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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[165]

Nr. 11.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (10. Fortsetzung.)

Der Mai war gekommen und die Frühlingsstürme brausten um die Gipfel des Hochgebirges, die noch ihr Schneegewand trugen. Der Winter war diesmal ungewöhnlich hart und lang gewesen und auch jetzt wich er nur langsam und zögernd dem erwachenden Frühling.

In der kleinen Bergstadt, die, von einem alten, einst befestigten Schlosse überragt, so malerisch inmitten des Thales lag, grünten schon die Linden, aber die Häuser und Villen des nahen Badeortes waren noch größtenteils geschlossen. Kronsberg war früher wenig bekannt gewesen, es lag tief im Herzen des Gebirges, abseits von all den großen Touristenwegen, und die nächste Eisenbahnstation war volle drei Stunden entfernt. Da kamen nur selten Fremde in das abgeschiedene Städtchen. Man hatte zwar in unmittelbarer Nähe desselben eine Heilquelle entdeckt und infolgedessen war ein kleiner Badeort entstanden, er wurde aber wenig besucht. Im Hochsommer pflegten ein paar hundert Kurgäste zu kommen, die teils in dem neuen Badehause, teils in der Stadt selbst wohnten. Es herrschten die allereinfachsten Verhältnisse und in weiteren Kreisen wußte man kaum etwas davon.

Da hatte sich vor etwa zehn Jahren ein junger aber sehr tüchtiger Arzt in Kronsberg niedergelassen. Die Heilquelle hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er behauptete, sie habe eine ganz bedeutende Zukunft, da auch die klimatischen Verhältnisse die günstigsten seien, und in der That nahm der kleine Kurort unter seiner Leitung einen ungeahnten Aufschwung.

Doktor Bertram, der eine junge Frau mitbrachte, hatte von seiner früheren Stellung als Schiffsarzt her Bekanntschaften und Verbindungen an allen Ecken und Enden der Welt und wußte sie für seine neue Heimat zu interessieren. Ein Buch, das er über die Kronsberger Quellen geschrieben und an die bedeutendsten Aerzte gesandt hatte, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit darauf, und ein paar glückliche und erfolgreiche Kuren begründeten den Ruf des aufstrebenden Badeortes wie den des jungen Doktors. Die herrliche Lage und die an sich schon heilkräftige Alpenluft thaten das übrige. Die Gäste strömten immer zahlreicher herbei und bald erhob sich vor den Thoren der Stadt eine ganz neue Ortschaft, wo im Sommer ein reges Badeleben herrschte.

Ueberdies kam den Kronsbergern noch ein ganz besonderer Umstand zu Hilfe. Die Fürstin des Landes war seit Jahren leidend, das Uebel widerstand allen Kuren und Bädern und drohte jetzt eine sehr gefährliche Wendung zu nehmen. Da beschloß der Leibarzt, dem Doktor Bertram gleichfalls sein Buch zugesandt hatte, einen Versuch mit den Kronsberger Quellen zu machen, die bei ähnlichen Zuständen angewendet wurden, und der Erfolg war ganz überraschend. Das Leiden der fürstlichen Frau besserte sich bedeutend und die Wiederholungen der Kur in den nächsten Jahren beseitigten es beinahe ganz. Schließlich wurde das Schloß, das sich über der Stadt erhob, aber von seinem bisherigen Besitzer nie benutzt worden war, von seiten der fürstlichen Familie angekauft und eingerichtet, um bei der regelmäßigen Wiederkehr einen eigenen Wohnsitz zur Verfügung zu haben.

Damit war der Eintritt Kronsbergs in die Reihe der großen Kurorte entschieden.


Ein Wettersteiner Dirndl.
Nach dem Gemälde von Friedrich Prölß.

[166] Der Ruf seiner Heilquellen wurde in alle Welt hinausgetragen und der alljährliche Besuch des Hofes zog eine Menge der reichsten und vornehmsten Familien hierher. Das kleine, weltabgeschiedene Bergstädtchen hatte sich im Laufe eines Jahrzehnts zu einem Badeorte ersten Ranges aufgeschwungen. Es verdankte dies schnelle Emporblühen allerdings in erster Linie der Energie und der unermüdlichen Thätigkeit des Doktor Bertram, der denn auch eine Hauptperson in Kronsberg war. Er nahm in allen Kurangelegenheiten die erste Stelle ein, obgleich sich ihm nach und nach ein Dutzend Kollegen zugesellt hatte, und genoß in dieser Eigenschaft auch den Vorzug, in Gemeinschaft mit dem Leibarzt die alljährliche Kur der Fürstin zu leiten. Selbstverständlich wollten die vornehmsten Kurgäste nun auch von ihm behandelt sein, er galt überhaupt für einen der tüchtigsten und erfolgreichsten Aerzte. Seine Beziehungen zum Hofe hatten ihm auch bereits Titel und Orden eingetragen – kurz die Kronsberger hatten alle Ursache, ihrem Hofrat Bertram dankbar und auf ihn stolz zu sein, und das waren sie denn auch im vollsten Maße.

In einiger Entfernung von der Stadt, auf einer mäßigen Anhöhe, lag eine kleine Besitzung, ganz einsam, denn der Badeort mit seinen Villen und Anlagen zog sich drüben an der anderen Seite des Thales hin. Aus dunklen Tannenwipfeln blickte das hohe Giebeldach eines altertümlichen Hauses hervor, das offenbar aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Es mochte wohl ursprünglich eine Art Jagdhaus gewesen sein, dessen Besitzer hier in der wald- und wildreichen Alpengegend dem Weidwerk oblagen, denn ein mächtiges in Stein gemeißeltes Hirschgeweih über dem Eingang deutete noch auf eine solche Bestimmung hin. Eine breite, niedrige Steintreppe mit halb eingesunkenen moosbewachsenen Stufen führte zu einer kleinen Terrasse und zu der Hauptthür, deren schwere eichene Flügel augenblicklich offen standen. Man sah eine tiefe gewölbte Flurhalle, zu deren beiden Seiten die Zimmer lagen, während im Hintergrunde eine gewundene Treppe mit geschnitztem Geländer in den oberen Stock führte. Das Haus hatte, obwohl sich hier und da Anzeichen des Verfalls kundgaben, doch etwas Vornehmes, freilich auch etwas Düsteres.

Die Lage war sehr schön, man übersah von hier aus das ganze Thal mit den umliegenden Hochgipfeln und der Stadt im Vordergrunde. Ein umfangreicher schattiger Garten zog sich an der Berglehne hin, aber er machte gleichfalls einen düsteren Eindruck mit seinen hohen, alten Bäumen und dem dichten dunklen Gesträuch, das hier üppig wucherte; es fehlte jeder Blumenschmuck. Eine ziemlich hohe Mauer schloß die Besitzung nach allen Seiten hin ab, nur durch das eiserne Gitterthor hatte man einen Blick auf das Haus, und das Ganze machte den Eindruck vollster Abgeschlossenheit.

Zur Rechten der Eingangshalle befand sich das Wohn- und Empfangszimmer, ein großes Gemach, mit dunkelgrünen Vorhängen an den Fenstern, die von den Tannen draußen dicht beschattet wurden, und altertümlichen Möbeln, deren Polster dasselbe dunkle Grün zeigten. An den Wänden hingen nur ein paar alte sehr wertvolle Kupferstiche in geschnitzten Rahmen, sonst fehlte es an jedem Ausschmuck: keine Blumen, nichts von all den zierlichen Kleinigkeiten, welche die Wohnränme erst freundlich und behaglich machen.

In dem Lehnstuhl am Fenster saß ein alter Herr, der offenbar schon über die Siebzig hinaus war, eine hagere, gebeugte Gestalt mit spärlichen weißen Haaren und tief eingesunkenen Zügen, die einen ungemein herben, verbitterten Ausdruck hatten. Nur die Augen waren noch scharf und klar und gaben Zeugnis davon, daß in diesem gebrechlichen Körper noch volle geistige Frische wohnte.

Ihm gegenüber saß Doktor Bertram, der sich in den zehn Jahren nicht allzuviel verändert hatte. Aus dem jungen, übermütigen Schiffsarzt war freilich ein stattlicher Mann geworden, der Fremden gegenüber auch das ernste gesetzte Wesen zeigte, das seine jetzige Stellung ihm zur Pflicht machte, aber in den Augen blitzte noch immer der alte lustige Uebermut und das ganze Aussehen des nunmehrigen Hof- und Sanitätsrates bewies ja auch zur Genüge, daß er mit sich und mit der ganzen Welt außerordentlich zufrieden war.

„Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich nun schon seit Jahr und Tag predige,“ sagte er soeben. „Luft und Bewegung, soviel Ihre Kräfte es nur erlauben, und vor allen Dingen Zerstreuung, damit Sie nicht den lieben langen Tag und auch noch die halbe Nacht hindurch über Ihren verwünschten Büchern sitzen. Aber Sie machen sich ja ein besonderes Vergnügen daraus, immer das Gegenteil von dem zu thun, was ich verordne. Ich habe noch nie einen so widerspenstigen Patienten gehabt wie Herrn Professor Helmreich!“

„Ich gehe täglich in den Garten,“ erklärte der Professor ärgerlich über die Strafpredigt, die ihm gehalten wurde, „und die Luft habe ich aus erster Hand, sobald ich nur das Fenster öffne.“

„Jawohl, die schönste Moderluft, die Sie mit einer förmlichen Kunst gezüchtet haben hier in unseren gesegneten Alpen. In Ihren Garten fällt schon längst kein Sonnenstrahl mehr und die Tannen wachsen Ihnen nachgerade zu den Fenstern hinein. Warum lassen Sie nicht endlich einmal lichten? Ich sollte nur ein paar Tage hier Herr und Meister sein, die Hälfte von all dem Baum- und Strauchzeug ließe ich niederschlagen.“

„So lange ich lebe,“ fiel Helmreich mit vollster Gereiztheit ein, „wird kein Baum angerührt, kein Strauch ausgerodet. Das leide ich ein für allemal nicht!“

„Nun dann behalten Sie in Gottes Namen Ihren Rheumatismus,“ versetzte Bertram trocken. „Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“

Er stand auf und machte Miene, zu gehen. Nunmehr schien es dem alten Herrn doch geraten, einzulenken, er sagte in nachgiebigerem Tone: „Das Studieren dürfen Sie mir nicht verbieten. Es ist das einzige, was mir das Dasein noch erträglich macht. Wenn Sie mir meine Bücher nehmen, nehmen Sie mir die Lebenslust.“

„Das weiß ich,“ entgegnete der Arzt ernster. „Deshalb bestehe ich auch nicht darauf, daß Sie das Studium aufgeben, obwohl es das Beste für Ihren Zustand wäre. Aber schonen sollen Sie sich und Ihren dreiundsiebzig Jahren nicht mehr zumuten, als was Sie in der Vollkraft des Lebens geleistet haben. Hier im Hause kommen Sie nicht los von den Büchern, deshalb müssen Sie täglich auf ein paar Stunden hinaus. Wenn Ihnen das Gehen beschwerlich fällt, so fahren Sie doch aus.“

„Ausfahren?“ wiederholte der Professor, förmlich beleidigt von diesem Vorschlag. „Wohin denn? Wohl auf die Promenade Ihres vielgerühmten Kurortes, damit die alberne Gesellschaft dort noch etwas mehr zum Gaffen hat?“

„Was haben Sie denn eigentlich gegen den Kurort? Die Saison dauert kaum drei Monate, während der ganzen übrigen Zeit leben wir in unserem Hochalpenthal abgeschieden wie die Trappisten und stecken acht Monate lang im Schnee wie die Eskimos – mehr können Sie doch wirklich nicht verlangen!“

„Und wahrend des Sommers sitzt dafür die halbe Welt in Kronsberg, und der Hof auch noch dazu!“ grollte der Professor. „Nicht einen Schritt kann man aus dem Hause thun, ohne auf Menschen zu stoßen, in seinen eigenen vier Pfählen ist man nicht sicher vor ihnen.“

Bertram lachte, es war noch das alte frische Lachen, das auch der jetzige Hofrat nicht verlernt hatte.

„Nun, ich dächte, Sie verstehen es schon, sich ungebetene Gäste vom Leibe zu halten. Erstens haben Sie Haus und Garten wie eine Festung mit einer Mauer umzogen, damit nur ja kein Mensch einen Blick hineinwerfen kann, zweitens haben Sie sich den „Wotan“ angeschafft, dies Ungetüm, das auf jeden Fremden losstürzt, der sich nur dem Gitterthore naht, und schließlich taucht noch der alte Bastian auf, mit seiner unverwüstlichen Grobheit und seiner unumstößlichen Ueberzeugung, daß die Gäste überhaupt nur da sind, um hinausgeworfen zu werden. Wenn man die drei Instanzen glücklich durchgemacht hat, dann kommt erst das Hauptverfahren, dann kommen Sie, Herr Professor, und daß das gerade keine Herzerquickung ist, haben die paar armen Kurgäste erfahren müssen, die auf die unselige Idee gerieten, hier oben die Aussicht zu bewundern! Sie schlagen noch jetzt drei Kreuze bei der Erinnerung daran.“

„Das ist ja sehr freundlich von Ihnen, mir dergleichen ins Gesicht zu sagen!“ rief Helmreich grimmig. „Denken Sie vielleicht, es macht mir Vergnügen, fortwährend Ihre Strafpredigten anzuhören und mich in all meinen Gewohnheiten maßregeln zu lassen? Wenn Sie nicht mein Arzt wären –“

„Dann hätten Sie mich auch schon längst hinausgeworfen! Genieren Sie sich nicht, Herr Professor, wir stehen ja auf dem Standpunkt gegenseitiger Offenheit! Eben deshalb bestehe ich jetzt im vollen Ernste darauf, daß Sie meine Verordnungen befolgen; geschieht es nicht, dann komme ich nicht wieder, Sie mögen noch so oft schicken – nun machen Sie, was Sie wollen!“

Der alte Herr brummte etwas Unverständliches, aber er [167] widersprach wenigstens nicht und Bertram schien das für eine Zustimmung zu nehmen, er griff nach seinem Hute.

„Die neue Arznei werde ich Ihnen heute nachmittag herüberschicken, und nun noch eins. Elsa ist ja so lange nicht bei meiner Frau gewesen. Sie haben es ihr doch hoffentlich nicht verboten, unser Haus ist ja das einzige, das sie besuchen darf.“

„Sobald die Saison anfängt, lasse ich Elsa nicht mehr nach dem Bade hinüber,“ erklärte der Professor. „Ich will es nicht, daß sie von den Herren Kurgästen in der unverschämtesten Weise angestarrt wird.“

„Nun, das kann ich den Kurgästen eigentlich nicht verdenken,“ lachte der Hofrat. „Sie ist schon des Anschauens wert und dies unschuldige Vergnügen können Sie den jungen Herren immerhin gönnen.“

„So?“ rief Helmreich erbost. „Sie finden es wohl auch ganz in der Ordnung, daß im vorigen Sommer ein paar von den jungen Laffen mein Haus ausgekundschaftet haben und um die Mauern herumgeschlichen sind? Aber Bastian kam ihnen bald auf die Spur und hat sie gründlich heimgeschickt.“

„Kann ich mir denken,“ sagte Bertram ruhig. „Also deshalb erscheint Ihre Enkelin jetzt nur noch mit der Leibgarde, dem Bastian rechts und dem Wotan links? Mit den beiden Ungetümen zur Seite ist sie freilich sicher, da wagt es keiner, sie auch nur anzusehen! Adieu, Herr Professor, und wenn Sie nächstens einmal Selbstschüsse in Ihren Garten legen wollen, dann benachrichtigen Sie mich gefälligst davon, damit ich bei meinen ärztlichen Besuchen nicht Leib und Leben riskiere.“

Damit ging er. Der Professor sah ihm grollend nach, er verabscheute diesen jovialen Ton, wußte aber längst, daß der Hofrat sich darin keine Vorschriften machen ließ. Dieser schritt inzwischen durch den Garten und wurde als wohlbekannter Hausarzt von den beiden „Ungetümen“ natürlich nicht belästigt. Er gelangte unangefochten ins Freie und schlug den Weg nach der Stadt ein: da kam ihm von dort ein Herr entgegen, der grüßend stehen blieb.

„Ah, Herr Sonneck!“ rief Bertram ihm die Hand entgegenstreckend. „Wo steckten Sie denn heut’ morgen? Ich habe Sie ja nicht gesehen?“

„Ich machte direkt von der Quelle einen Morgenspaziergang in die Berge,“ entgegnete Sonneck, den Händedruck erwidernd. „Jetzt will ich zu Professor Helmreich; Sie kommen wohl eben von ihm?“

„Jawohl, ich habe wieder einmal versucht, ihm den Kopf zurechtzusetzen, natürlich umsonst! Er ist vollständig zum Hypochonder geworden und spinnt sich immer mehr in seine Grillen und Marotten ein. Ich bin froh, daß Sie da sind, Sie bringen ihn mit Ihren Erzählungen wenigstens stundenweise auf andre Gedanken. Sie und ich, wir sind ja überhaupt die einzigen, denen sich das verwunschene Schloß da droben öffnet.“

„Nun, ich habe mir den Eingang auch halb und halb erzwingen müssen,“ erklärte Sonneck mit einem flüchtigen Lächeln. „Der Professor war nichts weniger als entgegenkommend, als ich ihn im vorigen Sommer aufsuchte; aber er wollte dem Schüler und Freunde, der ihm einst so nahe gestanden hatte, doch nicht geradezu die Thür weisen. Da ich mich nicht an seine ablehnende Haltung kehrte und regelmäßig wiederkam, gewöhnte er sich schließlich an meine Besuche und ich glaube, im Winter hat er sie beinahe vermißt.“

„Das schien mir auch so; man muß den Alten förmlich zwingen zu dem, was ihm gut thut. Heute ist er wieder in seinen galligsten Launen. Sie werden Ihre Not mit ihm haben. Ich habe mich wie gewöhnlich mit ihm gezankt und ihm derb die Wahrheit gesagt, aber helfen wird es schwerlich. Mich dauert nur das arme Kind, die Elsa, sie ist ja wie lebendig begraben in dem düsteren Hause und bei diesem unvernünftigen Großvater, der alles haßt, was Leben und Freude heißt.“

„Sie hat ja nie die Lebensfreude gekannt,“ sagte Sonneck mit einem halbunterdrückten Seufzer, „oder doch nur als Kind gekannt und längst vergessen. Da scheint sie jetzt kaum etwas zu vermissen.“

„Ja, sie ist gut dressiert,“ stimmte der Hofrat ärgerlich bei. „Das war freilich nicht anders möglich bei einer solchen Erziehung. Der Alte ist ein Tyrann in seinem Hause und wehe dem, der sich nicht unbedingt seinem Willen beugt! – Doch nun zu Ihnen, Herr Sonneck, wie steht es mit Ihrem Befinden?“

„Ganz erträglich, lieber Hofrat. Ich fühle mich in den vierzehn Tagen, daß ich hier bin, schon bedeutend wohler und Sie wissen ja am besten, wie schlimm es mit mir stand, als ich im vorigen Jahre zu Ihnen kam. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die Kronsberger Quellen.“

„Das dürfen Sie auch!“ sagte Bertrain zuversichtlich. „Nach dem Erfolge, den wir im vergangenen Jahre erzielten, hoffe ich das allerbeste von der jetzigen Wiederholung der Kur. Sie müssen freilich auch diesmal den ganzen Sommer hierbleiben, unsere Alpenluft ist die beste Arzenei für Sie.“

„Das weiß ich und habe mich schon darauf eingerichtet, aber ich möchte eingehender mit Ihnen darüber sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie ein Stück Weges begleite?“

„Selbstverständlich! Zu dem alten Isegrim da drüben kommen Sie noch immer früh genug,“ rief der Hofrat, und beide Herren traten gemeinschaftlich den Rückweg an.

Sonneck zog bei dem scharfen Winde den Mantel fester um die Schultern. Man sah es ihm an, daß er nicht mehr die frühere eiserne Gesundheit besaß, und er hatte auch sichtbar gealtert in den zehn Jahren. Die sehnige, einst so kraftvolle Gestalt hatte eine müde Haltung und in dem Antlitz stand ein unverkennbarer Leidenszug eingegraben. Das Haar war ergraut und der Ernst, der von jeher in den tiefen grauen Augen lag, war zur Düsterheit geworden. Aber trotzdem war in der ganzen Erscheinung noch etwas, das auf den ersten Blick fesselte und sie weit über das Gewöhnliche hinaushob. Wer in das tiefgebräunte und durchfurchte Gesicht dieses Mannes blickte, der fühlte es, auch ohne ihn zu kennen, daß er einem bedeutenden Menschen gegenüberstand.

„Ich möchte eine ernste Frage an Sie richten,“ hob er wieder an. „Es handelt sich für mich darum, gewisse Bestimmungen zu treffen und vielleicht einen weittragenden Entschluß zu fassen, deshalb wollte ich –“

„Nur nichts von Afrika!“ unterbrach ihn der Hofrat mit voller Entschiedenheit. „Ich habe es Ihnen nie verhehlt, daß von einer Rückkehr dorthin keine Rede sein kann. Das Tropenklima und die Ueberanstrengungen Ihrer Reisen haben Ihnen das Leiden zugezogen und es war ernst genug, als Sie herkamen. Sie sind ja in den letzten zwanzig Jahren kaum dreimal in Europa gewesen und dann immer nur auf wenige Monate. Sie haben sich entschieden zu viel zugemutet und hätten weit früher in die Heimat zurückkehren müssen.“

Ueber Sonnecks Züge flog ein schwermütiges Lächeln, als er entgegnete: „Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, das fühle ich selbst und habe es eigentlich schon längst gefühlt, schon damals, als ich bei der Rückkehr von meinem großen Zuge in das Innere von Afrika so schwer erkrankte. Aber ich sträubte mich noch jahrelang dagegen, meinen Lebensberuf aufzugeben und meine übrigen Tage in Unthätigkeit hinzubringen. Ich raffte mich immer wieder auf und versuchte zu erzwingen, was sich doch nicht erzwingen ließ, bis ich schließlich zusammenbrach. Die letzte Krankheit ist mir eine harte Lehre gewesen. Ich habe mich jetzt vertraut gemacht mit der Notwendigkeit und bin entschlossen, in Deutschland zu bleiben.“

„Bravo! Auf der Grundlage können wir weiter verhandeln. Also, was wollten Sie wissen?“

„Ob es sich für mich überhaupt noch lohnt, Entschlüsse zu fassen und mein Leben neu zu gestalten, mit einem Worte, ob mein Leiden heilbar ist oder nicht. Seien Sie offen gegen mich, ich habe dem Tode so oft ins Auge gesehen und hänge so wenig mehr am Leben, daß mich ein Todesurteil aus Ihrem Munde sehr ruhig lassen würde. Ich fürchte nur eins – daß der Spruch auf lebenslängliches Siechtum lauten könnte. Jedenfalls will ich Gewißheit darüber haben, also sagen Sie mir die volle Wahrheit!“

„Fürchten Sie nichts, der Spruch lautet auf Gnade,“ sagte Bertram ernst. „Im Herbste, als Sie von uns gingen, konnte und wollte ich mich darüber noch nicht aussprechen, ich mußte erst den Winter abwarten, den ersten, den Sie wieder in Europa zubrachten. Jetzt habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß Ihr Leiden zu heben ist; Sie müssen nur Geduld haben und nicht erwarten, daß die Kronsberger Quellen in ein paar Monaten wieder gut machen, was ein zwanzigjähriger Aufenthalt in den Tropen verschuldet hat. Die alte eiserne Kraft und Gesundheit werden Sie freilich nie zurückgewinnen, das sage ich Ihnen offen, und von schweren körperlichen oder geistigen Anstrengungen kann auch in Zukunft keine Rede mehr sein. Wenn Sie aber in Europa bleiben und Ihr Leben so regeln, wie Ihre jetzigen Kräfte es nun einmal verlangen, hoffe ich, Ihnen die Herstellung verbürgen zu können.“

Ein tiefer befreiender Atemzug hob die Brust Sonnecks und [168] in seinen bleichen Zügen stieg eine leichte Röte auf, während er wie unwillkürlich den Blick nach dem alten Hause zurückwandte, das hinter ihnen lag.

„Sie sprechen mir also das Leben und bedingungsweise auch die Gesundheit zu?“ fragte er leise. „Das ist mehr, als ich hoffte; aber wenn ich daraufhin den Versuch mache, noch einmal – zu leben, so schiebe ich Ihnen die Verantwortung zu.“

„Das thun Sie nur getrost!“ lachte der Arzt. „Selbst wenn der Entschluß, von dem Sie vorhin sprachen, auf eine Heirat hinauslaufen sollte – ich nehme kein Wort zurück.“

„Aber lieber Hofrat!“

„Nun, das wäre doch am Ende nichts Ueberraschendes, da Sie sich jetzt entschlossen haben, in Deutschland zu bleiben. Bei Ihnen machen die grauen Haare nichts aus! Sie mit Ihrem Weltruf und Ihrer Persönlichkeit können noch um die Jüngste werben, ohne einen Korb befürchten zu müssen. Ich glaube, die meisten unserer Damen würden sich eine Ehre daraus machen, die Gattin des berühmten Sonneck zu heißen!“

„Nur keine Komplimente,“ wehrte der andere ab. „Vor allen Dingen machen Sie mich gesund!“

„Ich werde nicht ermangeln, schon um der Reklame willen für unser Kronsberg! Wir haben schon Ihre Hoheit die Fürstin hergestellt; wenn wir nun noch eine Wunderkur an unserem ersten Afrikaforscher vollbringen, dann ist der Weltruf unserer Quellen fertig. Vorläufig bleiben Sie also bis zum Herbste hier, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie sich nicht gerade als Verbannter fühlen werden. Die Saison läßt sich ungewöhnlich gut an, die meisten Wohnungen sind bereits bestellt und, wie es scheint, kommt diesmal alle Welt nach Kronsberg. Für den Augenblick sind allerdings erst einige Familien da – wir stecken ja noch halb im Schnee – aber schon in der nächsten Woche haben wir einen interessanten Kurgast zu erwarten – englische Hocharistokratie – Lady Marwood!“

„Marwood?“ fuhr Sonneck lebhaft auf. „Doch nicht etwa –“

„Eine frühere Bekannte von Ihnen – jawohl! Die Tochter unseres einstigen Generalkonsuls in Kairo, der vor fünf Jahren starb; Sie waren ja, soviel ich weiß, befreundet mit ihm. Ich habe damals in Luksor die junge Dame einigemal gesehen und dort verlobte sie sich auch mit dem englischen Lord. Es war gerade an dem Tage, wo Sie mit Ehrwald zu Ihrem großen Zuge in das Innere aufbrachen!“

„Gerade an dem Tage!“ wiederholte Sonneck langsam. „Ich weiß es, Osmar hat es mir später erzählt.“

Es lag ein eigentümlich schwerer Klang in den Worten. Bertram bemerkte das nicht und sprach unbefangen weiter.

„Als ich im April wieder nach Kairo kam, um meine Braut abzuholen, wurde gerade die Vermählung gefeiert, mit unglaublicher Pracht. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem und gleich darauf reisten die Neuvermählten nach England ab. Ich hörte aber später, die Ehe sei durchaus nicht glücklich, die junge Frau war viel mehr in Kairo bei dem Vater als in England bei dem Gemahl und schließlich hieß es sogar, sie hätten sich ganz getrennt.“

Sonneck gab keine Antwort auf die letzte Bemerkung, er fragte nur: „Wo ist denn Lady Marwood jetzt?“

„In Rom, wenigstens kam ihre Bestellung von dort. Sie hat hier eine ganze Villa gemietet und bringt, wie es scheint, einen förmlichen Hofstaat mit, Equipagen und Dienerschaft. Nun, die Erbin des Osmarschen Vermögens kann sich das immerhin leisten, ganz abgesehen von dem Reichtum ihres Gemahls. Sie werden sie doch aufsuchen?“

„Gewiß, ich bin ja ein alter langjähriger Freund ihres Vaters gewesen. Doch nun muß ich umkehren, ich will noch zu Helmreich.“

Die beiden Herren schüttelten sich die Hände und trennten sich. Bertram setzte seinen Weg nach der Stadt fort, aber dabei sagte er halblaut, mit gutmütigem Spott: „Er behauptet, ein Todesurteil aus meinem Munde würde ihn sehr ruhig lassen, und dabei flammte er förmlich auf, als ich ihm das Leben zusprach. Ja ja, wir hängen doch alle an dieser erbärmlichen Welt und diesem ‚jämmerlichen‘ Leben, wie der Alte da oben es nennt! Ich meinesteils befinde mich in dieser Welt ganz außerordentlich wohl.“

(Fortsetzung folgt.)




Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart.

Die Bühne ist ein Spiegel der Zeit und ihrer wechselnden Geschmacksrichtungen; sie ist ein Spiegel des Volksgeistes und in dieser Hinsicht kann man stets von einer Nationalbühne sprechen, wenngleich das Lessingsche Ideal einer solchen nie bisher in Deutschland Verwirklichung gefunden hat. Neben der von der Zeitflut fortgespülten Masse des Vergänglichen, das nur vorübergehende Spiegelungen des Zeitgeistes und des Volksgeistes bot, finden sich aber immer einzelne Werke, welche Dauer finden, weil sie entweder ein besonders glücklicher dramatischer Griff sind oder das Gepräge genialer Offenbarungen tragen; sie bilden das Urgestein, das unter den späteren Ablagerungen noch immer zu Tage steht, mächtig und unverwittert.

Die Geschlechter der Menschen lösen sich ab, auch die Geschlechter der Schriftsteller; doch das Neue vermag niemals ganz das Alte zu verdrängen. Lange Zeit geht beides nebeneinander her; dann gewinnt das erstere den Vortritt; doch das Alte tritt nicht so schnell aus der Reihe der Entwicklung aus, wenn ein lebenskräftiger Kern ihm innewohnt. Und die großartigsten Offenbarungen des dramatischen Genies bekunden ihr unsterbliches Wesen immer aufs neue auch auf der Bühne. So bildet sich das Bühnenrepertoire der Gegenwart aus litterarischen Schichten, welche verschiedenen Jahrhunderten angehören, und wenn wir es nur in Bezug auf unser eigenes Jahrhundert und auf deutsche Werke in Betracht ziehen, so findet sich auch hier dieselbe Mischung von Alt und Neu.

Abgesehen von unseren Klassikern, die zum Teil nun schon länger als ein Jahrhundert die Grundlage unseres Repertoires bilden und denen sich der geniale Heinrich von Kleist, dessen markige dramatische Kraft nur durch nervöse Verstimmungen und Anwandlungen träumerischer Mystik beeinträchtigt wurde, und der hochbegabte Grillparzer, das Haupt der österreichischen Dramatiker, anschließen, sind es vorzugsweise die jungdeutschen Dramatiker, welche vor und nach 1848 die Bühne dem modernen Geiste zu erobern suchten, deren Hauptwerke sich noch jetzt in der Gunst des Publikums erhalten. Karl Gutzkow, ein Geist von großer Feinspürigkeit, Beweglichkeit, Elasticität wie durchdringendem Scharfsinn, von großer Begeisterung für die Ideen der Zeit, rasch der praktischen Bühne näher tretend und ihre Mittel beherrschend, war der Führer jener Richtung, welche die Verjüngung der dramatischen Litteratur durch die Zeitgedanken anstrebte. Doch schon jetzt haben sich von seinen zahlreichen Werken, die auch, so geistvoll und bedeutend sie waren, nicht alle von Hause aus den gleichen Erfolg hatten, nur drei bis vier, diese aber mit nachhaltiger Wirkung, auf dem Repertoire behauptet: die Tragödie „Uriel Acosta“, in der damaligen lichtfreundlichen Zeit ein Weckruf freier religiöser Anschauung und Toleranz und als ein Bild des Kampfes, in den das freie Denken mit den Schranken der Gemeinde und der Familie gerät, auch den Spätergeborenen wert; das treffliche Lustspiel „Zopf und Schwert“, mit seiner launigen Charakterzeichnung und seiner Verherrlichung der Mission Preußens, in dem der Dichter sich als ein glänzender Vorgänger der späteren Hohenzollerndramatik bewährt hat, und das satirische Lustspiel „Das Urbild des Tartüffe“, eine interessante Studie über das Verhältnis der Lustspielsatire zu den tonangebenden Zeitgenossen und zu den verschiedenen Ständen, die sie mit ihrer Geißel heimsucht. Ein weiteres Stück, aber von geringerem Wert, „Der Königslieutenant“, eine dramatische Episode aus Goethes Jugendzeit, wird viel gegeben, weil die Titelrolle von hervorragenden Darstellern bei ihren Gastspielreisen bevorzugt wird. Der andere jener Stürmer und Dränger, Heinrich Laube, in seiner Jugend burschikos und von sporenklirrender Bravour, im Alter barsch und durchgreifend, hat mit seinen „Karlsschülern“, die das Anekdotische aus Schillers Jugendzeit mit frischem Ton dramatisch gestalteten und zu einem Konflikt politischer Anschauungen steigerten, sowie mit seinem „Graf Essex“, einem dramatisch markigen und durchaus bühnenwirksamen Trauerspiel, nachhaltige, noch heute andauernde Erfolge errungen. Auch seine in scenischer Hinsicht sehr geschickte, ihrem poetischen Wert nach aber bedauerliche Fortsetzung des Schillerschen „Demetrius“ erhält sich auf der Bühne. Gutzkow und Laube weilen nicht mehr unter den Lebenden, ebenso Gustav Freytag,

[169]

Richard Voß. Hermann Sudermann. Ludwig Fulda. Gerhard Hauptmann.
Martin Greif. Arthur Fitger. Adolf Wilbrandt. Ernst v. Wildenbruch. Paul Lindau.
Ludwig Ganghofer. Paul Heyse. Wilhelm Jordan. Rudolf v. Gottschall. Ernst Wichert
Franz v. Schönthan. Gustav v. Moser. Ernst v. Wolzogen. Oskar Blumenthal. Adolf L’Arronge.

Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart.

[170] ein Dramatiker, der in der „Valentine“ und in „Graf Waldemar“ die gleiche Richtung mit der ihm eigentümlichen Grazie verfolgte, später aber als eifriger Gegner derselben auftrat. Sein Lustspiel „Die Journalisten“ ist das beliebteste Kind der heiteren Muse, das in jener Zeit auf unserer Bühne Bürgerrecht gewonnen, ein Kleinod, das im Hausschatze keines deutschen Theaters fehlt. Ebenfalls an das Junge Deutschland in seinen Tendenzen, noch mehr aber an Grabbe und seine kraftgeniale Darstellungsweise knüpfte Friedrich Hebbel an, dessen „Judith“ und „Nibelungen“ durch eine über das Durchschnittsmaß hinausgehende Macht und Energie der Darstellung und durch große für Heroinen geschaffene Frauencharaktere auf den ersten Bühnen eine bleibende Stätte gefunden haben. Auch seine „Maria Magdalena“, ein bürgerliches Trauerspiel, das in seiner herben Kraft und scharfen Charakteristik auf realistische Wirkungen ausging, hat dieses Schicksal; neben ihm ist der stimmungsverwandte Dichter des „Erbförsters“, Otto Ludwig, zu nennen. Wie diese zwei ist auch Friedrich Halm längst verstorben, der einst mit „Griseldis“ und dem „Sohn der Wildnis“ ein mächtiger Beherrscher der Bühne war und mit seinem weniger romantisch beleuchteten als patriotisch schwungvollen „Fechter von Ravenna“ noch immer auf den Gastspielrepertoiren der „tragischen Mütter“, welche die Thusnelda spielen, verzeichnet steht.

Wenden wir uns nun den Lebenden zu, von denen man sagen kann, daß sich Werke von ihnen auf der Bühne wahrhaft eingebürgert haben und deren Bildnisse wir hier auf einem Gruppenbilde unsern Lesern vorführen, so beschäftigen wir uns zunächst mit den Dramatikern jener älteren Generation, die im Wetteifer mit den Vorgenannten erstarkte. Von der großen Fülle talentvoller dramatischer Erzeugnisse solcher Autoren des gleichen Alters, die es zu einem andauernden Erfolg nicht brachten, müssen wir unter dieser Beschränkung hier absehen. Paul Heyse, ein geborener Berliner, seit langen Jahren in München heimisch, Meister einer graziösen feinen Form in seinen Novellen und Gedichten, ist ein sehr schöpferischer Dramatiker, welcher antike und romantische Trauerspiele, Dramen aus der Rokokozeit und der Revolution, moderne Schauspiele und Lustspiele gedichtet hat, von denen die große Mehrzahl zur Aufführung gekommen ist, wenn auch oft nur an dieser oder jener Bühne. Größere und nachhaltige Erfolge errang sein Schauspiel „Hans Lange“, eine dramatisierte mittelalterliche Anekdote, deren Held ein schlauer energischer Bauer ist; das Stück ist reich an vielen genrebildlichen Zügen; „Kolberg“, ein Schauspiel, dem dasselbe nachzusagen ist, behauptete sich im deutschen Norden, besonders in Berlin, durch den patriotischen Geist, der das Stück belebt, „Die Weisheit Salomos“ wiederum fesselte durch den Kontrast ansprechender Charaktere, durch poetischen Hauch und eine Fülle sinniger Aussprüche. Unter den übrigen zahlreichen Stücken Heyses finden sich dramatische Dichtungen von großer dichterischer Schönheit wie „Hadrian“ und „Alkibiades“, von lebendig bewegter Handlung wie „Graf Königsmark“, doch das Bühnenglück war ihnen nicht hold. Adolf Wilbrandt beherrscht mehr als Paul Heyse das dramatische Pathos; wie sehr ihm dessen hinreißende Beredsamkeit zu Gebote steht, beweist sein „Gracchus, der Volkstribun“. Ein geniales Drama ist „Arria und Messalina“; die beiden das Laster der Cäsarenzeit und die Tugend des alten Rom vertretenden Frauencharaktere sind in scharfen Kontrast gestellt und die Verknüpfung der Handlung durch die Liebe von Arrias Sohn zur verbrecherischen Kaiserin hat tragische Bedeutung. In der „Tochter des Herrn Fabricius“ schuf Wilbrandt ein modernes Schauspiel, das manche packende Situationen enthält; seine Lustspiele, wie „Die Maler“ zeichnen sich durch geistreichen Dialog und kräftige Frische aus. Rudolf von Gottschall hat durch sein Lustspiel „Pitt und Fox“, ein Lieblingsstück der Wiener, welchem Laube nachrühmt, daß der geschichtliche Stoff erfindungsreich angefaßt und behende ausgebeutet sei, sowie durch sein Trauerspiel „Katharina Howard“, das über beinahe alle deutschen Bühnen gegangen ist, sich vorzugsweise in die Reihen der erfolgreichen Dramatiker gestellt. Wilhelm Jordan, der Dichter der neuen „Nibelunge“, die er diesseit und jenseit des Oceans selbst mit Erfolg vorgetragen, hat sich als stilvoller Lustspieldichter in seinen poetischen Stücken „Die Liebesleugner“ und „Durchs Ohr“ bewährt, in denen ein Dialog in gewandten und schlaghaften Reimversen der nur zu oft verwahrlosten Lustspielform künstlerischen Adel verleiht.

Wenn diese Dichter mehr oder weniger an die früheren Ueberlieferungen anknüpften, so war dies auch auf dem Gebiete des Lustspiels der Fall. Da waren Benedix mit seinen Lustspielen aus bürgerlichen Lebenskreisen, in denen der Situationswitz vorherrscht, und Bauernfeld mit seinen Salonstücken und ihrem geistreichen Unterhaltungston die Alten vom Berge, welche für jüngere Nachfolger die Losung ausgaben. An Benedix schloß sich Ernst Wichert an, der mit seinem Lustspiel „Ein Schritt vom Wege“ einen besonders glücklichen Wurf gethan, auch in anderen Lustspielen ansprechende Bilder aus dem häuslichen Leben entrollt hat, als tüchtiger Sittenmaler des ostpreußischen Lebens in seinen Novellen und als ostpreußischer Walter Scott in seinen geschichtlichen Romanen ein markiges Darstellungstalent verrät. Adolf L’Arronge, als Theaterdirektor ein Förderer der klassischen Dichtung, ist in seinen eigenen Werken, nachdem er sich von dem Ton der Berliner Gesangsposse, der seine ersten Erfolge angehören, freigemacht, ein Jünger von Benedix und hat auf dem Gebiete des bürgerlichen Sittengemäldes mit seinem „Doktor Klaus“ den größten Treffer gezogen. Sein Bestreben ist, bessernd auf die Sitten zu wirken, und namentlich auf dem Gebiete der Familienerziehung, deren Schattenseiten er mit scharfer Satire gegeißelt hat, ist er ein beredter Lehrmeister der Eltern und dadurch auch ein tapferer Anwalt der Kinder geworden. Auch der Schöpfer des Offizierslustspiels, Gustav von Moser, der niemals seine muntere Laune und sein liebenswürdiges Naturell verleugnet, trat anfangs in die Fußstapfen von Benedix, mit dem er ja gemeinsam das Lustspiel „Das Stiftungsfest“ verfaßte. Doch schon bei dieser Mitarbeiterschaft schieden sich ihre Wege. Benedix billigte nicht die schwankartigen Zusätze von Moser und der letztere lenkte immer mehr auf die Wege des modernen Schwanklustspiels ein. Zu seinen Haupttreffern gehören „Der Veilchenfresser“ und das mit Franz von Schönthan gemeinsam verfaßte Lustspiel „Krieg im Frieden“; er hat den preußischen Offizier auf unserer Bühne volkstümlich gemacht und damit auch im Lustspiele der Aera unserer nationalen Siege gehuldigt, welche Heer und Volk aufs innigste verschmolzen hat.

Der Stammbaum der Salondramatik, dessen Wurzeln in Eduard von Bauernfelds Stücken zu suchen sind, wuchs von Hause aus in einem Erdreich, dem es nicht an fremder Beimischung fehlte. Ein vielgerühmtes Lustspiel Bauernfelds „Die Krisen“ war ja die Bearbeitung eines französischen Stückes und bald brach die französische Dramatik, besonders am Wiener Burgtheater gepflegt, sich immer siegreicher in Deutschland Bahn. Der feinfühlige Augier gewann nur langsam Boden; aber der heißblütige jüngere Alexander Dumas mit seinen grellen und kecken Erfindungen und Charakterzeichnungen und seiner oft hinreißenden Leidenschaftlichkeit, vor allen aber Victorien Sardou mit seinem feinen Humor, seiner virtuosen Bühnengewandtheit, seiner unermüdlichen Schaffenskraft wurden auf unseren Bühnen heimisch, und zwar mehr als der eigenen nationalen Entwicklung derselben förderlich war. Unser Publikum gewöhnte sich daran, den Salon mit seinen sozialen Fernblicken auf der Bühne zu sehen; es gewöhnte sich an einen geistreichen Dialog, der auch bedeutsame Fragen streifte. Einer unserer gewandtesten Feuilletonisten, Paul Lindau, der auch mehrere dieser Dramen übersetzt hat, zeigte eine große Verwandtschaft mit den französischen Autoren, was glänzende geistige Beweglichkeit betrifft; und so war er längere Zeit ein Matador des deutschen Salonlustspiels, das zwar nach dem französischen hinüberschielte, aber doch nach deutscher Eigenart strebte; denn Lindau vermied nicht nur anstößige Verwicklungen, sondern er gab auch deutsche Stimmungsbilder, welche das Gemüt ansprachen. „Maria und Magdalena“ behandelt in solcher deutschen Weise einen Konflikt, welchen ein Alexander Dumas zu verletzender Schärfe herausgearbeitet haben würde, sein Lustspiel „Ein Erfolg“ ist frisch aus unserem litterarischen Leben herausgegriffen, anmutig und elegant ausgeführt.

Ein Rückschlag gegen das Franzosentum fand auf dem Gebiete der ernsten Dichtung statt, welche durch die Wahl patriotischer Stoffe an das Nationalgefühl appellierte. Ein junger preußischer Beamter, der als Offizier die Kriege von 1866 und 1870 mitgemacht und einzelne Großthaten derselben in lyrisch-epischen Dichtungen verherrlicht hatte, Ernst von Wildenbruch, wandte sich dem Drama zu und errang mit seinen schwunghaften „Karolingern“ und seinem „Harold“ durch glückliches und rasches dramatisches Tempo und eine Diktion, die etwa zwischen Shakespeare und Schiller die Mitte hält, in einer der Tragödie abgeneigten Zeit [171] überraschende Erfolge. In die preußische Geschichte zurückgreifend, schuf er das Drama „Vater und Söhne“, welches von den schmachvollen Niederlagen des Jahres 1807 bis zur glänzenden Erhebung von 1813, einen längeren Zwischenraum überspringend, geschichtliche Tableaus vorführt, und dann das Drama „Der Mennonit“, ein Werk von trefflichem dramatischen Aufbau, das in der Zeit Ferdinands von Schill spielt und den Kampf zwischen Vaterlandsgefühl und den Glaubenssätzen einer religiösen Sekte darstellt. Einen viel durchschlagenderen Erfolg errang Wildenbruch mit seinen Hohenzollerndramen, besonders mit den „Quitzows“ und dem „Neuen Herrn“. Das erstere erlebte eine selten hohe Zahl von Aufführungen an der Berliner Hofbühne, wozu neben dem schönen Aufschwung einzelner dichterischer Scenen auch der Witz der Berliner Lokalposse beitrug, der es sich hier im mittelalterlichen Kostüm wohl sein ließ. In dem „Neuen Herrn“ interessiert der durchgreifende Charakter des jungen Kurfürsten. Einen großen Erfolg errang Wildenbruch neuerdings mit seinem deutschen Kaiserdrama, das den Kampf zwischen Heinrich IV. und Gregor zum Inhalt hat. Ernst Wichert hat in seinem am „Berliner Theater“ aufgeführten Schauspiel „Das Recht des Stärkeren“ den Großen Kurfürsten in seinem Kampfe mit den ostpreußischen Ständen zum Helden gemacht, auf Grundlage seines großen geschichtlichen Romans gleichen Stoffes. Im volkstümlichen Stil hat Martin Greif, ein stimmungsvoller Lyriker, der mit Knappheit des Ausdrucks Innigkeit der Empfindung vereinigt und seine historischen Stoffe mit Vorliebe der bayrischen Geschichte entnimmt, verschiedene Dramen gedichtet, die sich von der Bühne herab beifälliger Aufnahme erfreuten, es seien genannt seine „Agnes Bernauer“ und „Ludwig der Bayer“.

Das patriotische Schauspiel hat eine volkstümliche Grundlage, bewegt sich aber meistens mit idealem Schwung auf geschichtlichem Boden. Volkstümlich auch in ihrer Tendenz waren die Bauernstücke, welche das Volk, wie es leibt und lebt, selbst mit den Eigentümlichkeiten seines Dialektes darstellen in ernsten und heitern Bildern, in tragischer und humoristischer Beleuchtung. Der zu früh verstorbene Oesterreicher Ludwig Anzengruber, dessen Stücke sich immer mehr die norddeutschen Bühnen erobern, war auf diesem Gebiete ein glänzendes Vorbild: in tiefgehende Risse im Volksleben, gesellschaftliche Schäden wußte er eine scharfe dramatische Sonde einzuführen; markig war seine Darstellungsweise und er hat einige Gestalten geschaffen, wie den Wurzelsepp, welche bevorzugte Aufgaben für Charakterdarsteller bleiben. Wenn einzelne dieser Dramen einen tiefen tragischen Grundton hatten, so sind die oberbayrischen Dramen von Ludwig Ganghofer weniger dunkel gehalten und neigen sich mehr zu versöhnlichem Abschluß, obschon es an ernsten Konflikten in denselben keineswegs fehlt. Sein „Herrgottschnitzer von Oberammergau“, „Der Prozeßhansl“, „Der Geigenmacher von Mittenwald“, die alle drei von ihm gemeinsam mit dem Schauspieler Hans Neuert geschaffen wurden, sind durch die „Münchener“ unter Hofpauers Leitung über die Bühnen fast aller größeren deutschen Städte geführt worden; es weht frische Alpenluft in diesen Stücken, und die Hauptscenen haben dramatisches Leben. Dies gilt auch von Ganghofers anderen Bauerndramen, die mit seinen lebensvollen warmblütigen Romanen und Novellen aus der Hochgebirgswelt den Vorzug teilen, treu nach der Wirklichkeit gestaltet zu sein. In Norddeutschland hat man gleichzeitig den Fritz Reuterschen Humor theatralisch mundgerecht zu machen gesucht und Reuters Inspektor Bräsig und andere mecklenburgische Volksoriginale spazieren jetzt über die weltbedeutenden Bretter.

Wenn diese volkstümliche Dramatik schon ganz auf dem modernen realistischen Boden steht, aber innerhalb beschränkter Volkskreise, so kamen von der anderen Seite kraftgeniale Dramatiker, welche die gesellschaftlichen Zustände in grelle Beleuchtung rückten und sich auch in der Mitte des realen Lebens bewegten, obschon sie demselben soviel Romantik wie möglich abzugewinnen suchten. Der hervorragendste derselben ist Richard Voß, dessen frühere Werke, wie die „Patrizierin“, den Pulsschlag eines echten dichterischen Talentes und einen leidenschaftlichen Zug zeigten. Später wählte er Stoffe aus dem modernen Leben, dem Zeitgeschmack folgend, der unter der Herrschaft der französischen Dramatik stand. Es ist etwas von Hebbel und etwas von Victor Hugo in ihm; auch hat er Eigenschaften, die an die beiden Alexander Dumas erinnern. Gern wählt er Stoffe, die sensationeller Wirkungen sicher sind; er liebt Konflikte, in denen das Tragische und das Kriminelle ineinandergreifen. Besonders gilt dies von seinen neueren dramatischen Dichtungen wie „Alexandra“, „Eva“, „Schuldig“. Langjähriger Aufenthalt in Italien legt ihm auch Stoffe nahe, welche den sozialen Gegensätzen des modernen italienischen Lebens entnommen sind, wie „Pater Modestus“, „Malaria“. Arthur Fitger zeigt besonders in den „Rosen von Tyburn“ Geistesverwandtschaft mit Richard Voß und der französischen Romantik; die sich am Schluß auf der Bühne heranschleichende Pest ist einer der gewagtesten Triumphe des neuen Naturalismus. „Die Hexe“, das beste Werk Fitgers, behandelt mit dramatischer Steigerung den Konflikt einer Freidenkerin mit der überlieferten Satzung und mit der abergläubischen Menge; trotz der geschichtlichen Einkleidung bewegen sich hier die Gegensätze auf modernem geistigen Boden.

Inzwischen war die Entwicklung unserer Dramatik noch durch eine andere ausländische Größe bestimmt worden, die eine fanatische Anhängerschaft fand: der Norweger Henrik Ibsen, von vielen litterarischen Wortführern als Reformator der ganzen dramatischen Dichtung ausgerufen, machte bei uns Schule. Ein kritischer Kopf, in dem zugleich eine etwas nebelhafte Romantik spukt, besitzt er Gestaltungsgabe und theatralisches Geschick und übt damit oft verblüffende, aber wenig stichhaltige Wirkungen aus. In der gährenden Unklarheit seiner Sozialkritik suchte man eine wunderbare Tiefe und seine wortkarge Knappheit galt zugleich für die Runensprache geheimnisvoller Offenbarung wie für ein Muster des dramatischen Tons und Stils. Scharfeinschneidend in seinen satirischen Gesellschaftsbildern, nicht ohne Reiz in seiner oft traumhaften Seelenmalerei, ein Meister in der Zeichnung krankhafter Frauencharaktere, die im Grunde alle nicht recht wissen, was sie wollen, aufregend durch seine Auffassung moderner Vererbungstheorien, drang er allmählich ruckweise auf den deutschen Bühnen vor, eroberte sich immer mehr Terrain und wirkte vor allem bestimmend auf jüngere Talente.

Die gegenwärtige dramatische Dichtung unsrer „Neuesten“ baut sich aus diesen Elementen auf und das Ungünstigste dabei ist, daß sie soviel Fremdländisches in sich aufnimmt und mit sich verschmelzen muß. Uebrigens ist sie nicht nur durch den Einfluß von außen gezeitigt, sondern nachweisbar sind ihre Zusammenhänge mit den Richtungen und Werken älterer deutscher Dichter. So ist z. B. Hebbels „Maria Magdalena“ so jüngstdeutsch in Bezug auf reale Lebenswahrheit und die Gewagtheit des aufgestellten sittlichen Problems wie nur irgend ein Erzeugnis der neuesten Schule. Es liegt gar keine Veranlassung vor, von einer wirklichen „Revolution“ in der Litteratur zu sprechen, und unter eine bestimmte Fahne läßt sich nur ein mühselig zusammengebrachtes Häuflein ordnen: so verschiedenartig sind die jüngeren Talente. Auch hier ist für unsere Auswahl ihre Einbürgerung auf der Bühne bestimmend.

Das bedeutendste Talent unter den jüngeren besitzt ohne Frage Hermann Sudermann; er hat den echten dramatischen Wurf, den hinreißenden Zug der Handlung, einen belebten markigen Dialog. In Bezug auf Beherrschung der dramatischen Form, auf fesselnde Scenenführung hat er von den Meistern der modernen französischen Bühne gelernt; in seiner Hinneigung zur scharfen Beleuchtung sozialer Mißstände zeigt sich Ibsenscher Einfluß; seine Stoffe aber wählte er mit voller Selbständigkeit aus dem deutschen Leben der Gegenwart. Er vereinigt in sich die Gabe, mit großer Lebenswahrheit Kreise und Typen des modernen Großstadtlebens zu schildern, mit dem Trieb, die sittlichen Schäden unserer sozialen Verhältnisse bis an die Wurzel bloßzulegen, wodurch er sich vielfache Anfechtung zuzog. In seiner Kritik ist er aber voll Geist und Witz und neben der Darstellung von Entartung und Elend finden sich in seinen Dramen immer auch Personen und Charakterzüge, die uns sympathisch berühren. Wie er die inneren Konflikte aus den Gegensätzen, die unsere moderne Gesellschaft zerklüften, mit Vorliebe herleitet, so liebt er es, diese Gegensätze scenisch auch in ihrem Aeußern mit realistischer Deutlichkeit anschaulich zu machen. So stellte er in der „Ehre“ dem üppigen Leben im „Vorderhaus“ das Bild proletarischer Verkommenheit im „Hinterhaus“ gegenüber; so bricht in der „Heimat“ die Heldin mit all den Ansprüchen eines freizügigen Künstlerlebens in die Idylle einer patriarchalischen Lebensanschauung ein. Auch Sudermanns neueste Dramen „Die Schmetterlingsschlacht“ und „Das Glück im Winkel“ mit ihren versöhnlicheren Schlüssen haben eine verwandte Struktur. Er hat mit seinen trotz mannigfachen Widerspruchs nicht zu leugnenden starken Erfolgen nicht nur die deutschen, sondern auch die ausländischen Bühnen erobert; von allen jüngeren Schriftstellern besitzt er die größte dramatische Energie.

[172] Ganz anders geartet ist Gerhard Hauptmann. Er ist mehr dramatischer Genremaler und im Durchführen naturalistischer Prinzipien pedantisch kleinlich; er steht ganz unter dem Einflüsse Ibsens; seine „Einsamen Menschen“ tragen das Gepräge der oft blutleeren skandinavischen Muse. „Vor Sonnenaufgang“ enthält neben brutalen Scenen und Wendungen auch einzelnes poetisch Anmutende. Die Verwüstungen der Trunksucht in den Familien der Bauern zu schildern, ist mehr die Aufgabe des Sittenmalers als die des dramatischen Dichters. In „Kollege Crampton“ ist es dasselbe Laster, an welchem ein begabter Künstler zu Grunde geht. „Die Weber“ lösen sich ganz in Tableaus auf, durch welche kein dramatischer Faden hindurch geht; es ist eine scenisch zersplitterte Tragödie des Elends mit einzelnen packenden Auftritten. Am meisten von sich sprechen machte „Hannele“, eine Traumdichtung, in welcher ein roher Realismus neben einer visionären Phantastik waltet und der Jammer der Erde von himmlischer Glorie eingerahmt wird; ein paar lyrische Prachtstücke sind hier in die allernüchternste Werktagsprosa verwebt. Hauptmanns neuestes Werk „Florian Geyer“, das bei seiner ersten Aufführung im Berliner „Deutschen Theater“ entschieden abgelehnt wurde, scheiterte an dem Versuch, die Prinzipien des einseitigen Naturalismus auf das Gebiet des historischen Trauerspiels zu übertragen.

Daß frühere Einflüsse auf die neueste Gestaltung der dramatischen Dichtung miteinwirken, ist unverkennbar. Das Traum- und Märchendrama ist keineswegs von der Bühne verschwunden: hier vor allem zeigt sich das Vorbild des sinnigen und oft tiefsinnigen Grillparzer noch in voller Geltung; denn nicht etwa mit den Zauberpossen haben diese neuen Dichtwerke Gemeinschaft, sondern mit hochpoetischen Werken wie Grillparzers „Der Traum ein Leben“. Daran erinnerten schon Wilbrandts Drama der Wiedergeburten „Der Meister von Palmyra“ und Heyses „Schlimme Brüder“, und auch die neueste so erfolgreiche Märchendichtung „Der Talisman“ von Ludwig Fulda verleugnet die Schule Grillparzers nicht; sie bewegt sich zwar nicht in der Traum- und Zaubersphäre, aber sie ist in die Gewandung des orientalischen Märchens gekleidet. Dieses dramatisierte Epigramm ist aus dem reichen Schatz von Epigrammen hervorgegangen, den Fulda in seinem schriftstellerischen Schrein verwahrt. In der That vereinigt er auf diesem Gebiete geistige Schärfe mit großer Formgewandtheit und diese Vorzüge verraten sich auch in seinen modernen Gesellschaftsdramen „Die Sklavin“, „Das verlorene Paradies“, noch mehr aber und mit größerer Frische in seinen Lustspielen, die wie „Die wilde Jagd“ auf den von Bauernfeld und Lindau eingebürgerten Salonton gestimmt sind. Dasselbe gilt von Ernst von Wolzogens Stücken „Die Kinder der Excellenz“ und „Lumpengesindel“, in denen es an launig ausgeführten Genrebildern nicht fehlt, aber auch gesellschaftliche Mißklänge scharf in die Capriccios des Humors hineintönen, den Einfluß Ibsens auf den Autor markierend.

Im übrigen herrscht auf unserer Bühne der Lustspielschwank, ein Gebiet, auf welchem auch G. von Mosers Lustspielmuse zuletzt immer mehr heimisch geworden ist. Oskar Blumenthal, in seinen ersten Lustspielen wie in seinem glücklichsten Wurf „Der Probepfeil“, in den Bahnen Paul Lindaus wandelnd, wenn auch im Dialog weniger feingeistig und mit derberem Nachdruck, hat jetzt mit seiner „Großstadtluft“ und ähnlichen Schwänken, in denen die Lustigkeit die Grundstimmung bildet und ein derber Schlagwitz herrscht, sich alle Bühnen erobert. Auch Franz von Schönthan mit seinen Mitarbeitern Paul von Schönthan und Gustav Kadelburg, welcher auch Blumenthal in der „Großstadtluft“ und anderen Erzeugnissen zur Seite stand, hat mit dem spaßhaften „Raub der Sabinerinnen“ und neuerdings mit dem drolligen „Der Herr Senator“ nachhaltige Lacherfolge errungen.

Wir haben in großen Zügen den Entwicklungsgang der neuesten dramatischen Litteratur und damit auch des Theaters in Deutschland gezeichnet. Wie sich auch die älteren und neueren Richtungen befehden mögen: die Mannigfaltigkeit und der Reichtum des deutschen Geisteslebens zeigt sich auch auf diesem Gebiete. Auch ist zu hoffen, daß die Gegensätze sich immer mehr ausgleichen werden; in wohlthuender Neuerung wird man dann keine Vermessenheit, in der Pflege des wohlverdienten Alten keine geistige Beschränktheit sehen. Der biblische Spruch: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“, gilt auch mit Bezug auf das geistige Leben und unsere Litteratur; wo aber heftiger Streit entbrennt über Richtungen und Programme des dramatischen Schaffens, da ertöne der Friedensruf: „Habt nur Talent und Genie, so wird euch alles übrige von selbst zufallen!“ Rudolf Hermann.     




Mein Roman.

Novelle von Eva Treu.
(Schluß.)


Du hast wohl vergessen, daß wir heute Wäsche haben?“ sagte Mutter ein bißchen scharf, als ich am andern Morgen in die Eßstube trat. Ja, ich hatte es vergessen!

„Lene, meine französische Uebersetzung solltest Du doch noch mit mir durchnehmen,“ sagte Lolli, unsere Töchterschülerin. Richtig, ja, ich entsann mich nun. Jetzt war es zu spät!

„Wenn ich Dir aber das In-Ordnung-Halten meiner Handschuhe übertrage, so kümmere Dich auch gefälligst darum; hier fehlt wieder ein Knopf,“ bemerkte Vater verdrießlich. Ich nähte den Knopf, der, nur noch an einem Faden hängend, sein unsicheres Leben fristete, hastig und wahrscheinlich sehr mangelhaft fest und eilte dann hinaus, um die Waschfrau mit Frühstück zu versorgen. Sie machte bereits einen ganz überflüssigen Lärm in der Waschküche, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Ja, so war es nun, mein Schicksal – nicht einmal ein bißchen träumen durfte ich von meiner Liebe, immer stand Mutter oder sonst jemand bereit, mir die Prosa des Lebens wie einen Besen in die Hand zu drücken!

Nachmittags mußte ich Male helfen, die Wäsche aufhängen. Das mochte ich gar nicht gern, denn der Bleichplatz war nur durch einen Zaun von der Straße getrennt, und es kam immer jemand vorbei, wenn ich solche Arbeit verrichtete, die ich nach meiner leider ja unmaßgeblichen Meinung ungeeignet für eine Dame fand. Auch diesmal mußte es natürlich geschehen. Ein Schatten fiel über den Zaun, gerade auf das große weiße Laken, welches ich aufhing, und es war, als zwänge mich eine unsichtbare Gewalt, mich umzuwenden.

„Herr Doktor,“ stotterte ich, indem ich heiß errötend grüßte. Er zog den Hut sehr tief, und ich glaube, er hatte brennende Lust, stillzustehen und etwas zu sagen, aber er wurde bloß ebenso rot wie ich – wirklich wie ein junges Mädchen, und wie gut es ihm stand! – und ging sehr langsam weiter.

„Der arme Mensch!“ sagte Male mitleidig, ein Paar Strümpfe aufklammernd.

Ich fuhr ein bißchen plötzlich mit dem Kopf zu ihr herum. „Wieso?“

„Gott, Fräulein, ich glaube, Patschenten hat der nich! Immer liegt er auf die Straße. Wie manchmal der hier in die letzte Zeit vorbeigegangen is, da mag ich gar nich über sein zu zählen! Er weiß sein Zeit ja woll nich tot zu kriegen. Heute is er hier nu dreimal vorbeigestappt, – ümmer langsam, alleben, alleben! Wo lebt er von, Fräulein, wenn er so’n Berg Zeit hat?“

Ich schwieg. Die Wahrheit zu sagen, glaube ich jetzt selbst nicht, daß Doktor Forst damals schon eine nicht zu bewältigende Zahl von Patienten gehabt haben kann, denn er fand in der That Zeit für viele und oft wiederholte Spaziergänge in der Nähe unseres Hauses; aber es ist natürlich über jeden Zweifel erhaben, daß dies einzig und allein seinen Grund in dem gesunden Klima unseres Städtchens und der allen Krankheiten überhaupt abholden Sommerszeit hatte. Jetzt, das darf ich mit gutem Gewissen versichern, würde er die Zeit für Fensterpromenaden schwerlich auftreiben können. Doch das sei nur nebenbei gesagt. Mir klopfte jedenfalls damals das Herz vor Freude, als ich von ihnen hörte.

Ja, er hatte viel Zeit, und er faßte auf einmal eine ganz wunderbare Freundschaft für Vater, bei dem er täglich wenigstens einmal irgend eine Besorgung zu machen hatte. Bald war ein Buch oder eine Zeitung zu bringen, bald dergleichen zu holen oder eine Verabredung für den Klub zu treffen. Ich glaube nicht, daß er Vater gerade immer sehr gelegen kam, aber Vater ist gutmütig und ließ es ihn nie empfinden. Mitunter begegneten wir uns auf

[173]

Am Sonntag.
Nach dem Gemälde von A. H. Schram.

[174] dem Flur, mitunter im Garten, zuweilen natürlich auch gar nicht; denn der Zufall laßt sich nicht bevormunden, das hat er mit allen unzurechnungsfähigen Wesen gemein. Wenn man ihm allzu gefällig in die Hand arbeitet, wird er störrisch und ist für gar nichts mehr zu haben.

Das ging nun so, so lang’ es ging, und dann kam einmal ein großer Tag, an dem Mutter mich zum Bohnenpflücken in den hintersten Teil unseres Gartens geschickt hatte. Es war köstliches Sommerwetter. Mir scheint es jetzt überhaupt, als wäre das Wetter während jenes ganzen Sommers ideal schön gewesen. Ich pflückte ganz emsig und summte dabei, da in diesem weltentlegenen Winkel kein Mensch meinen leider etwas fragwürdigen Gesang vernehmen konnte, eines von den Liedern vor mich hin, die ich Franz immer so gern hatte singen hören. Ich fühlte mich sehr vergnügt. Die Sonne schien und die Vögel sangen, alles blühte und duftete um mich her, ich dachte an Franz, und mir war gerade so zu Mute, als müßte heute ein ganz besonderes Glück in der Luft liegen, wie man das ja manchmal meint, ohne daß man einen rechten Grund dafür angeben könnte.

„Immer so fleißig, Fräulein Lene?“ sagte da eine Stimme neben mir. Ich fuhr herum, rot bis an die Haare. Da stand der, an den ich eben noch gedacht hatte.

„Woher – o woher –?“ stammelte ich verwirrt. „Sind Sie aus der Erde gewachsen?“

„Nein,“ sagte er, ein bißchen verlegen lachend, „das nicht gerade. Ich sah Sie hier so emsig beschäftigt, und da fiel mir ein, daß der Garten an dieser Seite eine kleine Hinterpforte hat. Sie war zufällig offen, da bin ich ohne jede Hexerei auf ganz natürlichem Wege hereingekommen.“

„Aber warum sind Sie nicht durch die –,“ fing ich an, um dann wieder zu verstummen.

„Andere Pforte hereingekommen?“ vollendete er. „Ja, – ich fand diese für meinen Zweck bequemer. Liebes Fräulein Lene –“ er trat näher heran, „ich habe nun seit vierzehn Tagen so inständig gewünscht, Sie einmal ganz allein zu sprechen. Ich möchte Ihnen so gern etwas sagen. Ach bitte, bitte, lassen Sie nun die Bohnen sein! Solch hausfräuliches Thun steht Ihnen ja so reizend, aber lassen Sie es nun eine kleine Weile, bitte!“ Er faßte meine Hand und zog mich mit sanfter Gewalt, deren es übrigens kaum bedurfte, bis zu einer kleinen Bank, die ganz in der Nähe stand. Ich setzte meinen Bohnenkorb gehorsam auf die Erde und ließ meine Hand beklommen in der seinen. Ob es nun kam – ob es nun kam, das große Glück, nach dem mir heute so zu Mute gewesen war? Ob es nun kam? Wie mir das Herz schlug!

„Ich brauche es ja gewiß kaum mehr auszusprechen,“ sagte er leise, „ich glaube, Sie wissen es schon. Vom ersten Augenblick an haben Sie mir’s angethan, seit ich Sie zuerst sah, so anmutig und frisch in Ihrem Hauskleide, und dann nachher immer mehr, je öfter ich Sie sah, so haustöchterlich, so emsig, so bemüht für alle, dabei so klug, so lieb und hold. So, gerade so habe ich mir immer das Mädchen gedacht, das mir einmal das liebste von allen sein müßte und mit dem allein ich glücklich sein könnte! – Ich habe, ehe ich hierher kam, so viele Gelegenheit gehabt, emancipierte, schriftstellernde und verschrobene Frauen kennenzulernen, Blaustrümpfe, die sich zu gut dünkten, die kleinen Pflichten des Alltagslebens auf sich zu nehmen, mit Tintenflecken an den Fingern und allerlei halbverstandener Gelehrsamkeit in den Köpfen, daß Sie mir in Ihrer frischen Natürlichkeit und mit Ihrem häuslichen Sinn doppelt reizend erschienen. Und ehe ich mich dessen versah, habe ich Sie nun so lieb, daß ich nicht mehr anders kann, ich muß es Ihnen sagen! Liebe Lene, – liebe, süße Lene, wollen Sie meine –“

„Lene, wo bist Du?“

Es war, als ob es uns jemand ins Ohr geschrieen hätte, so nahe klang es. Ich fuhr zusammen, als wäre ich auf einem Verbrechen ertappt, und Franz ließ hastig meine Hand los.

„Lene!“ rief es zum zweitenmal. Das war Peter Laß – mit solchen Stimmmitteln war unter all meinen mit sehr gesunden Lungen begabten Geschwistern nur er versehen.

„Der dumme Junge,“ sagte Franz ärgerlich und war mit einem sehr unpoetischen Sprung hinter der nächsten hohen Wand von Bohnen verschwunden. Wäre mir nicht so schrecklich verdutzt und zugleich feierlich-glücklich-beschämt zu Mute gewesen, ich hätte hell auflachen müssen. Mit einer Geistesgegenwart, die Anerkennung verdiente, da ich doch noch nie in ähnlicher Lage mich befunden hatte, griff ich flink zu meinem Bohnenkorbe, duckte mich auf die Erde und pflückte im nächsten Augenblicke, meine glühenden Wangen möglichst im Laubwerk versteckend, mit einem Eifer, als gälte es mein Leben.

Da erschien auch schon Peter Laß in höchsteigener Person. „Da ist ein Paket für Dich angekommen,“ krähte er wichtig, „ein großes, dickes. In grauem Papier ist es gewesen.“

„Ein Paket?“ sagte ich, ein Interesse heuchelnd, welches mir ganz fern lag. „Wo ist es denn?“

„Mutter hat es. Sechzig Pfennig hat es gekostet, und der Postbote sagt, auf der Post wollten sie es nicht länger haben, es hätte da schon so lange herumgelegen, da hätten sie es mal offen gemacht, um zu sehen, wem es gehörte, und Dein Name stände darin. Und Mutter hat es ausgepackt, und da war ein ganzer Berg Papier drin, und Mutter, die wurde ordentlich böse, als der Postbote weg war, und sagte –“

„Papier?“ sagte ich verwirrt. Und dann entfiel der Bohnenkorb meiner Hand und ich wurde blaß. Seit Wochen gedachte ich zum erstenmal wieder meines Romans. Mir wurde alles klar. Er war zurückgeschickt, hatte vielleicht wochenlang auf der Post gelegen, ohne daß ich daran dachte, ihn abzuholen, und nun wurde er mir in diesem – diesem unpassenden Augenblick, in dieser schmerzlichen Art in das Haus gebracht!

„Sieh, da kommt Mutter,“ sagte Peter Laß triumphierend, „und das Paket hat sie auch. Du, Lene, was soll all das geschriebene Papier? Was willst Du damit?“

Hinter der Bohnenwand nahebei raschelte es leise. Mir sank das Herz. Was hatte doch der da hinter den Bohnen, zu dem jedes Wort, das gesprochen wurde, mit boshafter Deutlichkeit dringen mußte, vorhin von schriftstellernden und emancipierten Frauen gesagt? O! – Wenn er doch nur weggehen wollte, ehe Mutter kam, tausendmal lieber wollte ich ihm ja selbst alles erklären! Wie ich in diesem Augenblick meinen mit so großer Wonne geschriebenen und mit so unendlichem Stolz abgeschickten Roman haßte, kann ich gar nicht sagen.

Mutter kam inzwischen eilenden Schrittes den schmalen Gartensteig entlang auf mich zu, das dicke, graue, bereits geöffnete Paket in der Hand. Und wieder raschelte es leise in den Bohnen.

„Es ist eine Postsendung für Dich abgegeben worden,“ sagte Mutter, sobald sie mir nahe genug war, ruhiger und kühler, als ich erwartet hatte. „Du kannst gehen, Max, wir brauchen Dich hier nicht. Ich habe mir erlaubt, sie zu öffnen, da ich mir nicht denken konnte, daß sie wirklich für Dich wäre. Du wirst es schon entschuldigen müssen!“

Ich schwieg.

„Ich sehe zu meinem unbegrenzten Erstaunen, daß es ein – ein – das Manuskript eines Romanes enthält!“ Es ist unmöglich, sich vorzustellen, welchen verächtlichen Nachdruck Mutter auf das Wort „Roman“ legte. „Stammt das wirklich, ich kann es nicht glauben – aus Deiner Feder, Lene?“

Ich sagte nichts, es wurde ungemütlich still.

„Wenn Du den Kopf voll solcher Narretei hast,“ sagte Mutter dann kühl, „wundert es mich allerdings nicht mehr, daß Du im Hause seit Monaten zu nichts Ordentlichem zu gebrauchen gewesen bist. Nicht, als wärst Du mir jemals eine Hilfe gewesen, aber jetzt verstehe ich, warum es neuerdings so ganz arg mit Dir ist! Du hättest besser gethan, mein Kind, Deine kleinen, wahrlich nicht zu schweren Pflichten gegen Eltern und Geschwister zu erfüllen, anstatt in Deinem Alter, in welchem man weder von Welt noch Menschen etwas versteht, schriftstellern zu wollen. Aber da wurde zu jeder kleinen Arbeit, die man der Prinzessin zumutete, ein unfreundliches Gesicht gemacht, als wäre so etwas unter ihrer Würde. Da konnte die Mutter allein fast alle Arbeit thun, damit das Töchterchen talentloses, konfuses Zeug zusammenschreiben mochte.“

„Aber Mutter,“ sagte ich mit einem leisen Schimmer wiedererwachenden Stolzes, „das kannst Du doch nicht so ohne weiteres wissen, Du hast den – den Roman doch gar nicht gelesen!“

„Nein, gottlob nicht. Aber den Brief, den Dir der Redakteur dazu schreibt, den habe ich gelesen. Ein sehr verständiger Brief! Da – stecke ihn Dir an den Spiegel, mein Kind, und lies ihn jeden Tag dreimal. Ich denke, das wird Dir gesund sein. Und nun mache einmal ein bißchen geschwind mit den Bohnen, sie werden sonst nimmermehr gar bis heute mittag!“

Damit legte Mutter das abscheuliche Paket auf die Bank, [175] den Brief, dessen Lektüre sie mir so freundlich empfahl, oben darauf und ging eilig in das Haus zurück.

Nein, es fiel mir nicht ein, „ein bißchen geschwind mit den Bohnen zu machen“ – durchaus nicht. Ich sank ganz vernichtet auf die Bank und schlug die Hände vor das Gesicht.

Ich weinte nicht, aber mir war ganz trostlos ums Herz.

Nachdem Franz dies alles mit angehört hatte, konnte er mich nicht mehr lieb haben, das wußte ich. Das, was ihm an mir gefallen hatte, mußte ihm nun erscheinen wie eine Komödie, die ich ihm vorgespielt hatte – es war aus zwischen uns!

Ein Windhauch trieb mir das unglückliche Briefblatt gerade auf den Schoß. Mechanisch griff ich danach und las es. Ich glaube nicht, daß ich verstand, was es enthielt, meine Augen glitten nur darüber hin, aber ich habe das Blatt aufbewahrt und weiß deshalb, was darauf stand. Es war nicht einmal so arg, wie Mutter gemeint hatte, sie mußte wohl hastig gelesen haben; aber schmeichelhaft war der Brief allerdings nicht gerade.

„Sehr geehrtes Fräulein! Leider müssen wir das beifolgende Manuskript unbenutzt wieder in Ihre Hände zurücklegen, da es in den Rahmen unseres Blattes durchaus nicht paßt. Sie bitten uns um unser Urteil über die Arbeit, und obschon wir ein solches infolge unangenehmer Erfahrungen nur sehr ungern abgeben, wollen wir doch diesmal eine Ausnahme machen. Ihnen ein Talent zur Schriftstellerei ganz absprechen zu wollen, wäre zu weit gegangen, doch fehlt es Ihnen bis jetzt noch durchaus an Lebenserfahrung, Korrektheit des Stils und der Fähigkeit, die Personen aus sich selbst heraus handeln zu lassen, ganz abgesehen von derjenigen, eine so verwickelte Handlung übersichtlich anzuordnen. Jedoch Sie sind offenbar noch sehr jung. Wenn Sie nach zehn oder zwölf Jahren, nachdem Sie das Leben kennengelernt und recht viel Gutes mit Verstand gelesen haben, uns wieder einmal eine kleine Arbeit, jedoch von sehr viel geringerem Umfange als die vorliegende, zur Prüfung einsenden wollen, so ist die Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen, daß sich dieselbe dann als druckreif erweist. Inzwischen zeichnen wir – etc.“

Ich las darüber hin, ohne es zu verstehen, aber meine Thränen lösten sich nun und fielen auf das Blatt, die Schrift befleckend und verwischend. Nicht um den so grausam vernünftigen Brief weinte ich; der war mir in dem Augenblick ganz gleichgültig, nein, nur um das eine Wort, das auf des Doktors Lippen geschwebt hatte und das er nun nie aussprechen würde, das wußte ich. Ich war ja nicht das, was er sich unter mir vorgestellt hatte – durchaus nicht!

Wo war er nur? Ob er so fortgegangen war, selbst ohne Gruß, nachdem Mutter sich entfernt hatte? Nein – da kam er langsam den schmalen Steig entlang, der durch die Bohnen führte, auf mich zu. Nachher erst, viel später, fiel es mir ein, wie blaß er ausgesehen hatte. Er zog den Hut.

„Ich habe um Entschuldigung zu bitten, Fräulein Peters, daß ich hier wider Willen den Lauscher spielen mußte“, sagte er, an mir vorbeisehend, „auch wegen meines unbefugten Urteils vorhin über die schriftstellernden Damen. Es konnte mir unmöglich einfallen, daß ich Sie damit träfe.“ Es kam sonderbar und unnatürlich heraus, gar nicht so, wie Franz sonst zu sprechen pflegte.

Ich schlug einen Augenblick die Augen zu ihm auf. „Bitte, bitte,“ sagte ich leise, mit zitternden Lippen, „sprechen Sie nicht so zu mir, – sprechen Sie jetzt gar nicht zu mir, – gehen Sie weg. – Ich – ich wollte Sie nicht belügen! Ich hätte Ihnen auch von selbst alles gesagt, – daß ich ganz, ganz anders bin als Sie sich eingebildet haben, – daß ich immer nur daran gedacht habe, berühmt zu werden, – nun haben Sie es auf diese Weise – o bitte, bitte, gehen Sie weg!“

Sah er denn meinen Jammer nicht? Verstand er nicht, wie ich es meinte? Daß mein „Gehen Sie weg“ im tiefsten Herzensgrund doch nur hieß „Bleibe! bleibe! bleibe!“ – Es schien nicht so. Wie schwer von Begriff doch Männer manchmal sind!

„Wenn Sie das so dringend wünschen, kann ich ja nicht anders als Ihrem Wunsche nachkommen,“ sagte er steif. „Sie sind jetzt wohl auch zu sehr hingenommen von Ihren eigenen Angelegenheiten, um den meinigen Aufmerksamkeit schenken zu mögen. Es scheint, daß wir beide eine Enttäuschung erfahren haben. So wünsche ich Ihnen denn, Fräulein Peters, daß Sie den so schmerzlich ersehnten Ruhm einst erlangen. Mögen Sie dann nie finden, daß er zu teuer erkauft ist!“

Ich denke mir, daß er nun ging, wenigstens war er, als ich eine Weile später die Hände vom Gesicht nahm, fort und ich saß allein da mit meinem Manuskript, meinen Bohnen und meinen Thränen.

Nun war mein Traum ausgeträumt, mein schöner, holder Traum – oder vielmehr beide Träume, der vom Ruhm und der von der Liebe! Aber mir lag nur an dem einen. Ich wußte nun, wenn ich auch die größte Schriftstellerin der Welt hätte werden können, was ich ja ohnehin keineswegs konnte, ich würde solches Glück freudig hingegeben haben für meines Doktors Liebe! Mein Talent mußte wirklich nicht gerade überwältigend groß sein, denn es pochte gar nicht mehr auf sein Recht, sondern verkroch sich wie ein gescholtenes Kind in einen Winkel. Mochte es da bleiben – mir war es nur recht! Ach, wenn doch nur Franz geblieben wäre, mich nach dem allen auch nur gefragt hätte, vielleicht wäre doch noch alles gut geworden! Aber er war fort, ich selbst hatte es so gewollt, und er dachte nun in Zukunft immer an mich als an ein unwahres, eingebildetes Ding, das sich ihm aus Koketterie oder sonst irgend einem gräßlichen Grunde ganz anders gezeigt hatte als es in Wirklichkeit war. Das verzeiht ein so ehrlicher Mensch nicht, das fühlte ich. Und doch hatte ich nie heucheln wollen; ich mochte sonst sein wie ich wollte, eine Lügnerin war ich nie gewesen! Aber ich empfand mit schmerzlicher Bitterkeit, daß ich ihm so erscheinen mußte.

Den unglücklichen Roman, der mir so teuer zu stehen gekommen war, verbrannte ich am Nachmittage, als niemand in der Küche war, auf dem Herd bis auf das letzte Blatt. Vater klagte über den „unausstehlichen Brandgeruch“ im Hause und Male über die viele Papierasche, die sie nachher vorfand, aber Mutter sagte nichts, und mir hatte es förmlich wohlgethan, die Blätter in Brand und Rauch aufgehen zu sehen. Daß ich mein Manuskript noch irgend einer anderen Zeitschrift hätte anbieten können, kam mir gar nicht in den Sinn; daß ich überhaupt nach den heutigen Erfahrungen jemals wieder darauf verfallen könnte, berühmt werden zu wollen, schien mir undenkbar. Der Weg zu den Ruhmesrosen ging gar zu sehr durch Dornen. Von allem, was mein unglückliches Paket enthalten hatte, hob ich nur den Brief des klugen Redakteurs zum schmerzlichen Andenken an diesen verhängnisvollen Tag auf.

Vierzehn Tage lang wunderte sich Vater, daß ihm „sein Doktor“ auf einmal so abhanden gekommen sei – denn Franz mied unser Haus jetzt ebenso beharrlich, wie er es früher aufgesucht hatte. Dann fragte er ihn einmal im Klub nach dem Grunde seines Ausbleibens, erhielt die Antwort, es mangle dem Doktor an Zeit, und beruhigte sich bald über die Sache.

Wohl vier Wochen schüttelten alle Bekannten den Kopf darüber, daß der sonst allezeit fröhliche junge Arzt auf einmal so ernst und still geworden war und so viel zu Hause arbeiten mußte, so daß er fast jede Einladung ablehnte. Da er aber blieb, wie er so plötzlich geworden war, nahm man an, daß nichts dagegen zu machen und auch nichts darüber zu erfahren sei, beschloß großmütig, ihn so zu verbrauchen, und ging zur Tagesordnung über.

Viel länger als ein Vierteljahr staunte meine gesamte Familie mit Mutter an der Spitze über den plötzlichen Wechsel, der mit mir vorgegangen war. So wie jetzt war ich noch nie gewesen! Mir war so viel auf einmal weggenommen, daß ich eine große Leere in mir und um mich fühlte und krampfhaft nach dem Ersten und glücklicherweise auch Besten griff, um sie auszufüllen: zur Pflicht. Die Eltern hatten nicht mehr über Nachlässigkeit, die Geschwister nicht mehr über Unfreundlichkeit zu klagen. Wenn ich nicht berühmt und nicht geliebt sein konnte, so wollte ich wenigstens gut und tüchtig werden, so wie „er“ gemeint hatte, daß ich es schon wäre.

Zuerst sah Mutter die Geschichte mit einigem Argwohn an. Mein Pflichteifer war zu plötzlich erwacht, als daß es ihr ganz geheuer damit hätte scheinen können. Aber der Herbst kam und ich hielt mich – ein wenig still und blaß zwar, aber doch ganz tapfer – auch weiter auf dem eingeschlagenen Wege. Der Winter war da, und ich fing an, Mutter nicht bloß dem Namen nach eine Stütze zu werden. Es wurde Frühling, und ich war mit wirklichem Interesse, wenn auch natürlich immer mit gebrochenem Herzen, beim Reinmachen und wurde von Mutter Tante Jule gegenüber mit ehrlichem Lobe und mütterlichem Stolz für „ihre rechte Hand“ erklärt. Es freute mich natürlich. Ich freute mich jetzt überhaupt viel mehr als früher, wenn Mutter mich einmal lobte; aber so recht fröhlich wurde ich bei alledem doch nicht. Es konnte jetzt sogar geschehen, daß Mutter gelegentlich sagte: „Wenn Du mal heiraten solltest, Lene, mußt Du es Dir so und so einrichten.“ Dann schüttelte ich leise den Kopf. Ich wußte nur Einen, dessen [176] Frau ich hätte werden mögen, ja, von dem ein einziges freundliches Wort mir Jahre meines Lebens wert gewesen wäre – aber für ihn war ich nicht die Rechte gewesen. Das war vorbei!

Wir sahen uns natürlich zuweilen, das Städtchen war ja zu klein, als daß wir ganz aneinander hätten vorübergehen können, und ich horchte auf jedes Wort, das ich irgendwo über ihn hörte. Er gewann schnell einen großen Patientenkreis und Kranke und Gesunde waren seines Lobes voll. Alles an ihm war so echt: die Tüchtigkeit, die Teilnahme und alles. Natürlich sprachen wir auch miteinander, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ; aber nur wie zwei Menschen miteinander sprechen, die sich oberflächlich kennen und eine nähere Bekanntschaft nicht wünschen. Ich kann nicht behaupten, daß ich mich hinterher jemals sehr beglückt gefühlt hätte.

Am ersten Pfingsttage war großes sogenanntes Familiendiner bei Tante Jule. Das war alljährlich so, Tante Jule ließ sich das nicht nehmen, das heißt, eigentlich war es kein ganz echtes Familiendiner, sondern es wurden allerlei Menschen zusammen eingeladen, die sich gegenseitig duzten, beonkelten und betanteten, ohne in Wirklichkeit miteinander verwandt zu sein.

„Ich habe diesmal ein paar Fremde mit eingeladen, Kinder, nehmt’s nicht übel,“ flüsterte uns Tante Jule zu, als wir eintrafen, „ein paar verlorene Junggesellen, die ich doch einmal haben mußte, Es ist gutes Volk, ich hoffe, sie werden nicht stören. Ihr seid die Letzten, wir können gleich zu Tisch gehen. Du gehst mit Doktor Forst, Lene – habe ich Dir nicht etwas Nettes ausgesucht?“

„Mit wem?“ fragte ich, erschrocken zurückfahrend.

Tante Jule lachte. „Er beißt nicht, Kind. Hast Du was gegen ihn, daß Du solch ein Gesicht machst? Dann mußt Du Dich an Deinen Nachbar zur Rechten halten, ändern läßt es sich nun nicht gut mehr. Also – darf ich bitten, meine Herrschaften?“

Stumm legte ich meinen Arm in den des Doktors, den er mir schweigend bot. Still und ernsthaft saßen wir bei Tische nebeneinander. Wenn er sprechen wollte, so wandte er sich an seine linke Nachbarin; wenn ich glaubte, mich anstandshalber unterhalten zu müssen, so redete ich meinen Nachbar zur Rechten an. Wenn alle Gläser aneinander klangen – die unsrigen begegneten sich nicht, und nur einmal, ein einziges Mal, als Onkel Gerichtsrat den Toast auf „was wir lieben“ ausbrachte, den er sich nie entgehen ließ, fühlte ich, daß mich meines Tischherrn Blick verstohlen traf. Ich wurde heiß und rot, und das Glas zitterte mir in der Hand, aber stumm und steif saßen wir nebeneinander wie zuvor. Jedoch mochte es in dem allgemeinen lebhaften Gespräch nicht sehr auffallen, wenigstens sagte niemand etwas darüber.

O, was für ein langes, langes Mittagessen es war! Und doch, daß ich’s nur gestehe, ein Tröpfchen Seligkeit lag dennoch darin, nur neben ihm zu sitzen, seine Nähe zu fühlen – schmerzliche Seligkeit!

Und nun endlich waren sie alle satt. Zeit genug hatten sie dazu gebraucht!

„Große Promenade durch den Garten, jeder Herr führt seine Dame!“ kommandierte Onkel Gerichtsrat, der sich nie wohler fühlte, als wenn er den Festordner machen konnte.

Und so geschah es. Die Alten voran, die Jungen hinterher, so stiegen alle hinab in langem Zuge in den frischen, frühlingslachenden Garten, der im Schmuck von Goldregen, Syringen und Rotdorn wie ein kleines Feenland aussah.

Wir beide hatten einen Augenblick gezögert, ehe wir uns noch einmal wieder zusammenfügten; so kam es, daß wir die Letzten waren.

„Ich glaube – wir können es uns ersparen,“ sagte ich schnell atmend, „der Zug ist so lang, es bemerkt niemand, wenn wir fehlen.“ Und ich versuchte, meinen Arm aus dem seinigen zu ziehen.

„Ist es Ihnen so schrecklich, neben mir zu gehen?“ fragte er sanft. Es klang ganz traurig. Wie – konnte er noch so zu mir sprechen?

„Ja!“ und auf einmal rollten mir, ich wußte selbst nicht, wie es zuging, zwei große Thränen über die Wangen. Ich glaube, sie hatten mir während all der letzten Stunden in den Augen gestanden und nur auf den passenden Augenblick gewartet, um hervorzubrechen.

Das große Eßzimmer war leer, sie waren schon alle unten im Garten. Hastig machte ich meinen Arm frei, lief ins Nebenzimmer, warf mich in einen Lehnsessel und weinte zum Herzbrechen.

Aber schon kniete der, dem ich entfliehen wollte, neben mir und suchte mir die Hände vom Gesicht zu ziehen. „Lene, Lene, ums Himmelswillen, weinen Sie nicht! Seien Sie mir wieder gut! So kann es ja doch nicht zwischen uns bleiben, wir können es ja beide nicht aushalten. Ich bin ja ein Thor gewesen damals, als ich meinte, ohne Sie fertig werden zu können, verzeihen Sie mir! Dieses ganze Jahr bin ich meines Lebens nicht froh geworden. Ich habe Sie lieb, Lene – ich mag nicht sein ohne Sie! Endlich muß ich es Ihnen einmal sagen; dieses ganze Jahr habe ich es nicht gewagt, ich hatte Sie zu tief gekränkt. Schreiben Sie Romane so viel Sie wollen, wenn Sie es nun einmal nicht lassen können – nur habe mich lieb, Lene, und werde meine Frau!“

Ich denke mir gewiß, er hat noch mehr gesagt, aber ich entsinne mich dessen nicht genau. Für mich ging alles unter in einem großen, großen Glücksgefühl.

„Komm,“ sagte er weich, mich an sich ziehend und mir über das Haar streichend, „wir wollen uns lieb haben so wie wir sind, auch Geduld miteinander haben, wenn es einmal sein muß – nur uns niemals wieder erzürnen, nicht wahr?“

„Niemals! O, es war zu schrecklich!“ und ich schauderte noch in der Erinnerung, so daß er mir einen beruhigenden Kuß geben mußte.

„Und wenn meine kleine Frau denn durchaus ein Blaustrumpf sein muß – wenn es gar nicht anders geht – mir soll sogar das recht sein, wenn ich Dich nur habe, Lene!“

„Nein,“ sagte ich lachend und errötend, „auf eine berühmte Frau mußt Du verzichten, Romane schreibe ich nicht wieder – mein Lebtag nicht!“

„Nicht?“ beinahe klang es enttäuscht. Der Gute, Liebe: er war bereit, ein Opfer zu bringen, und nun verlangte ich’s gar nicht!

„Und,“ sagte ich ein bißchen verlegen, an seinem Rockknopf drehend, „ich glaube – ich bin nun wirklich – in allem Ernst ein bißchen so geworden, wie Du damals dachtest, daß ich wäre. Ich habe mir so viel Mühe gegeben. Damals täuschtest Du Dich selbst, ich habe nicht daran gedacht, es zu thun, ganz gewiß nicht.“

„Aber das habe ich doch nicht –“

„Doch, doch, damals glaubtest Du es.“

Er schwieg einen Augenblick. „Wenn ich das wirklich einmal eine kurze Weile that – nein, komm, wir wollen von etwas anderm sprechen!“

„Ja gerne, aber Du hörst nicht auf das, was ich sage. Ich bin nun wirklich ein furchtbarer Scheuerbesen geworden. Wenn Dir’s nur nicht zu arg wird mit meiner Wirtschaftlichkeit.“

„Du bist ein –“

„Ja.“

„Oh! – aber was fange ich denn nun an mit all meinem Edelmut?“

„Ja, das kann ich unmöglich wissen,“ sagte ich und zuckte mit den Schultern, „ich habe keine Verwendung dafür.“

Worauf wir beide glücklich lachten wie ein paar Kinder – und dann kamen leider die anderen, alle die alten, langweiligen Onkel und Tanten, und das Schönste war vorbei.

Nein, nein, es ist nicht wahr! Das Schönste kam erst, damals, als wir Hand in Hand in unser gemeinsames Heim traten – und dann nachher, als unser Aeltester getauft wurde; und manchmal jetzt, wo wir nach zehn Jahren so fröhlich und ruhig miteinander hinleben und eins das andere versteht ohne viel Worte, da meine ich gar, das Allerschönste und Beste sei nun erst gekommen.

Ein rechter, echter Scheuerbesen bin ich zwar trotz allem nicht geworden. Es liegt nicht in mir. Aber Franz ist nicht anspruchsvoll, er nimmt auch so fürlieb mit mir. Er hält es sogar für angenehmer, daß „alle Tage Sonntag bei uns ist“, als wenn immer Sonnabend wäre. Das ist natürlich Geschmackssache.

Mein bißchen Hauspoesie hat er sich immer gutwillig gefallen lassen, nachdem ich erst einmal gewagt hatte, schüchtern damit vor sein Richterauge zu treten. Sie hat ihm nie eine Suppe versalzen oder einen Braten verbrannt, sie geht auch nicht mit aufgelösten, wallenden Haaren einher, sondern im schlichten Gewand. Ich habe nun erkannt, daß sie das ganz gern thut.

Heute begehen wir unseren zehnjährigen Hochzeitstag.

Vor meinem Platz am Frühstückstisch prangt, wie alljährlich an diesem Tage, ein herrlicher Rosenstrauß, und ich küsse dafür den guten Mann, der nie vergißt, mich zu erfreuen.

„Noch viele, viele Jahre so miteinander, Lene, nicht wahr? Erst noch bergan und dann bergab Hand in Hand,“ sagt er und nickt mir zu. Ich nicke auch, erst ihm zu und dann noch leise vor mich hin, und sage dann nicht mehr viel, bis unsere beiden Großen sich auf den Schulweg gemacht haben und das Kleine in den Kindergarten gebracht ist.

[177]

Ein Flußübergang in Südafrika.
Nach einer Originalzeichnung von Alb. Richter.

[178] Dann rieche ich ein wenig an meinen Rosen, lege meine Hand auf meines Mannes Rockärmel und sage ein bißchen zaghaft: „Du – Franz!“

„Nun?“

„Ich habe noch eine Kleinigkeit für Dich gearbeitet, eine kleine Ueberraschung – aber ich weiß nicht recht, ob Du Dich darüber freuen wirst. – Du bist doch glücklich gewesen diese zehn Jahre lang, Franz, wie?“

„Na, es geht so an,“ sagt er gnädig, aber seine lieben Augen sagen mehr.

„Und dieses letzte Jahr – Du hast nicht etwa etwas entbehrt im Hause – hast es nicht ungemütlich oder unordentlich gefunden – oder das Essen schlecht – oder – oder – die Kinder und mich schmutzig und verwahrlost – oder –“

„Nein,“ sagt er und macht sehr verwunderte Augen.

„Und Deine Knöpfe waren immer ordentlich angenäht?“ forsche ich weiter.

„Na,“ sagt er lachend, „das weiß ich nun nicht; es schwebt mir vor, als ob vor einigen Monaten einmal ein Handschuhknopf etwas lose gewesen wäre.“

„Und Du hast keine Tintenflecke an meinen Fingern bemerkt?“

„Nein, ich glaube auch nicht, daß Du Gift in die Suppe gethan hast. Wünschest Du sonst noch etwas zu wissen?“

„Nein, und nun sollst Du Dein Geschenk haben.“

Mit einer gewissen Feierlichkeit stehe ich auf, gehe an meinen Schreibtisch, entnehme demselben ein in Seidenpapier gehülltes Päckchen und lege es vor meinen Herrn und Gebieter hin. Er löst neugierig die Hülle und ein schlicht gebundenes Büchlein liegt in seiner Hand. Hin und her dreht er es. Er schenkt mir zu meiner Freude oft Bücher, aber ich habe sonst nicht die Gewohnheit, ihm ein gleiches zu thun.

„Willst Du das Titelblatt nicht ansehen?“ schlage ich vor.

Er thut es. „Aus der meerumschlungenen Heimat – Erzählungen von Lena Wald – ach so, das kleine Buch, welches in verschiedenen Zeitungen so günstig besprochen wurde. Da haben wir ja abends etwas zum Vorlesen.“

„Ich kenne es schon,“ sage ich, rot werdend und mir an seinem Rockkragen etwas zu schaffen machend.

„Natürlich, ein neues Buch ungelesen im Schrank zu lassen, das brächtest Du nicht acht Tage lang fertig,“ lacht Franz. Merkt er denn gar nichts? Männer sind ja im allgemeinen gewiß klüger als wir Frauen, wenigstens behaupten sie es ja selbst, aber manchmal sind sie doch sicherlich unglaublich dumm!

„Lena Wald, – kommt Dir der Name gar nicht ein bißchen bekannt vor, Franz?“

„Nein, wieso?“

Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muß es gerade heraus sagen, denn gesagt muß es ja doch sein.

„Franz,“ sage ich und zupfe ihm ein wenig nervös die Krawatte zurecht, „bitte, werde nicht ärgerlich, besinne Dich im voraus schnell auf ein paar freundliche Worte – vielleicht war es nicht recht von mir – aber die Geschichtchen habe ich geschrieben.“

„Was, Du?“ Er legt das Buch schnell auf den Tisch, als hätte er sich daran verbrannt, „aber das ist ja –“

„So nach und nach im Laufe des letzten Jahres,“ sage ich schnell. „Seit Du darauf bestehst, mir so viel Bedienung zu halten, die Kinder alle in die Schule gehen und sich Deine Sprechstunde nachmittags so lange hinzieht, habe ich manche freie Stunde. Da kam mir die Lust zum Fabulieren wieder, sieh, es steckt nun einmal in mir und ich konnt’ es nicht lassen. – Franz, Liebster, Du sagtest vorhin selbst, Du hättest nichts entbehrt das ganze Jahr?“

Ja, nun muß ich zugeben, auch Frauen sind manchmal dumm. Wie konnten mir sonst wohl Thränen in die Augen kommen?

Da bückt er sich schnell zu mir hin und sieht mir in die feuchten Augen. „Nun bin ich zehn Jahre lang stolz auf meine kleine Frau gewesen,“ sagt er lächelnd, „wenn sie nun auch gar noch unter die berühmten Leute gehen will, werde ich mich dem Hochmutsteufel ja wohl ganz in die Arme werfen!“

„Ach nein, Du,“ rufe ich lachend und unbeschreiblich erleichtert die Arme ausbreitend, „das übereile nur lieber nicht. Vorläufig wirf Dich nur lieber in meine Arme. Ich fürchte, mit dem Berühmtwerden hat es trotz dem Buch noch gute, gute Weile!“




Feuerkugeln und Meteorsteine.

Von Dr. H. J. Klein.


Das plötzliche Auftreten feuriger Meteore am Himmel, der Donner, welcher ihrer Explosion folgt, und das prasselnde Herabstürzen von Stein- oder Eisenmassen sind Erscheinungen, die zu allen Zeiten und bei den verschiedensten Völkern erwähnt werden. Allein in besonders großartiger, ja furchtbarer Weise treten sie doch nur verhältnismäßig selten auf und in dieser Beziehung ist jener Fall, von dem Mitte Februar die Zeitungen aus Madrid meldeten, gewiß ein bemerkenswerter. Den vorliegenden Nachrichten zufolge, erschien das Meteor wie ein Komet, zog rasch über den Himmel und zersprang mit einem Donner, welcher die Fenster erklirren und Häuser erzittern machte. Ja, die ersten Nachrichten besagten sogar das Furchtbare, es seien durch die Explosion Häuser umgestürzt worden. So schlimm war es nun freilich nicht, aber daß in einzelnen Fällen Feuermeteore thatsächlich Verwüstungen an Gebäuden angerichtet und den Tod von Menschen verursacht haben, daran ist nicht zu zweifeln. In den berühmten Fuldaer Annalen, einer wichtigen Quelle für die ältere deutsche Geschichte, wird berichtet, daß sich im Jahre 823 in Sachsen ein überaus furchtbarer Meteorsteinfall ereignet habe, wodurch Menschen und Vieh erschlagen und Dörfer vom Feuer verzehrt worden seien.

Zu Spangenberg bei Friedeburg a. d. Saale fielen am 10. Oktober 1304 feurige Steine zahlreich wie Hagelschloßen vom Himmel, erregten Brand und fügten dem Landvolk viel Schaden zu. Der merkwürdigste, direkt beobachtete Fall eines Meteorsteins aus früheren Jahrhunderten ist jener bei Ensisheim in Elsaß am 7. November 1492. Es stürzte dort ein nahezu dreieckiger Stein von 130 Kilogramm Gewicht zwischen 11 und 12 Uhr mittags herab unter so furchtbarem Donner, daß man denselben bis nach Frankreich und zur Donau hin hörte. Das Meteor verursachte glücklicherweise keinen Schaden und König Maximilian I., der kurz darauf nach Ensisheim kam und den Stein besah, ohne darüber ins klare zu kommen, ließ ihn an einer Kette in der Kirche des Ortes aufhängen, wo er noch hängt. Später (1503) bezeichnete der König in seinem Aufruf an die Christenheit wider die Türken den Steinfall als eine Mahnung Gottes, daß die Menschheit von ihren Sünden ablassen und sich bekehren solle. Sebastian Brandt besang den Steinfall in einem größeren Gedicht und sagte darin am Schlusse:

„Rechtlich sprich ich, das er bedüt
Ein bsunder plag derselben lüt.“

Er hat darin nicht recht behalten, und auch über den Ursprung des Steines blieben die Gelehrten uneinig und zuletzt wurde er mit folgender Ueberschrift versehen:

„De hoc lapide multi multa, omnes aliquid, nemo satis.“
(Ueber diesen Stein sagen viele vielerlei, alle etwas, niemand genügendes.)

Am 4. September 1511, fast gleichzeitig mit einer totalen Sonnenfinsternis, ereignete sich wiederum ein gewaltiger Meteorsteinfall, diesmal in Oberitalien. Man sah eine geschweifte Feuerkugel, dann ein tiefschwarzes Gewölk, welches Blitze aussandte, denen furchtbare Donnerschläge folgten. Zahlreiche Steine, wie es heißt über 1200, stürzten dabei aus der Luft, die meisten sehr klein, aber auch einige große von 260 und 120 Pfund Gewicht. Sie erschlugen Menschen und Tiere, selbst Fische in den Flüssen. Das Ereignis erregte in ganz Italien Schrecken.

Im Jahre 1660 wurde zu Mailand im Kloster S. Maria della Pace ein Franziskanermönch von einem kleinen durch das Dach des Klosters fallenden Meteorstein getötet. Man fand an dem Schenkel des Unglücklichen eine schwarze, bis auf den Knochen reichende Wunde und im Grunde derselben ein rundliches, scharfrandiges, beim Zerbrechen schwefelig riechendes Steinchen.

Außer den angeführten giebt es noch zahlreiche andere Beispiele von Feuermeteoren, welche Stein- oder auch Eisenmassen herabsandten, aber im Zeitalter der Aufklärung, im vorigen Jahrhundert begann man, an der Wahrheit der alten Berichte zu zweifeln, und zuletzt behauptete sogar die Pariser Akademie der Wissenschaften, es [179] sei ein albernes Märchen, daß jemals Steine vom Himmel gefallen wären. Es traf sich indessen, daß gerade in Frankreich sich der nächste beobachtete Meteorsteinfall ereignete, und zwar am 13. September 1768 zu Lucé im Sarthe-Departement. Dort erschien gegen Abend plötzlich eine schwarze Wolke, es erfolgte ein Kanonenschlag und unter Lärm, „wie das Brüllen eines Ochsen“, fiel ein 7½ Pfund schwerer Stein auf den Rasen. Als man ihn aufhob, war er so heiß, daß er nicht berührt werden konnte. Er zeigte eine matte schwarze Kruste, unter derselben aschgraue Farbe und zahlreiche metallische Punkte von Eisen. Als über das Ereignis nach Paris berichtet worden war, sandte die Akademie drei ihrer Mitglieder ab, die an Ort und Stelle die Sache untersuchten und zu dem Ergebnisse kamen, es sei nicht wahr, daß der Stein vom Himmel gefallen wäre, sondern er habe unter dem Rasen gelegen, sei vom Blitze getroffen, angeschmolzen und herausgeschleudert worden. Damit war die Sache erledigt. Allein 22 Jahre später, am 24. Juli 1790, wurde, wiederum in Frankreich, zu Juillac und Barbotan eine Feuerkugel gesehen, welche mit furchtbarem Donner explodierte und zahlreiche Steine zur Erde schleuderte. Der Bürgermeister nahm über den Vorfall ein Protokoll auf und sandte dasselbe nach Paris. Dort wußte man indessen besser als die Augenzeugen, was an der Sache war, und erklärte den Vorgang für unmöglich. Kurz darauf begann indessen ein einfacher deutscher Professor, Florenz Friedrich Chladni, der Sache vorurteilsfrei nachzuforschen, indem er aus der großen Göttinger Bibliothek alle Nachrichten sammelte, welche über Feuermeteore und Meteorite sich vorfanden. Dadurch kam er zu der Ueberzeugung, daß es sich nicht um ein Hirngespinst handle, sondern daß die Sache ihre Richtigkeit habe, und 1794 sprach er in einer Schrift seine Ueberzeugung aus, daß thatsächlich von Zeit zu Zeit Steine vom Himmel gefallen seien, ja, daß eine große 1600 Pfund schwere Eisenmasse, die auf dem Gipfel eines Berges in Sibirien gefunden worden war, nichts anders als ein früher vom Himmel gefallener Meteorit sei.

Chladnis Behauptung erregte fast überall Widerspruch, ja ein Fanatiker erklärte den harmlosen deutschen Gelehrten deshalb öffentlich für einen Feind der moralischen Weltordnung. Am heftigsten war der Widerspruch von seiten der Pariser Gelehrten, und als kurz darauf zu Siena in Italien ein Steinregen stattfand, den man absolut nicht leugnen konnte, wurde in allem Ernste behauptet, die Steine seien vom Vesuv ausgeworfen worden, obgleich dieser Vulkan 150 Meilen von Siena entfernt ist. Die Frage war indessen jetzt auf die Tagesordnung gesetzt und wurde von verschiedenen Seiten behandelt, wobei auch die Ansicht auftauchte, jene Meteorite könnten von den Vulkanen des Mondes ausgeworfen sein. Da ereignete sich am 26. April 1803 abermals ein Meteoritenfall, und zwar wiederum in Frankreich, nahe bei dem Orte l’Aigle im Orne-Departement. Es fielen 2000 bis 3000 meist kleine Steine, die sämtlich heiß, jedoch nicht rotglühend waren, als sie den Boden erreichten. Das außerordentliche Aufsehen, welches dieses Ereignis in ganz Frankreich erregte, veranlaßte die Pariser Akademie, eines ihrer Mitglieder an Ort und Stelle zu senden, um die Sache gründlich zu prüfen. Als Resultat ergab sich, daß dem Steinfalle das Auftreten einer geschweiften Feuerkugel vorausgegangen sei, deren Zerplatzen in einem Umkreise von 30 Meilen vernommen wurde, worauf zahlreiche Steine aus der Luft fielen. Die Thatsache des Steinfalls war also endlich in einer auch für die Akademie zu Paris genügend erscheinenden Weise dokumentiert, man hatte jetzt die Steine in der Hand und wußte, daß sie aus den Wolken herabgefallen waren; allein nun entstand die Frage: wie sind sie aus dem Himmel gekommen? Chladni hatte behauptet, die Meteoriten stammten aus dem Weltraum, woselbst sie sich in unbekannten Bahnen bewegten, bis sie in die Nähe der Erde kamen. Von dieser angezogen, stürzen sie herab, wobei durch den Widerstand der Luft Erhitzung bis zur Glut und oberflächliche Schmelzung sowie eine Zertrümmerung des Meteoriten stattfindet. Im großen und ganzen hat sich diese Erklärung in allen folgenden Erscheinungen und Untersuchungen von Meteoriten bewahrheitet. Die Zahl der Feuerkugeln, welche alljährlich erscheinen, ist nicht gering, aber selbst solche, welche mit ungeheurem Donner zu explodieren scheinen, liefern nur in sehr wenigen Fällen Meteoriten, Stein- oder Eisenmassen. Von dem großen Meteor in Madrid sind nur wenige und verhältnismäßig kleine Bruchstücke gefunden worden. Der Grund mag zum Teil wohl darin liegen, daß das Auffinden solcher Bruchstücke sehr vom Zufall abhängt, außerdem ist aber auch zu bemerken, daß der furchtbare Donner eines Feuermeteors nicht immer von einer Explosion, einer Zertrümmerung desselben verursacht wird. Eine Kanonenkugel, die mit 600 Meter Geschwindigkeit die Luft durchschneidet, erzeugt ein pfeifendes Geräusch, würde sie dagegen mit einer Geschwindigkeit von 60 000 Metern in der Sekunde fliegen, so würde sie donnern und glühend werden, d. h. Blitze auszusenden scheinen. Die Meteoriten besitzen solche Anfangsgeschwindigkeiten und durch Hemmung derselben in der Luft müssen sie sich bis auf mehrere tausend Grad erhitzen, wodurch Teilchen derselben verdampft werden, die den Rauch sowie den Schweif des Meteors bilden.

Was die Herkunft der Meteoriten anbelangt, so ist nach den neuesten Untersuchungen nicht mehr daran zu zweifeln, daß diese Körper aus dem fernen Weltraum stammen, also unserm Sonnensystem nicht als Glieder angehört haben. Man darf aber nicht wähnen, sie trieben sich im Weltraum in Gestalt von Feuerkugeln umher, sondern dort sind sie nur als dunkle, durch und durch erkaltete Massen denkbar, die erst in unserer Atmosphäre glühend werden und aufleuchten. Wenn aber die Meteoriten aus fernen Fixsternsystemen zu uns gelangen, so müssen wir schließen, daß sie sich Millionen Jahre lang auf ihrer Reise befunden haben, ehe sie endlich ihre dauernde Ruhestätte auf der Erde fanden. Sie bringen uns jetzt Kunde und Proben von Gesteinen und Metallen, welche sich in den fernsten Räumen des Universums befinden, und gewähren damit ein Interesse, welches kein anderer Naturkörper in gleicher Weise besitzt. In der That ist es höchst merkwürdig, in den Meteoriten Gesteinsarten und Mineralien zu begegnen, welche bei uns auf der Erde vorkommen: Quarz, Olivin, Augit, ferner nickelhaltigem Eisen, Magnetkies, Chromeisenerz u. s. w. Mit Hilfe des Spektroskops hat man in einigen Eisenmeteoriten Kobalt, Kupfer, Calcium, Natrium, Kalium und andere einfache Substanzen gefunden, auch sind einzelne Meteoriten reich an Gasen, vor allem an Wasserstoffgas. Zuletzt hat man in einigen Meteorsteinen, aber auch in Meteoreisen, kleine schwarze Diamanten entdeckt, sowie Kohle, welche auf das frühere Vorhandensein einer organischen Substanz hindeutet. Letztere Wahrnehmung ist von außerordentlicher Wichtigkeit, denn bis jetzt kennen wir organische Gebilde, also Lebewesen, direkt nur auf unserer Erde und der Nachweis verkohlter Reste derselben in Körpern, die aus dem fernsten Weltraum stammen, ist etwas Unerwartetes. Im ganzen kennt man jetzt 4 oder 5 Meteoriten, die kohlehaltig sind. Am merkwürdigsten ist derjenige, welcher am 14. Mai 1864 in der Nähe des Dorfes Orgueil in Frankreich niederfiel. Von diesem Meteoriten hat man ungefähr 20 Stücke gefunden, die meisten davon sind mit einer schwarzen Schmelzrinde umgeben, welche andeutet, daß der Meteorit ursprünglich, also vor seiner Explosion, schon aus mehreren Stücken bestand, die gemeinsam in unsere Atmosphäre traten. Die chemische Untersuchung ergab mit zweifelloser Sicherheit, daß in diesen Meteoriten Wasser und eine organische Materie, eine Art Huminsubstanz, enthalten war. Es ist schwer begreiflich, wie solche organische Materie auf einem Meteoriten entstehen konnte. Wir wissen, daß Organismen zu ihrer Existenz Wasser, eine Atmosphäre aus Sauerstoff, Kohlensäure und Stickstoff, sowie eine Temperatur zwischen 0° und 100° Wärme bedürfen. Diese Bedingungen sind aber auf den Meteoriten, wie wir diese kennen, nicht erfüllt, und wenn trotzdem auf diesen kleinen Steinen Spuren von organisierter Materie gefunden werden, so folgt daraus, daß diese Meteorsteine Trümmer eines großen Weltkörpers sein müssen. Wir werden auf diesem Wege zu der Ansicht geleitet, die Meteoriten als die Fragmente eines Planeten zu betrachten, der durch irgend eine Katastrophe vor unzählbaren Jahrtausenden zerschmettert worden ist, wobei seine einzelnen Stücke in den Weltraum hinausgeschleudert wurden. Unserem Sonnensystem aber kann dieser Planet nicht angehört haben, sondern er war Zubehör des fernen Fixsternreiches. Vielleicht haben auch viele Vorgänge dieser Art stattgefunden, ja, man muß dieses eigentlich annehmen, weil sonst es unbegreiflich wäre, daß trotz der Unermeßlichkeit des Weltraums so zahlreiche Meteoriten auf die Erde stürzen. So ist denn auch der Meteorit, welcher jüngst Madrid in Schrecken versetzt hat, ein Abkömmling aus fernen Himmelsräumen, mit einer Katastrophe hat er vor uralter Zeit seine Laufbahn begonnen und mit einer Explosion sie jetzt für immer geendigt.




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Blätter und Blüten


Ein Denkmal für Johannes Honterus. Die Siebenbürger Sachsen rüsten sich für das Jahr 1898 zu einer Feier, die sicher auch im alten Stammlande einen lebhaften Wiederhall finden wird. Gilt es doch, das Andenken eines Mannes zu verherrlichen, der einst in schlimmen und sturmbewegten Zeiten in Siebenbürgen für deutschen Sinn, Bildung und Geistesfreiheit kraftvoll eintrat, für den Reformator Johannes Honterus, den Luther den „Evangelisten des Herrn im Ungarlande“ genannt hat.

Johannes Honter – so hieß dieser treffliche Mann mit seinem eigentlichen Familiennamen – erblickte im Jahre 1498 als der Sohn eines einfachen Bürgerhauses in dem bergumkränzten Kronstadt das Licht der Welt. Als siebzehnjähriger Jüngling ging er nach Wien, wo er sich vorwiegend mit humanistischen Studien beschäftigte. Später wandte er sich nach Krakau und Basel, wo er einige wissenschaftliche Werke, darunter die erste Landkarte von Siebenbürgen, herausgab. Im Jahre 1533 folgte der Magister der freien Künste dem Rufe seiner Vaterstadt und kehrte nach Kronstadt zurück. Er brachte mit sich Werkzeuge und Gehilfen zur Errichtung einer Buchdruckerei, der ersten in Siebenbürgen.

Die Thätigkeit, die Honterus nunmehr in seiner Heimat entfaltete, war eine überaus ersprießliche. Als „Lektor“ an der Kronstädter Schule angestellt, hob er dieselbe zu hoher Blüte, so daß sie einen bedeutenden Ruf erlangte. Noch heute besteht sie und führt den Namen „Honterus-Gymnasium“. Zahlreich waren auch die Lehrbücher, die der nimmer rastende Mann verfaßte und in seiner Druckerei erscheinen ließ. In kaum 20 Jahren hat Honterus im Dienste der Schule und Kirche nicht weniger als 44 Sammelwerke veröffentlicht. Hand in Hand mit der Verbesserung des Schulwesens ging die reformatorische Thätigkeit auf dem Gebiet der Kirche. Im eigenen Hause hielt Honterus vor dem zuströmenden Volke begeisternde Predigten, und 1542 gab er sein „Reformationsbüchlein“ heraus, dessen Vorschläge bald für die sächsischen Gemeinden maßgebend wurden. Als Stadtpfarrer von Kronstadt beschloß Honterus im Jahre 1549 sein Leben. Er verlieh den Siebenbürger Sachsen die geistigen Waffen, mit welchen sie ihre Freiheit und Nationalität verteidigen konnten. Nun rüstet sich das sächsische Volk zu einer würdigen Gedenkfeier an die Geburt des Vorkämpfers für das Deutschtum, die Reformation und die humanistische Bildung in Siebenbürgen. Ein ehernes Standbild des Reformators soll errichtet werden – und es wird überhaupt das erste deutsche Denkmal in Siebenbürgen sein. Da ist es wohl zu wünschen, daß es mit reichlichen Mitteln ausgeführt und auch von den Deutschen im Reiche gefördert werde! Beiträge übernimmt Herr Friedrich Ridely in Kronstadt. *     

Der Sarg des Alten Dessauers in der Schloßkirche zu Dessau.

Wettersteiner Dirndl. (Zu dem Bilde S. 165.) Wer zur Sommerszeit oder gar in einem der „Passionsjahre“ das lange Thal des Wettersteingebirges nach Oberammergau oder Mittenwald zu durchzogen hat, der kennt auch die frischen Dirndeln im spitzigen grünen „Hüatl“, die dort bei Heu- und Stallarbeit ein gesundes Leben führen. Eine davon, und wohl die allerhübscheste, guckt hier lustig aus dem F. Prölßschen Bilde heraus, als wolle sie sagen: „Grüß Gott! Und vergeßt’s fein das Wiederkommen net im nächsten Sommer!“ Bn.     

Am Sonntag. (Zu dem Bilde S. 173.) Wer nicht ganz genau hinsieht, könnte denken, es schmücke sich auf diesem hübschen Bildchen eine Schöne des jüngstvergangenen Sommers zum Sonntagsausflug. So modern fällt das weiße Faltenkleid mit den Bauschärmeln um die schlanke Gestalt; auch das der sitzenden und wartenden Freundin könnte einer neuen Modezeitung entstammen, nicht minder der seidene „Pompadour“, der an ihrem lang behandschuhten Arm über die Stuhllehne baumelt. Und erst dieser Stuhl selbst, das zierliche Tischchen, der Spiegel, die bauchige Aufsatzkommode: alles entspricht dem neuesten Geschmack „Empire“ so vollkommen, daß mancher Leser dadurch getäuscht werden dürfte! Die Leserinnen freilich nicht: sie sehen auf den ersten Blick die Kreuzbänderschuhe von Anno 1825, die Hutformen, welche zwar nicht weniger abenteuerlich sind als die heutigen, aber immerhin anders, die große „Kontuschenhaube“, die man heute keiner Zofe mehr zumuten dürfte, und sie wissen sofort, daß es sich hier um Urgroßmutterzeit handelt. Aber sicher sehen sie mit Freude deren anmutig lebhafte Darstellung, sei es auch nur, um sich zu überzeugen, wie recht man hatte, die alten Moden wieder hervorzusuchen, welche den jungen Schönen von damals so allerliebst zu Gesicht standen! Bn.     

Ein Flußübergang in Südafrika. (Zu dem Bilde S. 177.) Einen Teil des großen Matabele-Reiches zwischen Sambesi und Limpopo bildet Maschonaland, ein fruchtbares und gesundes Hochland, das vermöge der Ergiebigkeit seines Bodens eine starke Bevölkerung ernähren könnte, insbesondere auch reich an Gold ist. Aber unter der Matabele kriegerischem Scepter ist nicht gut wohnen, Landwirtschaft treiben oder Gold graben! Denn die Männer dieses Zulukaffernstammes, der vor 70 Jahren aus Natal auswanderte und sich ein neues Reich fern von aller Gesittung eroberte, sind gar rauhe Gesellen, die fast ausschließlich vom Raube leben. Selbstverständlich fehlt es unter diesen Umständen dort auch an allen und jeden Spuren einer höheren Kultur. Unser Bild veranschaulicht uns, in welch primitiver Weise die Ueberschreitung eines Flusses vor sich geht. Eine Furt muß erkundet werden, und dann geht’s einfach hindurch, Menschen und Tiere und Wagen, die ganze Karawane! Und die Menschen müssen den Tieren noch helfen, ihre schwere Last durch den schlüpfrigen und an allerlei verborgenen Hindernissen reichen Flußgrund hindurchzuziehen, sonst könnte es geschehen, daß mit einem Male Wagen und Gespann den Boden verlören und fortgespült würden von den Fluten – auf Nimmerwiedersehen.

Der Sarg des Alten Dessauers. (Mit Abbildung.) Unter den preußischen Heerführern ragt die Gestalt des „Alten Dessauers“ als eine der gewaltigsten hervor. Aber nicht allein die erfochtenen Siege haben dem Fürsten Leopold I. von Anhalt-Dessau einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle Preußens gesichert, sondern nicht minder seine Verdienste um die Organisation des preußischen Heeres. Ihm hatte ja Friedrich der Große vorzüglich zu danken, daß er bei seinem Regierungsantritt ein Heer vorfand, das in Europa nicht seinesgleichen hatte. Sicher ging der „Alte Dessauer“ in der Strenge, mit welcher er die militärische Disziplin handhabte, vielfach zu weit, aber er war sein ganzes Leben hindurch mit Leib und Seele Soldat und seine „langen Kerls“ sollten ihn auch im Tode nicht verlassen. Sein Sarg in der Schloßkirche zu Dessau ist darum von zwölf Gestalten umringt, welche preußische Grenadiere in ihrer alten Uniform mit den hohen Gardemützen darstellen. Gleichsam Wache haltend, steht je eine dieser Zinnfiguren am Haupt- und Fußende des gleichfalls zinnernen Sarges, während je fünf an den Seiten desselben lehnen. Außerdem ist noch der Sarg mit dem anhaltischen Wappen und kriegerischen Emblemen aller Art geschmückt.


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (10. Forschung). S. 165. – Ein Wettersteiner Dirndl. Bild. S. 165. – Deutsche Bühnenschriftsteller der Gegenwart. Von Rudolf Hermann. S. 168. Mit Bildnissen S. 169. – Mein Roman. Novelle von Eva Treu (Schluß). S. 172. – Am Sonntag. Bild. S. 173. – Ein Flußübergang in Südafrika. Bild. S. 177. – Feuerkugeln und Meteorsteine. Von Dr. H. J. Klein. S. 178. – Blätter und Blüten: Ein Denkmal für Johannes Honterus. S. 180. – Wettersteiner Dirndl. S. 180. (Zu dem Bilde S. 165.) – Am Sonntag. S. 180 (Zu dem Bilde S. 173.) – Ein Flußübergang in Südafrika. S. 180. (Zu dem Bilde S. 177.) – Der Sarg des Alten Dessauers. Mit Abbildung. S. 180.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 11. 1896.


Die „goldene Kanone“ im Königlichen Zeughause zu Berlin. Die berühmte Waffensammlung des Berliner Zeughauses wurde neuerdings durch ein seltenes und wertvolles Stück bereichert, durch eine sogenannte „goldene Kanone“, die durch Tausch aus der Sammlung Hamburgischer Altertümer erworben wurde. Die Kanone ist ein Prachtstück, so schön und fein gearbeitet, wie man es bei Geschützen höchst selten antrifft. Das 3 m lange schlanke Rohr glänzt in starker Feuervergoldung und ist mit verschiedenen Ziselierungen geschmückt, während das Bodenstück, wie dies auf unserer oberen Abbildung zu sehen ist, aus einem Elefantenkopf besteht. Nicht minder schön ist die Lafette, deren eichener Holzkern mit rötlich schimmerndem Birnbaumholz fourniert ist. Die Beschläge, Pfannendeckel u. s. w. bestehen aus lichtem Eisen, das mit herrlich geätzten Blumenornamenten überzogen ist. Zweimal kommt in denselben die bisher unerklärte Marke des Aetzers: „H. R. M. 1643.“ vor. Einzig in ihrer Art ist die Beschaffenheit des Rohres; es hat 65 mm Seelendurchmesser, besteht aus Kupfer und besitzt als Füllung einen Cylinder aus Kiefernholz, der seinerseits der Dichtung wegen mit Leder umgeben ist. Eine zweite ganz gleiche goldene Kanone befindet sich noch in Hamburg.

Von wem und zu welchem Zwecke wurden wohl diese Geschütze angefertigt? Mit Sicherheit konnte bisher nur ermittelt werden, daß dieselben „lange vor 1675“ einem Hamburger Kaufmann wegen einer Schuld von 12000 Reichsthalern abgepfändet wurden. Man nimmt ferner an, daß höchst wahrscheinlich der Große Kurfürst die beiden Prachtgeschütze in Holland bestellt habe und daß dieselben auf dem Transport in Hamburg abgepfändet wurden. Hoffentlich bringen weitere Forschungen mehr Licht in die Frage nach der Herkunft dieser Meisterstücke des Kunsthandwerks aus dem 17. Jahrhundert.

Die „goldene Kanone“ im Königlichen Zeughause zu Berlin.  


Ein neues Verfahren zum Konservieren der Eier. Ueber Grundsätze für richtige Aufbewahrung der Eier haben wir im Jahrgang 1894 unseren Lesern berichtet. Wir teilten damals mit, daß es Dr. Zörkendörfer gelungen sei, wichtige Aufschlüsse über den Vorgang beim Verderben der Eier zu ermitteln. Die Spaltpilze, welche dasselbe verursachen, brauchen alle zu ihrer Entwickelung sauerstoffhaltige Luft; hält man diese fern, so kann im Ei selbst keine Zersetzung stattfinden, da die betreffenden Bakterien sich nicht entwickeln können. Schon damals hat Dr. Zörkendörfer darauf hingewiesen, daß zum Konservieren von Eiern Ueberziehen derselben mit Lack oder Firnis genüge; allein es mußte gleichzeitig festgestellt werden, daß der Geschmack der Eier bei einem derartigen Ueberzuge leide. Auch konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß erst ein völliges Abtöten der Bazillen Sicherheit für die Haltbarkeit der Eier böte. – Auf diesen Erfahrungen baut sich ein neues zum Patent angemeldetes Verfahren auf, das von Otto Leupold in Stuttgart erfunden ist. Leupold wendet eine Konservierungsflüssigkeit an, der ein fäulniswidriges, antiseptisches Mittel zugesetzt ist, mittels dessen die in der Schale vorhandenen Bakterien abgetötet werden sollen, wodurch, wie gesagt, die Sicherung der Eier vor Verderbnis bedeutend erhöht würde. – Wie aus unserer Abbildung (vergl. Fig. 1) ersichtlich ist, besteht der dabei zur Verwendung gelangende Apparat aus einem Blechgefäß, in das ein Drahtgestell hineinpaßt. Die Eier werden in die Ringe des Gestells hineingestellt und dasselbe in das Blechgefäß gesetzt. Alsdann übergießt man die Eier mit der Konservierungsflüssigkeit, die in einer Blechflasche beigegeben wird. Unmittelbar darauf hebt man das Drahtgestell langsam aus der Flüssigkeit empor und hakt es über dem Topfe ein, wie es in Fig. 2 dargestellt ist. Die Flüssigkeit tropft ab und die Eier werden rasch trocken. Nach zwei Minuten taucht man die Eier zum zweitenmal, hebt sie sofort wieder empor und hängt das Gestell wieder am Bügelhaken ein. In fünf bis sechs Minuten sind die Eier so trocken, daß man sie weglegen und in Kleie für den Winter aufbewahren kann. Auf diese Art konservierte Eier können nach Monaten roh oder gekocht verwendet werden; sie zeigen dabei ein ähnliches Verhalten wie frische. In einem Gutachten des Chemischen Laboratoriums für gewerbliche Untersuchungen an der königlichen Zentralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart heißt es u. a.: „Ein an das Konservierungsmittel erinnernder Geruch oder Geschmack konnte beim Genuß derselben nicht wahrgenommen werden; ebensowenig ließ sich durch die chemische Untersuchung der Eier ein Durchdringen des Konservierungsmittels in das Innere derselben konstatieren.“ Sollte sich die neue Methode der Eierkonservierung im praktischen Leben in der That bewähren, dann wäre der volkswirtschaftliche Gewinn zweifellos sehr groß, abgesehen von der Annehmlichkeit, auch im Winter frische und wohlschmeckende Eier zur Verfügung zu haben.

Fig. 1.   Fig. 2.
Der Eierkonservierungsapparat „Ovator“.

Hauswirtschaftliches.

Apfelsinenschalenkonfekt. Während mehrerer Tage werden die möglichst dünn abgeschälten Apfelsinenschalen wiederholt mit frischem Wasser übergossen, damit ihnen der Bitterstoff möglichst entzogen wird. Am vierten Tage kocht man sie in Wasser sehr weich, drückt sie gut aus und wiegt sie nun so fein wie möglich. Dann kocht man gleiches Gewicht bester Raffinade mit etwas Wasser bis zum Faden, thut die Schalen hinein und kocht beides einmal auf. Ein Brett wird mit feinem Puderzucker bestreut und auf diesem werden von der Marmelade kleine Kugeln geformt, die man mit einem Rollholz platt drückt und auf einem anderen, ebenfalls mit feinem Zucker bestreuten Brett trocknen läßt. Man bewahrt die Apfelsinenpasten in kleinen Schachteln auf, in denen sie sich lange halten. Ihr Geschmack ist sehr fein und ihr Genuß magenstärkend. L. H.     

Ausbessern schadhaft gewordener Kautschukkleider. Nicht selten kommt man beim Ausbessern schadhaft gewordener Kautschukkleider dadurch in Verlegenheit, daß sich am Wohnorte niemand befindet, der sich mit solchen Arbeiten befaßt – man ist auf sich selbst angewiesen. In solchen Fällen nehme man ein dünnes Guttaperchablatt, wie es zum Verbinden von Wunden oder zum Feuchthalten von Umschlägen vielfach gebraucht wird und daher in jeder Apotheke zu haben ist, schiebe dasselbe zwischen die zu flickenden Teile und fahre behutsam mit einem nicht zu heißen Bügeleisen über die Flickstelle. – Da sich ferner das Kautschuk in Benzin auflöst, beziehungsweise erweicht, so läßt sich auch in vielen Fällen der Zweck erreichen, wenn man die Ränder des Risses schwach mit Benzin betupft und danach aneinander preßt, bis das Benzin verdunstet ist.

[180 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]