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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[452 c]

15. Heft. Preis 10 cents. 18. Juli 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[452 d]

Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (6. Fortsetzung) 453
Deutsche Städtebilder. Konstanz. Von K. von Arx. Mit Abbildungen 460
Die Heilbarkeit der Trunksucht. Von Dr. med. Hugo Hoppe 462
Stillosigkeiten. Von J. Braun 467
Runen. Gedicht von Fritz Döring. Mit Abbildung 468
Der Lebensquell. Erzählung von E. Werner (Anfang) 468
Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt 478
Blätter und Blüten: Das Bismarck-Denkmal in Magdeburg. (Zu dem Bilde S. 453.) S. 479. – Ärztliche Mission. S. 479. – Auf der Gaisalpe. (Zu dem Bilde S. 457.) S. 480. – Die deutsche Schule in Johannesburg. (Mit Abbildung.) S. 480. – Farbige Blumenkronen und Insekten. S. 480. – Der schüchterne Freier. (Zu dem Bilde S. 481.) S. 480. – Verwendung der Destillationsrückstände des Petroleums zum Löschen des Staubes. S. 480. – Nach der Schlacht von Dornach. (Zu dem Bilde S. 473.) S. 482. – Der Papyrus in Sicilien. (Mit Abbildung.) S. 482. – Der Kohlenbedarf beim Anfahren und Bremsen von Eisenbahnzügen. S. 482. – Sonnenaufgang. Von A. Kellner. (Zu dem Bilde S. 483.) S. 482. – Eselsreiterin in Kairo. (Zu dem Bilde S. 477.) S. 483. – Das Zillerthal bis zur „Berliner Hütte“. Von Dr. Vogel. (Zu dem Bilde S. 484.) S. 483. – Um die Wette. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 484.
Illustrationen: Das Bismarck-Denkmal in Magdeburg. S. 453. – Auf der Gaisalpe. Von Anton Braith. S. 457. – Abbildungen zu dem Artikel „Deutsche Städtebilder. Konstanz“. Das Schnetzthor. S. 460. Das Rathaus. S. 461. Das Inselhotel. S. 462. Ansichten von Konstanz. S. 464 und 465. – Runen. Von A. v. Neogrády. S. 469. – Die Schlacht von Dornach: die Eidgenossen verweigern die Auslieferung der gefallenen Ritter. Von E. Klein. S. 473. – Eselsreiterin in Kairo. Von E. Girardet. S. 477. – Die deutsche Schule in Johannesburg. S. 480. – Der schüchterne Freier. Von Paul Höcker. S. 481. – Papyrusstauden am Anapofluß bei Syrakus. S. 482. – Sonnenaufgang. Von P. Gabrini. S. 483. – Die „Berliner Hütte“ im Zemmthal. S. 484.


Hierzu Kunstbeilage XV: 0 „Um die Wette“. Von Hans Dahl.




Kleine Mitteilungen.

Lorenz Clasen †. In Leipzig starb am 31. Mai dieses Jahres hochbetagt, in seinem 87. Lebensjahre, der Historienmaler Professor Lorenz Clasen, dessen Name verknüpft ist mit einem der bekanntesten Kunstwerke, in dem der deutsche Nationalgedanke unmittelbar vor der Entstehung des neuen Reichs seinen glücklichsten und erfolgreichsten Ausdruck fand. Es ist das Gemälde „Die Germania auf der Wacht am Rhein“, welches in den begeisterungsvollen Tagen von 1870/71 in Hunderttausenden von Vervielfältigungen seinen Weg als Zimmerschmuck in Palast und Hütte fand. Der Künstler hatte das Bild in den sechziger Jahren geschaffen und ließ ihm, als es einen so beispiellosen Erfolg hatte, Anfang der siebziger Jahre als Gegenstück „Die Germania auf dem Meere“ folgen, das ebenfalls eine weite Verbreitung erlangte. Lorenz Clasen wurde am 14. Dezember 1812 zu Düsseldorf geboren, wo sein Vater Oberappellationsgerichtsrat war. Mit 17 Jahren ward er Schüler der Düsseldorfer Kunstakademie in der Malklasse Theodor Hildebrandts. 1837 entstand sein Erstlingswerk „Die ersten Christen“. Ihm folgte eine Reihe bemerkenswerter historischer Bilder, von denen wir hier nur als die bekanntesten „Peter von Amiens predigt den Kreuzzug“ und „Die Verstoßung der heiligen Elisabeth“ nennen wollen. Allein nicht nur mit dem Pinsel, sondern auch mit der Feder bethätigte Clasen seinen künstlerischen Trieb, indem er geistreiche Kunstkritiken schrieb, die allgemeine Beachtung fanden. In den vierziger Jahren siedelte er nach Berlin und zehn Jahre später nach Leipzig über, wo er bis in sein hohes Alter geistesfrisch und rüstig als Künstler und Schriftsteller wirkte. Er war in zweiter Ehe mit der als Dichterin bekannten Mathilde Schmid verheiratet, die noch jetzt in Leipzig schriftstellerisch thätig ist.

Ueber die Müdigkeit der Metalle. Der neuesten Zeit war es vorbehalten, den Nachweis zu erbringen, daß die Müdigkeit und die Müdigkeitserscheinungen nicht nur lebenden Wesen eigentümlich sind, sondern daß auch leblose Gegenstände davon ergriffen werden, so daß infolge der Arbeit ihre Leistungsfähigkeit sich vermindert. Vorzüglich ist diese Eigenschaft an Metallen zu beobachten, und besonders auffällig zeigt sich die Ermüdung an elektrischen Leitungen. Schon länger war es ja bekannt, daß die Leitungsfähigkeit derselben nach fortlaufendem und andauerndem Gebrauch nachließ, ohne daß es gelang, Gründe, die man in Störungen außerhalb der Leitungen suchte, dafür anzugeben. Die eingehenden Versuche des Franklin-Instituts in Philadelphia haben nun ergeben, daß diese Störungen in den Metalldrähten selbst gesucht werden müssen, deren Leitungsfähigkeit sich bei unausgesetztem Betrieb regelmäßig vermindert, um – und das ist eben das Merkwürdige – nach einer Ruhepause ihre ursprüngliche Größe wieder anzunehmen. Am auffallendsten ist der Unterschied bei Telegraphen- oder Telephonanlagen, die im Verlauf der Woche stark benutzt werden und bei denen gegen Ende der Woche eine ganz beträchtliche Verminderung der Leitungsfähigkeit eintritt. Die Ursache dieser Erscheinungen sicher zu ergründen, ist bisher leider nicht gelungen: wahrscheinlich aber dürften sie auf Aenderungen im Aggregatzustand des Metalls, auf Verschiebungen im Lagerungsverhältnis der Moleküle zurückzuführen sein. Durch solche Veränderungen sucht man ja auch zum Beispiel das Mürbewerden des Eisens an Brücken zu erklären, was namentlich an solchen auftritt, die sehr häufig lebhaft erschüttert werden, wie die Eisenbahnbrücken. Durch den Einfluß der Schwingungen und Erschütterungen, die in ihrer Gesamtheit einer dauernden Arbeitsleistung des Eisens vergleichbar sind, wird, so folgert man, das Brüchig- oder Mürbewerden herbeigeführt. Auch diese Erscheinungen sind als eine Form der Müdigkeit aufzufassen. Dr. -t.     

Haustiere auf der Eisenbahn. Die deutschen Bahnen lassen seit Jahren sorgfältige Aufschreibungen über den Tierverkehr machen. In Betracht kommen vornehmlich unsere großen Haustierarten. Im Jahre 1896 wurden auf der Eisenbahn befördert 427625 Pferde, 4028642 Stück Rindvieh, 2107807 Schafe und 8423683 Schweine.

Wie man sieht, bleiben die Pferde, welche sonst edleren Zwecken dienen und erst in letzter Linie mit der Magenfrage zu thun haben, in der Minderzahl. Weit mehr kommen die eigentlichen Schlachttiere, Rinder, Schafe, Schweine, in Frage. Im Laufe der Zeit hat sich ein regelmäßiger Verkehr von den viehreichen Provinzen nach bestimmten Absatzgebieten entwickelt. So versorgen Ost- und Westpreußen und Pommern hauptsächlich Berlin, welches seinerseits wieder ein gut Teil an den Westen abgiebt. Aus dem Bezirk Magdeburg gehen Schafe in Mengen nach dem Königreich Sachsen und nach Belgien. Die Elbhäfen beziehen ihre Rinder und Schafe aus Hannover, Oldenburg und Thüringen. Das Ruhrrevier mit seinen Arbeitermassen empfängt sein Schlachtvieh vorwiegend aus Westfalen, Oldenburg, Lippe, Hannover, ja von Berlin.

Eine Schlingpflanze fürs Zimmer. Die Freude an Schlinggewächsen wird häufig dadurch etwas getrübt, daß sie im Zimmer nicht recht wachsen wollen, wenn sie nicht einen hellen sonnigen Stand erhalten. Epheu und Pylogia suavis machen zwar eine kleine Ausnahme, doch auch sie wollen auf die Dauer mehr Licht, als manchmal geboten werden kann, wenn sie wachsen sollen. Ein wenig bekanntes Schlinggewächs, Basella tuberosa, macht eine rühmliche Ausnahme. Es gedeiht selbst im Zimmer noch unter recht ungünstigen Verhältnissen und entwickelt ein staunenerregendes Wachstum. Man kann die schlanken Triebe fast wachsen sehen und sie an dünnen Fäden von Blumentisch zu Blumentisch leiten, sie um Bilderrahmen, Spiegel etc. herumziehen und so manchen Wandschmuck durch sie aus dem Grünen herausschauen lassen. Basella tuberosa bildet Knollen. Sie stirbt im Herbst ab und überwintert dann leicht im Keller oder im kühlen frostfreien Zimmer. Ende Februar setzt man die Knollen wieder in Töpfe mit nahrhafter Erde. Man kann Basella auch leicht durch Aussaat gewinnen. Der Same ist gar nicht teuer, keimt ziemlich rasch und giebt bald kräftige Pflanzen, die im ersten Sommer noch groß werden und Knollen von der Stärke einer mittleren Kartoffel liefern. Samen ist erhältlich von Haage & Schmidt in Erfurt.

Die Ranken an den Erdbeeren sind, solange man neue Pflanzen ziehen will, ganz angenehm; wo man jedoch viel Früchte ernten möchte, sind sie recht im Wege, weil sie der Ausbildung der Früchte Abbruch thun. Ernte und Pflanzenzucht passen deshalb schlecht zusammen. Man bekommt, wenn man sie auf demselben Beete betreibt, wenig Früchte und schlechte, spät entwickelte junge Pflanzen. Viel besser ist es, sich zur Pflanzenzucht einige Büsche oder einige Beete zu bestimmen und bei diesen Pflanzen die Blüten auszubrechen, damit sie mit vollster Kraft Ranken treiben können. Von den Ranken giebt es sehr früh kräftige Pflanzen. Schon im Juli oder August lassen sich die Beete damit besetzen, und bis zum nächsten Frühjahr haben sie sich so weit entwickelt, daß sie volle Ernten geben. Auch für den, der Erdbeeren zur Treiberei heranziehen will, ist es wichtig, früh kräftige Pflanzen zu haben. Er kann die ersten Ranken gleich in Töpfe leiten, welche in die Erde eingesenkt sind. So wird noch mehr Zeit gewonnen und werden noch kräftigere Stöcke erzogen.

Oleander wachsen häufig über die Verhältnisse hinaus und können dann nicht mehr recht untergebracht werden. Die Gesundheit und die Blühbarkeit leidet darunter, und wenn man die alten Pflanzen nicht verkaufen kann, was recht schwierig ist, bleibt nichts weiter übrig, als einen Rückschnitt vorzunehmen. Die Oleander vertragen einen solchen recht gut. Man kann, wie bei Weiden, die ganze Krone herunternehmen und wird danach aus allen Ecken und Winkeln neue Triebe hervorbrechen sehen. Der Rückschnitt der Oleander geschieht am besten im Herbst vor dem Einräumen in die Winterquartiere. Man kann auch noch im Frühjahr schneiden, doch entwickeln sich dann die jungen Kronen nicht so rasch. Bei den zurückgeschnittenen und im kommenden Frühjahr möglichst verpflanzten Oleandern muß man einen Sommer auf die Blüte verzichten. Sie blühen jedoch im nächsten sicher, wenn sie einen recht sonnigen, warmen Stand, womöglich vor einer Südmauer oder in einer nach Süden gelegenen Veranda, erhalten.

[452 e]

Copyright 1898 by Franz Hanfstaengl in München
UM DIE WETTE
Nach dem Gemälde von Hans Dahl

[Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 15]

[452 f] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [453]

Halbheft 15.   1899.


Das Bismarck-Denkmal in Magdeburg.
Nach einer Aufnahme von Photograph W. Müller in Magdeburg.

Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(6. Fortsetzung.)


Die Uhr in der großen Halle des Hotels zeigte schon fünf Minuten vor Sieben und oben in Sabinens Zimmer stand Susanne und legte ein Kleid zurecht.

„Ich habe mich verspätet,“ sagte Sabine, „wir fuhren in den Lagunen gegen Murano zu herum. Es war so eigentümlich unter dem stilldrohenden Himmel. Wir konnten uns nicht losreißen. Achim ist eben ausgestiegen, da an der kleinen Brücke, von welcher man schnell zur Piazza kommt. Er wollte sich zum Diner umkleiden. In einer Viertelstunde ist er hier. Wie geht’s denn Onkel Fritz? Was – das Kleid, meinst du, soll ich anziehen? Nein, das weiße gieb her! So, danke vielmals. Und den hellgrünen Gürtel! Laß uns doch die Rosen in den Gürtel stecken, die er uns heute mittag gab!“

Susanne half der Freundin und sah sie immer dabei forschend an.

„Wie bist du aufgeregt, Sabine!“

„Ich – gar nicht!“ Und Sabine lachte laut.

„Doch! Warum leugnest du vor mir? Ich kenne dich zu genau. So blaß wie ein Gespenst bist du, und förmlich schwarz sind deine Augen.“

„Hu – zum graueln!“

„Lache doch nicht so! Hast du denn kein Vertrauen mehr zu mir?“ sagte das junge Mädchen traurig.

Da fiel Sabine ihr stürmisch um den Hals.

„Laß mich schweigen. Ich sage es dir später, was ich mit ihm gesprochen habe. Laß mich ... sonst wein’ ich. Ich will gefaßt bleiben! Immer stark und stolz.“

Was heißt das? dachte Susanne gequält, sind sie sich klar geworden über die Notwendigkeit, zu scheiden?! O, dann erkenne ich meine Sabine: stark und stolz will sie sein, ihm ihren Gram verhehlen, damit er sie doppelt achte!

Vor Wonne habe ich geweint – vor Wonne möchte ich weiter weinen, dachte Sabine jubelnd.

[454] Und sie liebkoste Susanne und bat, daß sie ihr nur glauben solle, daß sie immer ihre liebe einzige Freundin wäre und bleibe.

Dann ging sie hinein, den alten Herrn zu begrüßen. Er konnte nicht zu Tisch hinauf in den Speisesaal gehen. Man wollte deshalb im Salon essen. Das war auch sicher gemütlicher, weil das Diner doch den Charakter einer kleinen Abschieds- und Abschlußfeier haben sollte.

Im Salon brannte eine Lampe, denn Onkel Fritz konnte das elektrische Licht an seinen Augen nicht gut vertragen. Auf dem Tisch blühten in einem hohen Glase die Tuberosen und Marschall Niel, die Sabine ihm gegeben hatte. Die Fenster standen offen. Das gleichmäßige Geräusch der Tritte und Stimmen der Menschen, die die Brücke hinauf- und hinabschritten, klang herein, einer angenehm gedämpften Musik gleich. Draußen hatte sich die Abenddämmerung fast in Nacht gewandelt, aber weil man sie vom hellen Zimmer aus sah, erschien sie seltsam blau. Auf dem Wasser kroch eben mit blinkenden Lichtern ein Schiff vom Lido heran und legte sich vor die Landungsbrücke am Quai.

Der alte Herr saß im Lehnstuhl, nach dem Fenster zu.

Als Sabine eintrat, überwältigte sie ein Gefühl von grenzenloser Dankbarkeit und Verehrung. Sie eilte auf den Greis zu und, sich tief, tief herabbeugend, küßte sie ihm die Hand. – Eine Pause von Sekunden folgte. Sabine glaubte, man müßte ihr Herz klopfen hören. Kaum war die impulsive Handlung geschehen, so fürchtete die junge Frau, pathetisch, überspannt, lächerlich gewirkt und den alten Herrn erzürnt zu haben.

„Nicht, mein Kind – nicht …“ murmelte er und hielt Sabinens Finger zwischen den seinen.

„Was Sabine alles mit Onkel Fritz macht,“ dachte Susanne, „bei mir würde er schelten.“

„Sie sind sehr schön heute, Sabine,“ sagte der alte Herr dann.

Sie lächelte triumphierend. Ein anderer hatte ihr das auch heute gesagt, mit heißen Flüsterworten hatte er es ihr zugeraunt. Und heute zum erstenmal in ihrem Leben freute sie sich stolz ihrer Schönheit.

Endlich kam auch Achim. Die Entschuldigungen über seine Verspätung, das Fragen nach dem Befinden des alten Herrn halfen über die ersten fünf Minuten weg.

Bei Tisch beobachtete Susanne ihn. Was Sabine ihr noch vorenthielt, verriet vielleicht sein Wesen. Auch er war bleich, das hatte Susanne noch nie gesehen. Und auf seiner Stirn lag ein schwerer Ernst, und wenn er lachte, lachten seine Augen nicht mit.

Vielleicht bilde ich mir auch alles nur ein, dachte Susanne. Aber der hoffnungsvolle Glaube festigte sich doch in ihr, daß Achim wie ein Mann das endende und klärende Wort des Abschieds gesprochen habe. Sie wollte so gern an ihn glauben, an seine Festigkeit und Charaktergröße.

Der alte Herr hatte Heidsieck kalt stellen lassen und man stieß oft zusammen an. Sabine ging ganz in dem Wunsch auf, den Greis fröhlich zu stimmen, ihn angenehm zu unterhalten, ihm Dankbarkeit zu zeigen. Sie wandte kaum einen Blick von ihm, in bezaubernder, töchterlicher Fürsorge. Ihre lachenden Augen suchten seinen Blick und ihr ganzes Wesen entfaltete sich in schmeichelnder Weiblichkeit.

Sie vermeiden es, einander anzusehen, stellte Susanne bei sich fest, es ist gewiß, sie haben den großen, den einzigen Entschluß gefaßt.

Und mit ihren klaren Augen sah sie Achim liebevoll an. Er hatte vielleicht gelitten. Wenn sie doch nur wüßte, wie sie ihm tröstend wohlthun könnte!

Draußen grollte der Donner. Gerade trug schon der Kellner die Früchte und die leeren Flaschen fort.

Onkel Fritz stand auf. „Ich ziehe mich zurück. Bitte – lieber Herr von Körlegg – Sie nehmen noch den Kaffee und Ihre Cigarette bei den Damen … Und leben Sie wohl! Haben Sie Dank für alles, was Ihre Gesellschaft den Damen und mir gegeben hat. Darf ich sagen: Auf Wiedersehen? Sie wissen, im Winter in Berlin, Lützowufer. Im Sommer als Vagabund bei der Familie herum. Vielleicht in Zukunft auch einmal in Mühlau – wenn Sabine mich da haben will.“

Bewegt drückte Achim die Hand des alten Herrn.

„Wenn ich Ihnen ein wenig lieb geworden bin – so machen Sie mich stolz. Ich bin es, der zu danken hat – ich! Und gewiß, Herr Osterroth – das Leben führt uns wieder zusammen. Bleiben Sie mir immer so gütig gesonnen!“ sprach Achim.

Onkel Fritz lächelte. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, flüchtig streifte sein Blick Susanne. Doch er schwieg, nickte noch einmal und ging.

Es donnerte lauter. Gleich danach blitzte es, und polternd krachte es hinterher.

„Das kommt von allen Seiten. Wollen wir nicht die Fenster schließen?“ meinte Susanne. Sie war ein wenig ängstlich beim Gewitter und schämte sich nun ihrer Furcht vor Achim.

„O nein, das giebt ein prachtvolles Schauspiel,“ sagte er.

Wenn Sabine doch daran denken wollte, daß ich so bange vor dem Blitzen bin, dachte sie, früher hatte sie doch selbst Furcht.

Aber Sabine dachte an nichts als an ihn, der jetzt neben ihr am Fenster stand, gleich ihr die Hände auf dem kleinen Gitter, das es von außen schützte.

Im wilden Zickzack flog ein Blitz nach dem andern vom Himmel herab, auf Sekunden das wildflutende Wasser und den steilen Kirchturm von San Giorgio Maggiore überhellend.

Draußen war alles Leben wie fortgefegt, leer lag der Quai, und die ersten Regenschauer klatschten auf die Steine nieder. Der Donner rollte unaufhörlich in allen Tonstärken, die Nähe und Ferne ihm gab. Entzückt starrte Sabine in das wilde Schauspiel. Susanne aber lief zu dem alten Herrn hinein und, indem sie die Thür rasch öffnete und schloß, entstand ein Windstoß, der die Lampe traf, sie flammte hoch auf und verlosch.

Achim legte seinen Arm um das Weib. Stumm standen sie, Wange an Wange, und sahen dem tobenden Wetter zu.

Das war ihre Abschiedsstunde. Das große Schauspiel schien dafür die rechte Weihe.

Zu sagen hatten sie sich nichts mehr.

Achim fragte sich: Ist das eine Vorbedeutung? Wird so mein ganzes künftiges Leben sein – Wetter und Sturm?

Sabine aber dachte: Nun schreckt mich nichts mehr, nichts in der Natur, nichts im Leben, wenn ich neben ihm stehe. Und sie preßte ihre Wange fester an die seine.

Drinnen ließ Susanne sich liebevoll vom alten Herrn wegen ihrer Furcht ausschelten. Da nun der Donner in ferneren Himmelsräumen zu vergrollen schien, in Susannen auch der Wunsch übermächtig war, die letzten Minuten von Achims Anwesenheit noch zu genießen, so entschloß sie sich, wieder in den Salon zurückzukehren.

Und da sah sie, im dunklen Raum stehend, vor dem Fenster, im Schein, der von der Laterne draußen hereinfiel, die Silhouette von zwei Menschen, die, Wange an Wange, unbeweglich verharrten. „O mein Gott …,“ sagte sie.

Die beiden hörten den Ausruf und lösten sich voneinander.

Sabine wandte flüchtig das Haupt und bemerkte Susanne, die da wie versteinert stand. Aber ihr war nicht nach Erklärungen und Erörterungen zu Mute.

Sie atmete tief auf. Die Minute des Scheidens war gekommen. Stumm reichte sie Achim die Hand, mit großem, tiefem Blick noch einmal ihm in die Augen schauend.

Sie wechselten einen Händedruck, so fest, wie man ihn giebt zu einem ewigen Bündnis, oder zu einem ewigen Abschied.

Dann ging Sabine in ihr Zimmer. Die Thür fiel zu. Der kurze dumpfe Ton schien Susanne zu erschrecken oder zu erwecken. Sie machte eine Bewegung und that einen Schritt vorwärts. So kam sie in den Lichtstreifen, der zum Fenster hereindrang. Gerade zuckte auch draußen wieder ein Blitz nieder und überflammte ihre Gestalt mit bläulichem Schein.

Achim sah es: diese klaren Augen schauten auf ihn mit einem unverhohlenen Ausdruck des Entsetzens.

Er trat an sie heran. „Denken Sie nicht klein von mir,“ murmelte er, „die Liebe war stärker als alles. Die Leidenschaft sprach zu laut.“

„Hat denn die die lauteste Stimme?“ fragte Susanne.

[455] Ihm war schrecklich zu Mute, so, als müßte er sich schämen.

Das war ein schlimmes Gefühl für einen, der eben über sein Schicksal entschieden hat.

„Sie sind zu jung, Fräulein Susanne,“ sagte er finster, „um das beurteilen zu können.“

Aber anstatt einer Antwort, sprach sie vor sich hin: „Und ich habe so an ihn geglaubt! Ich habe so gewiß geglaubt, daß er ein ganzer Mann wäre!“ Sie fing an zu weinen.

Er stand erschüttert – wie geschlagen! Diese naiven Worte trafen ihn wie eine furchtbare Anklage.

Er nahm sich zusammen, er wappnete sich mit Bitterkeit.

„Männer sind nicht so, wie junge Mädchen sie sich denken,“ sprach er; „auch ich bin nur ein Mensch, und Mitleid und Leidenschaft haben schon Größere als mich aus der Bahn gerissen.“

Sie schwieg.

„Soll ich so von Ihnen scheiden?“ hob er an und fand sich selbst von plötzlicher Weichheit überrascht, „so ohne ein gutes, treues Wort? Soll ich denken, daß Sie mich richten, vielleicht sogar verachten? Glauben Sie, daß das meine Seele leichter macht?“

Sie griff nach seiner Hand. „Nein, nein,“ rief sie weinend, „ich richte Sie ja nicht! Da sei Gott vor! Wenn das Unfaßliche denn wahr werden soll – – möchten Sie glücklich werden, so ganz unmenschlich glücklich, wie ich – – wie Sie – ich meine …“

Sie konnte nicht weiter. „Adieu – adieu,“ stammelte sie.

Er küßte ihr die Hand immer wieder, und vor schmerzlicher Bewegung fand auch er kein Wort mehr, kein einziges.

Dann war er fort.

Susanne stand noch lange und weinte. Später klopfte sie an Sabinens Thür. Sie war verschlossen. Sabine antwortete nicht. – Achim fuhr gen Norden. Es war Nacht. Er lag in seinem Schlafcoupé und dämmerte zwischen Wachen und Träumen hin. So, nur mechanisch an dem Treiben der Reise teilnehmend, war er gestern von Venedig nach Verona gekommen – so fuhr er nun über den Brenner durch die Nacht. Er bemerkte kaum, wie die Zeit verrann. Er hatte kein Maß für sie, und sie wurde ihm auch nicht lang.

Er gedachte, so ohne Aufenthalt weiter zu reisen, „wie ein Paket,“ sagte er bei sich selbst. Ein unbeschreibliches Bedürfnis nach Ruhe trieb ihn, sich abzuhetzen, um nach Mühlau zu kommen, einen Tag vor dem Ende seines Urlaubes, um einen ganzen Tag lang sich zu verstecken in seiner Wohnung, in seinem Bett auszuschlafen.

Er brauchte keine besonderen Anstrengungen zu machen, um weder zurück noch vorwärts zu denken. Zum ersten Male in seinem Leben waren seine Nerven so abgespannt, daß er nichts fühlte wie eine totale Stille in sich – so, als ginge ihn die Welt für zweimal vierundzwanzig Stunden gar nichts an.

Die rauhen Herbstlüfte, die ihn in Deutschland empfingen, machten ihn frösteln. Als er in Mühlau ankam, peitschte ein heftiger Regen, von Ostwind getrieben, ihm entgegen.

Er kam sich wie erlöst und in den Hafen eingelaufen vor, als er in seine erleuchtete und ordentliche Wohnung trat.

Seine Wirtin hatte, seit sie das ihn anzeigende Telegramm erhalten, nichts gethan wie geputzt und gescheuert. Sein Bursche grinste vor Freude und Dienstbeflissenheit. Das ganze war doch so etwas wie eine Häuslichkeit.

Diese Nacht schlief er wie ein Toter, und er schlief bis in den Vormittag hinein.

Als er aufwachte, wußte er gar nicht genau, wo er war. Kein Laut ringsum. Und alles so dunkel.

Vor seinen Fenstern waren Holzläden, nach altmodischer Art, von draußen vorgeknebelt. In jedem von ihnen hatte der Zimmermann eine kleine Kleeblattfigur ausgeschnitten. Die ließen nun in drei runden Lichtlöchelchen einen einfachen, dünnen Strahl der Morgensonne herein. Staubfädchen tanzten darin. Achim sah ihnen lange zu.

Er klingelte. Gleich darauf polterte und klappte es draußen vor den Fenstern; der Bursche schlug da die Laden zurück.

Dann kam er herein und meldete, was Achim schon vom Bett aus sah, „daß das Wetter wieder fein sei“. Dabei setzte er den Morgenthee auf einen Stuhl vor seines Herrn Bett.

„Briefe?“

„Zu Befehl!“

Achim griff hastig zu. Nur eine Jagdeinladung, eine Geschäftsempfehlung und ein Brief von einem Kameraden aus seinem alten Regiment. Es war ja auch ganz unmöglich, daß schon ein Brief von Sabine dabei sein konnte.

Er nahm aus seiner Brieftasche, die auf seinem Nachttisch lag, ihr Bild.

Und in der einsamen Stille seines Zimmers stieg helles Rot in seine Stirn. Ihr Zauber wirkte wieder. Schauernd erinnerte er sich der Stunde, da ihr Mund an dem seinen gehangen hatte. Das Verlangen nach ihr rann durch alle seine Nerven.

Er stand auf. Er entschloß sich, schon heute den Kampf aufzunehmen.

Sein Bursche erinnerte ihn daran, daß Sonntag sei. Desto besser. Da konnte er hoffen, Herrn Reinald Deuben daheim zu treffen.

Er freute sich des Sonnenscheins draußen, obschon es der herbe Schein der Herbstsonne war, die sich vergeblich bemühte, die Erde zu erwärmen, die noch fröstelte von all dem Sturm und Regen der letzten Tage.

Er befahl einen Wagen. Er fand es nicht angemessen, zu Pferde anzukommen.

In Mühlau einen Wagen zu erhalten, wenn man ihn nicht einen Tag vorher bestellte, war nicht so einfach. Der Wirt zum „Kronprinzen“ ließ sagen, daß der eine Knecht zur Kirche sei; das Gespann des Hotelomnibus könne er nicht hergeben; der Krümperwagen sei auch schon weg, den hätten Oberamtmanns; wenn Herr von Körlegg bis zwölf Uhr warten wollten, dann könnten Sie den kleinen Jagdwagen mit einem Pferde haben.

Achim fuhr seinem Burschen mehrmals ungeduldig mit Zwischenbemerkungen in seine lange Bestellung hinein. Warum er nicht gleich zum Wirt der „Stadt Berlin“ gegangen sei, der habe doch auch Fuhrwerk. Und er sei und bleibe ein Mensch ohne eigene Initiative!

Dann fiel ihm etwas auf: Oberamtmanns hätten den Krümperwagen? Wozu? Wohin?

„Ist bei Küps schon auf?“ fragte er nach kurzem Besinnen.

„Eben noch nich. Aber nu woll,“ antwortete der Bursche, „es schlug grade Glock Elf, als ich in die Hausthür kam. Und Küps macht immer gleich auf, wenn die Predigt aus ist.“

Achim griff nach seinem Portemonnaie. „Hier, Stören, holen Sie gleich bei Küps alles für mich zum Abendbrot. Und für sich können Sie ein Dutzend Cigarren mitbringen – Sie wissen – von Ihrer Sorte. Und dann lassen Sie sich von Küps erzählen, wohin Oberamtmanns gefahren sind. Fangen Sie das aber ’n bißchen helle an – verstanden?“

„Herr Leutnant können sich ganz auf mir verlassen,“ sagte Stören und trat ab.

Achim verbrachte eine unruhvolle Viertelstunde.

Jede Verzögerung, welche die Ausführung seines Vorsatzes erlitt, schien ihm von übler Vorbedeutung.

Es giebt Ereignisse, die keinen Aufenthalt vertragen, die unaufhaltsam vorwärts stürmen müssen, die in atemloser Jagd zu verfolgen sind. Jedes Besinnen – jedes Stillstehen hemmt vielleicht für immer ihren Vollzug.

Endlich kam der Bursche wieder. „Da war bloß gekochter Schinken, Herr Leutnant,“ sagte er.

„Mensch,“ sprach Achim verzweifelnd, „ich will ja wissen, wohin der Oberamtmann Deuben gefahren ist.“

„Ach – bloß nach Heinersdorf, nach seinen Sohn,“ berichtete Stören, „sie, was die Oberamtmännin ist, auch. Herr Hauptmann von Hallendorf ist auch mitgefahren. Der Herr Leutnant Bläser und noch zwei Herren auch. Da wäre Geburtstag auf Heinersdorf, ich glaube, der Braut ihrer, sagte Küps, und den feiert der Bräutigam mit ’n großen Frühstück. Küps sagt, der Oberamtmann wäre immer nich so recht, er hätt’ es sehr in den Füßen. Darum ist die Festlichkeit nich abends. Abends soll noch auf Wendessen was los sein.“

„Es ist gut, und sagen Sie im ‚Kronprinzen‘, daß ich keinen Wagen brauche.“

[456] Weil Martha Voigtstedts Geburtstag von der Verwandtschaft und Freundschaft gefeiert wurde, konnte er nicht daran denken, lebenentscheidende Fragen zu lösen. Es war zum lachen!

Er kam in eine bittere ärgerliche Stimmung. Jede Stunde schien ihm so unnütz verlebt, die er nun nicht in kämpfender Erregung verbringen durfte.

Zum stillen Warten war sein Gemüt nicht aufgelegt.

Plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß das schlimm, sehr schlimm sei. Ein Gefühl, das fortan doch sein ganzes Leben ausfüllen sollte, war mit so viel Ruhelosigkeit verbunden, daß er immerfort eine Sensation brauchte?!

Nur nicht denken!

Er ging aus. Seine Wohnung, die ihn gestern abend wie ein Asyl umfangen hatte, war ihm unerträglich.

Auf der Straße traf er zwei Kameraden und die Kommandeuse. „Schon zurück aus Lugano?“

Für Mühlau war er in Lugano gewesen.

„Na Sie haben sich wohl himmlisch amüsiert!“

„Was sagen Sie denn, daß Lauenstein sich inzwischen mit Cäcilie von Müller verlobt hat?“

„Sie sind aber braun gebrannt, Körlegg, das steht Ihnen vorzüglich.“

„Gnädige Frau sind zu gütig.“

„Wir wollen heut’ nachmittag noch eine Tennispartie riskieren im Kasinogarten, ’n bißchen kalt ist es ja. Kommen Sie auch?“

„Jedenfalls,“ sagte Achim, „auf Wiedersehen also!“

„Auf Wiedersehen!“

Er kam an das Berliner Thor. Nur keine Bekannten mehr, dachte er.

Ein besonderes Gefühl trieb ihn, nach dem Bürgerpark zu gehen, wo er damals Sabine zum erstenmal wieder gesprochen hatte.

Die dürftige Anlage sah noch kahler aus als im Frühling.

Die um ihr Dasein mühselig im Sande kämpfenden Büsche hatten ihr weniges Laub widerstandslos fast ganz dem ersten Herbstregen preisgeben müssen. Unter den Akaziensträuchern lag es schon gelb von den kleinen Blättchen. Zäher und grün saß das Laub der Syringen an den Büschen. Jetzt schien die Sonne. Oben am blauen Himmel jagten vereinzelte schneeweiße Wolken einher. Hier unten war es fast windstill.

Der weiße Sand war wirklich warm. Man fühlte es angenehm an den Füßen. Die Bank auf dem runden Mittelplatz stand im vollen Sonnenschein.

Achim setzte sich dahin. Gedankenlos sah er zu, wie aus den Schornsteinen der roten, niederen Dächer der Hinterstraße Rauch aufwölkte.

Einmal ging eine Bürgerfamilie an ihm vorbei. Der Vater im Bratenrock und Cylinder, ein Töchterchen an der Hand. Zu beiden Seiten von deren Kindergesichtchen hingen so plump und sonderbar Korallenohrringe. Die Mutter in einem neuen Regenmantel und einem Capothut, auf dem ein steilragendes Schmelzbouquet mit allerlei blinkenden, baumelnden Pailetten stand, hatte an jeder Hand einen Knaben. Sie trugen Marineanzüge und auf ihren Mützenbändern stand zu lesen: S. M. S. Moltke.

Achim lächelte wehmütig. Im Glanz und Stolz ihrer besten Sonntagsgarderobe, in der Ordnung und Sauberkeit ihrer Erscheinung zogen sie vorbei, Befriedigung leuchtete von ihren Gesichtern. Das ganze Glück dieser Leute bestand vielleicht in dem Bewußtsein, gute, bezahlte Kleider ihren Nachbarn und Bekannten vorzuführen.

Der Mann grüßte. Nun erst sah Achim, daß es der Buchbinder war, bei dem er zuweilen arbeiten ließ und sein Schreibpapier kaufte. Er grüßte mit freundschaftlichem Wohlwollen wieder. Ihm war, als müsse er dem Mann zeigen: Du lebst in einfachen, gesunden, glücklichen Verhältnissen. Ich beneide dich. Ich achte dich.

Lange blickte er ihnen nach. So sah er, daß diese Bürgerfamilie eine Begegnung hatte. Sie sprachen mit einem jungen Mädchen und zwei Kindern. Die Buchbinderfrau gab den Kindern die Hand.

Sie waren weiß gekleidet. Das Mädchen trug einen großen Hut mit Rüschen und Volants und ein weißes Jäckchen. Und der Junge einen knappen, weißen, rauhhaarigen Paletot.

So kleidete nur Eine in der Stadt ihre Kinder. – –

Nun lösten sich die Gruppen voneinander. Das Mädchen und die Kinder kamen auf die Anlage zu.

Achim sah ihre Gesichter.

Es waren Leo und Milly. Sabinens Kinder!

Diese Kinder, an die er nicht mehr zu denken gewagt hatte, seit Tagen. – –

Achim blieb auf der Bank sitzen und wartete auf ihr Herannahen. Er fühlte, daß er keine Kraft habe, aufzustehen.

Ich werde mit ihnen sprechen, dachte er.

Sie kamen näher. Mit ihnen war Lisbeth, die an keinem Mann in Uniform vorbeigehen konnte, ohne ihm einen koketten Blick zuzuwerfen.

Wie schön sie waren! Milly mit ihrem weißen Gesicht und übergroßen dunklen Augen sah ihrer Mutter so ähnlich. Es war unerhört, wie ähnlich! Sie schien ein bezauberndes kleines Ebenbild der schönen Frau. Wie lieb ihr Gesichtchen aus dem Rahmen von weißem Stoffgefältel heraussah!

Aber Leo – – hatte Achim ihn früher nie so genau angesehen? Hatte der Knabe sich verändert? Das waren nicht Sabinens Züge, das war ein fremdes Gesicht. Die Züge Eines, den Achim auch gekannt! Das Gesicht Eines, den er tot hatte auf dem Rasen liegen sehen. – – –

„Guten Tag, Kinder,“ sagte er mit Anstrengung, „wollt ihr mir nicht ein Händchen geben? Guten Tag, schönes Fräulein,“ setzte er mit einem Blick auf Lisbeth hinzu.

Nun war Lisbeth überzeugt, daß die Anrede ihr gälte. Wohlgefällig lächelnd blieb sie stehen.

„Gieb doch die Hand, Milly! Leo, man nimmt die Mütze ab. Du siehst doch, daß der Herr ein Offizier ist!“

„Onkel Benno ist auch Leutnant,“ sagte Milly und guckte Achim an.

„Ich kenne deinen Onkel Benno,“ erzählte Achim.

„Nee – so was! Komm, Millychen, gieb’s Händchen,“ mahnte Lisbeth.

Sie schob Milly heran. Das Kind berührte Achims Knie.

Er legte seine Rechte auf die Schulter der Kleinen, beugte sein Haupt und sah tief, tief in die großen, dunklen Kinderaugen, die ihn anstaunten.

Seine Stirn war feucht.

Er wollte das süße, erstaunte Kindergesicht küssen.

Er wagte es nicht. Er konnte es nicht.

Es war, als ob eine Gewalt, die er nicht sah, die er aber mit lähmendem Schreck fühlte, ihn davon abhielt.

Und es war doch Sabinens Kind, es war Sabinens schönes, unergründliches Angesicht. Nur mit dem Rätselzauber der Kinderunschuld übergossen.

„Liebe Milly, süßes Kind,“ flüsterte er. Und er zwang es sich ab und der Trotz in ihm wallte auf. Er wollte!

Seine Lippen berührten die Stirn des Kindes. Mit kurzem, stürmischem Druck zog er das kleine Körperchen an sich.

Da ängstigte Milly sich, riß sich los und klammerte sich an das Kleid des Mädchens.

„Und du, Leo?“ fragte Achim mit bebender Stimme, „willst du mir nicht Guten Tag sagen? Ich habe deine Mama gesehen, sie läßt dich grüßen.“

„Ach Mama!“ sagte der Knabe mit beglücktem Lächeln. „Wo hast du sie gesehen, Herr Leutnant? Bringt sie mir auch wirklich eine Festung und Soldaten mit?“

Er kam heran. Er war ganz zutraulich und neugierig.

Achim hielt ihm die Hand hin. Ohne Zögern legte der Knabe seine kleine, sonnverbrannte Hand in die große des Mannes.

Sie sahen einander an. Die Blicke des Mannes durchforschten das Kindergesicht.

Und unter diesen fragenden, forschenden Blicken wandelte sich ihm das Knabenangesicht.

Es alterte rasch. Es wurde das Antlitz eines Jünglings, eines Mannes. Und es glich zum Entsetzen dem des Toten! Und der Mund lächelte nicht mehr kindlich und neugierig, sondern er sprach furchtbare Worte: „Wie – du hast meinen Vater

[457]

Auf der Gaisalpe.
Nach dem Gemälde von Anton Braith.

[458] erschossen und hast doch meine Mutter geküßt? Und du hast dich in mein Herz gestohlen, als ein Dieb und ein Betrüger? Als meinen Vater hab’ ich dich gekannt und geliebt, und du bist es, der meinen eigenen, wirklichen Vater getötet hat?! Du hast mich, als ich ein unwissendes Kind war, auf deinen Knien gehalten. Mich, dessen Erzeuger deine Kugel traf?! Und du hattest die Stirn, am selben Tisch mit mir dein Brot zu essen! Den Mut, meine Mutter zu lieben! Die Gewissenlosigkeit, uns zu lehren, daß wir dich ehren sollen! Du hast eine Familie mit uns gegründet – du – zwischen dem und uns ein Grab liegt! Ich hätte dir verzeihen können, denn ich weiß, daß du kein Mörder bist und selbst gelitten hast, mehr vielleicht als wir. Aber da du den Platz einnahmst, den sein Tod frei gemacht, den Platz neben meiner Mutter, den in unserm Herzen – dafür muß ich dich hassen, verachten, mich rächen!“

Waren es nur Sekunden, die verrannen? Nur ein paar Herzschläge lang rückte die Zeit? – –

Keuchend, bleich – entsetzt saß der Mann und starrte dem Knaben in das Antlitz.

Und dennoch – dennoch wollte er’s von sich erringen. – –

Er neigte sein Haupt. Seine Lippen näherten sich der Kinderstirne. – –

Da äffte ihn ein Spuk. Und über dem frischen, jungen Knabenangesicht sah er ein anderes, fahles, starres! Und aus hohlen Augen sah ihn Jener an, der durch ihn gefallen. Und eine fürchterliche Stimme donnerte ihn an: „Niemals!“

Er sank zurück, in sich zusammen. Seine Hand machte eine abwehrende Bewegung, dann legte er sie vor seine Augen.

Das Mädchen, erschreckt über dies Gebahren und die plötzliche Todesblässe des Mannes, riß die Kinder fort. Die Kleine schrie.

Lange saß der Mann noch. Hoch über ihm zogen lustig schneeweiße Wolken am blauen Himmel einher. Die Oktobersonne spielte in dem kahlen Gezweig. Lässig trieb ein Lüftchen wirbelnd gelbe Blätter über den Boden. Fern auf einer durchsichtigen Pappelkrone lärmte ein Rabenvolk.

Und als Achim aufstand, da wußte er es: es war zu Ende. Zwischen ihm und Sabine konnte es keine Vereinigung geben!

Der wilde Traum war aus. Er war erwacht, und er sah das Grab wieder, über das hinweg er dem Weibe die Hand nicht reichen durfte. –

Wie er diesen Tag verbrachte, wußte Achim sich später niemals in die Erinnerung zurückzurufen.

Am Abend saß er an seinem Schreibtisch. Auf seiner Stirn lag hoher Ernst, sein Mund war fest geschlossen. Es war das Antlitz eines Mannes, der sich aus heißen Kämpfen zu einem eisernen, unbeugsamen Entschluß emporgerungen.

Er schrieb:

  „Teure Sabine!

Als wir vor einigen Tagen schieden, verließ ich Dich, um die Entscheidung über unser Leben herbeizuführen.

Schneller und anders als ich dachte, ist diese Entscheidung gefallen. Und noch zur rechten Zeit! In allem Schmerz, den ich Dir bereiten muß und den ich selber leide, müssen wir das festhalten: Gottlob noch zur rechten Zeit!

Meine liebe, teure Sabine! Es ist eine Offenbarung über mich gekommen. Das Schicksal hat mir unschuldige, unbefangene Sendboten geschickt, holde Engel, die mich mit großen Augen anstaunten, Deine Kinder, Sabine! Deine eigenen Kinder! Die auch die des Toten sind! Und als ich ihnen in die Augen sah, als ich sie küssen wollte auf ihre reinen, jungen Stirnen, mit dem Kuß des künftigen Vaters, mit der Liebe eines Mannes, der ihrer Mutter Gatte werden soll – da, Sabine – da geschah etwas Furchtbares. Eine Hallucination schreckte mich. Der tote Mann schien sich hinter diesen seinen Kindern aufzurecken und mir den Kuß zu verbieten – mir jede Zugehörigkeit zu verweigern. Laß mich schweigen über das, was in mir vorging!

Aber ich habe erkannt, daß es Dinge giebt, über die auch das kühnste Gefühl nicht hinweg kann und auch nicht hinweg darf. Gewissen kann ich es nicht nennen – denn der Tod Deines Mannes wird mir vor Gott und Menschen nicht als Schuld angerechnet. Moral kann ich es nicht nennen – denn kein sündiges Verlangen war es, was uns zu einander zog. Aber dennoch … ich darf nicht Dein Gatte, nicht Deiner Kinder Vater werden.

Immer würde die Vergangenheit wie ein Gespenst neben uns sein. Und Dein Sohn würde uns richten, wenn er einst ein Mann geworden ist. Wenn Verstandesschlüsse, wenn Leidenschaft Dir und mir auch vielleicht das Recht gäben, uns trotz alledem zu verbinden: Deine Kinder dürfen wir nicht solchen Konflikten aussetzen.

Diese meine Erkenntnis ist unumstößlich!

Teure Sabine, für dies herbe, herbe Schicksal sind wir nicht verantwortlich. Und trotzdem stehe ich vor Dir als Einer, der Dich um Verzeihung anflehen muß. Ich hätte die Kraft und die Selbstüberwindung haben sollen, Dich niemals wiederzusehen, nach jenem ersten Augenblick, der mich ahnen ließ, daß ich Dir teuer bin.

Aus tiefster Seele bereue ich! Mehr kann ich Dir nicht sagen. Es ist ein hartes Wort für einen Mann.

Und in großer Sorge denke ich Deiner! Erscheine ich Dir als allzu schuldig? Vielleicht gar als ein Mutloser? Wirst Du leiden? Nein, nein – leide nicht zu sehr! Besinne Dich. Versuche gleich mir, die Lage nicht allein, sondern auch unser Gefühl mit klarem Blick zu prüfen. Zog uns wirklich eine große, ewige, unsterbliche Liebe zusammen? War es nicht vielleicht nur das wilde Feuer einer Leidenschaft? War es wirklich das Leben selbst? War es nicht vielleicht nur ein Traum von Sonne und Glück, wie ihn jene leicht träumen, die im Schatten stehen?

Man sagt immer, eine wahre Liebe, eine echte, elementare, aus geheimster seelischer Notwendigkeit geborene, die sei so stark, daß sie selbst den Tod überwindet!

Ich zweifle an der meinen, da ich sie scheitern sah. Oder ist das, was zwischen uns steht, so geartet, daß selbst die Kraft einer wahren Liebe daran zerschellen muß?

So sehe ich mich von Fragen und Qual umdrängt. Ich kann sie nicht lösen. Ich muß sie begraben.

Alles, was heiße Wünsche, was tiefe Dankbarkeit, was unauslöschliche Verehrung für Dich von Gott an Frieden und an Glück erflehen kann, ersehne ich für Dich. Denke an Deine Kinder. Lebe für sie!

Und wenn ich es wagen darf, Dich zu bitten, meiner zu gedenken: vergiß nicht ganz den Mann, der sich still und entsagend aus Deinem Leben schleichen muß! Denke seiner ohne Groll.

Ich küsse Deine lieben Hände in Ehrfurcht und Trauer.

Lebewohl.   Achim.“


10.

Es war in Rom und vier Tage später. Sabine stand vor ihrem Spiegel und kämmte ihr Haar.

Im Zimmer war lachendes Licht. Die Sonne kam herein und durchwärmte es und füllte es ganz mit Helligkeit. Das große, weißverhangene Bett stand mitten darin. Auf dem Tisch blühten in einem Glase blasse Herbstrosen. Auf dem Sofa lag ein buntseidener Shawl. Auf der Kommode stand eine große Terracottanachahmung des Sterbenden Fechters vom Kapitol; gestern hatte Onkel Fritz ihn für Sabine gekauft.

Und Sabinens Gesicht leuchtete vor Schönheit und Lebensfreude. Nur aus Gewohnheit stand sie vor dem Spiegel, weil man da beim Haarordnen nun einmal zu stehen pflegt. Sie sah sich gar nicht. Ihre Gedanken waren weit in der Welt draußen, weit über den Alpen. Bei ihm – bei ihm!

Heute kommt ein Brief. Der erste! Sie wußte es ganz genau. Sie hatte sich seine Heimreise, seine ersten Stunden daheim, dann die Postverbindung genau ausgerechnet. Daß er ihr gleich am ersten Abend schreiben würde, war gewiß. Ja, heute kommt ein Brief. Und er kam auch. Susanne brachte ihn.

„Hier ist eine Postkarte von deiner Mama. Den Kindern geht es gut. Und den Geburtstag von Reinalds Braut sollst du nicht vergessen. Natürlich ist der schon vergessen. Der war ja am Sonntag. Deine Mama hätte früher daran erinnern sollen,“ sagte Susanne.

„Sonst nichts?“

„Doch. Ein Brief aus Mühlau,“ sprach Susanne mit gekünstelter Gleichgültigkeit. Sie hatte gesehen: es war ein A. v. K. [459] hinten auf dem Couvert. Aber sie schwiegen über den Namen und den Mann. Seit jenem Abend in Venedig war ein stiller Trotz zwischen ihnen.

„Gieb her. Du weißt recht gut, von wem er kommt.“

„Ja leider!“

Sabine riß ihr den Brief aus der Hand. Der Umschlag flog zur Erde – mit bebenden Fingern – ein seliges Lächeln auf den Lippen, entfaltete sie die Bogen.

Und dann ein Laut – –

„Mein Gott – was ist das? Was hast du?“ rief Susanne und sah der Andern entsetzt zu.

Die stand da, fahl, zitternd, vornübergebeugt, und las und las – – Und dann taumelte sie und Susanne sprang herzu und brachte sie in die Sofaecke. Da saß sie – vor Frost bebend – mit blöden Blicken und murmelte: „Aus – aus – aus.“

„Sabine – liebe, liebe Sabine! Was hast du? Fasse dich doch! Was ist passiert?“

Sie weinte beinahe vor Angst.

„Lies!“ sagte Sabine heiser.

Susanne nahm den Brief aus den kalten Fingern, die ihn mechanisch umklammert hielten. Sie las.

Auch aus ihren Wangen wich die frische Farbe. Weinend kniete sie neben der Unglücklichen nieder.

Sie wußte wohl: da war kein Trost, keine Hilfe, keine Hoffnung! Aber in diesem Augenblick hätte sie ihr die Möglichkeit, doch noch jenes unerreichbare Glück zu erlangen, herbeizaubern mögen. Vom Himmel oder aus der Hölle – nur wiederkommen sollte es.

Wie konnte Sabine noch weiterleben, wenn sie ihn verloren hatte! Sie würde sterben, den Verstand verlieren, sich ein Leid anthun!

In dem Kopfe des jungen Mädchens entstand eine heillose Angst und Verwirrung. Sie umklammerte Sabine, bedeckte ihre Wangen mit Küssen, flehte sie an, sich zu fassen.

„Mein Leben wollte ich ja dafür hingeben, um ihn dir zu erkaufen. Aber es ist ja wahr – es kann ja nicht sein – es wäre gegen Natur und Menschlichkeit gewesen – liebe, süße Sabine – – “

Mit einem Mal fuhr Sabine auf. Sie reckte sich empor. Ihre Augen flammten.

Und dreimal sagte sie es: „Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“

Das letzte Mal klang es wie ein fürchterlicher Schrei.

Susanne entsetzte sich. Sie fürchtete sich vor dem blassen Weib, das da stand, ein dämonisches Licht in den Augen …

Ihr junges Herz wußte noch nicht, was dieser Schrei des Liebeshasses bedeutete.

Sie wußte nicht, daß er vielleicht nichts war als ein Verzweiflungsruf der aufs höchste gesteigerten Liebe; vielleicht nur die blinde Abwehr einer stolzen Seele gegen das Joch einer hoffnungslosen Leidenschaft.

„Sabine!“ rief sie jammernd, „wie kannst du!“

Mit heftigen Schritten ging die andere hin und her, einer gefangenen Tigerin gleich, schnell, lautlos, rastlos, mit funkelnden Augen.

„Denke doch auch an ihn!“ flehte Susanne, „gewiß, er leidet.“

„Er leidet?!“ rief Sabine voll Hohn und blieb stehen. „Hast du nicht gelesen: ‚Zog uns wirklich große, ewige Liebe zusammen? War es nicht bloß Leidenschaft? Nicht bloß ein Traum?‘ – Weißt du, was das heißt? O, ich will es dir sagen! So fragt er, um die schnöde Wahrheit in zarterer Form zu sagen. So fragt er, mich mit hineinbeziehend, weil er nicht sagen kann: ,Ich, ich der Mann, ich habe nur eine flüchtige Leidenschaft für dich empfunden, nur meine Sinne waren entbrannt, nicht mein Herz‘. Und nun ist er erwacht, fern von mir sogleich erwacht! Sein Gefühl war bloß ein Echo. Ein armseliges Echo!“

„Aber das ist doch nicht möglich,“ stotterte Susanne heraus.

„Nicht möglich? Bei einem Manne etwas nicht möglich?“ Sabine lachte laut.

Sie richtete das Haupt voll Hochmut auf und begann von neuem ihre Wanderung.

„Geliebtes Herz,“ sprach Susanne, in dem verzweifelten Wunsch, die Arme zu beruhigen, „ich verstehe ja nicht alles. Verzeih mir, wenn ich dumme Sachen sage. Aber wie kannst du ihn so schmähen und so verachten! Gestern war er dir noch ein Gott. Besinne dich doch! Du sprichst, was dein Herz nicht billigt. Er hat schwere Kämpfe durchgemacht. Er handelt aus tiefster Erkenntnis. Ja, ich muß es sagen: er handelt wie ein Mann, der wohl irren konnte, aber einen Irrtum nicht zur That werden lassen will.“

„Wie ein Mann!“ rief Sabine in bitterem Spott. „Und bereut?! Hast du gelesen: er bereut! Ah, das ist ein feiges Gefühl. Das ist klein. Wie kann man bereuen? Vorher sehe man den Dingen in das Angesicht! Und wenn sie mich mit drohenden Augen wieder anschauen, wenn sie mich in Elend und in Schuld locken – einerlei! Ich habe gewollt! Ich habe gewußt! Ich will es tragen! So denkt ein starker Mensch. So denke ich. Ich war bereit, allem zu trotzen. Der Welt! Und der Erinnerung. Selbst meinem Sohn, wenn er eines Tages mich richten wollte! Und Er! Der Mann – er bereut!“

Susanne schwieg.

Ein ungeheures Schauspiel that sich vor ihr auf. Sie sah in das Elend und in die Geheimnisse der Leidenschaft hinein. Und ihre Seele erzitterte.

Sie fühlte, daß ihre junge Weisheit hier nicht ausreichte, zu trösten und zu raten.

Und immer ging Sabine noch rastlos hin und her, königlichen Stolz in der Haltung, Todesblässe auf den Wangen. Ein beleidigtes Weib, das sich aufbäumte, im Gefühl der Riesengröße seiner Liebe verachtend auf den herabsah, der sich nicht an dieser Liebe ebenbürtig aufzurecken vermocht hatte.

Das leise Weinen Susannens drang an ihr Ohr. Sie blieb stehen.

„Warum weinst du?“ fragte sie herbe, „du hast ihn nicht verloren. Du ihn nicht geliebt!“

„Oh!“ sagte Susanne abwehrend und erhob ihre Hände wie zum Schutze gegen etwas, das ihr körperlich gefahrbringend nahte.

Plötzlich stand die Andere dicht vor ihr.

„Was war das für ein Ton?“ herrschte sie die Zitternde an, „du liebst ihn? Deine Miene sagt es. Du liebst ihn. Ja, du liebst ihn!“

Susanne trat einen Schritt zurück und versteckte ihr Gesicht in den Händen.

„Nicht so etwas sagen – nicht – nicht,“ rief sie angstvoll.

Sabine wandte sich ab. Ach, das war ja auch so gleichgültig! Ob das Kind ihn liebte oder nicht – – was wußte das von Liebe? – – Nach zwei Minuten hatte sie es schon vergessen, daß ihr überhaupt der Verdacht gekommen war.

Brütend saß sie am Fenster. Die lachende Sonne kam herein und glühte über das dunkle Haar hin. Lärm und Fröhlichkeit war draußen auf der Straße. Der blaue Himmel lockte – und es war der Himmel Roms. Aber Sabine sah nichts und hörte nichts. Plötzlich war alles Leben in ihr wie erloschen, aller Haß verglüht, aller Hohn verdorrt. Die Flamme der rasenden Schmerzensleidenschaft war in sich zusammengesunken.

Nur das unaussprechliche Elend war geblieben. Das dumpfe, ungläubige Staunen: es kann ja nicht sein.

Und wieder bat Susanne: „Faß dich!“

Aus hohlen Augen sah die Andere zerstreut zu ihr auf.

Sie solle doch bedenken … was der alte liebe Onkel Fritz sagen werde … wie es doch nötig sei, sich zu beherrschen, sich wenigstens Mühe zu geben, des lieben Alten wegen ….

Sabine sah sie an und schien nichts zu verstehen. Und wie Susanne immer weiter und immer dringlicher sprach, schien sie doch zuletzt zu erwachen.

Mit einer tonlosen, müden Stimme sagte sie:

„Geh’ zu ihm. Sag’, ich sei krank. Sag’, ich müsse allein sein. Heute. Immer. Mein ganzes Leben. Allein … allein.“

Schwer sank ihr Haupt, und sie verbarg es auf ihren verschränkten Armen am Fenster.

(Fortsetzung folgt.)




[460]

Deutsche Städtebilder.

Konstanz.
Von K. von Arx.

Das Schnetzthor.
Photographie im Verlag von W. Mecks Buchhandlung in Konstanz.

Keine der deutschen Städte hat eine so eigenartige Lage wie Konstanz. Auf drei Seiten von schweizerischem Gebiet umschlossen, durch den Rheinstrom vom Mutterland abgetrennt und mit diesem äußerlich nur durch die stolze Rheinbrücke zusammenhängend, bildet es ein vorgeschobenes deutsches Vorwerk an der äußersten Grenze des Reiches. Die rings um die Stadt gruppierten Schweizerorte sind die Vorstädte von Konstanz, und mit dem einen, mit Kreuzlingen, ist es so eng verwachsen, daß ohne die Grenzpfähle schwer zu sagen wäre, wo Deutschland aufhört und die Schweiz beginnt.

Diese Eigenartigkeit der Lage bringt es mit sich, daß in der weiten Welt über die politische Zugehörigkeit von Konstanz gar viele im Ungewissen sind und auf dem Reichspostamt zu Konstanz nicht nur etwa ab und zu, sondern täglich Briefe aus aller Herren Ländern mit dem Leitvermerk „Konstanz, Schweiz“, „Constance, Suisse“, oder „Constance in Switzerland“ einlaufen.

Es kann nicht überraschen, daß die Stadt mit ihren Interessen von jeher wesentlich auf die Schweiz angewiesen war, und wenn es auch heute nicht mehr zutrifft, „daß die Bürger von Kostnitz ihren besten Genuß und Einkommen im Lande der Eidgenossen haben“, wie der Konstanzer Stadtschreiber Jörg Vögeli im Zeitalter der Reformation bekennt, so neigen beim Mangel eines dichtbevölkerten deutschen Hinterlandes auch jetzt noch die gewerblichen und Handelsinteressen sehr stark nach der Schweiz. Noch giebt es der gegenseitigen Beziehungen die Fülle, Verkehr und Freundschaft hin und her, Handel und Wandel hüben und drüben, und heute noch ist Konstanz in materieller und namentlich auch in geistiger Beziehung der Mittelpunkt, „die Stadt“, für einen Teil der östlichen Schweiz. Ehemals Freie Reichsstadt, wurde Konstanz um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts Oesterreich unterworfen, und erst seit 1806 gehört es zum Großherzogtum Baden. In allem Wandel der Zeiten ist Konstanz eine gut deutschgesinnte Stadt geblieben und läßt sich von keiner an Reichstreue übertreffen.

Fast mehr noch als politisch ist die Eigenartigkeit der Lage von Konstanz geographisch bemerkenswert und bedeutsam. Inmitten mächtiger Wasserreviere erfreut sich die Stadt am See und Rhein einer hydrographisch so fein gegliederten Umgebung wie keine zweite deutsche Binnenstadt und verdankt dem See und den nahen Alpen eine Gleichmäßigkeit und Ausgeglichenheit der Temperatur, als wäre sie am Ocean selber gelegen. Dabei ist Konstanz ein wahres Schatzkästlein alter Kunst und geschichtlicher Erinnerungen, wo noch so vieles die gemütliche Sprache längst vergangener Zeiten redet. Mittelalterliche Türme und Thore, malerische Architektur- und Straßenbilder wechseln ab mit Kirchen und Kapellen und alten Patrizierhäusern, die ihre eigene Geschichte haben und von bürgerlichem Behagen, alter Wehrhaftigkeit und Frömmigkeit erzählen.

Wie stimmungsvoll reckt nicht gleich am Landungsplatz der Bodenseedampfer das massige Kaufhaus sein altersgraues Haupt in die Höhe! Einsam ragt es empor und hat nichts gemein mit der prosaischen Gegenwart; es träumt von alter Bürgerherrlichkeit, da die Konstanzer Linnen Weltruf genossen und als „tela di Costanza“ auf den italienischen Märkten die begehrtesten waren. Es träumt weit zurück in die Zeiten des großen Konzils, da der neugewählte Papst Martin V auf weißem Zelter, vom Kaiser und von Herzog Ludwig von Heidelberg zu Fuß geführt, thronend über der weltlichen Macht, im Triumphzug vom „Konziliumssaal“ aus die Gassen der Stadt durchzog. Heute ist die weite Halle für große Festversammlungen und Ausstellungen eingerichtet und übt mit den schönen historischen Fresken, die Bilder aus dem Kulturleben und der Geschichte des alten und neuen Konstanz vorführen, auf Einheimische und Fremde ungeschwächte Anziehungskraft aus.

Mitten in der Stadt ist ein gar malerischer Platz, der Obere Markt, flankiert von historisch denkwürdigen Häusern, zum Teil mit hübschen Renaissancegiebeln. Unser Bild (s. S. 464 und 465) zeigt rechts das Haus „Zum Barbarossa“, curia paceis – Friedenshof, mit den Räumen, wo Kaiser Friedrich I 1183 den Frieden mit den lombardischen Städten schloß. Rechts daneben steht, auf dem Bilde nicht mehr sichtbar, das Haus „Zum hohen Hafen“, und Kaiser Wilhelm I, der die Stadt während seines öfteren Aufenthaltes auf der nahen Insel Mainau wiederholt besuchte, mag wohl gedankenvollen Blickes zu diesem Haus aufgeschaut haben, vor dem sein Ahnherr, Friedrich IV, Burggraf von Nürnberg, zur Konzilszeit am 18. April 1417, vom Kaiser Sigismund die Brandenburger Mark zu Lehen erhielt. – Schon in den ältesten Zeiten war der „Obermarkt“ die Malstätte, öffentliche Gerichtsstätte, und der Sammelplatz von Obrigkeit und Bürgerschaft bei „Geschellen und Gelöffen“. – Nur wenige Schritte davon fesselt jedermanns Aufmerksamkeit das Rathaus mit der Stadtkanzlei, ein schöner Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert. Die zweigiebelige, maßvoll profilierte Fassade, die romanischen Bogenfenster, die schönen Renaissanceornamente und das prächtige schmiedeeiserne Portalgitter würden auch ohne den reichen neueren, von Ferdinand Wagner aus Augsburg herrührenden Freskenschmuck immer eine interessante Sehenswürdigkeit bleiben. Die unteren Fresken stellen vier Hauptbegebnisse der Geschichte von Konstanz dar, den Lombardischen Friedensschluß durch Barbarossa, den Einzug Kaiser Friedrichs II 1212, die Belehnung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg mit der Mark Brandenburg durch Kaiser Sigismund, den Kampf der Konstanzer gegen spanische Truppen 1548. Darüber finden sich die Bildnisse berühmter Konstanzer, darunter das des edlen Patrioten J. H. von Wessenberg. Noch mehr aber fesselt der Rathaushof, mit seinen Türmen und Wendeltreppen und schöner Gartenzier ein Schmuckkästchen der Renaissance, dessen Bild Künstler mit Vorliebe in ihren Skizzenbüchern festhalten.

Malerische Zeugen des alten Konstanz sind noch einige Türme und Thore; so der von Pappeln und Weiden umstandene Rheinthorturm, der alte Wächter der Stadt am Rheinstrom; dann das als Ueberbleibsel der alten Stadtbefestigung noch wohlerhaltene Schnetzthor (vgl. die Anfangsvignette) mit Zwinger, ein charakteristisches Bild aus dem Ende des 13. Jahrhunderts.

Ein reizender Anblick harmonischer Verschmelzung des Alten mit dem Modernen ist die alte Konstanzer Insel mit ihrem schattigen, seeumspülten Gartenpark, dessen Reize einstens schon Kaiser Maximilian I während seiner Anwesenheit beim Reichstag 1507 so sehr zu schätzen wußte, daß er sich von der bischöflichen Pfalz, wo er wohnte, einen eigenen Gang nach der Insel bauen ließ. Die Räume des hier im Jahre 1236 errichteten Dominikanerklosters sind heute in ein modernes Hotel, das Inselhotel, umgestaltet. Ungemein stimmungsvoll ist der von Prof. Carl Haeberlins Meisterhand mit Fresken aus der hochinteressanten und bewegten Inselgeschichte geschmückte Kreuzgang, der mit seinen zierlichen Doppelsäulchen, den epheuumrankten Fenstern und dem Rundbogenfries einen stillen Blumengarten umschließt. Innerhalb [461] dieser klösterlich feierlichen Umgebung versetzt uns die Phantasie unwillkürlich in vergangene Zeiten. Wir sehen die alten Mönchsgestalten wandeln, düstere Ascetiker, gedankenvolle Mystiker, wie jenen berühmten Amandus Suso, den eine der Fresken zeigt; Philosophen und Künstler, Büchergelehrte und praktische Leute, und wir hören sie Gebete murmeln, disputieren und memorieren; wir brauchen nur das Klostergespräch auf dem Bilde an der Wand zu betrachten und wir sind mitten unter ihnen. Vergangene Zeiten! Eine elektrische Klingel schrillt durch die Luft, ein junges Ehepaar kichert vor einem der Bilder, ein bädekerlesender Sohn Albions versperrt uns den Weg. Vom nahen Stadtgarten her fallen die Klänge eines kräftigen deutschen Armeemarsches ein, denn Konstanz ist auch Garnisonsstadt.

Der vornehmste und älteste Zeuge der vielbewegten Konstanzer Geschichte ist das Münster, ein majestätischer Bau aus dem elften Jahrhundert, neben den Kirchen der Insel Reichenau eines der ältesten kirchlichen Bauwerke am Oberrhein. Einst, in den Jahren des großen Konzils, 1414–1418, waren die Blicke der gesamten Christenheit auf Konstanz und seinen Dom gerichtet. Wie man Worms, Speyer, Augsburg stets nennt, wenn man der Reformation gedenkt, so wird Konstanz in der Entwicklungsgeschichte der gewaltigen kirchlichen Bewegung des fünfzehnten Jahrhunderts dauernd seinen Platz behaupten, mag man auch über den Verlauf des weltberühmten Konzils verschiedener Meinung sein. Die Konstanzer waren eben Kinder ihrer Zeit, als sie am 6. Juli 1415 in hellen Haufen aus der Stadt hinausströmten auf den Brül, den Prager Magister und Agitator Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen sterben zu sehen. Heute steht auf der Stelle, etwa 10 Minuten von der Stadt, ein Denkmal, der „Husenstein“, ein mit Inschriften versehener Felsblock. Hundert Jahre nach Husens Tod, als die Reformation auch in Konstanz Wurzel geschlagen hatte, ließen die Konstanzer Bischof und Domkapitel ziehen, ohne ihnen eine Thräne nachzuweinen. 1548 kämpften sie tapfer für den evangelischen Glauben wider die spanisch-kaiserlichen Truppen, im Dreißigjährigen Kriege dagegen waren sie wieder beim alten Glauben und verteidigten diesen gegen die Schweden. Auf alle diese Sturmes- und Glanzeszeiten hat der altehrwürdige Dom herabgesehen, sie alle überdauernd.

Das Rathaus.
Nach einer photographischen Aufnahme von Hofphotograph G. Wolf in Konstanz.

Den Herz und Sinn ergreifenden Eindruck wie der Kölner Dom macht nun freilich das Konstanzer Münster nicht; es hat auch nicht die ruhige, geschlossene Schönheit und Kraft, die über das Ulmer Münster ausgegossen ist. Allein die edle Gliederung des Ganzen, der mächtige Eindruck des Mittelschiffs, der reiche bildnerische Schmuck im Innern, das ein Kleinodienschrein alter und neuerer Kunst ist, nehmen doch wieder so gefangen, daß die Bewunderung alle kritischen Bedenken unterdrückt, und sinnend hängt der Blick an dem Schmuck der Altäre, an neu restaurierten Kapellen, Glasmalereien und Wandgemälden. Oberbaurat Friedr. Schmidt, der Vollender des Wiener Stephansturmes, spricht sich über die Gesamtanlage des Bauwerkes folgendermaßen aus: „An dem herrlichen Münster zu Konstanz hat jede Kunstepoche vom 12. bis 19. Jahrhundert bedeutsame Spuren ihrer Thätigkeit zurückgelassen; trotzdem macht das Innere einen harmonischen Eindruck; denn die Meister des Spitzbogenstils waren darauf bedacht, die harmonische Gestaltung des Innenraumes zu bewahren, und die Meister der Hochrenaissance beschränkten sich darauf, Altäre, Epitaphien etc. einzufügen.“ Die schon seit lange in Aussiebt genommene Gesamtrestauration des Innern wird den ohnehin schon bedeutenden monumentalen Eindruck des herrlichen Konstanzer Doms noch wesentlich erhöhen. – Neben dem geschichtlichen Panorama der Konstanzer Vergangenheit, wie es in den Fresken des Konziliumssaales im Kaufhaus und denen im Kreuzgang des Inselhotels geboten wird, besitzt die Stadt noch eine Schöpfung eigener Art im Rosgartenmuseum, die sie der Opferwilligkeit der Bürger, vor allem aber dem geradezu idealen Sammeleifer des hochverdienten Stadtrates Ludwig Leiner verdankt. Was immer für die Entwicklung der Stadt und der Bodenseegegend in natur- und kulturhistorischer, sowie in geschichtlicher Beziehung von Interesse sein kann, ist hier zu einer Sammlung vereinigt, wie nur ganz wenige Städte eine solche in gleicher Reichhaltigkeit aufweisen. Der Rosgarten besitzt auch die berühmte Konzilschronik des Ulrich von Richenthal, und wer jene bewegte Zeit in lebhaften [462] Farben an sich vorüberziehen lassen will, vertiefe sich in das auch in photographischer Reproduktion zu jedermanns Einsicht aufgelegte altertümliche Buch.

Das Inselhotel.
Nach einer Photographie im Verlag von E. Ackermanns Buchhandlung in Konstanz.

Als Standquartier für vergnügliche Ausflüge zu Wasser und zu Land, mit Kahn oder Dampfer, ist Konstanz vermöge seiner Lage geradezu unvergleichlich. In fast unmittelbarer Nähe ist der liebliche Untersee mit der Insel Reichenau, den malerischen, burgen- und schlössergekrönten Uferhöhen, den vielen kleinen Städtchen und Sommerfrischen bis hinunter an den Rheinfall. Bequem rudert sich’s hinaus in die liebliche Waldumgebung der Stadt nach „Waldhaus Jacob“ und nach dem Fischerdörfchen Staad am Ueberlingersee. Hier winkt vom jenseitigen Bodenseeufer herüber das weißschimmernde Meersburg, trotzig auf stolzer Felsenhöhe, an ein Rivierabild gemahnend. Hier wohnte auf hohem Schloß von 1840 bis 1848 Annette von Droste-Hülshoff bei ihren Verwandten.

Die Perle der vielen Ausflugsziele ist aber das Inselidyll der lieblichen „Maienowe,“ die allzeit zugängliche Sommerresidenz des badischen Landesfürsten, die Insel Mainau. Wer diese Stätte des Friedens kennt, mit dem schönen Schloß und den herrlichen Park- und Gartenanlagen, wo Orangen und Citronen, Palmen und Cedern im Freien üppig gedeihen, und wer von hier aus See und Alpen durch Lorbeer und Cypressen geschaut, den wird es immer wieder dorthin ziehen.




Die Heilbarkeit der Trunksucht.
Von Dr. med. Hugo Hoppe.


Neben der Lungenschwindsucht ist der chronische Alkoholismus oder die Trunksucht die weitest verbreitete und folgenschwerste Krankheit unseres Jahrhunderts, eine furchtbare Geißel für die Menschen, nicht nur vom hygieinischen Standpunkte, sondern auch in volkswirtschaftlicher Beziehung.

In den Heilanstalten Preußens wurden von 1886 bis 1895 jährlich 10 497 Personen (von denen Frauen nur 6% bildeten) an chronischem Alkoholismus und Säuferwahnsinn behandelt, dabei sind die Irrenanstalten nicht berücksichtigt. Allein an Säuferwahnsinn starben in den allgemeinen Krankenhäusern Preußens in dem Jahrzehnt 1877 bis 1887 jährlich im Durchschnitt 1247 Personen (1132 Männer, 115 Frauen), in den preußischen Irrenanstalten etwa 100 Personen. An Selbstmord infolge von Trunksucht sind in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich 540, an akutester Alkoholvergiftung und tödlichen Unfällen infolge von Trunksucht etwa 400 Personen zu Grunde gegangen. Also im Königreich Preußen sterben jährlich mindestens 2300 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Trunksucht. Dazu kommen aber noch die unzähligen statistisch gar nicht genau festzustellenden Todesfälle durch Organerkrankungen, wie Herz-, Nieren-, Leber-, Hirnleiden, welche durch chronischen Alkoholmißbrauch hervorgerufen werden und einen großen Teil unserer Männer in der Blüte der Jahre dahinraffen.

Man hat berechnet, daß in Deutschland im Jahre ungefähr 500 000 Männer dem Alkohol zum Opfer fallen. Aehnlich oder noch viel schlimmer liegen die Verhältnisse in anderen europäischen Ländern. Die bisher mitgeteilten Zahlen geben schon einen gewissen Begriff von der Verbreitung der Trunksucht und ihren furchtbaren Folgen. Dazu kommt weiter noch das große Heer von Geisteskranken, von Verbrechern und von Bettlern, welche wir der Trunksucht verdanken.[1]

[463] Wie groß mag nun die Zahl aller Trunkenbolde in Deutschland sein? Auch darüber stehen uns Daten zu Gebote, welche uns wenigstens erlauben, diese Zahl annähernd zu schätzen. Im Jahre 1877 wurden in der Rheinprovinz nach einer Umfrage der Regierung 7138 Trunkenbolde ermittelt (wobei aber eine Reihe von großen Städten mit zusammen beinahe 1 Million Einwohner fehlt); in Westfalen zählte man 3928 notorische Trinker. In Berlin gab es im Jahre 1885 9300 Trunkenbolde und in Ost- und Westpreußen im Jahre 1890 20 000. Danach würde die Zahl der von Trunksucht Befallenen in ganz Deutschland über 300 000 betragen (in England schätzt man die Zahl derselben auf 500 000). Doch sind in dieser Zahl fast ausschließlich die notorischen Branntweintrinker berücksichtigt, während die den bemittelteren Ständen angehörigen Gewohnheitstrinker, welche sich mit Bier oder Wein zu berauschen pflegen, meist außer Beobachtung stehen und daher zum großen Teil außer Rechnung fallen. Einen gewissen Schluß aber auf die Zahl derselben kann man z. B. aus folgender Thatsache ziehen: einer der Fabrikanten für Geheimmittel gegen die Trunksucht, Reinhold Retzlaff in Dresden, hat, wie der Nachweis der Bücher bei einer gerichtlichen Untersuchung ergeben hat, in einem Jahre nicht weniger als 300 000 Mark für Enzianpulver eingenommen. Wenn er von jedem Nachsuchenden durchschnittlich sogar 10 Mark Bezahlung für das Medikament genommen hat, so ergeben sich allein in diesem einen Jahre 30 000 Gewohnheitstrinker, welche sich an ihn wandten und wohl zu einem nicht geringen Teil den zahlungsfähigeren Kreisen angehörten, wenn auch sicher so manche arme Frau ihr letztes Scherflein zum Geheimmittelfabrikanten trägt, um den Ruin aufzuhalten, welchem die Familie durch die Trunksucht des Mannes entgegengeführt wird. Wie viel solcher Geheimmittelfabrikanten aber mag es wohl in Deutschland geben? Man bekommt einen ungefähren Begriff davon, wenn man die Annoncenteile unserer Tageszeitungen und Wochenschriften durchmustert und die zahlreichen Anpreisungen von „unfehlbaren“ Mitteln gegen die Trunksucht liest, von Heilung derselben „mit oder ohne Vorwissen“ des Trinkers.

In einer dieser Annoncen, welche regelmäßig in einer populären naturwissenschaftlichen Wochenschrift erscheint, heißt es:
„Für Rettung von Trunksucht
versendet Anweisung nach 22jähriger approbierter Methode zur sofortigen radikalen Beseitigung, mit, auch ohne Vorwissen zu vollziehen, keine Berufsstörung. Briefen sind 50 Pf. in Briefmarken beizufügen.“

Für jeden Einsichtigen wird es ja klar sein, daß derartige Annoncen auf die Dummen spekulieren, welche bekanntlich nicht alle werden, oder auf die Verzweifelten berechnet sind, welche sich an einen Strohhalm klammern. Nicht, daß ein Mittel gegen die Trunksucht nicht existierte, es giebt ein solches, wie wir gleich sehen werden, nur besteht es nicht in irgend einem Medikament.

Die Geheimmittel gegen die Trunksucht sind entweder ziemlich indifferente chemische oder pflanzliche Stoffe, wie das Enzianpulver des oben erwähnten Retzlaff (ein Bittermittel, welches etwas auf den Appetit wirkt), oder sie haben die Eigenschaft, Ekel (resp. Brechen) zu erregen, wodurch dem Trinker der Alkohol gleichsam verekelt werden soll (Ekelkuren).

Solche Heilmethoden beruhen auf einer Vorstellung, deren Hinfälligkeit sich bei einigem Ueberlegen von selbst ergiebt. Denn wie sollte es wohl ein Medikament geben, welches die Natur eines Menschen so tief veränderte, daß derselbe von nun an einen dauernden Abscheu vor einer ganz bestimmten Substanz empfinden sollte?

Ueberhaupt, wer da glaubt oder verspricht, daß irgend ein Medikament die Trunksucht heilen soll, hat von dem Wesen der Trunksucht keine Ahnung. Er stellt sich die Trunksucht etwa als einen Fremdkörper vor, als einen bösen Geist oder als einen Krankheitsstoff, welcher in den Körper hineingefahren ist und nun durch das Medikament, mit welchem sich der Krankheitsstoff nicht verträgt, hinausgetrieben werden soll.

Es wäre dies allerdings sehr bequem: man nimmt täglich so und so viel Eßlöffel von der Medizin oder so und so viel Pulver „mit oder ohne Vorwissen“, und man ist nach einiger Zeit „mit oder wider Willen“ von der fatalen „Leidenschaft“ befreit. Kann es etwas Einfacheres geben, und kann man sich wundern, daß Tausende und aber Tausende ihr Geld zum Geheimmittelfabrikanten tragen, der sie von der Trunksucht zu befreien verspricht, ohne daß sie dabei etwas anderes zu thun brauchen, als täglich einige Pulver oder Mixturen zu schlucken? So einfach aber ist die Sache denn doch nicht.

Was das Wesen der Trunksucht betrifft, so muß vor allem festgehalten werden, daß die Trunksucht im allgemeinen keine böse Gewohnheit, kein Laster ist, wie noch vielfach geglaubt wird, sondern eine Krankheit, die, wie gerade neuere Untersuchungen gezeigt haben, meistens auf angeborener Anlage beruht, wenn auch dieselbe während des Lebens durch allmähliche Gewöhnung an das Gift erworben werden kann. Die Trunkenbolde sind gewöhnlich erblich belastete Individuen, sei es, daß Trunksucht oder Geistesstörungen oder schwere Nervenkrankheiten in der Familie das belastende Moment bilden. Professor Kräpelin in Heidelberg hat bei 3/4 der Trinker, die er in den letzten Jahren beobachtet hat, erbliche Belastung feststellen können; bei der Hälfte derselben war der Vater Trinker gewesen. Dr. Schmitz (Bonn) fand bei 90% seiner Patienten erbliche Belastung, die in 75% der Fälle durch Trunksucht der Eltern (meist des Vaters) oder der Voreltern entstanden ist.

Es handelt sich bei diesen erblich Belasteten um nervöse, minderwertige, geistig oder moralisch defekte, willensschwache Naturen, welche, sowie sie den Alkohol kennengelernt haben, nicht mehr von demselben lassen können, bald kein Maß mehr finden, zu immer größeren Excessen vorschreiten und mehr oder weniger schnell von Stufe zu Stufe sinken. Der regelmäßige Alkoholmißbrauch ruft, wenn er einen geeigneten Boden findet, sehr schnell, langsamer aber, wenn er denselben erst schaffen muß, eine bleibende krankhafte Veränderung des Nervensystems hervor, welche sich vor allem in einem unwiderstehlichen Trieb nach dem Gifte äußert.

Die zeitliche Entbehrung des gewohnten Giftes versetzt den Alkoholisten in einen unbehaglichen und leistuugsunfähigen Zustand, ähnlich wie den Morphinisten die Entbehrung des Morphiums, welche allerdings weit qualvoller ist. Dazu kommt noch, daß bei gewohnheitsmäßigem Alkoholmißbrauch die Energie und die moralische Widerstandskraft, wie der Charakter überhaupt, sehr geschwächt wird, so daß die Trinker den zahlreichen Versuchungen, welche ihnen in Gestalt guter Freunde, fideler Zechgenossen und lockender Trinkhallen auf allen Schritten begegnen. nur zu leicht erliegen. „Die durch das Gift geschwächte Energie gestattet keinen selbständigen Entschluß, kein Aufraffen aus dem gewohnten Schlendrian.“ So schmiedet sich das Gift selbst die Ketten, um seine Opfer in Fesseln zu schlagen, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint.

Zum Trost sei es allen Alkoholisten wiederholt: es giebt ein Mittel, welches aus dieser Sklaverei befreit, allerdings nur ein einziges, und dieses heißt: völliger und dauernder Verzicht auf alle alkoholischen Getränke.

Der Vorsatz der Mäßigkeit hat noch keinen Trinker geheilt, da das erste Glas die besten Vorsätze erschüttert und über den Haufen wirft. Es handelt sich also darum, das erste Glas, den ersten Schluck zu vermeiden. Wie aber soll das möglich sein in unserer alkoholfreudigen Gesellschaft, da an allen Orten und bei jeder Gelegenheit alkoholische Getränke genossen werden und ein solcher Trinkzwang herrscht, daß jeder, der sich von den Trinkgewohnheiten ausschließt, als Schwächling oder Sonderling verhöhnt wird?!

Es ist deshalb von dem bekannten (kürzlich verstorbenen) Irrenarzte Dr. Kahlbaum in Görlitz vor einigen Jahren in allem Ernste der Vorschlag gemacht worden, die Trinker zusammen auf einer einsamen Insel anzusiedeln, von welcher alle alkoholischen Getränke ausgeschlossen werden könnten. Offenbar wäre dies das einfachste und sicherste Verfahren, wenn – der Vorschlag nur ausführbar wäre. Wenn man sich aber nicht Utopien hingiebt, sondern mit gegebenen Verhältnissen rechnet, so bleibt nur ein Weg zur Heilung der Trunksucht übrig, das ist die zeitweilige Unterbringung des Kranken in einer Trinkerheilanstalt. Hier soll der Alkoholkranke an die völlige Enthaltung von alkoholischen Getränken gewöhnt werden, während andrerseits durch eine zweckentsprechende Behandlung die körperlichen Kräfte gehoben, das

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Ansichten von Konstanz.
Nach photographischen Aufnahmen im Verlag von Hofphotograph G. Wolf und E. Ackermanns Buchhandlung in Konstanz.

[465] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [466] zerrüttete Nervensystem regeneriert, die Energie und die Widerstandskraft belebt und gefestigt werden sollen.

Amerika gebührt das Verdienst, die Einrichtung von Trinkerheilanstalten zuerst angeregt zu haben, und zwar war es ein Arzt, Dr. Benjamin Rush, welcher im Jahre 1809 die Ansicht aussprach, daß Trinker Kranke seien, die zu ihrer Heilung besonderer Anstalten bedürften. Doch dauerte es noch beinahe 50 Jahre, ehe in Boston, im Jahre 1857, die erste (staatliche) Trinkerheilanstalt eröffnet wurde. Seitdem sind in den verschiedenen Staaten Nordamerikas etwa 50 Trinkerasyle entstanden, die meisten allerdings von privater Seite.

Auch die englischen Trinkerasyle, von denen das erste 1852 gegründet wurde, sind alle Privatanstalten. In Frankreich und Oesterreich ist man in den allerletzten Jahren mit der Gründung von öffentlichen Trinkerheilanstalten vorgegangen.

Die deutschen Trinkerheilanstalten, welche fast ausschließlich Wohlthätigkeitsanstalten und von Geistlichen oder religiösen Genossenschaften gegründet und geleitet sind, datieren weiter zurück. Die älteste und bedeutendste ist Lintorf am Rhein. Sie ist überhaupt das älteste aller Trinkerasyle. Sie wurde im Jahre 1851 durch das Diakonissenhaus in Duisburg gegründet, zunächst allerdings nicht nur für Trinker, sondern als Rettungshaus für gesunkene und verkommene Individuen, welchen letzteren später nach trüber Erfahrung die Pforten verschlossen wurden. Die Anstalt enthält 25 Plätze, der Pensionspreis beträgt 150 bis 450 Mark jährlich. Im Jahre 1879 kam dazu das Haus Siloah für Trinker der besseren Stände, auch mit 25 Plätzen (Pensionspreis 1500 und 1800 Mark jährlich). Die übrigen Asyle sind alle erst nach 1880 gegründet, und zwar 1882 Sophienhof bei Tessin in Mecklenburg von Pastor Neuck und Freiherrn v. d. Oertzen mit 12 Plätzen (150 Mark jährliche Vergütung), 1886 Niederleipa bei Jauer in Schlesien mit 21 Plätzen (250 bis 400 Mark jährlich), 1887 Salem in Holstein vom Landesverein für innere Mission mit 25 Plätzen (3 Klassen: 250, 500 und 750 Mark), 1888 Friedrichshütte, Wilhelmshütte und Eichhof bei Bielefeld von Pastor v. Bodelschwingh (1 bis 1,50 Mark für den Tag, in Eichhof für wohlhabende Kranke 1700 Mark jährlich und darüber), im Jahre 1889 Klein-Drenzig bei Guben vom Provinzialverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (600 Mark jährlich), 1892 Stenz bei Königsbrück im Königreich Sachsen (400 Mark jährlich), Sagorsch bei Rahmel, Westpreußen (3 Klassen: 350, 500 und 1000 Mark) und Karlshof bei Rastenburg in Ostpreußen, 1893 Brückenhof bei Frankfurt a. M., schließlich ganz neuerdings (1898) der Oejendorfer Hof bei Schiffbek, das einzige öffentliche Asyl, das unter ärztlicher Aufsicht steht (Dr. Nonne in Hamburg), und das am 1. Dezember 1898 eröffnete „Pommersche Trinkererrettungshaus“ in Elisenhof bei Pollnow (300 bis 500 Mark jährlich). In Aussicht genommen und bereits beschlossen ist die Errichtung einer öffentlichen Berliner Trinkerheilanstalt für 50 Kranke von dem Berliner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke auf einem 150 Morgen großen Grundstück bei Fürstenwalde (Kostenanschlag 140 000 Mark) und die Errichtung einer katholischen Trinkerheilanstalt bei Werden im Landkreise Essen durch den Kamillianerorden, während der Dresdner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke die Errichtung einer öffentlichen Heilstätte für Trunksüchtige aller Stände in Dresden plant.

Neben diesen im gewissen Sinne öffentlichen Asylen giebt es noch mehrere nur für die wohlhabenden Stände bestimmte und von Aerzten geleitete Privatanstalten: die älteste ist die von Dr. Schmitz in Bonn, dann folgen die von Dr. Römer in Elsterberg bei Zwickau (Kgr. Sachsen), von Dr. Smith zu Schloß Marbach am Bodensee, von Dr. Fürer in Rockenau bei Eberbach in Baden, von Dr. Colla zu Finkenwalde bei Stettin (Sanatorium Buchheide) und von Dr. Silberstein in Hamburg (Sanatorium Barmbeck). Dazu kommen schließlich noch einige neuerdings gegründete Kurpensionen, die des Rittergutsbesitzers Smith auf Neudorf am Schallsee in Lauenburg, die Pension für Alkoholkranke zu Barghorst bei Ahrensbök im Amte Eutin (Fürstentum Lübeck) und Villa Margaretha in Nesse bei Loxstedt (Hannover), letztere beide unter ärztlicher Leitung. Alle diese Asyle sind nur für Männer bestimmt. Trunksüchtige Frauen finden Aufnahme im Diakonissenhaus zu Borsdorf bei Leipzig, in der Heimstätte für weibliche Alkoholkranke zu Bonn von Frl. B. Lungstreß (1. Klasse 5 Mark, 2. Klasse 2 bis 3 Mark täglich), im Elisenheim in Himmelsthür von Hildesheim, sowie im Hause des Dr. med. Schomerus zu Walsrode (Hannover). Eine besondere Erwähnung verdienen noch die trefflich eingerichteten und geleiteten schweizer Asyle, vor allem die 1889 mit Unterstützung der Regierung gegründete Trinkerheilanstalt Ellikon im Kanton Zürich mit 40 Plätzen, dann Nüchtern im Kanton Bern mit 20 Plätzen, Trelex im Kanton Waadt mit 22 Plätzen, während für die Kranken der besseren Stände neuerdings das unter ärztlicher Leitung stehende Abstinenzsanatorium Schloß Hard in Ermatingen am Untersee mit 30 Plätzen (Verpflegung 6 Franken für den Tag, Zimmer 2 bis 20 Franken) gegründet worden ist.

Wenn auch in den unter geistlicher Leitung stehenden Asylen religiöse Einwirkungen und religiöse Uebungen naturgemäß den Mittelpunkt der Behandlung bilden[2], so gelten doch auch hier wie in den von Aerzten geleiteten Anstalten völlige Abstinenz und körperliche Beschäftigung als unentbehrliche Mittel der Behandlung. In vereinzelten Asylen der ersten Gattung soll jedoch Braunbier gestattet sein. Demgegenüber muß nachdrücklich betont werden, daß mit einem auch noch so schwachen alkoholischen Getränk (Braunbier enthält 11/2 bis 2%, unser „Bayrisches“ 3 bis 5% Alkohol) kein Trinker zur Abstinenz erzogen werden kann. In den ärztlichen und nach ärztlichen Grundsätzen geleiteten Anstalten bildet daher die vollständige Abstinenz den wichtigsten Teil der Behandlung. Abstinenz ist nicht nur die Bedingung für die Kranken, sondern auch für die gesamte Umgebung. In die Anstalt darf kein Tropfen alkoholischer Getränke gelangen. Die Angestellten nebst ihren Familien müssen sich der vollständigen Abstinenz befleißigen: sie sollen den Kranken mit gutem Beispiel vorangehen und an ihrem eigenen Leibe zeigen, daß man ohne alkoholische Getränke sehr gut leben und bestehen kann.

Die Kranken, welche, da der Eintritt in die Anstalt ein freiwilliger ist, auch eine gewisse Freiheit der Bewegung genießen, müssen bei demselben einen Revers unterschreiben, in welchem sie sich wie zum strengen Innehalten der Hausordnung, so auch besonders dazu verpflichten, keine alkoholischen Getränke zu genießen und sich keine heimlich zu verschaffen.

Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, also von 1900 an, wird es auch möglich sein, Trinker zwangsweise in Heilanstalten unterzubringen. Nach § 6, Absatz 3, ist nämlich die Entmündignng von Trinkern möglich. („Entmündigt kann werden, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet.“) Als Entmündigter erhält er einen Vormund, welcher berechtigt und verpflichtet ist, geeignetenfalls auch gegen den Willen des Trinkers, für dessen Aufnahme und Festhaltung in einer Heilanstalt zu sorgen, um dadurch, wenn möglich, die Heilung des Trinkers herbeizuführen.

Um das Einhalten der Abstinenz zu erleichtern, ist die Lage der Trinkerasyle meist etwas isoliert, fern von Verkehr und den mit demselben verbundenen Gasthäusern gewählt. Dr. Smith in Schloß Marbach hat es durchzusetzen gewußt, daß den Wirtschaften der Nachbarorte von der Regierung verboten ist, den Insassen von Marbach alkoholische Getränke zu verabfolgen. Damit die Kranken leichter imstande sind, den Versuchungen zu widerstehen, dürfen sie (so lange es der Leiter für nötig befindet) weder Geld noch Geldeswert bei sich führen, in der ersten Zeit entweder gar nicht oder nur in Begleitung ausgehen, in keinem Gasthaus einkehren u. dgl. m., bis ihre Widerstandskraft so weit gefestigt scheint, daß die Zügel allmählich etwas gelockert werden können. Man läßt später den Kranken erst auf kürzere Dauer, dann auf längere Zeit ohne Begleitung ausgehen, erlaubt ihm, etwas Taschengeld bei sich zu führen, und beurlaubt ihn wohl auch gelegentlich auf einige Tage nach Hause, um ihn so langsam an den Gebrauch der Freiheit zu gewöhnen.

Neben der Abstinenz bildet geregelte körperliche Beschäftigung den wichtigsten Faktor für die körperliche und geistige Regeneration des Kranken. Besonders wertvoll sind in dieser [467] Beziehung Feld- und Gartenarbeiten. Die regelmäßige Beschäftigung in der frischen Luft und die körperlichen Anstrengungen üben einen wohlthätigen Einfluß auf Körper und Geist aus, sie regen den Appetit an und fördern den Stoffwechsel, schaffen das schwammige Fett fort und stärken die Muskulatur, während der Geist mit wohligem Behagen und neuem Lebensmut erfüllt wird.

Im Winter, wo natürlich die Arbeiten im Freien beschränkt sind, kommen Arbeiten in den verschiedensten Werkstätten an deren Stelle. Zur Erholung dienen gemeinsame Spaziergänge, Ausflüge, körperliche Spiele aller Art, kleine Festlichkeiten, musikalische Unterhaltungen, Lektüre u. dgl. m. In den größeren und komfortabel eingerichteten Privatanstalten bieten zahlreiche Turnapparate in luftigen Räumen reichlichste Gelegenheit zu methodischer körperlicher Anstrengung, die täglich unter ärztlicher Leitung geübt wird; schwedische Gymnastik, Massage, Hydrotherapie bilden dann noch eine Unterstützung der Behandlung, welche natürlich auch die Heilung der mit der Trunksucht verbundenen Organerkrankungen erstrebt (besonders Herzerweiterung findet sich häufig bei Trinkern und scheint in manchen Fällen die Trunksucht zu befördern, resp. hervorzurufen).

Auf reichliche und zweckmäßige Ernährung wird in allen Anstalten ein um so größerer Wert gelegt, als die Trinker meist körperlich sehr heruntergekommen sind, die Kranken ein gewisses Maß von körperlicher Anstrengung leisten müssen, und der Mangel des gewohnten Reizmittels einen gewissen Ersatz in guten und sorgfältig zubereiteten Speisen finden muß.

Schließlich ist noch die strenge Disciplin zu erwähnen. Es wird auf Aufrechthaltung eines absolut guten Tones und genaue Befolgung der Hausordnung geachtet.

Als disciplinare Maßregeln kommen allerdings nur der Verweis und, wenn dieser nichts hilft, die Entlassung aus der Anstalt in Betracht.

Die Resultate, welche in den Trinkerheilanstalten erreicht werden, sind recht befriedigend. Nach einer Statistik, die sich über 3000 Fälle aus Amerika erstreckt, ergiebt sich eine vollständige Heilung von 40%. In Ellikon sind von den 1889 bis Ende 1896 Behandelten 43,6% abstinent geblieben.

Natürlich giebt es auch eine Reihe unheilbarer Fälle. Diese betreffen meist schwachsinnige, geistig und moralisch defekte, degenerierte, verkommene oder zu alte Personen, die von vornherein wenig Aussicht bieten und in manchen Anstalten erst gar nicht aufgenommen werden, zumal da sie die Statistiken verschlechtern. Diese gehören ihrer Gemeingefährlichkeit wegen in Trinkerbewahranstalten, welche leider noch nicht existieren, aber eine dringende Notwendigkeit sind.

Die Heilungen nehmen mit der Dauer der Anstaltsbehandlung zu. Ein halbes Jahr gilt an den meisten Anstalten als das niedrigste Zeitmaß, um eine vollständige Heilung zu sichern, manche halten eine Behandlung von einem Jahr für notwendig.

Damit die Entlassenen außerhalb der Anstalt einen Halt, einen Stützpunkt haben, hat sich der Zusammenschluß derselben zu Vereinen oder der Anschluß an bestehende Abstinentenvereine (Alkoholgegnerbund, Blaues Kreuz, Guttemplerorden)[3] als sehr zweckmäßig erwiesen. So hat sich durch die Bemühungen des Hausvaters des Asyls Ellikon, welches in vielen Beziehungen vorbildlich ist, ein Verein „Nüchternheit“ ehemaliger Pfleglinge dieses Asyls gebildet, der 1895 über 90 Mitglieder zählte. Derselbe stellt u. a. die Aufgabe, sich gegenseitig in der Abstinenz zu bestärken und zu kontrollieren, in Wort und That für den Abstinenzgrundsatz Propaganda zu machen, namentlich Trinkern nachzugehen und sich derselben anzunehmen, sodann solche zu veranlassen, in einer Trinkerheilstätte Heilung zu suchen.

Ich habe hier des längeren auseinandergesetzt, welche Mittel wir haben, die Trunksucht zu heilen. Ich würde jedoch fürchten, nicht vollständig zu sein, wenn ich nicht zum Schluß noch darauf hinweisen wollte, daß die wirksamste Art, die Trunksucht zu bekämpfen, ihre Verhütung ist. Eine Krankheit verhüten hat mehr Wert, als die entstandene heilen, diese Anschauung hat sich immer mehr und mehr Bahn gebrochen und zu dem mächtigen Aufblühen der modernen Wissenschaft der Hygieine geführt.

Und so ist denn auch bei der Trunksucht das Verhüten die erste und wichtigste Aufgabe. Der Kampf gegen die Trunksucht, gegen den immer mehr überhand nehmenden Alkoholmißbrauch bildet eins der Hauptkapitel der praktischen Hygieine. In diesem Kampfe müssen sich staatliche Maßnahmen, ärztliche Bemühungen und private Bestrebungen vereinigen, wenn derselbe zum Heile des Menschengeschlechts erfolgreich sein soll.


  1. Wer sich über diese und andere Punkte der Alkoholfrage eingehender belehren will, sei auf die Schrift „Die Thatsachen über den Alkohol. Für gebildete Laien, Verwaltungsbeamte und Aerzte. Dargestellt von Dr. Hugo Hoppe“ (Dresden 1899, Verlag von O. B. Böhmert) verwiesen.
  2. Sittliche Beeinflussung und eingehende Belehrung über den Alkohol und seine Wirkungen finden natürlich in allen Anstalten statt.
  3. Nach den Erfahrungen der Enthaltsamkeitsvereine, besonders des (auch in Deutschland) immer weitere Fortschritte machenden großen Guttemplerordens scheint es, daß eine große Zahl Trunksüchtiger auch ohne Anstaltsbehandlung geheilt werden kann, „dadurch, daß ihnen in rechter Weise das Gelübde lebenslänglicher Enthaltsamkeit abgenommen wird, und sie sich einem richtig arbeitenden Enthaltsamkeitsvereine eng anschließen, wo sie Aufklärung über den absoluten Unwert aller alkoholischen Getränke erhalten, wo sie Halt und Selbstgefühl wieder finden, und wo sie es lernen, dem Alkohol nun ihrerseits seine Opfer zu entreißen.“




Stillosigkeiten.

Von J. Braun.


Was Stil ist, darüber haben sich Gelehrte und Künstler in großen Büchern und kleinen Aufsätzen reichlich ausgesprochen, auf den Kunstgewerbeschulen wird es gelehrt, und verschiedene Zeitschriften für Liebhaber- und sonstige Künste suchen den Begriff in immer weiteren Kreisen zu verbreiten. Die meisten von uns wissen auch, was unter dem Stil einer Zeit oder eines Landes zu verstehen ist, und können einen gotischen Reliquienschrein von einer Renaissancetruhe unterscheiden, fühlen auch, daß etwas nicht in Ordnung ist, wenn sie über einem Chorgestühl aus dem 16. Jahrhundert eine leichtfertige Rokokobekrönung erblicken. Bei alledem nehmen wir uns, und mit Recht, eine gewisse Freiheit im Ausstatten unserer Räume, die so vieles beherbergen müssen, wofür noch keine vergangene Zeit eine Form geschaffen hat. Es stört auch den Rokokospiegelrahmen an der Wand nicht, daß der Teppich auf dem Boden ein Muster zeigt, das um zweihundert Jahre älter sein könnte, wenn der Teppich echt wäre. Formen und Farben, die sich vertragen, mögen getrost nebeneinander bestehen; wenn ein feines Auge und eine geschickte Hand sie anordnet, kann ein sehr erfreuliches Ganzes daraus werden.

Wer sich den Luxus der Einheit gestatten kann, wird zwar auf ein solch stilloses „Vertragen“ herabsehn; allein dies führt auf die zweite Seite des Stilbegriffs – stilvoll ist nicht nur eine Einrichtung, deren einzelne Bestandteile gemeinsam das Gepräge einer bestimmten Zeit oder Nation tragen: jeder einzelne Gegenstand kann in sich Stil haben, wenn er gewissen Gesetzen gehorcht, welche von Vorzeiten her auf uns gelangt sind und vielleicht am mächtigsten wirkten, ehe sie ausgesprochen und festgelegt waren.

Die pompejanischen Handwerker, welche die jetzt ausgegrabenen Küchengeräte verfertigten, hätten schwerlich Auskunft geben können über das, was den künstlerischen Reiz ihrer Arbeit ausmacht, und die oft so überraschend guten Webereien, Stickereien, Thon- und Metallarbeiten wenig kultivierter Völker entspringen einem naiven Kunstgefühl, das, wie alle Instinkte, durch wachsende Ueberlegung unsicher wird oder wohl ganz verloren geht.

Es existiert ein vielbändiger, illustrierter Katalog von der ersten Weltausstellung, welche im Jahre 1851 zu London abgehalten wurde. Die Ausstattung des Werkes läßt erraten, wie sehr man mit der damals erreichten Stufe des Kunstgewerbes zufrieden war, während sich dieses zu jener Zeit vielleicht auf dem tiefsten Punkt seines Niedergangs befand. Heute erscheint uns das Prachtwerk wie ein Lehrbuch dessen, was man nicht machen soll.

Daß ein Gegenstand bei aller schmückenden Ausgestaltung, „Idealisierung“ nennt sie J. v. Falke, vor allen Dingen so gebildet sein muß, daß er seinem natürlichen Zweck entspricht, scheint den Verfertigern jener technisch oft vollendeten Werke ein überwundener Standpunkt gewesen zu sein. Da zeigt z. B. ein Lehnstuhl als rechte Armlehne einen sitzenden Hund, als linke einen liegenden, lebensgroß und höchst naturwahr aus Holz geschnitzt; als Holzschnitzereien sind die Arbeiten vielleicht recht anerkennenswert – nur daß die Armlehnen zum zwanglos bequemen Aufstützen der Arme erfunden sind, war dabei vergessen.

Ein zweites Gesetz verbietet, den Gegenstand zum Träger einer Idee zu machen, welche mit seinem Zweck in Widerspruch steht. Hiergegen sündigte ein kleiner runder Tisch, dessen Fuß ein kauernder Gladiator bildete; der emporgehobene Schild stellte die Tischplatte vor. Eine der beständig wechselnden Stellungen des Kämpfers war festgehalten, um die Platte zu stützen, die nicht aus der wagerechten Lage kommen darf!

Eine dritte Regel bezieht sich auf die Uebereinstimmung des Materials, aus welchem ein Gegenstand gefertigt ist, mit seinem Zweck, und wieder auf den Einklang zwischen Material und Bearbeitungsweise. Gegen letzteren verstieß ein rechteckiger Tisch aus schönem Holz, dessen Beine der Länge nach durch eine Art Fußleiste verbunden waren; auf dieser Leiste zog sich eine wahre Filigranarbeit, eine aufs zierlichste in [468] feinem Holz geschnitzte Jagd, hin – an einer Stelle, die jedem ungeschickten Stoß, jedem Unfall ausgesetzt ist, und wo nur feste Formen und widerstandsfähige Arbeit angewandt werden sollten.

Betrachtet man solche Beispiele, so sagt man sich gern: „So etwas wäre heute, bei uns, nicht mehr möglich;“ und doch, es ist recht vieles noch möglich, wie uns oft genug ein Blick auf die „Neuheiten“ in unseren Schaufenstern beweist.

Wir haben etwas gelernt, seit zu Anfang der siebziger Jahre die Freude an „unsrer Väter Werken“ neu erwachte und durch Männer wie J. v. Falke in Wien, L. Gedon zu München und J. Lessing in Berlin in neue fruchtbringende Bahnen gelenkt wurde. Damals hatte die Liebe zum „Stilvollen“ so überhand genommen, daß sie sich viel gute und schlechte Witze mußte gefallen lassen. Kunstgewerbeschulen wurden gegründet, bestehende Schulen verbessert; für die Museen brach eine neue Zeit an, sie gewannen Einfluß in weiten Kreisen, und mit dem Studium der überlieferten Formen wuchs das Verständnis für die inneren Gründe und Notwendigkeiten, aus welchen sie entsprungen sind. Der Geist der Alten wurde wieder lebendig – wenn auch nur für kurze Frist.

Die erste, echte Renaissance hatte sich Zeit gelassen zum Wachsen und Blühen und war dann in naturgemäßer Entwicklung fortgeschritten durch die Jahrhunderte, um schließlich in der aller Fesseln spottenden Willkür des späten Rokoko auszuklingen. Wir Modernen machten denselben Entwicklungsgang nochmal durch, wie im Fluge; man tastete bald im Formenvorrat aller Zeitalter umher, wählte nach Mode und Laune, und die Errungenschaften jener zweiten Renaissancezeit gingen zum Teil wieder verloren.

In weniger als zwei Jahrzehnten war man beim Empirestil wieder angekommen, welcher schon in seiner ersten Jugend wenig Lebenskraft besessen hatte, und nun drohte eine Art Ratlosigkeit für die nächste Zukunft – da kam eine neue Anregung, die von der japanischen Kunst ausging, uns aber durch einige stark und originell empfindende englische Künstler vermittelt wurde. Es war eine Rückkehr zur Natur, aber nicht im Sinn kurzsichtiger, gedankenloser Nachahmung; man suchte die Natur zu verstehen, wie sie die Japaner, die alten Meister der Dekorationskunst, auffassen – die bezeichnenden Züge der Naturform wiederzugeben, das Unwesentliche unterzuordnen, wohl auch ganz zu beseitigen, bis zur strengsten Stilisierung, die nur noch die wenigen Grundzüge der Form bewahrt.

Wir haben wieder Tapeten und Stoffe mit Blumenmustern, aber es sind keine Sträuße in natürlichen Farben mit Schattierung, die von den Wänden abzufallen drohen, während rundliche Amoretten sich bemühen, sie festzuhalten. Wir polstern unsere Möbel nicht mehr mit solchen Stoffen, bei denen es vorkommen kann, daß die Mitte eines Engelskindes durch einen Knopf nach unten gezogen wird, während Kopf und Gliedmaßen nach allen Seiten ausstrahlen. Die englischen Tapeten (die zum großen Teil in Deutschland und Holland erfunden werden!) beleben unsere Wände durch wenige harmonisch abgestimmte Farben und ruhige Formen, in welchen der Charakter der Fläche voll zum Ausdruck kommt.

Und wie in England, wenden sich auch bei uns die Künstler wieder mehr und mehr dem Kunstgewerbe zu. Auf der Münchener Kunstausstellung von 1897 warm auch der „Kleinkunst“ die Thüren geöffnet, und die Teilnahme nicht nur des bewundernden, sondern auch des kaufenden Publikums bewies, daß dies ein glücklicher Griff war. Im Jahre 1898 wurde dort dem Kunstgewerbe schon erheblich mehr Raum zugestanden. Indessen pflegt die jüngste Vereinigung von Künstlern und Handwerkern: „Vereinigte Werkstätten“, die neuen Anregungen rührig weiter, sie gewinnen überall mehr und mehr Boden – natürlich nicht, ohne auch Widerspruch herauszufordern. Aber ein Zug von jugendlicher Schaffenskraft und Freude an reizvollen Gebilden der Natur macht recht viele dieser echt modernen Werke anziehend und erfreulich.

Allerdings sind die dargebotenen Werke meist auch aus gutem Material und vielfach Handarbeit; es wird wohl noch eine Weile dauern, bis etwas davon auch in die Massenfabrikation dringt; aber in einer Art können wir alle beitragen, um dem guten Geschmack zum Siege zu verhelfen: vermögen wir nicht, das Gute zu verbreiten, so können wir doch dem Schlechten entgegenwirken, d. h. Dinge nicht um uns dulden, die den ersten Anforderungen des Stils ins Gesicht schlagen.

Man sticke nicht Lohengrins Abschied von Elsa auf Handtücher; ihre holden Züge vertragen die Darstellung in verschiedenfarbigem Garn nicht. Ein Tintenfaß in Form eines Raketts mit höchst natürlich daraufliegendem Federball stelle man nicht auf seinen Schreibtisch: ein Unbefangener nimmt es in die Hand und stülpt es auf sich selbst und den Smyrnateppich um. Aber auch der beliebte Puppenkopf als Tintenfaß, dem man die Schädeldecke abhebt, um die Feder einzutauchen, hat etwas Grausames. Dazu sieht die junge Dame meist nicht aus, als ob aus ihrem Gehirn viel zu holen wäre. Eine Nähmaschine, die durch Anstrich in weiß und blauem Zwiebelmuster den Anschein von Porzellan erhält, ist ebenso widersinnig wie die Blumenvase, welche mit aller Kunst in Porzellan einen Sack von geblümtem Cretonne nachahmt. Eine andere Blumenvase leidet an demselben Fehler wie der oben erwähnte Gladiatorentisch: den Blumenbehälter bildet ein großes Wollknäuel, welches ein spielendes Kätzchen, auf dem Rücken liegend, zwischen den Pfoten hält; im nächsten Augenblick erwartet man, das Knäuel samt Blumen und Wasser wegrollen zu sehen. Auch gegen das Porzellanschwein, aus dessen offenem Rücken man die Zahnstocher holt, ließe sich einiges vorbringen – wie gegen ähnliche Erscheinungen, die sich nur allzu leicht finden.

Vor Jahren hielt der bekannte Kunsthistoriker Wilhelm Lübke einen Vortrag für das größere Publikum, worin er ziemlich scharf gegen Stil- und Geschmacklosigkeiten vorging; kurz darauf hörte seine Gattin in einem ersten Stickereigeschaft der Unterhaltung des Ladeninhabers mit einer jungen Dame zu, die einen gestickten Fußschemel zum Montieren brachte. „Aber, Fräulein,“ sagte der Mann, „so etwas sticken Sie noch nach dem Vortrag vom Herrn Professor?“ – „Ach, seien Sie still,“ antwortete sie errötend, „der Mops da war schon vor dem Vortrag gestickt; ich thu’s nie wieder!“

Hoffentlich hat sie Wort gehalten.




Runen.
(Zu dem nebenstehenden Bilde.)

Weißt du noch, die Finken schlugen
Und vom Feld die Sensen klangen,
Mit dem Sommerhut am Arme
Bist du still zum Wald gegangen.

All die tausend frohen Sänger
Lockten dich mit süßen Lauten,
Tönend lief es durch die Wipfel
Und du grüßtest die vertrauten.

Scheu ein Lächeln in den Blicken
Und den Abglanz erster Träume,
Also warst du sacht gekommen
An den liebsten deiner Bäume.

Runen trug der Stamm der Eiche,
Fest verquollen schon seit Jahren,
Mancher grub in seine Rinde,
Der hier Lieb’ und Leid erfahren.

Ach, die waren deine Freunde,
Diese Zeichen halb verwittert,
Hast auch heute sie gelesen,
Sie gelesen und gezittert:

Denn zu all den wohlbekannten
Tief hinein in Stammesmitten
War von jungen Burschenhänden
Noch ein frisches Herz geschnitten!

Und die Züge, die es kündet,
O dein Herz – es konnt’ sie deuten,
Was du scheu dir selbst verhehltest,
Sprach der Wald zu allen Leuten!

Bräutlich lag’s in deinen Augen,
Als du langsam heimgegangen,
Und dir war, als ob von droben
Hochzeitsglocken dich umklangen.
 Fritz Döring.




Der Lebensquell.
Erzählung von E. Werner.

In voller Fahrt durchschnitt der Dampfer die tiefblaue Flut des Jonischen Meeres, die, leise wogend, nur von einem leichten Windhauche bewegt, das leuchtende Blau des Himmels widerzuspiegeln schien.

Auf dem Vorderdeck stand eine kleine Gruppe von Reisenden und blickte in das Meer hinaus, wo fern am Horizont, noch in bläulich nebelhaften Umrissen, eine Küste mit steil aufragenden Bergen sich zeigte. Die schlanke Dame, die an der Brüstung lehnte, mochte am Ende der Zwanzig stehen. Es war eine zarte, höchst anziehende Erscheinung, mit einem etwas bleichen Gesicht und großen dunklen Augen, aber es lag ein Hauch tiefer Müdigkeit und Gleichgültigkeit auf dem noch so jugendlichen Antlitz. Auf dem dunklen Haar saß ein graues Filzhütchen, dessen Schleier in dem frischen Morgenwinde auf und nieder

[469]

Runen.
Nach dem Gemälde von A. v. Neogrády.

[470] flatterte, und der graue Reiseanzug verriet trotz seiner Einfachheit, daß die Dame den vornehmen Ständen angehörte.

Sie beobachtete mit dem Fernglase in der Hand das auftauchende Land und wandte sich jetzt zu einem jungen Manne, der neben ihr stand.

„Sie haben recht, es ist die Küste von Korfu. Sie sehen es zum erstenmal?“

„Jawohl, gnädige Frau,“ versetzte der Gefragte. „Ich habe bisher überhaupt noch nicht viel von der Welt gesehen und will jetzt das Versäumte nachholen. Mein seliger Papa hielt gar nichts vom Reisen, er saß jahraus, jahrein in seiner Fabrik und mochte das Herumtreiben in der Welt, wie er es nannte, nicht leiden. Merkwürdig, nicht wahr? Ja, mein Papa war überhaupt ein ganz merkwürdiger Mann. – Denken Sie lange in Korfu zu bleiben?“

„Wahrscheinlich einige Wochen, da wir den Winter in Aegypten zubringen wollen, und vor dem November kann man ja nicht dorthin.“

„O, Aegypten, das ist auch mein Reiseziel! Ich sagte es Ihnen ja bereits, gnädige Frau. Ich wollte sogar nur einige Tage auf der griechischen Insel zubringen, aber ich kann meine Pläne ändern.“

Der junge Mann, der ungefähr in dem gleichen Alter stand wie seine Nachbarin, schien bereits entschlossen zu dieser Aenderung. Viel Geist lag gerade nicht in seinen Zügen, aber sie waren sehr hübsch und der höchst elegante Reiseanzug stand ihm vortrefflich. Er wandte sich jetzt zu einem alten Herrn, der, die Arme auf die Brüstung gestützt, eine Herde von Delphinen beobachtete, die in der durchsichtig klaren Flut ihr Spiel trieben.

„Da kommt das Land in Sicht, Herr Geheimrat, die Küste von Korfu. In einigen Stunden werden wir landen.“

„Gott sei Dank, dann hat man doch endlich wieder festen Boden unter den Füßen!“ sagte der Geheimrat, sich emporrichtend.

„Seit zwei Tagen sind wir unterwegs und ich bin gar nicht angelegt für Seereisen; wenn nun vollends die Seekrankheit kommt –“

„Sie kommt nicht bei dieser ruhigen Fahrt,“ unterbrach ihn die junge Frau. „Du siehst es ja, Papa, sie hat niemand auf dem Schiffe belästigt.“

„Sie hätte aber doch kommen können!“ meinte der Vater bedenklich. „Ich habe mich fortwährend davor geängstigt, weil Ihr Wetterglas auf Sturm stand, Herr Wellborn. Da hat sich dies vielgerühmte Glas einmal gründlich blamiert!“

„Bitte, mein Wetterglas ist vorzüglich,“ widersprach Wellborn eifrig. „Es ist eine ganz neue Art und der Erfinder war ein Genie – das heißt, mein Papa behauptet, er wäre eigentlich ein Lump gewesen. Er wollte uns nämlich eine große technische Erfindung verkaufen und erhielt eine Anzahlung, um noch die letzten Proben zu machen, aber er brannte uns durch mit dem Gelde und mit der ganzen Erfindung. Er hat uns nur das Wetterglas zurückgelassen.“

„Das schon in Triest auf Sturm stand,“ warf der Geheimrat ein.

„Dann wird der Sturm auch kommen, verlassen Sie sich darauf,“ behauptete der junge Mann mit unerschütterlicher Zuversicht. „Aber hoffentlich kommt er erst, wenn wir am Lande sind.“

Die Dame schien sich bei diesem Gespräch zu langweilen, das zeigte der Ausdruck ihres Gesichtes. Sie hatte wieder das Fernglas zur Hand genommen und schaute nach der Küste hinüber, deren Umrisse immer klarer und deutlicher wurden. Sie bemerkte es nicht, daß ein anderer Reisender, der soeben aus der Kajüte heraufgekommen war und jetzt in einiger Entfernung stand, sie und ihren Vater scharf beobachtete; auf einmal trat er an den letzteren heran und verbeugte sich.

„Herr Geheimrat Rottenstein, habe ich die Ehre, noch von Ihnen gekannt zu sein, oder muß ich mich in aller Form vorstellen?“

Rottenstein sah verwundert auf und musterte die kraftvolle Erscheinung des vor ihm Stehenden, der bereits über die Jugend hinaus war. Er blickte in ein von der Sonne tiefgebräuntes Gesicht, mit nicht schönen, aber festen, energischen Zügen und durchdringenden grauen Augen. Das dichte dunkelblonde Haar und der dichte Vollbart gaben dem Manne etwas Fremdartiges, aber er sprach ein vollkommen reines Deutsch.

„Ich bedauere,“ sagte Rottenstein verlegen. „Ich erinnere mich wirklich nicht – mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Fremde lächelte flüchtig und wandte sich zu der jungen Frau.

„Dann darf ich wohl bei Frau Baronin Wilkow noch weniger auf eine Erinnerung hoffen?“

Die Baronin hatte sich bei dem Klange der Stimme mit einer jähen Bewegung umgewendet, ihre Augen begegneten denen des Fragenden, die mit einem eigentümlichen, beinahe finsteren Ausdruck auf ihrem Antlitz hafteten. Sie senkte langsam die Wimpern unter diesem Blick, aber sie erwiderte in kühlem Tone: „Herr Adlau – wenn ich nicht irre.“

Er verneigte sich tief und förmlich.

„Sie irren in der That nicht, gnädige Frau – Robert Adlau.“

„Was, der Robert?“ rief der alte Herr in maßlosem Erstaunen. „Wie in aller Welt kommst du – ich bitte um Verzeihung, wie kommen Sie hierher, Herr Adlau?“

„Bitte, bleiben Sie bei dem Robert,“ sagte Adlau herzlich. „Es klingt mir wie ein Gruß aus der Heimat, die ich lange genug entbehrt habe. Aber Ihre Frage möchte ich Ihnen zurückgeben. Bei mir ist es gerade nicht wunderbar, wenn ich an irgend einem entlegenen Punkte der Welt auftauche, doch wo kommen Sie her?“

„Wir kommen von Triest und wollen nach Korfu.“

„Dann haben wir den gleichen Weg, dahin gehe ich auch, aber ich bin erst in der letzten Nacht an Bord gekommen, als der Dampfer in Brindisi anlegte.“

Es trat ein kurzes Schweigen ein, fast wollte es scheinen, als waltete bei diesem unerwarteten Zusammentreffen irgend ein Zwang vor; aber jetzt mischte sich Herr Wellborn in das Gespräch und bat, dem fremden Herrn vorgestellt zu werden, in dem er so etwas wie einen Weltreisenden witterte. Er stürzte sich deshalb schleunigst auf diese neue Bekanntschaft, die sich nur leider sehr kühl verhielt. Adlau streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, nahm die Vorstellung mit einer ziemlich nachlässigen Verbeugung entgegen und sagte gar nichts, während der junge Mann auf ihn einsprach.

„Ich mache gegenwärtig meine erste größere Reise,“ erklärte er. „Ich bin gewissermaßen noch Lehrling in dem höheren Reiseleben, hoffe aber mit der Zeit Meister darin zu werden, wie die Frau Baronin es ist und wie Sie es ohne Zweifel sind, Herr Adlau. Habe ich vielleicht das Vergnügen, einen unserer kühnen Forscher und Entdecker in Ihnen zu begrüßen? Einen Afrikareisenden –“

„Bitte, nichts dergleichen,“ schnitt ihm der andere ohne weiteres das Wort ab.

„Wirklich nicht? Aber Sie sehen so ungemein tropisch aus, und Sie äußerten ja auch vorhin, daß Sie an den entlegensten Punkten der Welt zu finden seien. Wo waren Sie zuletzt, wenn ich fragen darf?“

„In Amerika.“

„O, Amerika! Das kenne ich auch noch nicht, aber ich will später jedenfalls hinüber. Waren Sie in New York, Chicago?“

„So ziemlich überall in dem ganzen Weltteil.“

„Das muß höchst interessant gewesen sein!“

„Je nachdem,“ sagte Adlau trocken. „Es kann unter Umständen auch recht ungemütlich sein. Man entbehrt dort bisweilen die allernotwendigsten Kulturerrungenschaften. Handschuhe z. B. kann man weder beim Goldgraben in Kalifornien noch in den Ranchos von Brasilien tragen.“

„Fatal, aber trotz alledem interessant,“ meinte Herr Wellborn, der sehr enganschließende wildlederne Handschuhe trug und den Spott durchaus nicht merkte. Er fragte unermüdlich weiter, bis Robert Adlau ungeduldig wurde und ihn abschüttelte. Er wandte sich wieder dem Geheimrat zu mit den Worten: „Ich komme soeben vom Rhein, aus unserer gemeinsamen Heimat, und da darf ich wohl nicht versäumen, mich Ihnen als zukünftigen Gutsnachbar vorzustellen.“

„Als was?“ fragte Rottenstein verwundert. „Ich wüßte wirklich nicht –“

„Nun, Sie sind doch Besitzer von Lindenhof, wie man mir sagte.“

[471] „Gewiß, vor fünf Jahren, als ich meinen Abschied nahm, habe ich den hübschen kleinen Landsitz erworben.“

„Das hörte ich zufällig beim Abschluß meines Kaufvertrages; nun, unmittelbar daran grenzt das Gebiet von Brankenberg.“

„Brankenberg? Das haben Sie doch nicht etwa gek–“ dem alten Herrn blieb vor Erstaunen das Wort im Munde stecken.

„Gekauft, allerdings,“ ergänzte Adlau. „Herr von Brankenberg hat sich nur noch eine kurze Frist ausbedungen. Er will erst im November das Schloß räumen und das Gut übergeben, und da ich in der Zwischenzeit doch nichts beginnen konnte, so beschloß ich einen Besuch bei meiner Schwester, die gegenwärtig in Korfu lebt, als Frau unseres dortigen Konsuls.“

Rottenstein sah noch immer aus, als traute er seinen Ohren nicht, aber auch Frau von Wilkow, die sich bisher gar nicht an dem Gespräch beteiligt hatte und kaum zuzuhören schien, wurde aufmerksam. Auch sie streifte den neuen Gutsherrn mit einem höchst erstaunten Blick, indessen äußerte sie nichts darüber, sondern sagte nur: „Wir erfuhren allerdings von Metas Heirat. Sie haben sie ja wohl jahrelang nicht gesehen?“

„Das letzte Mal vor zwölf Jahren, als ich Europa verließ.“

„Das ist allerdings eine lange Zeit.“

„O ja! Lang genug, um in der Heimat vergessen zu werden.“

Die Worte klangen so herb, als läge ihnen eine geheime Bedeutung zu Grunde. Die junge Frau hob den Kopf und schien im Begriff, eine gereizte Antwort zu geben, aber es kam nicht dazu. Der alte Ausdruck von Müdigkeit und Gleichgültigkeit legte sich wieder über ihre Züge und sie erwiderte mit einem leichten Achselzucken: „Das Vergessen pflegt meist gegenseitig zu sein, aber ich finde es recht kühl hier oben, ich werde hinunter in die Kajüte gehen. Du bleibst wohl noch auf dem Deck, Papa?“

Sie neigte flüchtig das Haupt gegen die Herren und ging; gleichzeitig verlor Herr Wellborn auch alle Lust, noch länger auf dem Deck zu bleiben. Er bemächtigte sich eiligst des Fernglases, das die Dame hatte liegen lassen, und trug es ihr nach. Zwischen den beiden Zurückgebliebenen aber wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen, obgleich dies Wiedersehen nach so langer Zeit doch Stoff genug dazu bot. Der alte Herr kämpfte sichtlich mit einer Verlegenheit, deren er nicht Herr zu werden vermochte, und Adlau blickte schweigsam und zerstreut in das Meer hinaus. Auf einmal aber richtete er sich empor, mit einer raschen Bewegung, als würfe er irgend etwas Lastendes von sich.

„Herr Geheimrat, wozu der Zwang zwischen uns beiden! Sind wir uns denn so fremd geworden? Als Sie mich erkannten, sah ich ja, daß Sie mir die alte freundliche Gesinnung bewahrt haben, und ich bin auch der alte geblieben – Ihnen gegenüber.“

„Wirklich, Robert?“ rief Rottenstein, der jetzt zum erstenmal wieder die vertrauliche Anrede gebrauchte. „Das freut mich, freut mich von ganzem Herzen! Ich habe Sie immer gern gehabt, aber Sie waren ja ganz wild damals, als – nun Sie wissen ja, was ich meine. Jetzt ist das hoffentlich vergessen.“

„Vergessen und begraben! Ich hatte anderes zu thun in den letzten zwölf Jahren, als alten Erinnerungen nachzuhängen. Also – auf gute Nachbarschaft zwischen Lindenhof und Brankenberg!“

„Auf gute Nachbarschaft!“ Der alte Herr schlug herzlich in die dargebotene Hand ein, ihm war offenbar ein Stein von der Brust gefallen. Er nahm auf einem Feldstuhl Platz und fing behaglich an zu plaudern.

„Also vor allen Dingen, wie geht es Ihnen, Robert? Doch die Frage, ist eigentlich überflüssig, wer Brankenberg kaufen kann, muß ein reicher Mann sein.“

„Wenigstens kein armer Mann,“ sagte Robert gelassen.

„Aber es ist mir nicht leicht gemacht worden, bis ich dahin kam. Jahrelang hatte ich nichts als Fehlschläge und Enttäuschungen; was ich heute gewann, zerrann morgen, bis es endlich aufwärts ging, und da ging es allerdings schnell, wie alles da drüben. Doch das erzähle ich Ihnen ausführlich, wenn wir im Winter behaglich am Kamin sitzen.“

„Im Winter! Da sitze ich ja in Kairo bei den Pyramiden!“ rief der Geheimrat in kläglichem Tone. „Ich muß ja nach Afrika.“

„Sie müssen? Weshalb denn?“

„Weil Elfriede den Winter in Deutschland nicht aushält. Ich meine, sie könnte als Frau und Witwe füglich allein reisen, aber das will sie durchaus nicht. Unter uns gesagt, Robert, ich mache mir aus diesem vielgepriesenen Orient nicht das geringste. Diese Pyramiden sehen mir schon auf den Bildern so langweilig aus, bei den Mumien wird mir übel und die Kamele kann ich nicht ausstehen. Und nun vollends diese ungemütlichen Bestien, die Löwen und Krokodile –“

„Die kommen nicht nach Kairo,“ warf Adlau ein. „Da müssen Sie schon weit nilaufwärts oder in die Wüste gehen.“

„Aber wir wollen ja bis an die Katarakte!“ rief der alte Herr verzweiflungsvoll. „Und Elfriede will auch in die Wüste, sie will überall hin! Das ist sie noch von ihrem Manne gewohnt, der trieb sich auch am liebsten in der Nähe des Aequators herum, aus Gesundheitsrücksichten, wie er behauptete. Als sie den Baron heiratete –“ er hielt plötzlich inne und blickte etwas unsicher zu seinem Gefährten auf, aber dieser ergänzte ruhig:

„Vor zehn Jahren, ich weiß. Sie sandten mir ja die Verlobungsanzeige.“

„Ja, ich – das heißt, eigentlich hat es meine Frau gethan,“ sagte Rottenstein. „Ich habe mich bei der ganzen Sache neutral verhalten, denn Wilkow war bedeutend älter als meine Tochter und sehr kränklich. Er mußte stets den Winter in den südlichen Kurorten zubringen, deshalb gaben sie auch bald ihren Haushalt in Berlin auf und führten nur noch ein Reiseleben. Das ging von einem Lande in das andere, ohne Rast und Ruhe, sie waren immer auf der Fahrt, bald in Italien, bald in Madeira oder Korfu, schließlich in Aegypten, und dort starb auch mein Schwiegersöhn, vor zwei Jahren. Aber als Elfriede zurückkam – sie brachte die erste Zeit ihrer Witwentrauer bei mir zu – da war nichts mehr übrig von meiner rosigen, lustigen Friedel mit dem neckischen Uebermute und dem hellen Lachen, gar nichts mehr.“

Robert Adlau lehnte mit verschränkten Armen an der Brüstung, an demselben Platze, wo vorhin die bleiche, nervöse Frau gestanden hatte, er hörte mit völlig unbewegter Miene zu und fragte jetzt in kühlem Tone:

„War die Ehe der Frau Baronin keine glückliche?“

„Doch, sie war glücklich; Wilkow trug seine Frau auf Händen und erfüllte ihr jeden Wunsch. Ich glaubte, dies ewige Reiseleben sei ihr nicht gut bekommen, und hoffte, sie würde sich nun endlich Ruhe gönnen, aber daran war nicht zu denken. Kaum daß sie den Sommer in Lindenhof aushielt, im Winter ging es nach Italien und ich – ging mit!“

„Freiwillig oder gepreßt?“

Der alte Herr ließ die Frage unbeantwortet, er seufzte nur aus tiefem Herzensgrunde; plötzlich aber faßte er seinen Nachbar beim Rock und zog ihn näher, während er halblaut fortfuhr:

„Robert, wenn Sie wüßten, was ich ausgestanden habe bei diesen Kunststrapazen, bei diesen Antiken, die nie ein Ende nehmen und immer besichtigt sein wollen! Hätte ich in Rom nicht ein paar Landsleute aufgespürt, die sich abends zu einem kleinen gemütlichen Skat zusammenfanden, ich glaube, ich wäre an all den Galerien und Museen und Antiken zu Grunde gegangen.“

Das Geständnis klang so jämmerlich, daß Adlau laut auflachte.

„Armer Herr Geheimrat! Sie sind gar nicht angelegt für das ‚höhere Reiseleben‘, wie dieser wißbegierige junge Mann mit den engen Handschuhen es nennt.“

„Nein, ganz und gar nicht,“ bestätigte Rottenstein, der immer mitteilsamer wurde. „Ich dankte Gott, als es endlich wieder nach Hause ging. Im Sommer hatte ich Ruhe, da war Elfriede in England und Schottland, zum Besuch bei irgend einer englischen Familie, die sie irgendwo da unten kennengelernt hatte, aber jetzt geht die Plage wieder an. Ich wäre so gern daheim geblieben, in meinem stillen Lindenhof. Sie sollten es nur sehen! Eine hübsche Villa, mit großem Garten und prächtigem Blick auf den Rhein, ein Weingütchen – da wird jetzt geherbstet! – Ich gab meinen Leuten immer ein kleines Fest nach der Traubenlese, da war Tanz und Jubel bis in die Nacht hinein. Und nun –“ hier schlug die wehmütige Stimmung [472] des alten Herrn plötzlich um, er wurde zornig, „nun sitze ich hier in dieser blauen Wasserwüste, unter wildfremden Menschen und soll nach Afrika, in die Wildnis – das halte ich nicht aus!“

„Das brauchen Sie ja auch nicht,“ warf Adlau ein. „Warum weigern Sie sich nicht?“

„Weigern?“ wiederholte der Geheimrat, der diese Zumutung unerhört zu finden schien. „Das versuchen Sie einmal bei meiner Tochter! Sie ist leider sehr nervös und verträgt keinen Widerspruch. Sie wissen freilich nicht, was das bei einer Frau heißt, nervöse Zufälle.“

„Nein, und ich würde sie der meinigen auch bald abgewöhnen.“

„Ja, Sie waren immer so ein Gewaltmensch,“ sagte Rottenstein, „und meine Friedel war ein eigensinniger Starrkopf. Deshalb wäre es auch nicht gut geworden, wenn ihr beide damals – nun runzeln Sie nur nicht so drohend die Stirn, Robert! Ich bin ja ganz Ihrer Meinung, daß wir das ‚Einst‘ vergessen und begraben sein lassen.“

„Ich bitte auch dringend darum!“

Die Bitte ward mit solcher Entschiedenheit ausgesprochen, daß der alte Herr ganz verschüchtert wurde. Er stand auf und meinte, es werde ihm jetzt auch zu kühl, er wolle hinuntergehen in die Kajüte. Robert Adlau blieb allein zurück, aber die finstere Falte stand noch auf seiner Stirn, sie schien nur tiefer zu werden, als er halblaut sagte:

„Also sie ist Witwe! Pah, was geht es mich an! Wir beide sind fertig miteinander, Frau Baronin von Wilkow!“ –

Einige Stunden später landete der Dampfer in Korfu. In unmittelbarer Nähe stiegen die Berge der Insel und des nahen Festlandes auf, sie schienen von allen Seiten aus der Flut emporzuwachsen, ein mächtiger Rahmen für das in südlicher Schönheit leuchtende Landschaftsbild. Immer deutlicher wurden die Häuser und Villen der hellschimmernden Stadt am Ufer, und jetzt stieß ein Schwarm von Booten dort ab, um die Landenden aufzunehmen.

Die Reisenden waren sämtlich auf Deck gekommen, unter ihnen auch Geheimrat Rottenstein mit seiner Tochter und Herr Wellborn, der, das Reisebuch in der Hand, mit unendlicher Wißbegierde jeden Berggipfel und jede Meeresbucht studierte. Einige Schritte entfernt stand Adlau und spähte scharf nach den Booten hinüber, die pfeilschnell und zierlich wie Schwalben über die blaue Meeresfläche dahin schossen, allen voran eine größere Barke, die, von zwei Matrosen gerudert, an ihrer Spitze die deutsche Flagge zeigte. Die Insassen, ein stattlicher Mann und eine noch junge hübsche Frau mit zwei Kindern, schienen gleichfalls an Bord des Dampfers jemand zu suchen. Jetzt flatterte ein weißes Tuch dort und gleich darauf wurden über die Wellen hinweg jubelnde Grüße ausgetauscht.

„Da ist er! Robert! – Willkommen, Schwager!“ und ein freudiges „Grüß Gott! Da bin ich!“ kam von Bord zurück.

Der Dampfer hielt, die Schiffstreppe wurde hinuntergelassen, als das Boot eben anlegen wollte, aber Adlau wartete das nicht ab. Kaum die Stufen berührend, schwang er sich mit einem kühnen Satze hinüber in das kleine Schiff, umfaßte die Schwester, schüttelte dem Schwager die Hand und wandte sich dann zu den Kindern, die dem fremden Onkel freudig die Aermchen entgegenstreckten.

„Dieser Herr aus Amerika scheint sehr wagehalsiger Natur zu sein,“ bemerkte Wellborn, der diese Eigenschaft offenbar nicht besaß. „War das ein Sprung, mit dem er in das Boot hinuntersetzte! Um ein Haar wäre es umgeschlagen und er selbst wäre ins Meer gestürzt. Man soll das Schicksal nie herausfordern, meinen Sie nicht auch, Herr Geheimrat?“

Der alte Herr betrachtete halb teilnehmend, halb neidisch die Familienscene da unten in der Barke.

„Jawohl, der wird empfangen und begrüßt!“ brummte er vor sich hin, „der ist gleich daheim bei seiner Familie, und unsereins muß ins Hotel, wo es natürlich wieder schändliches Essen giebt und Betten, wie – ums Himmels willen, wo ist denn meine Tochter geblieben? Da schreit mich dieser Mensch in drei verschiedenen Sprachen an, von denen ich keine einzige verstehe! Was will er denn? Ich glaube, jetzt spricht der Kerl gar griechisch oder arabisch. Elfriede, so komme mir doch zu Hilfe!“

Der arme Geheimrat, der nur seine Muttersprache redete, stand in der That ganz hilflos vor einem der Kommissionäre der Hotels, die jetzt an Bord kamen, um sich der Reisenden und ihres Gepäcks zu bemächtigen. Er hatte den fremden Herrn vergebens englisch und französisch angeredet und versuchte es nun mit dem Italienischen. Frau von Wilkow war bei jener Begrüßung rasch zurückgetreten, als wollte sie von den Insassen des Bootes nicht gesehen werden, erst auf den Not- und Hilferuf ihres Vaters kam sie herbei und gab dem Dienstbeflissenen die nötigen Befehle.

Im goldigen Scheine der Mittagssonne lag die griechische Insel vor ihnen wie ein fremdartiger Zaubergarten. Ringsum schlossen sich die Berge, bald in sanft geschwungenen Linien, bald in zackigen Gipfeln wie zu einem Kranze, und um sie her wogte und wimmelte das malerisch bunte Treiben des Hafens. Ueberall südliche Farbenpracht und südliches Leben, berauschend für jedes Auge, aber die Augen der jungen Frau blickten so müde, so gleichgültig darauf hin wie vorhin in die ferne Meeresweite, und glitten dann langsam zu jenem Boote mit der lustig wehenden Flagge hinüber, das soeben am Ufer landete.




Im Norden war längst schon der Herbst eingezogen, mit kalten Regengüssen und düsteren Nebeltagen, aber hier in Korfu blaute der Himmel über Myrten- und Lorbeergebüschen und in die weiche, warme Luft des Südens mischte sich der Meereshauch, der ihr eine köstliche Frische gab. Ein Tag glich dem anderen in klarer, wolkenloser Schönheit, und die fremden Gäste, die sich hier zusammenfanden, hatten alle Ursache, mit der Wahl ihres Aufenthaltes zufrieden zu sein.

Das hatte fast drei Wochen gedauert, aber gestern war ein heftiges Gewitter über die Insel hingezogen und hatte böses Wetter hinterlassen. Draußen auf dem Meere herrschte Sturm, an den Bergen hingen dichte Wolkenschleier und der Regen strömte unaufhörlich nieder.

In dem Lesezimmer des Hotels, wo er mit seiner Tochter wohnte, saß Geheimrat Rottenstein. Zum Glück befand sich hier eine deutsche Zeitung, das große rheinische Blatt, das neben der Politik auch allerlei Nachrichten aus der engeren Heimat brachte. Doch das pflegte stets das Heimweh des alten Herrn zu steigern; er gehörte zu jenen Menschen, die sich nur im engen, vertrauten Kreise wohl fühlen, deshalb hatte ihm auch der Aufenthalt in Berlin, wo sein Amt ihn fesselte, nie recht zugesagt.

Als braver Beamter hatte er redlich seine Pflicht gethan, ohne den Ehrgeiz, etwas Besonderes zu leisten, und ohne Neid auf die anderen, jüngeren, die ihn überholten. Als sein Dienstalter ihm eine ausreichende Pension sicherte, hatte er den Abschied genommen und war sehr gerührt und dankbar, als der Staat seine Pflichttreue durch Verleihung des Geheimratstitels anerkannte. Ein hübsches Vermögen, das ihm erst in den letzten Jahren durch Erbschaft zugefallen war, ermöglichte ihm den Ankauf eines Landgutes, wo er sein Alter in Ruhe zu verleben dachte, und einige Jahre lang gab es in der That keinen glücklicheren und zufriedeneren Menschen als den Besitzer von Lindenhof.

Aber das ging zu Ende, als seine Tochter zurückkehrte und vorläufig bei ihm ihren Aufenthalt nahm. Sie hatte es verlernt, in der Heimat auszuhalten, und riß den Vater mit hinein in ihr unstetes, unruhiges Reiseleben. Da sie als Witwe über ein bedeutendes Einkommen verfügte, so konnte sie unbeschränkt ihren Neigungen folgen, und Rottenstein war viel zu schwach, um seinem einzigen Kinde, das er zärtlich liebte, einen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen, obgleich er bisweilen den Versuch dazu machte. Er gab immer wieder nach, aber da er weder Sinn für landschaftliche Schönheiten noch für Kunstgenüsse besaß, fühlte er sich äußerst unbehaglich in der Fremde und kam sich inmitten all der Pracht des Südens wie ein Verbannter vor.

Ihm gegenüber, an der anderen Seite des Tisches, saß Herr Wellborn, der sich gerade in der entgegengesetzten Lage befand: er war mit sich und aller Welt zufrieden. Aus den drei Tagen, die er anfangs in Korfu zubringen wollte, waren

[473]

Die Schlacht von Dornach: die Eidgenossen verweigern die Auslieferung der gefallenen Ritter.
Nach einer Originalzeichnung von E. Klein.

[474] nun bereits drei Wochen geworden und sein Entschluß stand fest, nicht eher abzureisen, als bis Frau von Wilkow mit ihrem Vater die Insel verließ, um sich ihnen dann selbstverständlich für die Fahrt nach Aegypten anzuschließen. Seiner Auffassung nach gehörte zu dem „höheren Reiseleben“ notwendig immer etwas Roman, er hatte sich daher schleunigst in die junge Witwe verliebt und erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten, die zwar ziemlich kühl aufgenommen, aber doch wenigstens nicht zurückgewiesen wurden.

Auch „dieser Herr aus Amerika“ erwies sich als eine äußerst schätzbare Bekanntschaft, obgleich es nicht zu leugnen war, daß er sich bisweilen etwas schroff benahm gegen den jungen Reisegefährten, der seinerseits die Höflichkeit selbst war. Aber diese hinterwäldlerischen Manieren mußte man dem Manne hingehen lassen, der so lange außerhalb der Kultur gelebt hatte und sich offenbar nicht so schnell wieder hineinfinden konnte.

Jedenfalls hielt es Herrn Wellborn nicht ab, dem „Hinterwäldler“, der natürlich bei seinem Schwager, dem Konsul, wohnte, einen Besuch zu machen und die Einladungen des gastfreien Hausherrn anzunehmen. Dort lernte man die ganze Gesellschaft der Stadt kennen, und der Verkehr in dem großen Hotel, dessen Gäste aus allen Ecken und Enden der Welt stammten, war gleichfalls höchst anregend und interessant – kurz, der junge Mann schwamm und plätscherte im Strome des Reiselebens wie der Fisch im Wasser.

Da es noch früh am Vormittage war, so befand sich außer den beiden Herren niemand im Lesezimmer. Eine ganze Weile lang herrschte Schweigen, dann legte Wellborn die Zeitung nieder und bemerkte mit einem gewissen Nachdruck:

„Es regnet!“

Er hätte nicht nötig gehabt, diese Thatsache erst festzustellen, denn der Regen schlug prasselnd gegen die Fenster. Jetzt blickte auch Rottenstein von seiner Zeitung auf und bestätigte im Tone tiefster Befriedigung:

„Ja, es regnet! Endlich einmal – Gott sei Dank!“

„Aber Herr Geheimrat, das klingt ja, als freuten Sie sich darüber,“ sagte der junge Mann vorwurfsvoll. „Alle Welt ist verzweifelt, denn bei diesem Wetter ist natürlich nicht an einen Ausflug zu denken.“

„Eben deshalb – da hat man endlich einmal Ruhe. Sonst geht es ja Tag für Tag hinaus nach allen möglichen Orten, wo doch immer nur dasselbe zu sehen ist, blitzblaues Meer und graue Olivenwälder, eins so langweilig wie das andere. Ich wollte, es regnete so weiter, acht Tage lang!“

Mit diesem frommen Wunsche lehnte sich der alte Herr behaglich zurück und blickte mit einer gewissen Zärtlichkeit in die strömende Regenflut.

Wellborn schüttelte den Kopf über diese Anschauung und zog sein Wetterglas zu Rate, das er mitgenommen hatte, und von dem er sich überhaupt nur selten trennte. Es war ein merkwürdiges Ding, das schon in der Form von allen anderen abwich, steckte in einem noch merkwürdigeren Gehäuse und wies eine Menge sibyllinischer Zahlen und Zeichen auf, deren Bedeutung wahrscheinlich nur der Erfinder und der glückliche Besitzer kannten. Leider hatte es die für ein Wetterglas etwas bedenkliche Eigenschaft, sich stets im Widerspruch mit dem Wetter zu befinden, und das war auch heute der Fall.

„Wie steht denn das Glas?“ fragte der Geheimrat nach einer Pause.

„Ausgezeichnet! Wir werden am Nachmittage herrliches Wetter haben.“

Rottenstein zuckte ungläubig die Achseln. „Das haben Sie gestern auch gesagt, als ich nicht mitfahren wollte. Ich traute gleich den Wolken nicht, die da so urplötzlich am Monte Salvatore aufstiegen, aber Sie garantierten uns ja Sonnenschein und dann faßte uns das Gewitter, mitten in den Bergen, im offenen Wagen. Ganz durchweicht kamen wir zurück, und heute meldet sich natürlich mein Rheumatismus wieder. Dafür habe ich mich bei Ihrem berühmten Glas zu bedanken!“

„Aber Herr Geheimrat!“ Der junge Mann nahm eine gekränkte Miene an, „wie können Sie nur das unschuldige Glas für dies gänzlich unmotivierte Gewitter verantwortlich machen! Auf dieser Insel herrschen abnorme Witterungszustände, mit denen nicht zu rechnen ist. Als wir damals abreisten, in Triest –“

„Stand Ihr Barometer auf Sturm – jawohl, und wir haben drei Wochen lang Prachtwetter gehabt.“

„Das kam von der Seereise,“ behauptete Wellborn. jetzt aber lachte der alte Herr laut auf.

„Nun verträgt das Ding gar die Seefahrt nicht! Ist es vielleicht seekrank geworden?“

Wellborn war tief beleidigt, er hob sein Glas hoch empor und begann dessen Vorzüge ausführlich auseinanderzusetzen, wurde aber darin durch den Eintritt Robert Adlaus unterbrochen, der den Geheimrat begrüßte, ohne viel Notiz von dem jungen Manne zu nehmen.

„Ich komme eigentlick, um Ihnen zu sagen, daß ich in der nächsten Woche abreise,“ wandte er sich an den Geheimrat. „Ich gehe mit dem Dampfer nach Triest und von da ohne Aufenthalt nach Hause.“

„Sie wollen fort? So bald schon?“ rief der Geheimrat fast erschrocken.

„So bald? Ich bin lange genug hier gewesen. Meta und mein Schwager wollen mich zwar durchaus nicht fortlassen, aber es bleibt dabei, ich reise.“

„Meta ist eben bei meiner Tochter,“ sagte Rottenstein. „Ah, Sie wußten das nicht? Nun jedenfalls kommen Sie doch mit hinauf und fahren dann mit Ihrer Schwester nach Hause. Sie hat den Wagen zum Abholen bestellt.“

Adlau zögerte einige Sekunden, ehe er die Einladung annahm, dann aber sagte er kurz:

„Das wird wohl bei diesem Wetter das Beste sein. Also gehen wir!“

Die drei Herren brachen auf, denn auch Wellborn benutzte die Gelegenheit, sich anzuschließen. Er hatte die gnädige Frau heute noch nicht gesehen und mußte sich notgedrungen nach ihrem Befinden erkundigen. Möglicherweise hatte ihr die gestrige Regenpartie eine Erkältung zugezogen, die Frau Baronin war eine äußerst zarte Natur und der Süden schützte durchaus nicht vor katarrhalischen Zuständen, aber hoffentlich … so schwatzte er unausgesetzt weiter, und es störte ihn gar nicht, daß niemand zuhörte, er war dergleichen schon gewohnt.

In dem Salon, der die Zimmer der Frau von Wilkow und ihres Vaters trennte und zu ihrer Wohnung gehörte, hatten unterdessen die Damen eine lebhafte Unterhaltung geführt, die Glasthüren waren fest geschlossen. Sonst hatte man vom Balkon aus eine prächtige Aussicht über den Hafen, über den Meeresarm, der die Insel vom Festlande schied, und die jenseitigen Berge; aber heute verschwand das alles in grauer Nebel- und Regenflut.

Auf dem Eckdiwan saßen die beiden jungen Frauen, die zusammen aufgewachsen waren in der sonnigen Rheinstadt, wo Rottenstein mit den Seinigen gelebt hatte, bis er nach Berlin versetzt wurde. Freilich hatte die einstige Mädchenfreundschaft nicht jene Entfremdung überdauert, die später zwischen den beiden Familien eintrat und schließlich jedem Verkehr ein Ende machte. Aber jetzt, nach vollen zehn Jahren, als man sich so unvermutet wiederfand, waren die zerrissenen Fäden wieder angeknüpft und hier wenigstens die alte Vertraulichkeit wiederhergestellt worden.

Frau Meta Rahnsdorf, eine hübsche, zierliche Blondine, ungemein lebhaft in Sprache und Bewegungen, war nur zwei Jahre jünger als Elfriede von Wilkow; sie unterhielt heiter die Freundin, während jene, den Kopf in die Hand gestützt, meistenteils zuhörte. Jetzt aber fragte sie, ohne ihre Stellung zu verändern:

„Also du bist glücklich in deiner Ehe, Meta? Wirklich glücklich?“

Die kleine Frau, der das Glück nur so aus den blauen Augen lachte, fuhr in komischer Entrüstung auf.

„Hör’, Elfriede, die Frage ist eigentlich eine Beleidigung für meinen Mann. Denkst du, er verstände es nicht, mich glücklich zu machen? Er hat es meinem Vater hoch und teuer versprochen, als er mich fortführte in das fremde Land, und er hielt Wort. Trotz alledem hatte ich arg mit dem Heimweh zu [475] kämpfen in der ersten Zeit, wenn ich es auch meinem Fritz nicht zeigen wollte, aber dann kamen die Kinder –“

„Die Kinder!“ wiederholte Elfriede leise.

„Sind sie nicht herzig alle beide, der Bub und das Mädel?“ fragte die Mutter mit strahlenden Augen. „Ja, wenn solch kleines Volk erst anfängt im Hause zu krähen und herumzutappen, dann hat man an anderes zu denken als an die ferne Heimat! Du weißt das freilich nicht, deine Ehe ist ja kinderlos gewesen.“

„Ja – Gott sei Dank!“

Die Worte klangen so schroff, so seltsam bitter, daß Meta fast erschrocken aufblickte.

„Aber, Elfriede!“

Elfriede preßte die Lippen zusammen, als sei ihr die Antwort wider Willen entfahren. „Das heißt – du darfst mich nicht mißverstehen. Ich meine nur, in diesem Falle hätten wir unser Reiseleben aufgeben müssen, und Wilkows Gesundheit forderte den Aufenthalt in einem südlichen Klima, er ertrug den Norden nicht.“

Sie sprach wieder im gleichgültigsten Tone. Die kleine Frau Konsul besaß noch nicht viel Menschenkenntnis, sonst hätte die tiefe Bitterkeit des so jäh hervorbrechenden Ausrufs ihr doch vielleicht zu denken gegeben, so aber sagte sie nach einiger Zeit unbefangen, wenn auch etwas zögernd: „Willst du mir noch immer nicht sagen, was das damals zwischen dir und Robert gewesen ist?“

Elfriede richtete sich heftig empor, man hätte es ihren müden, dunklen Augen gar nicht zugetraut, daß sie noch so aufblitzen konnten wie jetzt, wo sie sich mit einer beinahe zornigen Bewegung frei machte.

„Was quälst du mich mit diesen Fragen? Ich habe dich doch gebeten, mich damit zu verschonen!“

„Ja, du machst es gerade so wie Robert!“ sagte die kleine Frau, mehr erstaunt als beleidigt über diese Zurückweisung. „Der wird auch immer gleich wütend, wenn ich davon anfange, und setzt eine Miene auf, daß ich schleunigst aufhöre. Aber du könntest mir doch beichten, wir sind doch Jugendfreundinnen. Freilich, ich wurde von euch beiden immer noch als Kind behandelt, weil ich ein paar Jahre jünger war als du, mir wurde nie etwas anvertraut. Aber so klug war ich doch, zu merken, daß die Sache zwischen euch nicht richtig war.“

Elfriede machte eine Bewegung der äußersten Ungeduld, es schien, als wollte sie um jeden Preis dies Gespräch abbrechen, aber Meta hielt es hartnäckig fest, sie plauderte weiter.

„Als die Nachricht deiner Verlobung aus Berlin kam – Robert war ja damals schon in Amerika – konnte ich mir die Sache nicht zusammenreimen; doch du schriebst mir seit jener Zeit überhaupt nicht mehr und Robert schwieg hartnäckig auf jede briefliche Frage. Ich habe mir damals oft genug den Kopf darüber zerbrochen.“

„Du hättest dir dein blondes Köpfchen über etwas Besseres zerbrechen sollen,“ sagte Elfriede kalt. „Das war wirklich nicht der Mühe wert.“

„Nicht? Nun, weshalb seid ihr beide denn so gereizt bei der bloßen Erinnerung?“

„Weil es nicht angenehm ist, an Kindereien erinnert zu werden, die längst vergessen sind. Du solltest das mir und deinem Bruder wirklich ersparen.“

Das klang noch immer sehr ärgerlich. Die kleine Frau schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie fand indessen keine Zeit zu weiteren Fragen, denn jetzt wurde die Thür des Salons geöffnet und man hörte Herrn Wellborn draußen bereits schwatzen, ehe noch jemand sich zeigte. Er ließ zwar den beiden anderen Herren den Vortritt, eilte dann aber schleunigst zu der Baronin, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und ihr den bereitgehaltenen Strauß blühender Rosen zu überreichen. Er sprach die ganze Litanei seiner Befürchtungen in Bezug auf ihr Befinden nochmals herunter und beglückte dann, nach der beruhigenden Versicherung der Baronin, daß sie ganz wohl sei, Frau Konsul Rahnsdorf mit seiner Unterhaltung.

„Hast du es schon gehört, Elfriede, daß Robert in der nächsten Woche fort will?“ wandte sich der Geheimrat an seine Tochter.

Elfriede hob die Augen, ein rascher fragender Blick glitt zu Adlau hinüber, dann aber sagte sie mit höflich kühlem Bedauern:

„Sie wollen Korfu schon wieder verlassen, Herr Adlau. Ist denn Meta damit einverstanden?“

„Der Bösewicht ist ja nicht länger zu halten,“ schmollte Meta. „Fritz und ich haben alles mögliche aufgeboten, aber er thut, als brenne ihm der Boden hier unter den Füßen.“

„Ich muß fort, Meta,“ sagte der Bruder bestimmt. „Die Zeit der Uebergabe von Brankenberg rückt heran und ich habe noch manches vorzubereiten. Ueberdies habt ihr mir ja im nächsten Sommer einen Besuch versprochen. Es bleibt dabei, ich reise am nächsten Mittwoch, und Mitte November hoffe ich, meinen Einzug in Brankenberg zu halten.“

„Mitte November?“ wiederholte der Geheimrat mit einem wehmütig fragenden Blick auf seine Tochter. „Dann sind wir ja wohl in Aegypten?“

„Gewiß, Papa, du weißt es ja, wir gehen direkt von hier nach Kairo.“

„O Kairo! Die Pyramiden!“ rief Wellborn begeistert. „Sie müssen mit hinauf, Herr Geheimrat! Auf diesen Riesendenkmalen der Vergangenheit zu stehen, das ist so erhebend!“

„Und so unbequem!“ seufzte der Geheimrat, aber der Begeisterte ließ sich nicht stören: „Und dann die Kamele, darauf freue ich mich ganz besonders. Wir werden Wüstenritte unternehmen, wir werden uns tragen lassen von diesem Schiff der Wüste –“

„Hören Sie auf, um Gottes willen!“ unterbrach ihn der alte Herr verzweiflungsvoll. „Was mich betrifft – ich möchte am liebsten –“

„Was möchtest du lieber, Papa?“

Die Frage klang sehr ruhig, aber der Herr Papa, der so vollständig unter dem Kommando seiner Frau Tochter stand, kannte den Ton. Er hätte sich beinahe zu dem Geständnis aufgeschwungen, daß er weit lieber mit Adlau die Rückreise antreten würde, jetzt aber lenkte er schleunigst ein.

„Ich meine nur, daß ich eigentlich doch ein wenig zu alt bin für solche Reisen.“

„Aber Papa, du bist ja von einer beneidenswerten Rüstigkeit und nimmst es noch mit all den Jüngeren auf! Du liebst nur etwas zu sehr die Bequemlichkeit, aber man darf solcher Schwäche nicht nachgeben. Es war ein Glück, daß ich noch rechtzeitig eingriff, denn du warst auf dem besten Wege, in deinem einsamen Lindenhof vollständig zu versumpfen.“

Das hieß den alten Herrn aber an seiner empfindlichsten Stelle treffen, einen Spott über seinen geliebten Lindenhof ertrug er nicht.

„Ich werde mit sechzig Jahren doch wohl das Recht haben, zu ‚versumpfen‘!“ sagte er beinahe zornig. „Ich habe mich übrigens sehr wohl bei dieser Versumpfung befunden.“

„Das Recht kann Ihnen niemand bestreiten,“ stimmte Adlau bei. „Uebrigens würden Sie jetzt Gesellschaft dabei haben, denn ich denke mich in Brankenberg ja ebenfalls dieser angenehmen Beschäftigung hinzugeben.“

Elfriede biß sich auf die Lippen, sie fühlte den Seitenhieb, der ihr galt, aber sie lächelte und zuckte nur leicht die Achseln bei der Antwort:

„Ich werde den Papa noch vor Ihnen hüten müssen, Herr Adlau, Sie stiften ihn ja förmlich zur Rebellion an! Zum Glück habe ich sein Versprechen, und er liebt mich viel zu sehr, um mich allein reisen zu lassen. Nicht wahr, Papa?“

Der arme Geheimrat sah gar nicht nach Rebellion aus, und der Appell an seine Vaterliebe stimmte ihn nun vollends weichmütig. Er warf einen Blick auf seine Tochter, die in der That heute bleich und angegriffen aussah, und faltete dann ergeben die Hände.

„Gewiß, mein Kind. Also in Gottes Namen – gehen wir nach Aegypten! Und wenn Sie nach Brankenberg kommen, Robert, dann grüßen Sie mir auch mein liebes kleines Heim, es liegt Ihnen ja gerade vor Augen!“

„Merkwürdig, daß Herr Adlau gerade jetzt nach dem Norden will,“ mischte sich Wellborn in das Gespräch. „Der November und Dezember pflegt ja dort gräßlich zu sein. Weshalb eilen Sie denn so mit der Abreise?“

[476] „Weil in diesem ‚gräßlichen Norden‘ Arbeit und Pflichten auf mich warten, Herr Wellborn. Wer kümmert sich denn eigentlich um Ihre Fabrik, während Sie in Aegypten sind?“

„O, das thut mein Direktor, ein sehr tüchtiger Mann, der schon unter meinem Vater alles leitete. Er kann mir ja seine Berichte nachschicken.“

Der junge Mann setzte nun seine völlige Ueberflüssigkeit in seiner eigenen Fabrik mit einer beneidenswerten Harmlosigkeit auseinander. Meta verbarg mühsam das Lachen und ihr Bruder sagte mit unverhohlenem Spott: „Ihr Direktor wird die Berichte wahrscheinlich gar nicht für nötig halten, er würde Sie ja nur damit stören. Mir wäre übrigens mit solchen ‚verständnisvollen‘ Beamten nicht gedient. Ich will mein Reich selbst regieren.“

„Es wird Ihnen noch zu schaffen machen, Robert, dies Reich,“ sagte der Geheimrat. „Es hieß in der ganzen Umgegend, Brankenberg müßte verkauft werden, um die Familie vor dem gänzlichen Ruin zu retten, und in der letzten Zeit sei es in der Wirtschaft drunter und drüber gegangen. Man hörte da arge Dinge.“

„Ich weiß,“ versetzte Robert ruhig. „Eine ganz tolle Wirtschaft, ohne Sinn und Verstand! Von den reichen Hilfsquellen des Gutes scheint kein Mensch eine Ahnung gehabt zu haben. Ich wußte genau Bescheid, als ich den Kauf abschloß, und habe auch nur den entsprechenden Preis gezahlt. Da heißt es, von Grund aus Ordnung schaffen, und das wird Zeit und Arbeit kosten, aber gleichviel – es ist etwas zu machen aus Brankenberg.“

„Mein Gott, weshalb legen Sie sich denn aber eine solche Last auf?“ warf Frau von Wilkow nachlässig ein. „Es giebt doch sicher Güter mit geordneten Verhältnissen, gerade in unserer Rheingegend.“

„Gewiß, aber ich hatte keine Lust, mich in ein warmes, bequemes Nest zu setzen, wo alles schon gethan ist. Ich muß schaffen, aufbauen können, muß Freude haben an dem Werdenden und Gewordenen, das ist für mich – doch Verzeihung, gnädige Frau, ich langweile Sie da mit Dingen, die Ihnen ganz fern liegen!“

„Warum gerade mir?“ fragte Elfriede, gereizt durch die scharfe Betonung jenes Wortes.

„Weil Sie Ihr Leben in ganz andere Bahnen gelenkt haben, mit vollem Rechte,“ sagte Adlau mit einer Artigkeit, die nur mit dem Ausdruck seiner Augen nicht recht stimmen wollte. „Wer sich an die Arbeit gewöhnt hat wie ich, den läßt die Gewohnheit nicht los, auch wenn die Notwendigkeit zur Arbeit vorüber ist.“

„Haben Sie das denn an sich selbst erfahren?“ fragte Wellborn mit naiver Verwunderung. „Ich glaubte immer, Sie seien zu Ihrem Vergnügen in Amerika gewesen und hätten als Tourist den Weltteil durchstreift.“

„Da sind Sie leider im Irrtum gewesen, Herr Wellborn. Ich hatte nicht das Glück, als Erbe eines reichen Fabrikherrn geboren zu werden, ich bin mit meiner Schwester in einem Pfarrhause aufgewachsen, und ein deutscher Pastor pflegt gewöhnlich keine Schätze aufzuhäufen. Mein Vater gab mir seinen Segen mit, als ich in die Welt hinausging, weiter konnte er mir nichts geben, aber schließlich bin ich damit und mit der eigenen Kraft doch ziemlich weit gekommen. Im Anfange freilich habe ich es oft genug fühlen müssen, daß ich ein armer Teufel war und als solcher gar kein Recht auf das Glück hatte; es wurde mir ziemlich schonungslos klar gemacht, daß das nur für die Reichen und Vornehmen da war. Ja, man muß bisweilen hartes Lehrgeld zahlen – da drüben in Amerika, meine ich.“

Der Geheimrat räusperte sich, er fand, daß die Unterhaltung eine etwas bedenkliche Wendung nahm, und wollte eben eingreifen, als zu seiner großen Erleichterung der Wagen der Frau Konsul gemeldet wurde. Damit nahm der Besuch ein Ende, Meta brach mit ihrem Bruder auf und auch Herr Wellborn empfahl sich, mit der Versicherung, daß am Nachmittage herrliches Wetter sein und daß er sich dann gestatten werde, wegen einer Spazierfahrt anzufragen.

Elfriede war an das Fenster getreten, um der Freundin nachzusehen, aber der Wagen war längst fort und sie stand noch immer, die Stirn gegen die Scheiben gelehnt, ohne sich zu regen. Auch ihr Vater, der auf dem Sofa Platz genommen hatte, schwieg einige Minuten lang, endlich sagte er:

„Robert kann bisweilen recht ungemütlich werden in seinen Anspielungen. Ein Glück, daß die anderen beiden sie nicht verstanden, auch Meta Rahnsdorf scheint nicht eingeweiht zu sein.“

Frau von Wilkow antwortete nicht, sie blickte noch immer hinaus in den strömenden Regen, während der Geheimrat fortfuhr:

„Und du legst es manchmal geradezu darauf an, ihn zu reizen. Wenn ihr beide zusammen seid, steht man immer wie unter einer Gewitterwolke, die jeden Augenblick losbrechen kann. Für diesmal trennen wir uns ja bald wieder, aber wie soll das werden, wenn wir nach Hause kommen, wo Robert unser nächster Gutsnachbar ist?“

Elfriede wandte sich langsam um, sie war auffallend bleich und ihre Lippen zuckten, als sie erwiderte:

„Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, Papa. Ich werde Lindenhof nicht wieder betreten, nun ich weiß, daß Rob –, daß Herr Adlau in Brankenberg leben wird.“

Der alte Herr fuhr förmlich entsetzt aus seiner Sofaecke empor, denn das Gespenst eines ewigen Herumwanderns tauchte drohend vor ihm auf.

„Aber ich bitte dich, Elfriede!“

„Nie wieder!“ wiederholte sie mit scharfem Nachdruck.

„Und auch hier, Papa, hättest du Adlau vermeiden sollen, vermeiden müssen! Statt dessen suchst du ihn förmlich auf, ihr verkehrt ja fortwährend miteinander, und du hast ihm die Hand geboten, als ob gar nichts geschehen wäre!“

„Nein, er war es, der mir die Hand bot, schon bei unserer ersten Begegnung,“ erklärte Rottenstein, nun auch seinerseits mit einigem Nachdruck. „Und das hätte ein anderer nicht gethan, denn er war es, dem damals Unrecht geschah!“

Die junge Frau war an den Tisch getreten und zog einige Rosen aus dem Strauße, den Wellborn ihr vorhin überreicht hatte. Ihr Antlitz trug wieder den müden, gleichgültigen Ausdruck, der ihm sonst eigen war, aber ihre Hand zerpflückte in nervöser Aufregung die Blumen.

„Das heißt mit anderen Worten: ich habe ihm Unrecht gethan! Gehst du in deiner blinden Vorliebe für diesen Mann so weit, Partei für ihn zu nehmen gegen die eigene Tochter? Freilich, das hast du ja schon damals gethan!“

„Ich habe gar nichts gethan,“ sagte der alte Herr sehr offenherzig. „Deine verstorbene Mama hatte die Sache in die Hand genommen. Ich wurde gar nicht gefragt –“

„Und Mama hatte recht,“ fiel Elfriede ein. „Auf die Art, wie Adlau sich damals benahm, als er von jener anderen Werbung erfuhr, gab es nur eine Antwort – meine Verlobung mit Wilkow.“

„Nun schmeichelhaft war das gerade nicht für Wilkow,“ meinte der Geheimrat, in dem sich heute ein ganz ungewöhnlicher Geist des Widerspruchs regte. „Er hat es freilich nie erfahren, wie diese Verlobung eigentlich zu stande kam. Die Mama wollte dich ja durchaus als Baronin Wilkow, als reiche Frau sehen, und wenn deine liebe Mama sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie es auch durch! Robert hat sich freilich wie ein Toller benommen. Das ist wahr, aber es ist ihm auch toll mitgespielt worden, und er liebte dich eben. Der arme Junge hat mir damals in der Seele leid gethan!“

Elfriede zerpflückte mechanisch die letzten Rosen aus dem Strauß, aber bei den letzten Worten des Vaters stieg eine dunkle Glut in ihrem Antlitz empor, und sie hielt die Augen gesenkt, als sie mit halb erstickter Stimme wiederholte:

„Er hat dir leid gethan! Ich nicht – und ich habe doch auch gelitten in jener Zeit!“

Rottenstein richtete die ehrlichen, blauen Augen fest auf sie, es stand ein stummer Vorwurf darin.

„Nun, du bekamst ja deinen Willen! Ob Wilkow gerade der rechte Mann für dich war, das ist eine andere Frage. Du hast freilich immer behauptet, du wärest sehr glücklich mit ihm gewesen, aber ich habe nie recht an dies große Glück geglaubt. Dein Aussehen und dein ganzes Wesen waren nicht danach.“

„Da bist du im Irrtum gewesen, Papa – ganz im

[477]

Eselsreiterin in Kairo.
Nach dem Gemälde von E. Girardet.

[478] Irrtum!“ Die Stimme der jungen Frau klang halb erstickt bei dieser Versicherung. „Du warst überhaupt immer ungerecht gegen Wilkow, er war eine durchaus vornehme Natur.“

„Vornehm! Das bestreite ich gar nicht. Er war es sogar gegen seine Schwiegereltern; und dabei hat er mit aller Artigkeit oft genug den Herrn Baron gegen uns herausgekehrt. Dich mag er ja auf Händen getragen haben, es sah wenigstens so aus, aber mir wäre der Robert mit all seiner Schroffheit, mit seiner stürmischen, rücksichtslosen, aber durch und durch gesunden Natur lieber gewesen als dein höflicher, kühler, vornehmer Herr Gemahl mit seiner ästhetischen Bildung. Nimm’s mir nicht übel, Elfriede, aber ich habe ihn immer recht langweilig gefunden, und du wahrscheinlich auch, sonst hättest du nicht in dies ruhelose, unsinnige Reiseleben gewilligt. Du hast eben draußen in der Welt gesucht, was du in deiner Ehe nicht fandest, und da draußen hast du es auch nicht gefunden!“

Nach dieser unerhörten Redeleistung setzte sich der alte Herr mit einem hörbaren Ruck wieder zurecht in seiner Sofaecke. Er empfand es als eine förmliche Heldenthat, seiner Frau Tochter endlich einmal die Wahrheit gesagt zu haben, und ihr maßloses Erstaunen darüber schmeichelte ihm sogar. O ja, er konnte auch etwas leisten, besonders wenn Robert Adlau ins Spiel kam, der schon als Knabe sein Liebling gewesen war!

Elfriede mochte das fühlen, und das reizte sie nur noch mehr. Sie zerdrückte krampfhaft die schon halb vernichteten Rosen vollends in der Hand und warf sie dann auf den Boden. Die Bewegung hatte durchaus nichts mehr von Müdigkeit oder Gleichgültigkeit, sie war im Gegenteil höchst energisch.

„Ich erkenne dich ja gar nicht wieder, Papa,“ sagte sie im herbsten Tone. „Du bist sonst die Rücksicht selbst, und heute sagst du mir die verletzendsten Dinge ins Gesicht, erinnerst mich schonungslos an jene Zeit, wo ich noch ein halbes Kind war –“

„Ja, das warst du!“ unterbrach sie der Vater. „Und deshalb hätte ich damals eingreifen müssen. Ich wußte es ja, auf welcher Seite dein Herz war, aber das Eingreifen hat deine liebe Mama immer ganz allein besorgt. Jetzt aber sage ich dir, Friedel, gerade ein solcher Mann wie Robert hätte dir gefehlt – und mir,“ schloß er in rührender Selbsterkenntnis.

Das war zu viel für die schon überreizten Nerven der jungen Frau. Sie fand keine Erwiderung, aber sie warf sich in einen Sessel, brach in Thränen aus und kämpfte mit einem Ohnmachtsanfall.

Der Geheimrat hegte sonst einen unbedingten Respekt vor diesen Nervenzufällen; er pflegte bei ihrem Eintritt stets nach Kölnischem Wasser zu stürzen und Abbitte zu leisten für Dinge, die er gar nicht begangen hatte. Aber heute verfing auch das nicht bei ihm. Er war nun einmal ins Rebellieren geraten, und da ihm dies zu seiner eigenen Verwunderung so ausgezeichnet glückte, fing er an, sich darin zu gefallen. Anstatt Beruhigungsversuche anzustellen, blieb er sitzen und sagte ganz gelassen:

„Ja, nun weinst du wieder. Das solltest du dir abgewöhnen, Friedel! Robert sagt, er würde seiner Frau die Nervenzufälle sofort abgewöhnen – und ich glaube, er ist der Mann dazu!“

Die Worte hatten eine ungeahnte Wirkung. Die Thränen versiegten plötzlich, und Elfriede sprang auf. Flammendrot im Gesicht, mit sprühenden Augen; ihr ganzes Wesen schien sich aufzubäumen in leidenschaftlicher Heftigkeit, und außer sich rief sie:

„Robert und immer nur Robert! Für dich scheint es überhaupt gar nichts anderes mehr zu geben auf der Welt. Ich will aber diesen Namen nicht mehr hören! Ich will überhaupt nichts mehr hören von der Vergangenheit! Sie ist tot für mich!“

Damit eilte sie stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, den Vater allein lassend, der durch diesen Ausbruch gar nicht aus der Fassung gebracht wurde. Um seine Lippen spielte im Gegenteil ein zufriedenes Lächeln, als er ihr nachblickte.

„Ganz meine alte Friedel! Nun, wenn der Trotz und der Eigenwille erst wieder da sind, dann wird auch wohl das Lachen wiederkommen. Also ‚tot‘ ist die Vergangenheit für sie, und für den Robert ist sie ‚begraben und vergessen‘? Die beiden stellen sich doch etwas merkwürdig an bei dem ‚Totsein‘ und ‚Vergessen‘! Ich glaube, wenn sie einmal allein wären, so Auge in Auge, dann –“

Er brach ab und versank in Gedanken. Der alte brave Herr, dem nichts auf der Welt so zuwider war wie Intriguen, der sich in seiner langen, ehrenwerten Laufbahn nie so etwas hatte zu schulden kommen lassen, er spann jetzt eine ganz regelrechte Intrigue, vorläufig noch im Kopfe, aber als er damit fertig war, stand er auf und sagte mit hohem Selbstgefühl:

„Jetzt werde ich auch einmal eingreifen! Wofür bin ich denn Vater und Geheimrat!“

(Fortsetzung folgt.)     




Eine neue Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt.

Wer hilft den armen verkrüppelten Kindern? Eine kurze Frage, aber welch’ eine Fülle von Not und Elend läßt sie nicht vor unseren geistigen Augen erscheinen, in allen jenen armen verkrüppelten, gebrechlichen Kindern, die oft verlassen, verstoßen, verachtet, ohne die notwendigste Pflege, Erziehung und Ausbildung sich nach Hilfe sehnen!

Ihre Zahl ist sehr groß und unter ihnen befinden sich Jammergestalten, deren Anblick auch das härteste Herz erweichen muß. Viele von ihnen sind mißgestaltet und verkrümmt geboren, andere, und zwar die meisten, sind durch schwere Krankheiten, Unglücksfälle und besonders durch Mangel an Pflege verkrüppelt; denn sehr oft sind die Familien, denen sie angehören, gar nicht imstande, ihnen das nötige Maß von Hilfe angedeihen zu lassen! Und wie traurig steht es erst bei den verwaisten Krüppelkindern! – Solange sie jung sind, tritt die Not zurück, aber wenn die Schulzeit herankommt, wird sie sehr fühlbar; denn entweder können die armen Kinder gar nicht zur Schule gebracht werden, weil sie zu gebrechlich sind, oder man kann die Aermsten, wenn sie in der Schule sind, vor Mutwillen, Unverstand und Kränkungen der Mitschüler nicht hinreichend schützen. Nach der Schulzeit wird die Sorge noch größer; denn kein Meister mag ein verkrüppeltes Kind in die Lehre nehmen. So bleiben die meisten Krüppelkinder armer Leute ohne Schulbildung und ohne Vorbildung fürs Leben. Durch gewerbsmäßigen Bettel suchen später viele ihr Dasein zu fristen, oder fallen den Gemeinden zur Last. Während man für andere elende Menschen, für Blinde, Epileptische, Blöde etc., in barmherziger Liebe viel gethan, große Anstalten erbaut, zahlreiche Pflegekräfte in Bewegung gesetzt hat, ist zur regelrechten Ausbildung und Erziehung gebrechlicher Kinder noch sehr wenig geschehen. In Württemberg, Bayern, Dänemark, Norwegen, Schweden hat man sich dieser Aermsten unter den Armen schon seit 50 Jahren unter allgemeinster Teilnahme der Bevölkerung angenommen und die schönsten Erfolge erzielt; aber in ganz Mittel- und Norddeutschland bestand bis vor kurzem nur eine einzige Kinderkrüppelanstalt in Nowawes, und diese auch erst seit einigen Jahren. Wieviel bleibt da noch zu thun!

Eine beredte Sprache reden die Erfolge der „Königlich Bayerischen Central-Anstalt für Bildung und Erziehung krüppelhafter Kinder“ in München. Aus derselben sind bis zum Jahre 1894 hervorgegangen 2 Gelehrte, 3 Lehrer, 4 Musiker, 4 Buchhalter, 59 Buchbinder, 53 Schreiber, 23 Uhrmacher, 28 Schneider, 18 Galanteriearbeiter, 11 Maler, 13 Schreiner, 10 Pinselmacher, 6 Lithographen, 6 Portefeuiller, 5 Goldsticker, 7 Schuhmacher, 3 Blumenmacher, 4 Rentamtsgehilfen, 16 Oekonomiearbeiter, 6 Amtsgerichtsgehilfen, 2 Sattler, 8 Papparbeiter, 3 Photographen, 3 Vergolder, 6 Schäfer, 4 Buchhalterinnen, 3 Ladnerinnen, 13 Kleidermacherinnen, 5 Modistinnen, 56 Näherinnen, 11 Stickerinnen, 10 Zimmermädchen etc. Von je 100 Kinderkrüppeln sind 92 für einen selbständigen bürgerlichen Beruf [479] ausgebildet worden, nur 8% von allen in der Anstalt Verpflegten konnten wegen ihrer Gebrechen keinen selbständigen Beruf erwählen. Was würde aus diesen Hunderten verkrüppelter Kinder geworden sein, welch eine Last würden dieselben den Heimatgemeinden gewesen sein, wenn die Anstalt sich ihrer nicht angenommen hätte! Wieviel schwerer wiegt das bescheidenste Armengeld, wenn es jahrzehntelang seitens kommunaler Kassen Verkrüppelten dargereicht werden muß, gegen die geringen Kosten mehrjähriger Pflege und Ausbildung in einer Krüppelanstalt. Wie einsichtsvoll handelten alle die, die sich der verkrüppelten Kinder in Liebe erbarmten!

Nunmehr hat auch für Mittel- und Norddeutschland ein edler Mann in seinem Alter seine Lebensaufgabe darin gefunden, diesen armen Krüppelkindern eine große Pflege- und Bildungsstätte zu schaffen. Es ist der Superintendent Pfeiffer in dem Dorfe Cracau bei Magdeburg, dessen „Samariterhaus für Kinder“ am 8. Mai d. J. eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben werden konnte. Aus kleinen Anfängen ist diese große, herrliche Anstalt, welche die Beachtung aller weltlichen und kirchlichen Gemeinden in ganz Deutschland verdient, hervorgegangen. Was hier die auf christliche Liebe sich gründende Kraft eines Mannes und seiner treuen Gattin geschaffen hat in dem kurzen Zeitraum von 10 Jahren, reiht sich würdig an die großen Schöpfungen großer Männer. Genau 10 Jahre sind es her, als in Cracau aus freiwillig dargereichten Liebesgaben durch den Superintendenten Pfeiffer ein Siechenhaus, „Johannesstift“ genannt, erbaut wurde. In ihm befanden sich anfangs sieche Männer und Frauen. Schon nach wenigen Jahren mußte zur Aufnahme derselben ein Nachbarhaus hinzugekauft werden, das auch siechen und verkrüppelten Kindern als Zufluchtsstätte diente. Infolgedessen reichten die Wirtschaftsräume nicht mehr aus; darum wurde 1895 ein neues Wirtschaftshaus erbaut.

Seit 1890 sind 40 bis 50 Kinder fortwährend in dem Siechenhaus Johannesstift vorhanden gewesen, die den erforderlichen Schulunterricht empfangen und zur Erlernung einer ihren Kräften angemessenen Arbeit angehalten werden, damit sie später ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise selber erwerben können. Die Mädchen lernen nähen, stricken, häkeln, sticken; die Knaben allerlei Handfertigkeiten: Papp- und Schnitzarbeiten, Schneiderei, Schuhmacherei, Korb- und Stuhlflechterei. Staunenswertes wird bei vielen durch Nachsicht und Geduld erreicht! Die Arbeit an den gebrechlichen Kindern erfordert zwar viel Lehr- und Pflegekräfte, ist aber reich gesegnet. Neuaufnahmen konnten bis jetzt nicht mehr stattfinden, weil es an Raum fehlte. So wurde die Schaffung einer großen Kinderkrüppel-Erziehungs- und Bildungsanstalt für das nördliche und mittlere Deutschland ein dringendes Bedürfnis. Diesem gab der Vorsteher der Anstalt nach, und in festem Vertrauen auf Gottes Hilfe und die werkthätige Nächstenliebe ging er von neuem ans Werk, sammelte Liebesgaben und arbeitete selbst einen praktischen Bauplan für das neue Haus aus, das unter seiner eigenen Bauleitung seit dem Mai des Jahres 1897 erstand.

Jetzt ist es fertig, das „Samariterhaus für Kinder“, ein herrliches Gebäude, das seinen Erbauer, der jahrelang in selbstloser Liebe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht daran gearbeitet hat, aufs höchste ehrt. Gleichzeitig erstanden ein Pförtnerhaus, ein Beamtenhaus für Lehrer, Aerzte und Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsräume und Stallungen. Auch eilt der Anstalt fehlendes Gotteshaus ist in Form einer schönen Kapelle gleichzeitig fertig geworden. Die neue Anstalt ist groß angelegt. Das erste Geschoß ist für 60 Knaben, das zweite für 60 Mädchen und das Dachgeschoß für 40 bis 60 Knaben und Mädchen bestimmt (letzteres für solche, die ganz siech sind). Tages- und Nachträume sind getrennt in zwei großen Seitenflügeln untergebracht, ein Mittelflügel enthält einen Turnsaal mit medico-mechanischen Instrumenten und einen Operationssaal. Vermittelst eines hydraulischen Aufzuges werden die Kinder von einem Stockwerk zum anderen befördert, durch einen anderen Aufzug in gleicher Weise die Speisen. Die Front enthält Schul- und Schwesternzimmer, Wohnräume für Aerzte etc.

Es ist hier eine Wohlthätigkeitsanstalt erstanden, die ihresgleichen nicht hat, die aber deswegen auch die Hilfe aller derer um so mehr verdient und bedarf, die ein Herz haben für das menschliche Elend. Noch fehlt eine große Summe zur Bezahlung der Bauschuld. Möge deshalb die neue Anstalt so bereitwillig die Unterstützung aller wahren Menschenfreunde finden, wie sie es verdient!

Zwecks Aufnahme von Krüppelkindern wolle man sich an den Vorstand des „Johannesstifts“ in Cracau bei Magdeburg wenden. O. D.     


Blätter und Blüten.



Das Bismarck-Denkmal in Magdeburg. (Zu dem Bilde S. 453.) Von den Standbildern, welche bisher dem Fürsten Bismarck errichtet worden sind, ist das am 1. April dieses Jahres in Magdeburg enthüllte von ganz besonderem künstlerischen Wert. Als Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen und des Regierungsbezirks, in welchem das Gut Schönhausen und damit die Geburtsstätte des großen Kanzlers liegt, hat Magdeburg durch Aufstellung dieses Denkmals in dem Einiger Deutschlands zugleich den größten Sohn der heimatlichen Provinz geehrt. Den Anlaß zu dem Ausschreiben eines Wettbewerbs für das Denkmal gab 1895 der achtzigste Geburtstag des Fürsten. Das Ergebnis war die Annahme eines von den Braunschweiger Künstlern Karl Echtermeyer und Hermann Pfeifer eingelieferten gemeinsamen Entwurfes, mit dessen Ausführung in Kupfertreibarbeit die altberühmte Howaldtsche Erzgießerei in Braunschweig beauftragt wurde. Auf einem großen, bisher nach Scharnhorst, jetzt aber nach Bismarck benannten Platze, unweit des Domes und hart am Breitenwege, der Hauptverkehrsader Magdeburgs, hat das Standbild seine Aufstellung gefunden. In der Vollkraft seines machtvollen, in sich selbst beruhenden Wesens, den Mantel der Kürassieruniform leicht zurückgeschlagen, so daß auf der Brust das Eiserne Kreuz und am Hals der Orden Pour le mérite sichtbar sind, das Haupt stolz erhoben, den Blick ins Weite gerichtet, so steht der Kanzler in doppelter Lebensgröße auf dem hohen Sockel aus rotem Granit. Ein einziges Wort, der Name „Bismarck“. ist auf dem Sockel in monumentaler Lapidarschrift zu lesen; als einfacher, aber bedeutsamer Schmuck ist darunter ein gewaltiger Adler angebracht, der mit weitausgreifenden Fängen das Reichswappen verteidigt. Glücklich wie die Wahl des Materials war auch die des Standorts, denn man setzte das Denkmal von den umgebenden vierstöckigen Wohnhäusern des Bismarckplatzes so weit entfernt, daß sich die Figur in voller Klarheit scharf vom Himmel abhebt. Die Feier der Einweihung am 1. April verlief unter allgemeiner Beteiligung; die Weiherede hielt Amtsgerichtsrat Schwabe, der Vorsitzende des Denkmalsausschusses.

Aerztliche Mission. Eine der wichtigsten kolonialen Aufgaben besteht in der Hebung der Naturvölker zu einer höheren Stufe der Kultur und Gesittung. Neben dem Kaufmann und Pflanzer wirken darum in den Kolonien auch Schullehrer und Missionare. Als ein weiterer Träger und Förderer der Kultur gilt der Arzt. Die Heidenvölker in Asien und Afrika tragen die Krankheitsnot besonders schwer, denn die eingeborenen Medizinmänner, Priester und Zauberer vermögen ihnen nicht zu helfen und quälen sie znmeist durch ihre abergläubischen und oft grausamen Kuren. Da kann ein wirklicher Arzt, der in einer Mission wirkt, das Los vieler Unglücklichen mildern. In England haben schon vor 58 Jahren die herzerschütternden Schilderungen des amerikanischen Arztes Dr. Parker, der in China wirkte, den Sinn für die ärztliche Mission geweckt, und es stehen zur Zeit über 500 Missionsärzte und Missionsärztinnen aus England und Amerika in der Arbeit. Deutschland ist auf diesem Gebiet noch weit zurück, denn es entfallen auf alle deutschen Missionsgesellschaften nur 12 Missionsärzte. Es ist darum gewiß als eine zeitgemäße Erscheinung zu begrüßen, daß in jüngster Zeit ein deutscher Verein für ärztliche Mission ins Leben getreten ist. Sein Geschäftsführer ist der auf eine 21jährige Thätigkeit in Indien zurückblickende Dr. med. Liebendörfer in Stuttgart.

Dieser Verein hat sich die Aufgabe gestellt, vor allem der Basier Missionsgesellschaft und in zweiter Linie auch anderen deutschen Missionsgesellschaften zu dienen, das Interesse für ärztliche Mission zu fördern und zu wecken und über Fortschritte auf dem Gebiete der Tropenmedizin und Tropenhygieine zu berichten. Der Verein sammelt ferner Geldmittel, um Missionsärzte auszurüsten und auszusenden und Spitäler in den Missionsgebieten zu bauen. Am dringendsten wird ein Missionsarzt für unser deutsches Schutzgebiet Kamerun begehrt, wo in Bonaku, im Centrum der Mission, auch ein kleines Krankenhaus gebaut werden sollte. Hoffentlich werden dem Vereine reichliche Spenden zufließen, damit das menschenfreundliche Ziel erreicht werde!

[480] Auf der Gaisalpe. (Zu dem Bilde S. 457.) Die Melkarbeit auf einer Gaisalpe führt uns der Künstler mit überraschender Naturtreue vor Augen. Wer ist dem kecken, lebfrischen „Goasbuab’n“, der selten ein ganzes Stück Gewand, aber dafür fast ausnahmslos eine schneidige Hahnenfeder auf dem Hut und irgend eine alte Stummelpfeife sein eigen nennt, in den Bergen nicht schon begegnet! Der Ziegenhirt, kurzweg „Goaser“ genannt, ist so eigentlich der Proletarier unter dem originellen Völkchen unserer Hirten und Senner. Seine Behausung, die „Goasalm“, ist womöglich noch viel primitiver als die primitivste „Kühalm“. Wenn auf einer Gaisalpe nebenbei nicht auch gekäst wird, dann stellt sie sich in den meisten Fällen nur als ein mit einem Wetterdach versehener Unterschlupf dar, dessen Inneres nicht viel mehr enthält als den hölzernen Schragen für das Heulager und einen kleinen Feuerherd. Sobald es Frühjahr wird, werden die für die Alpe bestimmten „Goas“ gesammelt und aufgetrieben. Das Leben eines „Goasers“ läßt sich einen Tag nach dem anderen in sehr wenige Momente fassen. In aller Frühe Melken der Tiere, die über Nacht zumeist um die Almhütte lagern, und Auftrieb derselben auf die hochgelegenen Bergmahden. Ein Stück Käse und Brot wird als Proviant für den ganzen Tag mitgenommen. Was ihm von der Fürsorge für seine auf den Bergmahden verstreute Herde an Zeit übrig bleibt, kann der „Goaser“ zu seinem Privatvergnügen verwenden. Abends wird die versprengte Herde nach der Alm zurückgetrieben und dort wieder gemolken. Ein geübter Hirt hat schon in der zweiten Woche nach der Almfahrt seine Herde derart dressiert, daß ihr tägliches Einbringen ihm keine sonderlichen Schwierigkeiten bereitet. Das gilt allerdings mehr für Frühjahr und Sommer, wo die milchschweren Tiere aus eigenem Antrieb gern ihre Heimstätte aufsuchen. Im Herbst aber, der milcharmen Zeit, wenn die Gemsennatur in der immer kletterlustigen „Goas“ erwacht, ist es keine geringe Geduldsprobe, alle die zerstreuten und oftmals an den gefährlichsten Stellen verstiegenen Tiere wieder zu einer Herde zu sammeln. Daß der „Goaser“ einer kernfrischen und lustigen Menschenklasse angehört, ist allgemein bekannt. Sonst würde es schon das Schnadahüpfel beweisen:

„I bin a Goasbua, a junger,
Lass’ dem Teufel koa Ruah’,
Und die Engerln im Himmel,
Dö lachen dazua!“

R. G.     

Die deutsche Schule in Johannesburg.

Die deutsche Schule in Johannesburg. (Mit Abbildung.) Seit nahezu zwei Jahren besitzen auch die Deutschen in Johannesburg, der volkreichsten Stadt der Südafrikanischen Republik, ein eigenes Schulhaus. Die Einrichtung einer deutschen Schule war daselbst schon 1888 ins Auge gefaßt worden, als sich kurz nach der Trauerfeier zum Gedächtnis Kaiser Wilhelms I die deutsch-evangelische Gemeinde unter Leitung des Pastors Kuschke in der Boerenstadt gebildet hatte. Ein Mitglied der Gemeinde, Herr Rolfes, wußte das Interesse der Reichsbehörde für den Bau eines besonderen Gebäudes für die Zwecke der Schule zu wecken; die Mittel dafür brachte die Gemeinde mit großer Opferwilligkeit auf, und die südafrikanische Regierung stellte auf Ansuchen des Konsuls v. Herff ein umfangreiches Grundstück zur Verfügung. Am 4. April 1897 wurde dann bei herrlichstem Wetter die Grundsteinlegung festlich begangen. Eröffnet wurde die Feier durch einen Festgottesdienst in der deutschen Kirche, wobei Superintendent Nauhaus die Predigt hielt, dann folgte auf dem reichbeflaggten Bauplatz eine Ansprache des deutschen Konsuls, worauf Frau Mathilde Rolfes die Weihe des Grundsteins vollzog. Vorträge der vereinigten Männerchöre des „Deutschen Liederkranzes“ und des „Schweizer Gesangvereins“ leiteten den Festakt ein und beschlossen ihn. Bereits am 1. September desselben Jahres konnte die neue Schule eröffnet werden. Die Schülerzahl, die anfangs 17 Knaben und 14 Mädchen umfaßte, nahm rasch zu, so daß in Kürze sechs Klassen eingerichtet werden mußten. Heute besuchen fast 200 Schüler die Schule, welcher Dr. Georg Weidner aus Hamburg als Direktor vorsteht. Es ist im Plane, die Anstalt so zu entwickeln, daß sie einer deutschen Realschule entspricht. Neben dem Englischen wird als zweite Fremdsprache, statt Französisch, Holländisch gelehrt. Die Regierung des Transvaalfreistaats gewährt der Schulverwaltung für dieses Zugeständnis an die Landessprache einen Zuschuß von 80 Mark jährlich für den Schüler.

Das in rotem Backstein aufgeführte Schulhaus bildet ein Rechteck mit der Front nach Westen zu und bietet bei seiner freien Lage auf einem Hügel einen Ueberblick über die Goldstadt, wie er schöner kaum gedacht werden kann. Die Klassenräume sind den Anforderungen der Hygieine gemäß hoch und luftig und trefflich eingerichtet, ein großer Spielplatz steht der Jugend in der Freizeit zur Verfügung. Augenblicklich ist man damit beschäftigt, auf der Nordseite des Gebäudes eine Turnhalle zu errichten, von der man hofft, daß sie später ein Sammelpunkt für das gesamte Deutschtum in Johannesburg werde. Diese Weiterentwicklung der deutschen Schule in Johannesburg wird freilich noch manches Opfer in Anspruch nehmen, aber wahrlich sie ist als einer der am weitesten vorgeschobenen Posten deutscher Bildung im Ausland solcher Opfer auch wert!

Farbige Blumenkronen und Insekten. Nach Darwin und anderen, weit älteren Beobachtern sollten es die farbigen Blumenkronen sein, welche den verschiedenen Insekten ein Erkennen der Blumen, deren Blüten sie Honig entnehmen können, ermöglichen, und man hat daraus Schlüsse gezogen auf die mehr oder weniger hohe Entwicklung des Gesichtssinnes bei den verschiedenen Insekten. Nun hat aber neuerdings Professor Plateau, wie er in den „Bulletins de l'Academie Royale de Belgique" berichtet, eine Reihe von Untersuchungen angestellt, welche das direkte Gegenteil zu beweisen scheinen, daß es nämlich nicht der Gesichts-, sondern vielmehr der Geruchssinn ist, welcher die Insekten leitet. Er beraubte bei seinen Versuchen lebhaft gefärbte Blumen, wie Fingerhut, Rittersporn, Löwenmaul u. a., ihrer Blumenkronen, ohne aber die Honigdrüsen der Blüten auch nur im geringsten zu verletzen. Und siehe da, diese verstümmelten Blüten, die jetzt durch ihre Färbung doch durchaus unauffällig waren, wurden von ihren gewöhnlichen Gästen genau so häufig aufgesucht, als ob sie noch völlig intakt wären. Selbst wenn sie außerdem noch künstlich verdeckt waren, wurden sie umschwärmt.

Entschieden ist hierdurch freilich die Frage, ob bei Aufsuchung der Blüten der Gesichts- oder der Geruchssinn eine größere Rolle spielt, noch nicht endgültig, dazu hätten die Versuche noch weiter ausgedehnt und lebhaft gefärbte Blüten der Honig absondernden Organe beraubt werden müssen. Wären sie auch dann noch ebenso häufig wie die unverletzten aufgesucht worden, so wäre dadurch festgestellt gewesen, daß dem Gesichtssinn die größere Rolle zukommt. Immerhin geht auch jetzt bereits aus den Plateauschen Versuchen mit Gewißheit hervor, daß die Bedeutung des Geruchssinnes bei den Insekten bisher unterschätzt worden ist, und sie machen es wahrscheinlich, daß ihm jedenfalls eine ebenso große, vielleicht sogar eine größere Rolle zukommt als dem Gesichtssinn. d.     

Der schüchterne Freier. (Zu dem Bilde S. 481.) Rauchen ist gut, aber Reden ist besser, besonders wenn man gern eine Braut bekommen möchte! Diese Erkenntnis ging soeben nach einer Stunde schweigenden Dasitzens dem guten Jan in seinem holländischen Phlegma mit überwältigender Gewißheit auf: er faßt einen Entschluß, stellt sich plötzlich auf seine Füße, nimmt die Pfeife aus den Zähnen, sieht den schelmisch erwartungsvollen Blick der kleinen Person neben dem brodelnden Theekessel am Kamin, die sich geschworen hat, ihm nicht zu Hilfe zu kommen – und aus ist’s wieder mit der Courage … Verlegen deckt die schwielige Hand den Mund, der beinahe etwas gesagt hätte! … Die lustige Antje aber muß sich Gewalt anthun, um nicht gerade herauszulachen. Nehmen wird sie ihn schließlich schon, das steht in ihrem glänzenden Blick geschrieben, aber bis es soweit kommt – o, armer Jan, wie schlimm wird es dir da noch ergehen! Bn.     

Verwendung der Destillationsrückstände des Petroleums zum Löschen des Staubes. Eine neue Verwendung der sonst nur zu Heizzwecken benutzten Destillationsrückstände des Erdöls hat nach amerikanischen Berichten im letzten Jahre die Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft versucht.

Wer je im Sommer durch sandige Gegenden mit der Eisenbahn gefahren ist, der hat auch Erfahrungen darüber gesammelt, wie ungeheuer lästig der feine Staub, der von dem schnell fahrenden Zuge aufgewirbelt wird, den Passagieren werden kann. Nichts schützt vor ihm, er dringt durch die kleinste Lücke, durch die feinsten Ritzen und erzeugt auf der feuchten Haut bald ein heftiges Jucken und Brennen. Noch viel schlimmer aber als bei uns, selbst auf einer Fahrt durch die Lüneburger Heide, ist’s in dieser Beziehung in Amerika. Denn während bei uns doch noch hier und da im Sommer mal ein ordentlicher Regen fällt, der den Boden bindet und seine Austrocknung in größeren Tiefen verhindert, giebt es dort Gegenden, wo es während des ganzen Sommers überhaupt nicht regnet und der Boden rissig und bis in Tiefen ausgedörrt wird, von denen wir keine Ahnung haben. Fährt über solche Strecken ein Eisenbahnzug, so wirbelt er Wolken von Staub auf, welche die Sonne verfinstern, und gegen die selbst die in den amerikanischen Eisenbahnwagen gebräuchlichen Doppelfenster nicht schützen.

Wie hilft man sich nun gegen dies bei den langen amerikanischen Strecken doppelt schlimme Uebel? Das einzige ist Sprengen, aber woher die ungeheuren dazu notwendigen Mengen von Wasser nehmen?

Da kam ein genialer Kopf auf den Gedanken, es mit den schwer flüchtigen Petroleumrückständen zu versuchen. Man konstruierte fahrbare, an die Lokomotiven anzuhängende große Reservoire, deren Inhalt, in diesem Falle also das Oel, durch Druckluft über den Bahndamm und das angrenzende Land gleichmäßig aufs feinste verstäubt wird. Das Oel bindet anfänglich, genau wie das Wasser, den Staub; nach und nach aber verdunsten die flüchtigen Oelbestandteile, und der Rest bildet einen dünnen Ueberzug wie von Asphalt. Dabei soll eine solche Besprengung öfter als zweimal im Jahr nicht nötig, der Erfolg aber ein derartiger sein, daß andere amerikanische Eisenbahnlinien diese Methode des Sprengens ebenfalls einführen wollen. d.     

[481]

Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl in München.

Der schüchterne Freier.
Nach dem Gemälde von Paul Höcker.

[482] Nach der Schlacht von Dornach. (Zu dem Bilde S. 473.) An der reißenden Birs im Kanton Solothurn liegt das Dorf Dornach, auch Dorneck genannt. In früheren Zeiten bildete es einen wichtigen strategischen Punkt: wer es beherrschte, dem stand der Eingang ins Gebirge frei. Aus diesem Grunde haben die Solothurner zur Zeit der letzten Kämpfe um die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft in der kleinen Burg, die über dem Dorfe lag, eine Besatzung unterhalten. Bei Dornach wurde im Jahre 1499 die Schlacht geschlagen, welche den sogenannten „Schwabenkrieg“ entschied und der Schweiz die politische Selbständigkeit sicherte. Im Sommer des genannten Jahres wollte einer der Feldherren Kaiser Maximilians, Graf Heinrich von Fürstenberg, sich des wichtigen Ortes bemächtigen. Er rückte mit 16000 Mann vor und belagerte die von dem tapferen Vogte Benedikt Hugi verteidigte Burg. Zu ihrem Entsatz eilten etwa 4000 Mann von Bern, Solothurn und Zürich herbei. Am 22. Juli glaubten sich die Belagerer in voller Sicherheit und ergaben sich allerlei Lustbarkeit, als das Entsatzheer unbemerkt heranrückte und in der größten Mittagshitze das feindliche Lager überfiel. Gleich beim ersten Angriffe wurden mehrere Führer der Kaiserlichen, unter ihnen auch Graf Heinrich von Fürstenberg, erschlagen. Nach und nach sammelten sich jedoch die Belagerer und drangen mit Uebermacht auf die Eidgenossen ein, deren Lage immer schwieriger wurde, „bald rückwärts, bald vorwärts wogten die Scharen, wie die vom Wind bewegte Saat“. Da erschienen im kritischen Augenblick 1200 Luzerner und Züricher auf dem Schlachtfelde und entschieden den Kampf zu Gunsten der Schweizer. Demütig kamen am anderen Tage einige Mönche und Gesandte aus Basel, die Leichen der gefallenen Grafen, Ritter und Edlen zu suchen und um deren Auslieferung zu bitten, damit sie bei ihren Vätern ruhen könnten. Aber die Eidgenossen wiesen das Ersuchen ab mit den Worten: „Die Edlen müssen bei den Bauern bleiben.“ Diesen ergreifenden Vorgang stellt das treffliche Bild von E. Klein dar. Die Gesandtschaft erhält die bittere Antwort an der Bahre des überwundenen Feldherrn. *      

Der Papyrus in Sicilien. (Mit Abbildung.) Im warmen Klima Siciliens – die Insel kennt bis auf wenige Bezirke keinen Winter, sondern nur eine Regenzeit – gedeiht gar manche Pflanze, die man bei uns nur im Treibhaus sieht. Viele derselben sind aber ursprünglich keine einheimischen Gewächse, sondern aus subtropischen Gegenden nach der Insel eingeführt. Eine der in dieser Beziehung bemerkenswertesten Pflanzen Siciliens ist der Papyrus, den man vielfach in Syrakus, Palermo etc. neben Bambusstauden in Gärten angepflanzt trifft, der aber auch an einer Stelle Siciliens wild wächst, nämlich an den Ufern eines Flüßchens bei Syrakus, des Anapo, und der aus dem Altertum bekannten benachbarten Quelle Cyane.

Der Papyrus (Cyperus Papyrus) gehört zu den Riedgräsern. Aeußerlich ähnelt er unserem Schilfe, unterscheidet sich von diesem jedoch durch die gewaltige Höhe, die er erreicht (im Spätsommer werden die Stauden 4 bis 6 m hoch), und durch die büschelförmigen an langen Stengeln sitzenden Blüten, die häufig durch ihre Schwere nach unten sinken und ins Wasser hängen. Im Winter werden die Blätter trocken und gelblich und im Frühjahr sprossen reingrüne frische Blätter und Blüten hervor, während die trockenen vorjährigen allmählich abfallen.

Papyrusstauden am Anapofluß bei Syrakus.

Auf eine lange Strecke ist der Anapofluß auf beiden sumpfigen Ufern mit vollständig verwilderten Papyrusstauden besetzt, die Cyanequelle ist ganz von Papyrus umgeben. Die Stauden bilden in ganz kurzen Zwischenräumen mächtige Gruppen. Dadurch entsteht ein äußerst malerischer Anblick, wie er seinesgleichen in Europa nicht haben dürfte. Das schmale Flüßchen muß mit einem Boote besucht werden, da die sumpfigen Ufer nicht oder nur stellenweise zu Fuß zu erreichen sind.

Der Papyrus des Anapo ist von den Arabern aus Aegypten mitgebracht und in Sicilien angepflanzt worden. Das günstige sumpfige Terrain am Anapo hat ihn acclimatisiert. Bekanntlich machten die alten Aegypter aus dem harten Mark des Papyrus ihr Schreibmaterial, und unser Papier führt nach dieser Pflanze seinen Namen.

Der Kohlenbedarf beim Anfahren und Bremsen von Eisenbahnzügen. Bekanntlich bildet beim Eisenbahnbetriebe das oftmalige schnelle Anhalten und Wiederangehen der Züge einen nicht zu vernachlässigenden Punkt bei der Festsetzung der Fahrpläne und Betriebskosten. Jede neue Haltestelle bedeutet, ganz abgesehen von der Zeitdauer des Anhaltens selbst, nur durch die Verzögerung beim Bremsen und Anfahren einen Zeitverlust von ungefähr 3 Minuten, der, im Fall der Fahrplan unverändert bleiben soll, eine Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit auf freier Strecke notwendig macht. Ein Eisenbahnfachmann hat sich neuerdings der Mühe unterzogen, den Kohlen- und Kostenaufwand, der beim Bremsen und Anfahren der Eisenbahnzüge entsteht, durch Messungen und Berechnungen genau festzustellen, und ist dabei zu bemerkenswerten Resultaten gekommen. Wenn man den Dampf in so weiter Entfernung vor dem Haltepunkt ganz absperrte, daß die lebendige Kraft des Zuges eben hinreichte, um ihn bis in den Bahnhof zu bringen, so würde eine Zerstörung lebendiger Kraft durch Bremsung gar nicht erforderlich sein, und die Kosten des Wiederanfahrens bis zur Erreichung der vollen Geschwindigkeit wären durch die Ausnutzung der lebendigen Kraft bei der Einfahrt vollständig gedeckt. Die Zeitverschwendung bei dieser Methode würde jedoch so groß sein, daß der erzielte Gewinn an Kohlen dazu in gar keinem Verhältnis stände. So bleibt nur übrig, den Dampf verhältnismäßig spät abzustellen und dann die lebendige Kraft durch die Anwendung von Bremsmitteln zum Teil zu vernichten. Die ökonomisch günstigste Einfahrt bedingt etwa die Ausnutzung von ⅔ der lebendigen Kraft und die Vernichtung des Restes durch Bremsen. Unter diesen Umständen kommt ein Zug von mittlerem Gewicht und mittlerer Geschwindigkeit in etwa 3 Minuten zum Stillstand, wobei lediglich die Kosten der Vernichtung von einem Drittel der lebendigen Kraft auf 0,40 Mark beim Einlaufen eines Zuges von 75 km, auf 0,56 Mark bei einem solchen von 90 km mittlerer Geschwindigkeit berechnet wurden. In der gesamten lebendigen Kraft des Zuges, die beim jedesmaligen Anfahren durch stärkeres Heizen aufs neue erzeugt und beim Bremsen zu einem Drittel vernichtet wird, steckt natürlich der dreifache Wert, und zwar sind bei einem Zuge von 400 t Gewicht und 90 km Grundgeschwindigkeit 216 kg Kohle erforderlich, um diese lebendige Kraft zu entwickeln, d. h. den Zug aus dem Zustande der Ruhe in den einer Bewegung von 90 km in der Stunde zu versetzen. Die Zeit bis zur Entfaltung dieser Geschwindigkeit beträgt alsdann 6 Minuten, und nunmehr sind, um dem Zuge dieselbe Geschwindigkeit dauernd zu erhalten, 58 kg Kohle in jeder Minute erforderlich. Bemerkenswert ist es dabei, daß sich bei einem Zuge von gleichem Gewicht und halber Geschwindigkeit alle diese Ziffern nicht etwa halb so hoch, sondern nur ein Viertel oder ein Fünftel so hoch belaufen. – Soll nun etwa auf Grund der Einlegung eines neuen Haltepunktes bei Innehaltung desselben Fahrplans an Zeit gespart werden, so kann dies entweder dadurch geschehen, daß auf der freien Strecke um etwas schneller gefahren oder daß bei der Einfahrt in der Station schärfer gebremst wird. Um bei der Einfahrt eines Zuges von 90 km Geschwindigkeit eine Minute zu sparen, muß man ein weiteres Drittel der lebendigen Kraft durch Bremsen vernichten, d. h. entsprechend länger mit voller Kraft fahren und den Zug in 2 anstatt 3 Minuten zum Stehen bringen. Dabei aber werden sowohl die Kosten der Vernichtung von lebendiger Kraft, als die Kosten der Bremsung selbst und der Zerstörung von Betriebsmitteln durch den Angriff der Bremsklötze mindestens verdoppelt. Rechnungsmäßig kostet das Anhalten eines 400 t schweren Zuges von 90 km Normalgeschwindigkeit, welches 3 Minuten und einen Bremsweg von 2¼ km erfordert, 2⅓ Mark und bei einem Zuge von 120 km Normalgeschwindigkeit (ein auf gewissen Strecken nicht seltener Fall) 4 Mark. Die Ersparung von einer Minute durch scharfe Einfahrt erhöht diese Kosten auf rund 4, bezw. rund 7 Mark. Man kann denselben Zweck auch erreichen, indem man die Geschwindigkeit auf der freien Strecke weiter erhöht und es bei der gewöhnlichen Einfahrt beläßt, aber Rechnung und Erfahrung lehren, daß auf diese Weise der Zeitgewinn noch teurer bezahlt werden muß, wenigstens, wenn es sich um Züge von ohnehin großer Geschwindigkeit handelt. Bei langsam fahrenden Personenzügen ist es dagegen vorteilhafter, die Geschwindigkeit auf der Strecke zu steigern und langsam einzufahren. Bw.     

Sonnenaufgang. (Zu dem Bilde S. 483.) Sonnenaufgang … Meeresstille … Liebesglück! Jedes dieser drei Worte, poetisch stimmend an sich, vereint ein köstlich Gedicht, aber die Liebe ist sein mächtigster Ton! Ja, ein Gedicht! Diesmal hat es der Malerpinsel geschaffen. Sollen wir’s dem Meister Gabrini nachplaudern, was er davon weiß, wie dem braunen Pasquale und der munteren Marziella mit einem Male ein Licht aufging, daß sie vom Herrgott eins fürs andere geschaffen worden sind?

Ja, wer weiß, wie es kam, daß Marziella schon vor Tagesanbruch auf den Beinen war, als der Pasquale vorüberging, zum Strand hinunter. Er hatte ihr lachend zugerufen, er wolle eine große Cernia [483] fangen für den Herrn Parrocho. Solch ein Riesenbarsch sei der Lieblingsfisch des Pfarrers und heute sein Namenstag. Ob sie mitkomme?

„Ein gutes Werk,“ meinte sie und gesellte sich, nichts besonderes dabei denkend, dem Burschen zu.

Sonnenaufgang.
Nach dem Gemälde von P. Gabrini.

Das Meer war spiegeleben. Lautlos glitt das Boot hinaus. Sie schwatzten miteinander. Pasqualino vergaß darüber sein Angelzeug zu ordnen. Erblassend war der Morgenstern ins dunkle Meer gesunken und allmählich erst, dann rasch und rascher breitete sich die Dämmerung aus.

Mit einem Male ließ Pasqualino die Ruder sinken. Was sah er sie denn so sonderbar an? Es war ihr, als glänzte all das versunkene Sternenlicht in seinem Blicke … Sie saßen stille und schwiegen.

Im Osten, fern am Horizonte, ging’s wie ein leicht Erröten durch Duft und Dunst. Es ward heller. Langsam tauchte die Sonne aus den Fluten. Sieghaft durchbrach sie die Nebel, feurig, blendend. Alle Schatten wichen. Ein frischer Wind kam auf. Er weckte das schlafende Meer. Ein Kräuseln ging über die breite Fläche dahin. Das große Meer, es erzitterte … es lächelte. Auch Pasqualino lächelte … Marziella aber erfaßte heimliches, seligsüßes Schaudern. Jetzt – jetzt übergoß ein herrlicher Lichtglanz die ganze unendliche Weite. Unterm goldglühenden Sonnenkuß war ein neuer, beglückender Tag erstanden.

Leise, leise, als ob sie, das warme und farbenfrohe Leben einsaugend, atme, hob sich und senkte sich die Flut … und das sanft gewiegte Boot mit ihr. – Da schrak Marziella plötzlich auf. Das süße Bangen, das sie umfing, mußte ein Ende nehmen – „Pasquale,“ rief sie, „jetzt ist’s Tag! Wirf dein Garn aus!“

Pasquale sah nicht die Sonnenpracht am Himmel droben, noch dacht’ er der Fische im Wasser drunten. Ihm war eine andere Sonne aufgegangen, die blendete ihn – nicht das Tagesgestirn. Er selbst hing fest an den Angelhaken zweier Augen und – kam nimmer los.

Da griff Marziella eigenhändig zur Schnur und warf sie ins Wasser. Den sinkenden Bleiküglein nachblickend, kam’s ihr wie ein Aufatmen über die Lippen: „O, wie tief, wie tief ist doch das Meer …!“

„Ja,“ murmelte Pasquale, „aber tiefer noch ist die Liebe …“ Er machte eine Bewegung, als wollte er aufspringen.

„Aber was machst du?“ rief errötend Marziella, die das Wörtlein „Liebe“ mehr geahnt als gehört hatte … „Du verscheuchst ja die Fische …“

Und wirklich, da spielte die silberne Brut um die köderlose Angel, als ob ihn die Fische auslachten! Da war’s um die Selbstbeherrschung Pasquales geschehen. Lachend sprang er an Marziellas Seite. Die stimmte mit Herz und Seele ein, als er sie so neckisch beim rundlichen Kinn faßte. Was aber dann geschah, was er ihr sagte, soll lieber erraten als verraten sein.

Eines ward dem Guten klar: nie hatte St. Andrea, sein und aller Fischer Schutzheiliger, ihn so gesegnet wie eben. Eine Nixe hatte ja angebissen. Wenn die Schnur nur hielt, er wollte sich dies Meerweibchen fürs ganze Leben gefangen haben.

„Du?“ lachte Marziella schelmisch auf. „Wer eigentlich gefangen wurde, das wird sich später zeigen. Jetzt gieb Ruhe und sorge dafür, daß der Parrocho seine Cernia bekomme! Ob ich ihm alles beichte?“

„Die Cernia wird bald an der Angel zappeln, nur Geduld, und wenn wir sie dem frommen Herrn zusammen bringen, wird er merken, was los ist, uns segnen und sagen: ‚Jung birgt bei jung sich allezeit am besten.‘“

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Sonnenaufgang – Meeresstille – dazu ein Lebensschifflein mit Zweien, die in Liebe sich fanden …

Ist das nicht friedfrohen Glückes Verheißung? A. Kellner.     

Eselsreiterin in Kairo. (Zu dem Bilde S. 477.) Im Orient sind die Esel weit tüchtigere Tiere als bei uns. Das warme Klima scheint ihnen mehr zu behagen; sie sind dort weder träge noch störrisch und werden als Reittiere von Türken und Arabern mitunter dem Pferde vorgezogen. In Kairo findet man alle möglichen Fahr- und Reitgelegenheiten und auf Plätzen und an Straßenecken stehen dem Publikum gute Reitesel zur Verfügung. Sie werden von einem Treiber begleitet, der stets neben dem Tiere einhergeht oder hinter ihm läuft und es mit einem Stocke und lauten Rufen antreibt. Der hübsch gezäumte Esel auf unserem Bilde, der eine vornehme Mohammedanerin trägt, gehört einer edlen Rasse an; man merkt auf den ersten Blick seine elegante Form und sein feuriges Temperament. Solche Reitesel stehen hoch im Werte und erzielen mitunter Liebhaberpreise, die sich auf zwei- bis dreitausend Mark belaufen. *      

Das Zillerthal bis zur „Berliner Hütte“. (Zu dem Bilde S. 484.) Zwischen Jenbach und Brixlegg, auf der rechten Seite des Inn, öffnet sich das Zillerthal ins Innthal. Gleich einer 34 km langen Furche zieht sich von hier aus das untere Zillerthal in fast gerader, südlicher Richtung bis Mairhofen hin, während seine durchschnittliche Breite nicht viel über einen Kilometer beträgt. An beiden Seiten steigen überaus saftiggrüne Matten an den Geländen der bis zu 2000 m hochragenden Berge empor, vielfach unterbrochen von dunklen Kiefernwäldchen, an deren Saum wohl hier und da eine weiße Kapelle oder eine dorfumrahmte Kirche über Obstgärten hinweglugt in das tiefer liegende Thal. Fast in der Mitte desselben führt meist in unmittelbarer Nähe des Zillers die wenig schattige Chaussee durch blühende Dörfer und Flecken, die mit ihren sauberen, weißgetünchten Häusern einen anheimelnden Eindruck machen.

Ueber Fügen und Zell erreichen wir endlich das Ende des unteren Zillerthals in dem in großartiger Gebirgsscenerie gelegenen Mairhofen. Rings in einem Halbkreise wird es von Bergriesen umgeben, unter denen besonders die zweigipflige Ahornspitze (2971 m), die schlanke Pyramide des Tristners und der massige Grünberg hervorragen. Gegen Norden schweift der Blick durch die tiefe Furche des Zillerthals, bis er durch das quer vorlagernde Sonnenwendjoch am jenseitigen Ufer des Inn aufgehalten wird. Nach Süden zu verästelt sich das Thal gleich den vier gespreizten Fingern einer Hand in den Zillergrund, in das Stillup-, [484] Zemm- und Tuxerthal, von denen das Zemmthal bei weitem das großartigste und daher auch das besuchteste ist. Den Glanzpunkt dieses Thales bildet das Ziel Tausender von Wanderern: die „Berliner Hütte“.

Hinter Mairhofen führt der Weg bald bergauf. Immer mehr verengt sich das Thal, immer näher treten besonders zur Linken völlig senkrechte, schroffe Wände heran, und ein gewaltiges, donnerähnliches Getose verkündet uns die Nähe der Dornaubergklamm. Nur wenige Schritte vom Wege sieht man plötzlich auf einem Vorsprunge in jäher Tiefe unter sich die schäumenden Wassermassen des Zemmbaches sich vergeblich gegen die Felswände ihres Kerkers bäumen. –

Ueber Felstrümmer und künstlich angebrachte Holzstege führt der schmale Pfad weiter durch das in einem Gebirgskessel lieblich gelegene Ginzling nach längerem Marsche zu dem nur aus einem komfortablen Gasthause bestehenden „Bad“ Neu-Breitlahner, wo sich, durch den vorlagernd massigen Greiner gezwungen, das Zemm- und das Zamserthal gabeln. – Wir wandern das Zemmthal weiter, und bald öffnet sich eines jener öden, völlig abgelegenen Alpenthäler, wie man sie in Tirol nicht selten findet. Von Steingeröll übersäet, wird dieses Thal von dem in behaglicher Breite träge dahinschleichenden Bache durchzogen, der allerdings nach einer Stunde Wegs aus einer Höhe von mehr als 200 Metern seine gewaltigen, tosenden Wassermassen thalabwärts ergießt. Auf einem von der Sektion Berlin des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins erbauten, höchst bequemen Reitweg (der Anstieg über den sogenannten „Berliner Schinder“ wird nicht mehr benutzt) gelangt man zur Grawandalpe und weiter in einem halbstündigen unbeschwerlichen Steigen zu der 2054 m hoch gelegenen „Berliner Hütte“.

Ansicht von Nordosten.
Ansicht von Nordwesten. 
Die „Berliner Hütte“ im Zemmthal.

In unmittelbarster Nähe bietet sich dem Auge des Beschauers eine Gletscherwelt dar, deren Großartigkeit wohl zu überwältigen vermag. Fast von unserem Standorte aus als dem Centrum ziehen sich rings im Halbkreise Firne und Gletscher, hier „Kees“ genannt, in blendender Weiße noch etwa 1400 m empor. Aus ihrem obersten Rande ragen mächtige nur zum Teil beeiste Berggipfel hervor: der Große Mörchner, der Schwarzenstein, die Hornspitzen, der Thurnerkamp, als höchster von ihnen der Große Mösele (3480 m), das Schönbichler Horn und der Große Greiner, während die sie verbindenden Schneefelder und Firnmulden sich in scharf gezeichneten Linien klar vom hellblauen Himmel abheben. Das alles ist zum Greifen nahe, und man meint nur die Hand ausstrecken zu brauchen, um es zu berühren. Das Waxeck- und das Hornkees strecken ihre langen Gletscherzungen fast bis unmittelbar vor uns in den geröllbedeckten Thalboden. Die obenstehenden Abbildungen geben die großartige Scenerie wieder. Die obere ist von Nordosten, die untere von Nordwesten aufgenommen. Im Hintergrunde des oberen Bildes ragen der Greiner und das Schönbichler Horn empor; auf dem anderen dagegen sehen wir links den dunklen spitzen Roßrucken und rechts den Waxeckgletscher, überragt vom Großen Mösele.

Bis 1879 diente den Touristen die etwa 400 Schritt von der Berliner Hütte gelegene Schwarzensteinalpe znr dürftigen Unterkunft, die freilich dem nur spärlichen Besuche dieser Gegend lange Zeit genügte. Erst die in jenem Jahre von der Berliner Sektion des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins erbaute neue Hütte bot eine bequemere Unterkunft; zugleich wurden die Wege mit großen Kosten gangbarer gemacht und die gefährlichen Stellen mit einem Schutzgitter versehen, so daß der Aufstieg nunmehr völlig gefahrlos war und ohne besondere Mühe auch von Damen unternommen werden konnte. Der Touristenverkehr hob sich daher bald in solchem Maße, daß im Jahre 1885 ein zweites und 1892 ein drittes Gebäude errichtet werden mußte. In diesem Entwicklungsstadium stellen unsere Aufnahmen die Unterkunftsstation dar. Während sich in dem linken Seitenflügel die altdeutsch eingerichtete Wirtsstube, die geräumige Küche und das Führerzimmer befinden, bildet der zweistöckige, nach der Gletscherseite gelegene Bau das Logierhaus, welches 23 kleinere Zimmer mit über 60 Betten umfaßt. Im vorigen Sommer ist die Hütte durch Anbau eines neuen Speisesaales wieder erweitert worden, und sie hat auch einen künstlerischen Schmuck erhalten. Der Berliner Bildhauer Hermann Hidding hat ein großes Relief entworfen, das den Gründer und Ehrenpräsidenten der Sektion, Professor Dr. Julius Scholz, darstellt. In dem Speisesaal befindet sich ein herrliches Werk des Malers Josef Rummelspacher, des Künstlers, der das allen Besuchern der letzten Berliner Gewerbeausstellung bekannte Panorama „Zillerthal“ geschaffen hat. Das Bild stellt das originelle Panoramagebäude und seine Umgebung auf der Ausstellung dar. Dr. Vogel.     

Um die Wette. (Zu unserer Kunstbeilage.) Neben der Mündung des durch seine Größe und landschaftliche Schönheit weitberühmten Sognefjords in Norwegen liegt der kleine Aafjord. Auf seinen Wellen spielt sich die Ruderfahrt um die Wette ab, die wir auf dem Bilde von Hans Dahl schauen. Die jungen Leute haben im Pfarrhof Konfirmandenunterricht gehabt und kehren nun zu ihren meilenweit entfernten Häusern zurück. Eine frische Nordwestbrise fegt über den Wasserspiegel und setzt ganz nette Wellen auf. Klatschend werden sie von den scharfen Stewen der Boote zerteilt, während der Gischt ab und zu hereinschlägt. Es sind zwar junge, aber doch kräftige und arbeitgewohnte Arme an den Rudern, und so geht die Wettfahrt lustig und fröhlich gegen den Wind in den sonnigen Nachmittag hinein. In bläulichen Duft getaucht, ragt im Hintergrunde die langgestreckte Felsenmasse des schroffen Lihesten empor. Frisch wie der Wind, stark wie die Wellen und heiter wie der sonnige Himmel sind die jungen Naturkinder in ihrem improvisierten Wettkampf. *      



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.



Bürstentasche aus Hobelspänen.

Bürstentasche aus Hobelspänen. Unser originelles Modell ahmt die Form eines Pantoffels nach und zeigt trotz des einfachen Materials ein elegantes Aussehen. Es wird in zwei Teilen gearbeitet, und zwar zunächst die Sohle, zu der 6 je 11/2 cm breite Hobelspäne, nachdem man sie in warmem Wasser biegsam gemacht hat, mit 17 Spänen durchflochten werden. Um sie leichter verarbeiten zu können, befestigt man die Enden auf einem Zeichenbrett. Sehr praktisch ist es, sich die Form des Pantoffels aus Papier zu schneiden, diese dem Flechtwerk aufzulegen und dasselbe danach zu bilden, worauf man die Form mit weißumsponnenem Draht einfaßt. Zum Oberteil des Schuhes braucht man 13 Späne, die mit 9 Spänen durchflochten werden. Nachdem man sie ebenfalls nach einem Papierschnitt geformt und sie mit Draht begrenzt hat, werden die beiden Teile zusammengenäht. Eine hübsche Randborte deckt die Naht und faßt auch die Sohle ein. Zu derselben teilt man einen Span der Länge nach, flicht ihn umeinander und drückt die Vertiefungen leicht ein. Die Borte wird dunkelbraun gebrannt, bei den leuchtenden Chrysanthemen werden nur die Konturen gebrannt, sie werden mit Wasserfarben leicht ausgemalt, und zwar ist das größere rosa gehalten, während das andere ein dunkleres Rot zeigt. Eine kleine Drahtöse dient zum Aufhängen, dieselbe wird der Randborte entsprechend mit brauner Seide umschlungen. A. K.     

Gobelin- und Kreuzstichstickerei auf Tüll. Jetzt, wo die Durchzugarbeiten auf Tüll so sehr beliebt sind, ist der Hinweis gewiß willkommen, daß man auch Gobelin- und Kreuzstich auf Tüll sticken kann. Diese Stickereien, bei deren Muster allerdings auf den versetzten Löchergrund Rücksicht genommen werden muß, wirken sehr dekorativ. Einfache Einsätze, wie die abgebildeten, sind sehr schnell herzustellen und bilden eine hübsche Ausstattung für leinene Unterröcke, Schürzen, Kinderkleider etc.

Gobelinstickerei auf Tüll.

Der Arbeitsfaden, Twist oder sonstige weiche Baumwolle, Seide etc., muß den Tüllgrund gut decken. Man arbeitet die geraden Gobelinstiche von oben nach unten in schrägen Reihen; jeder Stich wird seiner Höbe nach von Loch zu Loch über einen geraden Gewebefaden ausgeführt. Regelrechte Stiche sind auf der Rückseite länger als auf der rechten Seite. Zu Ende jeder Reihe wird ein Hilfsstich nötig. An den von links nach rechts gearbeiteten Reihen führt man die Nadel beim letzten Stich links von dem überfangenen geraden Webefaden nach außen, wendet die Arbeit, führt die Nadel von rechts unter dem Gobelinstich, aber über den Webefaden nach links und durch das links vom Stiche liegende Tüllloch wieder für den nächsten Stich in das richtige untere Loch.

Kreuzstichstickerei.

Den entstandenen Querstich deckt der Gobelinstich vollständig. In den von rechts nach links ausgeführten schrägen Reihen wird die Nadel rechts vom letzten Stich nach außen geführt und nach dem Wenden der Arbeit von links nach rechts der Querstich gemacht. Recht sorgfältig ist der Arbeitsfaden anzulegen und zu befestigen. Die Muschen sind ebenfalls über einen geraden Webefaden gearbeitet, durch den beim Beginn der Faden zu ziehen ist. Entgegen dem Gobelinstich wird der Kreuzstich je über ein Tüllloch in geraden Reihen gestickt, doch kann, da die Stiche gerade unter einander stehen müssen, nur jede zweite Löcherreihe überstickt werden; einzelne schräge Stichreihen wirken nicht gut, geschlossene Musterfiguren stets am besten.

Ein Meßlineal, um das jährliche Wachstum der Kinder zu notieren, sollte in keiner Familie fehlen. Es ist sehr interessant, die Verschiedenartigkeit des Wachstums bei Kindern sowohl im Vergleich zu einander als auch in den einzelnen Altersstufen zu beobachten, und es lohnt sich wohl der kleinen Mühe, welche die Herstellung und Aufbewahrung eines entsprechenden Meßlineals verursacht. Die Kinder selbst werden mit Freuden an der Jahreswende oder am Geburtstag an das „Messen“ erinnern und um so stolzer dreinschauen, je mehr sie in der Zwischenzeit an Länge zugenommen haben. Messungen werden ja jetzt wohl auch vorgenommen, aber entweder verliert oder verlegt man die Notizen oder man macht sie an Gegenständen, besonders gern an Thürgewänden, wo die betreffenden Zeichen mit der Zeit verschwinden, die Thüre beschmutzen, und bei einem Umzug lassen sich solche „Merktafeln“ auch nicht mitnehmen. Man besorge sich daher lieber von einem Tischler ein etwa 180 cm langes und vielleicht 10 bis 15 cm breites Brett in mäßiger Stärke und verziere es, um es nicht ganz schmucklos erscheinen zu lassen, mit leichter Brandmalerei, einem Rankenmuster etwa, das noch von einem Spruch bekrönt werden kann, zum Beispiel: „Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.“ Die Meßskala bezeichnet man durch eine schwarze Linie für jedes Kind, die alle Jahre um so viel weiter geführt wird, als das Kind gewachsen ist. Das betreffende Maß markiert man noch besonders durch eine Verstärkung der Linie, einen Punkt oder ein Sternchen und schreibt nebenbei das Datum und eventuell auch das Körpergewicht hin. Oder man zieht die Linien von vornherein über die ganze Länge des Brettes und macht dann jährlich nur Querstriche mit Maß-, Gewicht- und Datumangabe in die so entstandenen Rubriken. – In einer mir befreundeten Familie werden schon seit langer Zeit die Kinder derartig gemessen und ein Vergleich, wie verschiedenartig diese gewachsen sind, ist in der That lehrreich.




Hauswirtschaftliches.


Buttermilchauflauf für die einfache Küche. Man rührt 75 g Mehl mit 1 l guter Buttermilch glatt, giebt nun vier Eier, 75 g feinen Zucker, ein Stückchen feingestoßene Vanille und vier geriebene bittere Mandeln dazu und verquirlt alles gut miteinander. In eine gut ausgestrichene Auflaufform, am besten aus feuerfestem Porzellan, schüttet man die Masse und bäckt sie in Mittelhitze 30 bis 35 Minuten. In dieser Zeit kocht man ein Kirsch-, Heidelbeer-, Brombeer- oder Preißelbeerkompott, das nicht zu viel Saft zeigen darf. Man giebt den Auflauf in der Form zu Tisch und das warme Kompott dazu. L. H.     

Gefüllte Weinblätter mit Wildresten. Aus frischen zarten Weinblättern und kleinen Wildresten kann man ein originelles Eingangsgericht nach der Suppe herstellen. Die Weinblätter werden möglichst in gleicher Größe und recht zart gewählt, worauf man sie gut wäscht, abtrocknet und nebeneinander ausbreitet. Kleine Wildreste wiegt man mit etwas Speck und einer Chalotte fein, würzt die Masse mit Salz, Pfeffer und wenig Muskatnuß und giebt ein Ei und einige Löffel saure Sahne oder Portwein daran. Von der Farce werden walnußgroße Kügelchen geformt und jedes Kügelchen mit einem Weinblatt umwickelt. Aus zwei Eiern, etwas Milch, einem Theelöffel Olivenöl und Mehl wird darauf ein guter Ausbackteig gerührt, die eingehüllten Wildkugeln bineingetaucht und nun in Schmelzbutter ausgebacken. Man richtet die gefüllten Weinblätter nach dem Abtropfen auf heißer Schüssel an und giebt eine braune Champignonsauce. Diese setzt sich zusammen aus einer Brühe, die aus den Wildknochen gewonnen wurde, braunem Buttermehl, gewiegten Champignons und etwas Fleischextrakt. He.     

Sommersalat für Feinschmecker. Hat eine der Leserinnen einmal das Glück oder Unglück – wie sie es nun nennen will – einen gefürchteten Feinschmecker als Gast bei sich zu sehen, so darf sie sicher sein, dessen ganze Hochachtung zu gewinnen, wenn sie ihm den folgenden Salat auftischt. Reste eines feinen gekochten Fisches werden behutsam aus Haut und Gräten gelöst und in Streifen geschnitten, ebenso zerteilt man Fray Bentos-Zunge, gekochten Schinken und kleine Pfeffergurken. Eine auf bekannte Art hergestellte Mayonnaise stellt man kühl, ebenso bereitet man aus aufgelöstem Liebigs Fleischextrakt, Citronensaft, Wein, etwas Wasser, Kräutergewürz und Gelatine eine klare Fleischsulz. Zwei schöne frische Gurken werden abgerieben, der Länge nach durchgeschnitten und ausgehöhlt. Man trocknet sie ab und füllt sie mit den mit der Mayonnaise vermengten Zuthaten. In die Mitte legt man ein Blumenkohlröschen von einem in Salzwasser vorher weichgekochten und danach in Citronensaft und Oel etwas marinierten Kopf Blumenkohl. Wenn die hergestellte Fleischsulz zu erstarren beginnt, wird sie über den Inhalt der Gurken geschüttet und diese bis zum Anrichten, das auf länglicher Schüssel auf grünen Blättern geschieht, kühl gestellt. L. H.     

Einmachen frischer Früchte in Honig. Aus Amerika kommt die Kunde von einem mit Erfolg angewandten neuen Einmacheverfahren. welches sich durch Einfachheit auszeichnet. Man braucht bei diesem Verfahren das Obst nicht zu kochen, kann aber nur ganz frische, eben vom Baum gepflückte, abgewischte tadellose Früchte verwenden und muß den Honig, welchen man zum Einmachen braucht, stets dunkel gestellt haben. Man schichtet, wenn diese beiden Vorbedingungen erfüllt werden können, das Obst in Glasbüchsen, gießt den Honig darauf und schließt die Dosen sofort luftdicht. Dann wickelt man die Gläser gleich in Holzwolle und darauf dicht in Leinentücher und stellt sie nebeneinander in kleine Kisten, die man mit einem Deckel schließt. Man stellt immer nur eine Fruchtsorte in eine Kiste und bemerkt den Inhalt der Kiste oben mit Blaustift auf deren Deckel. Die Kisten werden an einem trockenen Ort aufgehoben. Die Probe solches mit Honig eingemachten Obstes war überraschend, der Honig hatte das Aussehen und den Geschmack feinsten Fruchtgelees, die Früchte hatten gerade die richtige Süße. Hausfrauen, die selbst einen Obstgarten haben, sollten daher einen Versuch mit diesem einfachen neuen Verfahren einmal auch in Deutschland machen. He.     

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Allerlei Kurzweil.

Skataufgabe. 0 Von K. Buhle †.

Purzel spielt mit solcher Leidenschaft Skat, daß er sich oftmals im Eifer verspricht. Als er neulich in Mittelhand diese Karten:

(tr.B.)0 (p.B.)0 (o.B.)0 (tr.As)0 (tr.Z.)0 (tr.K.)0 (tr.9.)0 (tr.8.)0 (c.As)0 (c.Z.)

erhalten hat, will er damit sofort Grand ouvert ansagen, verspricht sich aber, indem er seine Karten auflegt, und meldet statt dessen: „Null ouvert!“ Purzel hat aber immer Glück, denn während er das Grand ouvert gleich auf den ersten Stich verloren hätte, ist die Sitzung im Null ouvert für ihn so günstig, daß er dieses Spiel gewinnen muß. – Wie sind die übrigen Karten verteilt und wie ist der Gang des Spiels?


Rösselsprung.

Kryptogramm.


Arithmetische Aufgabe.

Man nehme 44 kleine Blättchen Papier und schreibe auf 12 von ihnen die Zahl 88, auf 18 von ihnen die Zahl 71 und auf 14 der Blattchen die Zahl 64. Alsdann wähle man von diesen 44 Blättchen auf vierfache Weise je 25 aus, so daß die Summe der 25 Zahlen das erste Mal 1815 (Bismarcks Geburtsjahr), das zweite 1862 (Bismarck wird Ministerpräsident), das dritte Mal 1871 (Bismarck wird Reichskanzler) und das vierte Mal 1890 (Bismarck scheidet aus dem Amt) ergiebt. Wieviel Blätter jeder Art muß man in jedem einzelnen Falle wählen?


Rätsel.

Schwarz ist’s mit D,
Such’s oben in den Lüften;
Schwarz ist’s mit K,
Such’s in der Erde Grüften.
 (Oscar Leede.)


Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 14. 0 Kiel.


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 14.

1. f 4 – g 5   h 4 – f 6 +
2. D c 3 – e 1   D a 1 – e 5 +
3. c 5 – d 6   e 7 – c 5 +
4. e 3 – f 4   D e 5 – g 3 +
5. D e 1 – g 1 + + + +.


Auflösung des Citatenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 14.

1. Fledermaus, 2. Gebrauch, 3. Travemünde, 4. Marianne, 5. Wildente, 6. Werktag,
7. Unsinn, 8. Fuchs, 9. Melbourne, 10. Lastzug, 11. Keule, 12. Schutztruppe.

„Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.“


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 14. 0 Asen, Hasen.


Auflösung des Zahlenrätsels „Spruchband“ auf dem Umschlag von Halbheft 14.

Die Buchstaben des Spruches: „Selbst ist der Mann“ bezeichnet man mit den fortlaufenden Zahlen 1 bis 16. Nun ersetzt man alle römischen Zahlen im Rundbande durch die denselben entsprechenden Buchstaben und erhält den Spruch:

Starken Herzen ist nichts unmöglich.“



[Verlags- und gewerbliche Reklame.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.