschichtlichen“ Städten und Städtchen zumal am Rhein und in Süddeutschland haben sich noch gar viele ein Stück ihrer mittelalterlichen Wehr bewahrt und je nach Art und Lage des Ortes friedlichem Behagen dienstbar gemacht. In der uralten Rhein- und Weinstadt Bacharach und anderswo zieht sich über die Stadtmauer längs dem Strom ein gedeckter Laubengang, mit Thüren zum Oberstock der innen angebauten Häuser und einer hübschen offenen Nische gegenüber jeder Thür. In diesen Nischen sitzt dann die Familie am schönen Sommerabend beim Feiertrunk, „sieht den Strom hinab die bunten Schiffe gleiten“ und gedenkt der alten Zeit, die diese Mauern gründete. Dagegen von der Stadtmauer des Meisters Röster schweift der Blick stadteinwärts, über den eigenen Werkhof und andere Stätten seßhaften Bürgerfleißes, die heut am junihellen Sonntagsmorgen in beschaulicher Stille ruhen. Es ist eine angenehme und nachdenksame Aussicht für den alten Herrn, der hier in ehrenvoller Muße die Früchte eines langen Arbeitslebens genießt. Und wie er nun eben mit der Morgenpfeife aus der Laube zu seinen Rosen tritt, beugt sich drunten aus dem Fenster sein blühendes Töchterlein vor. Anscheinend will sie nur mit dem Zeisig kosen, der im Bauer vor ihrem Fenster hängt, und es soll wohl nur Zufall sein, daß just in diesem Augenblick der schmucke Gehilfe und Teilhaber ihres Bruders den Hof betritt. Aber dem alten Herrn kommt unabweisbar deutlich die Erinnerung an einen andern Sommermorgen vor vierzig Jahren, wo ein anderes Haustöchterchen aus demselben Fenster einem schmucken Wanderburschen so eigen zunickte, daß er das Weiterwandern gründlichst vergaß – und jetzt selber als greiser Hausherr hier droben steht. Nun – sie passen zusammen, und einmal muß es ja sein – der alte Herr hat auch das von seinen Blumen gelernt, daß über den welken Trieben des Vorjahres immer ein neuer Lenz nach Licht und Liebe strebt. Mögen auch sie sich finden und einander zeitlebens im Treiben des Alltags den Sonntagsfrieden bewahren! Die alte Stadtmauer hält es aus.

Das Grabmal Heinrich von Stephans.
Nach einer Aufnahme von Ottomar Anschütz G. m. b. H. in Berlin.

Ertappt. (Zu dem Bilde S. 376 und 377.) Die Jagdleidenschaft kann leider mit dämonischer Macht den Mann packen, und sie erzeugt die verwegensten Wilderer, die zu den Hütern des Waldes in eine Feindschaft auf Leben und Tod geraten. Wie oft ist nicht durch die mörderische Kugel des Wildschützen der Friede des Waldes entweiht worden, wie oft hat nicht ein braver Forstmann für seine Pflichttreue das Leben hingeben müssen! Von solchen herzerschütternden Tragödien wissen die Forstleute nur zu viel zu berichten. Lebenswahr und mit dramatischer Kraft hat Ferdinand Brütt in seinem Bilde einen Kampf zwischen Förstern und Wilddieben dargestellt. Ertappt sind die Gegner, aber noch nicht völlig überwunden; noch hält der eine die todbringende Büchse in Anschlag und noch ist es unentschieden, ob der Kampf unblutig verlaufen wird. Aber diesmal sind die Förster im Vorteil und die gerechte Sache wird sicher den Sieg davontragen. *     

Kunstwebeschule des Lettevereins in Berlin. Dieser rührige und unermüdliche Verein hat sich in kaum mehr als drei Jahrzehnten seines Bestehens die allergrößten Verdienste um die Frauenarbeit erworben. Die verschiedenartigsten Schulen bilden Mädchen und Frauen zur praktischen Tüchtigkeit aus, und unzählige Handels- und Gewerbegehilfinnen, Schneiderinnen, Köchinnen, Photographinnen, Setzerinnen etc. danken ihre Existenz den vortrefflichen Lehranstalten des Vereins. Neuerdings ist nun eine neue dazu gekommen: die Kunstwebeschule nach dem Muster der auf S. 299 des Jahrgangs 1898 der „Gartenlaube“ geschilderten Anstalten. Was bisher auf deutschem Boden nur in Scherrebek möglich war, das bietet nun Berlin durch die Unterweisung in der sehr schönen, fast unverwüstlichen Bild- und Teppichweberei. Durch diese Kunstwebeschule will der Verein nicht eine neue Dilettantenthätigkeit hervorrufen, sondern einen neuen Erwerbszweig, in erster Linie als Hausindustrie für Frauen, gründen. Der einfache Webstuhl kann in jeder Wohnstube stehen, das Arbeiten ist geräuschlos und im allgemeinen nicht anstrengend. Jede Schülerin hat die Aussicht, nach Vollendung ihrer Lehrzeit ein Jahr lang durch die Gesellschaft „Nordische Kunstweberei“ beschäftigt und bezahlt zu werden. Der Unterricht im Weben und im Zeichnen wird durch bewährte Kräfte erteilt, Anmeldungen sind an die Registratur des Lettevereins in Berlin SW., Königgrätzer Straße 90, zu richten. Bei der großen Beliebtheit, deren sich diese durch Maschinen nicht herzustellenden, eigentümlich ernst und vornehm aussehenden Kunstwebereien erfreuen, ist nicht zu zweifeln, daß ihre Anfertigung für viele Frauen und Mädchen zur lohnenden Beschäftigung werden kann.

Das Demmersche Haus in Braunschweig. (Zu dem Bilde S. 388.) „Bronsewyk du leiwe Stadt Vor veel dusend Städten, Dei so schöne Mumme hat, Do ik worst kan freten.“ So lautet die alte Stadthymne Braunschweigs, genannt das Mummenlied. Was aber köstlicher ist als „Mumme und en Stumpel Wurst“, das sind die Zeugen früheren Glanzes und früherer Lebensfreudigkeit, die alten Häuser, in denen vor langen Zeiten ein gar mannhaftes und schaffensfrohes Geschlecht hauste. Wie lange noch wird es währen, bis man an diese mittelalterliche Poesie die erbarmungslose Hand legt, um sie durch moderne, öde Steinkäfige zu ersetzen? Schon manches Opfer ist diesem pietätlosen Zuge der Zeit verfallen, und neuerdings war auch eins der schönsten Ueberbleibsel aus der Zeit des prachtliebenden Patriziertums, das Demmersche Haus, vom [388] gleichen Schicksal bedroht. Die Stadt hat jedoch beschlossen, die Fassade zu kaufen und ihr an anderer Stelle eine bleibende Stätte zu schaffen. Zu den Kosten, die insgesamt 113 000 Mark betragen, haben der Staat und der Prinzregent je 15 000 Mark beigesteuert. Das Haus ist von einem Bürger Namens Hunnborstel im Jahre 1537 erbaut und gehörte bis vor kurzem einem Brennereibesitzer, dessen Vorfahren seit dem Anfang dieses Jahrhunderts ihr ertragreiches Gewerbe darin betrieben. Erdgeschoß und erster Stock dienten als Wohn- und Geschäftsräume. Auf dem mächtigen Flur, der zugleich als Einfahrt benutzt wurde, schenkte man den wärmenden „Lüttjen“ (kleiner Schnaps), dessen Ruf im ganzen Lande unerschütterlich feststand. Die anderen Stockwerke, welche die prächtigen Ornamente tragen, wurden als Lagerräume für Getreide benutzt, über denen ein steil aufsteigendes Dach weit ausgedehnte Böden und Trockenkammern barg. An den Schnitzereien, die in grotesken Formen ein kunstreich durcheinander gewobenes Gewirr von stilisierten Menschen- und Tierleibern, von phantastischen Arabesken aus Figurenornamenten und abenteuerlichen Fabelwesen mit Menschengesichtern und chimärischen Gliedmaßen aufweisen, erkennt man den heiteren Sinn unserer Altvordern, die es liebten, nach Eulenspiegelweise aus dem anscheinend regellosen Wirrsal den losen Schalk herauslugen zu lassen. Wer das Haus mit den rechten Augen, den Augen der Liebe für unsere Vorzeit, betrachtet, vor dessen Seele steigt eine versunkene Welt wieder aus dem Grabe auf, gewinnen verwehte Geschlechter Gestalten und Leben. Dr. E. Sierke.     

Das Demmersche Haus im „Sack“ zu Braunschweig.

Neues von dem „Schiff der Wüste“. Die Werke über das Tierleben, besonders das vorzügliche von Brehm, scheinen den Stoff erschöpft zu haben; doch fehlt es nicht an neuen Forschungen und Entdeckungen, welche manches, was allgemein anerkannt ist, erschüttern. Zu den Reisenden, welche der Tierwelt eine besondere Aufmerksamkeit widmeten, gehört der Kurländer Baron Eduard Nolde, der in seiner „Reise durch Innerarabien, Kurdistan und Armenien“ in zwei Kapiteln Beiträge zur Kenntnis des arabischen Pferdes und des Kamels giebt. Nolde, der vor einigen Jahren in London den Tod fand, war ein Weltfahrer mit einem gewissen abenteuerlichen Zug; [e]r hatte auch mit den Karlisten in Spanien gekämpft und 1877 in Südamerika mit den Chilenen gegen die Peruaner. Ins innerste Arabien sind wenige vorgedrungen so wie er, und da Pferde und Kamele zu seinen Passionen gehörten, so konnte er in jenem Wüstenlande die fruchtbarsten Studien machen; er selbst erwähnt, daß er hinsichtlich der Kamele selbst in gediegenen Büchern, Reisebeschreibungen und Naturgeschichten auf allerlei Irrtümer, falsche Darstellungen und Ungenauigkeiten gestoßen sei.

In einem Werke findet sich z. B. als ganz sicher festgestellt, „daß bei saftiger Grasnahrung Kamele wohl sehr lange ohne Wasser auszukommen vermöchten, daß dieselben aber bei Dürre fleißig getränkt werden müßten.“ Nolde erklärt dies für durchaus unrichtig. In der heißen Jahreszeit, bei Dürre, wird ein Kamel, wenn man es ihm ermöglicht, gern, oft und viel trinken, ja auch zweimal täglich, wenn es sich gerade so trifft, sich aufs Wasser stürzen, um sich vollzutrinken; das hindert indessen nicht, daß es fünfmal 24 Stunden bei großer Dürre vollständig ohne Wasser auszukommen und dabei schwere Arbeiten zu verrichten vermag. Die wirklichen Vollblut-Rennkamele kommen nur in Innerarabien vor, d. h. die Rasse, der man gelegentlich 200 km in 30 Stunden oder auch 150 km in 10 Stunden zumuten kann. Diese Tiere altern sehr schnell, sobald sie aus Innerarabien herausgebracht sind und nördlicher als im 30. Grade benutzt werden sollen. Auch herrscht fast überall bei der Ausbeutung der Kamele eine furchtbare Raubwirtschaft. Wirklich gut umgegangen wird mit den Kamelen nur in Innerarabien; daher ist es dort auch ein ganz anderes Tier, ohne Schwielen, durchweg wohlbehaart, durchaus nicht störrisch, freundlich und auf den Ruf herkommend, für Liebkosungen empfänglich und dankbar. So bleiben dort die Kamele, darunter auch die Renntiere, bis in ihr 30. Lebensjahr vollkommen dienstfähig.

Nach Nolde sind die Kamele, entgegen den in Europa herrschenden Ansichten, auch in steilen und schwierigen Berggegenden sehr brauchbar und leiden trotz ihrer weichen Füße auffallend wenig durch anhaltendes Treten auf Geröll und sehr scharfen Steinen. Nur leiden sie außerordentlich an Schwindel und daher ist die Anzahl der in Abgründe hinabstürzenden und über hohe und mit niedrigen Geländern versehene Brücken fallenden Kamele sehr groß. Vollständig unbrauchbar sind sie auf feuchtem und glitschrigem Erdboden, so daß sogar hundert Meter aufgeweichten Erdreichs für sie ein unüberwindliches Hindernis werden können. †     




Unseren Abonnenten machen wir die Mitteilung, daß wir eine

neue Sammelmappe
für die Kunstbeilagen zur „Gartenlaube“

in neuer, moderner Ausführung in grüner englischer Leinwand mit reicher Gold- und Fabenpressung herstellen ließen, von welcher wir nebenstehend eine Abbildung in verkleinertem Maßstab geben

Die Mappe ist zur Aufnahme von zirka 100 Stück Kunstbeilagen berechnet, reicht also für drei Jahre aus; nach Ablauf dieser Zeit bildet die gefüllte Mappe ein vollständiges Prachtwerk, und es kann dann eine neue Sammelmappe für die folgenden Kunstblätter bezogen werden. Auch eignet sich dieselbe als Aufbewahrungsmappe für die einzelnen Nummern der „Gartenlaube“.

Trotz der reicheren und vornehmeren Ausstattung haben wir für die neue Sammelmappe den bisherigen mäßigen Preis von 2 Mark beibehalten, zu welchem dieselbe von derjenigen Buchhandlung, welche die „Gartenlaube“ liefert, bezogen werden kann. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags zuzüglich 50 Pf. für Porto direkt an die
Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[388 a]
Allerlei Winke für jung und alt.




Bürstenbrett. In den „Brenn“-Läden finden sich solche Bretter in allerlei hübschen Formen, die sich leicht in der dargestellten Weise mit bunter Brandarbeit verzieren lassen. Sehr gut sieht auch ein mit dunklem Rand und einfachen Verzierungen geschmücktes Brettchen aus, das man nach eigener Zeichnung vom Schreiner flach ausschneiden läßt. und worauf man eine Tasche aus rotem Leder mit kleinen blanken Nägeln um den Rand befestigt. Die ganze Form



Bürstenbrett.



der Tasche wird aus einem Stück geschnitten, ein Muster aus Papier mit Berücksichtigung der Seitenteile und des schmalen, am Brett anzunagelnden Randes ist vorher anzufertigen. Die Nelken bleiben mit feinen, festen, gebrannten Umrissen hochrot auf dunkel getöntem Grund stehen, die Blätter werden mit einem olivegrünen Ton gedeckt; ein ganz schmales Börtchen aus kleinen Blättern, Tupfen, Beeren etc. greift in die Seitenteile über. Die Nelke auf dem Brettchen und die Knospen oben sind ebenfalls rot.

J.





Karte mit Vogelfedernarbeit.


Karten mit Vogelfedernarbeit. Zu manchen hübschen Arbeiten dienten wohl den Leserinnen schon die Vogelfedern. Sie sollen uns auch heute nützlich sein. Ganz wie die Natur ihn bietet, wurde der Schmuck unserer gefiederten Feld- und Waldbewohner benutzt, ja es ist besonderer Wert darauf gelegt, daß auch nicht der kleinste Pinselstrich zur Anwendung kam. Nur die Stiele sind mit Tinte und Feder eingezeichnet. Bei so feinen Bouquets, wie sie unsere Abbildungen zeigen, bedarf es natürlich sehr kleiner Federn. Man findet sie hauptsächlich an den Köpfen der Vögel, dann aber auch an den Rändern der Flügel.

Hält man nun einmal Umschau in der Küche, so zeigt es sich, daß sich dort viel Verwendbares ansammelt. Während uns Fasanen und Wildenten das schönste Grün liefern, finden wir bei den Rebhühnern die verschiedensten braunen Schattierungen, die Tauben bieten auch allerlei, selbst die Kopffedern der plumpen Gans sind zu Rispen und Gräsern willkommen. Der Kanarienvogel giebt uns zur Mauserzeit freiwillig das nötige Gelb, und für die leuchtenden Farben kann man sich leicht Papageien-, Eisvogel- und Wellensittichfedern verschaffen. Auch an die bunten ausländischen Finken sei erinnert.

Zur Arbeit selbst läßt sich wenig Anleitung geben, es ist dies Sache des Geschmacks. Man wähle die richtige Größe, schneide den kleinen Kiel ab, doch nie etwas von der Spitze, gummiere die Rückseite und klebe die Feder auf, indem man die Spitze mit der Nadel teilt und gefällig ordnet. Es ist gerade bei dieser Arbeit der Phantasie ein weiter Spielraum gelassen.

Nicht nur mit bunten Federn lassen sich schöne Effekte erzielen, auch weiße Federn nehmen sich auf farbigem Karton besonders gut aus.

Hat man das Aufkleben der Federn beendet, so wäscht man den überflüssigen Gummi vorsichtig mit einem kleinen Schwamm ab. Nachdem dies vollständig getrocknet ist, zeichnet man die Stiele recht zierlich ein und umrandet auch da und dort eine Form, wie zum Beispiel bei dem Zittergras.

R. v. Hausen.






Familiengenealogie. Wie viele bürgerliche Familien kennen die Namen und Schicksale ihrer Vorfahren der fünften Generation? Sicher nicht allzuviele, denn seit die Eintragungen in der Familienbibel außer Gebrauch gekommen sind, besteht keine häusliche Aufzeichnungsstelle mehr, und die mündliche Tradition reicht höchstens bis zu den Eltern der Großeltern eines Familienhauptes. Dies ist sehr zu bedauern, denn aus dem Bewußtsein tüchtiger Vorfahren wächst der richtige Familiensinn, das Streben, sich ihrer wert zu erhalten und auch die Kinder wieder im selben Geiste zu erziehen. Unsere hastig lebende und schnell vergessende Zeit hätte es sehr nötig, dies stark geschwundene Familienbewußtsein wieder zu pflegen, indem die Eltern niederschrieben, was sie von den Vorfahren wissen, und das Buch zur Wetterführung ihren Kindern hinterließen.

Ein solches Buch, praktisch angelegt und mit Rubriken für vier Generationen versehen, ist unter obigem Titel von B. Leusckner herausgegeben. (Breslau, Aderholz.) Den Anfang machen darin einige Blätter gut ausgewählter Bibel- und Dichterstellen, hierauf folgen übersichtlich die Eintragungsbogen mit reichlich viel Platz zum Niederschreiben von Grundsätzen und Lebensregeln zwischen ihren Rubriken. Eine Generation folgt der anderen, und es mag für die Enkel ein eigenes Gefühl sein, die Sorgen und Freuden der lange begrabenen Groß- und Urgroßeltern, ihre Wünsche für die Nachkommen in deren eigener Handschrift vor Augen zu haben.





Säckchen zum Aufbewahren von Silbergeräten.


Zur Aufbewahrung großer Silbergeräte sind ungemein praktisch Säcke von weißem Flanellbarchent. Diese schneide man nach der Größe der bestimmten Stücke viereckig oder länglich, schmal oder breit, auch rund mit eingesetztem runden Boden für Kandelaber oder Aufsätze, je nachdem die Form am zweckmäßigsten. Immer aber nähe man sie so zusammen, daß die Nähte nach außen kommen, damit die glatten Flüchen der betreffenden Silberstücke in keiner Weise gedrückt oder gerieben werden. Damit sie sauber aussehen, fasse man die Nähte mit weichem, gewebtem weißen Baumwollbändchen ein. Oberhalb des Sackes macht man einen breiten Saum, durch den ein Band gezogen wird zum Zusammenbinden. Der Bequemlichkeit halber zeichne man die verschiedenen Säcke groß mit dem Anfangsbuchstaben der zu bergenden Gegenstände in irgend einer Farbe. Für die Kaffeekanne zum Beispiel mit „K“, für die Theekanne mit „T“, für ein Brotkörbchen mit „B“ etc. – Ein sehr großer Vorzug ist es immerhin, daß man diese Säcke von Zeit zu Zeit waschen kann.





Hauswirtschaftliches.



Tafelschmuck. Einen ganz reizenden Schmuck, besonders auch für im Freien gedeckte Tafel, bilden Heine Fahnen, die auf dem Tisch aufgestellt werden und verschiedene Farben zeigen. In einen runden oder in Kreuzform gefertigten Holzfuß von 14 bis 16 cm Durchmesser ist die Fahnenstange einzulassen, die, unten vierkantig, nach oben rund und zugespitzt, wohl 60 cm hoch sein kann. Ihre Spitze krönt ein im Durchschnitt 2 cm großer Knauf, der oben rund, unten flach erscheint. Durch denselben sind vorsichtig zwei Löcher zu bohren, unten an der Fahnenstange zwei kleine Bronzenägel einzuschlagen; letztere dienen zum Halt, erstere zum Durchleiten der feinen, farbigen Seidenschnur, mittels der die etwa 18 bis 20 cm lange, 15 cm hohe Fahne aufgezogen wird. Hierfür ist die Schnur durch einen der schmalen seitlichen Säume der beliebig aus Seide oder Baumwollstoff zu fertigenden Fahne zu leiten. Das Holzgestell bleibt beliebig weiß, wird gebeizt oder angemalt.






Süße Sommerspeise aus Resten eines trocken gewordenen Napfkuchens. Alles trocknet in warmer Zeit rascher und auch unsere selbstgebackenen Kuchen werden trotz Kuchentrommel leicht trocken. Ein solcher Kuchenrest, der keinen Genuß mehr bietet, läßt sich zu hübscher Nachspeise verwenden. Man schneidet den Rest in möglichst gleichmäßige, etwa 1/2 cm dicke Streifen oder Scheiben, die man in Sternform auf eine große runde Schüssel legt. Vorher hat man schöne Glaskirschen entsteint und in Zuckersaft mit einem halben Theelöffel Rum gekocht. Man schüttet die Kirschen auf ein Sieb, läßt sie abtropfen und belegt die sternförmigen Kuchen dicht damit. Man stellt nun die Schüssel aus ein Gesäß mit heißem Wasser, beträufelt sie mit dem Saft der Kirschen, deckt einen Deckel darüber und läßt die Speise so lange auf dem Wasser stehen, bis sie gut durchwärmt ist. Sie wird dann ohne weitere Saucenbeigabe zu Tisch gegeben. – Will man die Speise verfeinern, kann man zuletzt einige Eiweiß (Reste!) zu steifem Schnee schlagen, mit Vanillezucker mischen und kurz vor dem Auftragen gleichmäßig über die Kuchenschnitten streichen. Mit glühender Schaufel wird die Eiweißschicht leicht gebräunt und danach leicht mit Zucker bestäubt.






Feinschmeckergericht von jungen Bohnen. Die ersten jungen, ganz zarten Prinzeßbohnen verdienen es ihres trefflichen Wohlgeschmacks wegen auf besonders gute Weise zubereitet zu werden, wie es das folgende Rezept lehrt. In dieser Herstellung geben sie einen seinen Gang zum Schluß eines Mittagessens, bei dem das Gemüse ohne Fleischbeilage gereicht werden kann. Man wäscht die vorgerichteten Bohnen schnell ab. legt sie 4 Minuten in kochendes Salzwasser und läßt sie danach gut abtropfen. Für jeden Suppenteller solcher Bohnen giebt man 55 g Butter, wenig Pfeffer, etwas Salz und eine Prise Zucker, sowie eine große Messerspitze Liebigs Fleischextrakt und 1/2 Löffel kochend Wasser in eine Kasserolle, schüttet die Bohnen hinein und dünstet sie etwa 30 bis 35 Minuten. Sie müssen ohne Brühe sein, werden gleich angerichtet, sowie man einige Löffel dicke süße Sahne, in der man mehrere Eigelb und ganz wenig geriebene Muskatnuß verquirlt bat, mit den Bohnen heiß gerührt hat. Sie dürfen danach nicht wieder kochen.

He.






Wäsche wattierter Steppdecken. Nur mit Angst und Sorge wird die Hausfrau an die mit der Zeit doch unumgänglich notwendige Wäsche ihrer wattierten Steppdecken gehen, die nur dann zu gutem Erfolge führt, wenn sie in folgender Weise ausgeführt wird. Vor dem Waschen muß man die Steppdecken einen Tag in kaltem, mit etwas Salmiak versetztem Wasser einweichen. Dann legt man sie glatt auf ein großes sauberes Brett, bereitet eine starke Gallseifenlauge die kalt sein muß, und bürstet sie damit strichweise tüchtig aus. Die Decke muß danach so lange in klarem, mit etwas Salz und Essig versetztem Wasser gespült werden, bis das Spülwasser völlig klar bleibt. Nun windet man die Decken fest aus, schlägt sie, indem man sie zu zweien an den vier Ecken hält, wiederholt kräftig aus und hängt sie im Schatten zum Trocknen auf. Während der Trockenzeit muß man die Decken wiederholt gut schütteln und ausschlagen, um aus diese Weise die Wattierung zu lockern.

Le.





Das Schälen von Perlzwiebeln zum Einmachen hat manche Hausfrau schon viel Zeit und Mühe gekostet, und doch ist nichts einfacher als das! Man lege sie am Abend vorher in Salzwasser und die Schale löst sich bei leisem Druck mit derselben Leichtigkeit wie bei Mandeln, die man gewöhnlich in kochendes Wasser legt, ehe man sie schält.



[388 b]
Allerlei Kurzweil.

Inschrifträtsel „Der alte Kalif“.
Von Al. Weixelbaum.

Schachaufgabe.
Von F. Möller in Ahlten.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Homogramm.

Die Buchstaben dieser Figur lassen sich so ordnen, daß in den einander entsprechenden senkrechten und wagerechten Reihen gleichlautende Wörter von folgender Bedeutung entstehen: 1. eine Hafenstadt in England., 2. ein französischer Kriegshafen in Tunis, 3. eine Behörde, 4. ein Gewebe, 5. ein Gefäß. A. St.     

Rätsel.

Eh’ ich mich in den Zug begab,
Schritt ich den Bahnsteig auf und ab,
Da fiel mein Blick auf ein Coupé
In meiner allernächsten Näh’,
An dem das Rätselwörtchen stand;
In dieses kletterte gewandt
Ein allerliebstes Mägdelein,
Und eilig stieg nun hinterdrein,
Was sich dir zeigt, nimmst du dem Wort
Am rechten Ort fünf Zeichen fort.  Oscar Leede.


Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.


Auflösung des Rätsels auf den Umschlag von Halbheft 11.

 Held, Geld, Feld, Schlachtfeld.


Auflösung der Verschiebungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 11.

. . . . . . . . . B L A S E D O W U N D S E I N E S O E H N E
. . . . . H A M M E R U N D A M B O S S
. K I N D E R D E R W E L T
D I E S C H W E S T E R N
. . S O L L U N D H A B E N
. . . . . . E U R O P A E I S C H E S S K L A V E N L E B E N
. . . . . . . . . L I C H T E N S T E I N
. . . D A S M A E D C H E N V O N T R E P P I
 = Berthold Auerbach.


Auflösung der Charade auf dem Umschlag von Halbheft 11.

 Land – Wirt – Schaft, Landwirtschaft.


Auflösung des Kryptogramms auf dem Umschlag von Halbheft 11.

Man verfolgt die von den Buchstaben rechts ausgehenden Linien bis zu den Buchstaben, zu denen sie führen, und zwar von außen nach innen, und erhält:
 Viel Feind’, viel Ehr’.




[ Die untere Hälfte der Seite enthält hier nicht abgebildete Werbeanzeigen.]




Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.