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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[805]

Halbheft 26.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



 Weihnachten.

Die Glocken rufen mit festlichem Laut,
Die Sterne der Christnacht schimmern,
Und hinter den Fenstern heimlich und traut
Beginnt ein Leuchten und Flimmern;
Es hüllen in wonnigen Märchentraum
Die Düfte der Tannen den ärmsten Raum
In der seligen Nacht der Wunder.

Im deutschen Walde wächst deine Art,
Du Baum mit den grünen Zweigen,
So treu und beständig, so wetterhart:
Du bist so recht unser eigen.
Sind Fluren und Wälder auch tiefverschneit,
Wir holen dich heim zur festlichen Zeit,
Wir mögen dich nimmer entbehren.

Wir fühlen, von deinem Hauch umweht,
Im Herzen ein seliges Regen:
O, laßt uns die Hände mit stillem Gebet
Aufs Haupt der Kinder legen,
Daß von den Zweigen mit hellem Schein
Zieh’ deutsche Treue und Liebe ein
In die freudig bewegten Seelen.

Eine Weihnachtsbotschaft durchbraust die Welt
Von künftigen schöneren Tagen:
Die das zehrende Siechthum im Banne hält,
Sie dürfen zu hoffen wagen!
Aufathmet die Menschheit und dankt und preist
Des gottbegnadeten Forschers Geist,
Der die Bahn der Befreiung gewiesen.

Wann nahst du, o Fest, das die Völker befreit
Aus Neides und Irrwahns Banden? –
Wenn die reine Flamme der Menschlichkeit
Hell leuchtet über den Landen,
Wenn die Welt ein Haus wird von Brüdern sein,
Dann ist mit unvergänglichem Schein
Das wahre Christfest erstanden!

 A. O.



[806]
Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(7. Fortsetzung.)


Ein gedrücktes Schweigen entstand, als die beiden alten Leute das Zimmer verlassen hatten. Nur der Donner grollte jetzt machtvoll, und über den Bäumen des Gartens, die sich im heftig losbrechenden Winde zu wiegen und zu werfen begannen, flammte der Blitz auf im bläulichen Zickzack, riß den wolkendüstern Himmel von einander und zeigte die bis dahin fast in Nacht getauchte Landschaft plötzlich in grellem Licht. Wie in Angst vor dem Unwetter duckten sich Gräser und Blumen zur Erde, und die hochstämmigen Rosen neigten die Häupter auf ihren langen Stengeln und ließen den jetzt mit aller Wucht herniederprasselnden Regen über sich ergehen. Durch die Lüfte fuhr ein hohles Sausen wie ein wilder Klageton, und wieder kam es allgewaltig im Donnerhall heran und löschte alles andere Geräusch und starb in der Ferne als dumpfes Zornesgrollen. –

Annie saß in einem niedrigen Rohrsessel neben Thekla und hatte ihres Verlobten Hand gefaßt; er stand ihr zur Seite und sah in das Wetter hinaus. Seine Braut sah ihm besorgt ins Gesicht. Machte nur das ungewisse Licht, das bleifarben zu den Fenstern hereinsah, sein Antlitz so fahlbleich? Und woran mochte er denken, während er so an ihr vorüber in den Aufruhr der Elemente hineinsah? Immer dieser schwere, weltentrückte Blick, der nichts mit seinem jetzigen Glück zu thun hatte, der zurückschaute – weit – weit zurück … was mochte er dort sehen? –

„Ist das Gewitter Dir unangenehm?“ fragte Annie ihn nach einer Weile zaghaft.

Er fuhr sehr heftig zusammen.

„Wenn Du so sagen willst – ja! Wenigstens macht es mich nervös. Du weißt“ – sprach er mit einem halben Lächeln, das etwas Erzwungenes hatte – „als Künstler habe ich das Recht, nervös zu sein!“

„Als Kind hatte ich Furcht vor dem Donner, denk’ nur!“ berichtete Annie. „Ich weiß es noch wie heute, – und Thea wird’s auch wissen, nicht wahr? – wie mein Vater mich einmal hier an derselben Stelle, wo ich jetzt sitze, auf seine Kniee hob, während es draußen noch viel ärger tobte als heute. Und ich fühlte sein Herz ruhig und gleichmäßig gegen mein kleines, verängstigtes Kinderherz schlagen, – ich kann höchstens sechs Jahre alt gewesen sein und er sagte mir, im Donner spreche Gott zu uns – er selber sei allgewaltig, darum auch seine Stimme, mit der er uns anrede – wir dürften aber darum nicht erschrecken, nur Ehrfurcht empfinden vor ihm. Und wie ich allmählich ruhiger wurde, fragte der Vater mich, ob ich mich noch fürchte – und ich sagte: ‚Nein – weil Du bei mir bist!‘ Da küßte er mich und hielt mich fest an sich und sagte zuletzt: ‚So denk’ immer, wenn Du den majestätischen Donner hörst, Dein Vater ist bei Dir und hält Dich an seinem Herzen.‘ – Das thue ich auch wirklich! Ich wollte, Du hättest unsern Vater gekannt, denn soviel ich Dir auch von ihm erzähle, ein rechtes Bild wirst Du doch schwerlich von ihm bekommen! Bitte, erzähl’ Du uns auch einmal recht ausführlich von Deinem Vater! Du hast das bisher noch nie gethan!“

Sie hatte freimüthig und unbefangen gebeten wie ein liebenswürdiges Kind, das der Erfüllung seines Wunsches zum voraus sicher ist. Um so mehr erschrak sie über seine Antwort.

„Wenn ich das bisher niemals that, so hatte ich meine Gründe dafür! Mein Vater war ein unglücklicher Mann, meine Kindheit freudlos, meine erste Jugend hoffnungslos vergiftet. Wenn Du mich liebst, frage mich nie mehr danach!“

Ein betäubender Donnerschlag brach los und überhob Annie der Antwort: sie hätte auch schwerlich eine gefunden, ihr liebliches Gesicht war blaß geworden, und wie schuldbewußt hielt sie die Augen gesenkt. Thekla aber sah unverwandt und aufmerksam in Delmonts Gesicht, und sie gewahrte dort den Ausdruck, dessen sie vorhin gedacht – den Ausdruck innern Kampfes, der alsbald an der innern Muthlosigkeit erlischt! – Er beugte sich jetzt herab und berührte mit seinen Lippen Annies Haar, küßte dann auch leise ihre Hand, als wollte er sie um Verzeihung bitten; sie lächelte ihm beruhigend zu, aber in ihren Augen stand ein besorgter Ausdruck.

An den Fensterscheiben troff der Regen gußweise hernieder; man vermochte nichts mehr draußen zu sehen, in solchen Strömen schossen die grauen Wasserstrahlen herab. Man hörte in den Pausen, die der Donner machte, nur das Aufklatschen des Regens auf die Zinkplatten der Fenstervorsprünge und das Sausen des Windes, der um das Haus stöhnte. Im Zimtner war es so finster, daß man hätte Licht anzünden können.

„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Thekla?“ fragte Delmont, da er die Kranke mit geschlossenen Augen sich in ihren Sessel zurücklehnen sah.

„Nichts von Belang, ich danke, Herr Professor!“ gab Thekla zurück. „Nur etwas Mattigkeit infolge der Gewitterschwüle von zuvor!“

Es war Annies steter Kummer, daß diese zwei Menschen, die liebsten, die sie hatte, nicht vertraulicher mit einander standen. Die förmliche Anrede, das steife „Sie“ verletzte ihr zärtliches Gemüth, aber umsonst war sie bestrebt gewesen, das zu ändern, ruhig und kühl hatte jedes der beiden den Vorschlag einer Abänderung, den sie jedem einzeln gemacht hatte, von sich gewiesen.

Im Hintergrunde des Zimmers knarrte leise eine Thür. Die alte Agathe erschien, ein dampfendes Glas in der Linken, das eine weißschäumende Flüssigkeit enthielt; mit der Rechten winkte sie Annie zu sich herüber.

„Du guter, alter Hausgeist hast mir richtig Eiergrog brauen müssen, im festen Glauben, ich hätte mich erkältet!“ rief das junge Mädchen lachend. „Kommst Du denn nicht näher mit Deinem Gebräu? Ich soll zu Dir kommen? Mir auch recht! Aber Agathe,“ – sie war inzwischen aufgestanden und hinübergegangen und flüsterte nun der Alten ins Ohr – „wirst Du denn gar nicht für meinen Verlobten sorgen?“

Die alte Frau warf den Kopf zurück.

„Ach, so einem Herrn schadet das bißchen Regen noch lange nichts. Aber Du, mit dem dünnen Sommerkleide und den leichten Halbschuhen … sie schlagen durch, die kleinen Schuhe, ich weiß es genau, sie haben Leder und Sohlen wie von Postpapier, und dazu die seidenen Strümpfe! Wenn Du Deine Alte noch ein bißchen lieb hast und nicht auf den Tod betrüben und ängstigen willst, dann bist Du mein süßes, artiges Vögelchen und trinkst Deinen Grog und wechselst in Deinem Zimmer die Fußbekleidung – ja?“

Annie sah in die treuen, besorgten Augen und nickte; mit einem freundlichen: „Gleich bin ich wieder da!“ gegen die beiden am Fenster verließ sie mit Agathe das Zimmer.

Noch nie war Thekla mit Delmont allein gewesen; immer war Annie als vermittelndes Element dazwischen getreten. Es war Thekla zu Sinn, als müßte sie ihn manches fragen, ihm vieles sagen aber es würde nichts nützen, er war der Mann nicht, zu antworten, wenn er nicht wollte. Da sie ein gleichgültiges Gespräch mit leeren Redensarten nicht führen wollte, so schwieg sie lieber ganz.

Er beobachtete sie von der Seite, wie sie erschöpft und blaß mit übereinandergelegten Händen in ihren Kissen ruhte, in keinem einzigen ihrer scharfgeschnittenen, frühgealterten Züge die flüchtigste Aehnlichkeit mit der jungen, schönen Schwester zeigend. Die Stirn trat, wie von vielem Denken herausgearbeitet, in fester Wölbung hervor, die Augen sahen klug und überlegend drein, um die Lippen lagerte ein scharfer Schmerzenszug – aber Theklas Blick schien beständig zu sprechen: „Bemitleidet mich nicht, ich weiß damit nichts anzufangen!“

Plötzlich unterbrach Delmont das drückende Schweigen mit den Worten:

„Nicht wahr, ich bin Ihnen als zukünftiger Schwager unwillkommen?“

So ganz aus Theklas tiefinnerster Stimmung heraus hatte er gesprochen, daß sie ihm, nicht im mindesten überrascht, ruhig antwortete:

„Nein – vielmehr ja – meiner Annie dereinstigen Mann hatte ich mir anders vorgestellt!“

Er hatte ein spöttisches Lächeln um die Lippen.

„Es thut mir leid, diesem Ihrem Phantasiegebilde nicht zu entsprechen – wie sah dies aus, wenn ich fragen darf?“

[807] Sein scharfer Ton fand ein Echo an dem ihrigen.

„Sie thun mir zuviel Ehre an, wenn Sie mir Phantasie zutrauen; ich hielt Sie für einen zu guten Beobachter, als daß Sie nicht hätten wissen sollen – ich „habe“ keine Phantasie! Träume, Schwärmereien, Einbildungen – was soll ein Wesen wie ich damit anfangen? Aber Annie habe ich lieb, ihr Glück liegt mlr am Herzen, und ich hatte gedacht, sie würde eine andere Wahl treffen –“

„Etwa den Lieutenant von Conventius erhören!“ fiel er ein.

„Das glauben Sie ja selbst nicht,“ gab sie ruhig zurück, „warum also sprechen Sie es aus? Der Ulanenlieutenant ist eine liebenswürdige, offene, einnehmende Natur, aber er hat es leider versäumt, seinen Geist und Charakter zu vertiefen und zu bilden, obschon er sehr gutes Material dazu hatte. Ein solch’ lustiger Bruder konnte Annie niemals gefährlich werden, ich hätte ihn ihr, trotz meines persönlichen Wohlgefallens an seiner munteren Frische, nie gewünscht –“

„Desto mehr seinen Vetter Reginald, den großartigen Pfarrer von Sankt Lukas – nicht wahr?“ unterbrach Delmont sie von neuem.

„Warum sprechen Sie in diesem Ton von ihm?“ gab Thekla ernst zurück. „Warum nennen Sie ihn so geflissentlich den ‚großartigen‘ Pfarrer von Sankt Lukas, ihn einen Mann, der sich gerade durch die ungewöhnliche Schlichtheit seines Auftretens auszeichnet?“

„Nun – die ganze Stadt klingt ja bereits von seinem Lobe wieder – bis zu Ihnen werden diese Gerüchte nicht dringen, man wird es absichtlich vermeiden, Ihnen jetzt von ihm zu sprechen – ich höre desto mehr! Nicht nur die Unmündigen und Einfältigen singen sein Lob, nein, auch die Erleuchteten im Geist reden in Zungen von ihm. Adel, hohe Beamtenwelt und Finanzkreise umlagern seine Abendmahlsspenden, er muß die Gläubigen, die in hellen Haufen herbeiströmen, zurückweisen – die Thür seiner Wohnung steht nicht still – schöne Frauen mit feuchten Augen, verschämte junge Mädchen, die sich angeblich mit ihrem Glauben nicht zurechtfinden, Leute aller Gattung, vom ordensbesternten Geheimrath bis zum Handwerker, streiten sich um die Gunst dieses Wundermannes, man hat ihm jetzt bereits mehr Konfirmanden angemeldet, als er überhaupt annehmen kann, – die Kirche von Sankt Lukas kann die Gläubigen nicht fassen.“

„Nun – und was weiter?“ kam es von Theklas Lippen. „Soll dies etwa eine Anklage gegen den Mann sein? Was soll es beweisen?“

„Es soll beweisen, daß er es eben allen anthut, allen, ohne Ausnahme, wie der Rattenfänger von Hameln, selbst meiner Braut, die mir gestanden hat, daß, wäre ich nicht gekommen, sie diesen Ausbund von Tugend und Schönheit ohne weiteres geheirathet hätte.“

Thekla zog die Brauen hoch. „Also eifersüchtig – sieh da!“ dachte sie. „Darum die erbitterte Philippika gegen den Pfarrer von Sankt Lukas!“

„Und so hat sein Anblick und Wesen auch Sie, eine so kluge und scharfblickende Dame, gleich beim ersten Male überwältigt,“ fuhr Delmont in demselben scharfen, bittern Ton fort, „er, von dem man im Publikum behauptet, er drehe mit seinen zwingenden Worten und Blicken selbst den verstocktesten Verbrechern des Gefängnisses das Herz in der Brust herum … ich habe keine näheren Einzelheiten erbeten, mir genügte schon dies Gerücht.“

„Mich hat weder sein Anblick noch sein Wesen überwältigt,“ sagte Thekla trocken. „Glauben Sie, ich habe in meinem langen Leben noch nie einen schönen Mann gesehen? Ich wüßte überhaupt auf der weiten Welt keinen Menschen, der einen überwältigenden Eindruck auf mich hervorzubringen vermöchte – das wäre höchstens ein großartiges Naturschauspiel imstande. Aber eben weil ich nicht ohne Verstand und Scharfblick bin, wie Sie es soeben in solch schmeichelhaften Worten anerkannt haben, weil mein stilles Leben, das mir doch soviele Menschen vor Augen führt, mein von Natur schon richtiges Beobachtungsvermögen geübt hat – darum erkannte ich allerdings schon beim ersten Zusammentreffen in diesem Pfarrer von Conventius einen echten, guten, wahrhaft edlen Menschen, abgesehen von seiner Begabung und seinem bestechenden Aeußern, – eine jener durch sich selbst großen Naturen, die des Adels nicht bedürfen, um adlig, der Schönheit nicht bedürfen, um schön zu sein, die einfach durch sich selbst Wirkung machen, weil sie das ganz sind, was sie sind, und durch ihr festes Beruhen in sich und durch den Glauben an ihre Sendung in unserer haltlosen Zeit die Leute unwiderstehlich an sich ziehen wie die stetig brennende Flamme die Mücken und Motten. Und daß Annie sich dem Eindruck einer solchen Persönlichkeit nicht verschließt, das freut mich um ihretwillen, und sollte auch Sie freuen, anstatt Sie mit einer ganz grundlosen Eifersucht zu erfüllen!“

„Grundlos?“ Delmont stand auf und trat hart an Theklas Sessel heran. „Wissen Sie, was sie that, als ich neulich seinen Namen nannte? Sie brach in Thränen aus – in Thränen – und sagte, das Herz thäte ihr weh bei dem Gedanken an das Leid, das sie ihm zugefügt, denn sie wisse, er habe sie über alles lieb gehabt!“

„Es macht Annie nur Ehre, daß sie so empfindet!“ rief Thekla lebhaft. „Sie wäre herzlos, wenn sie kaltes Blut behielte bei dem Gedanken, was es heißt, einen solchen Mann so unaussprechlich zu kränken. Liegt denn in diesem Geständniß nicht gerade der höchste Beweis ihrer Liebe zu Ihnen, daß sie unbedenklich Sie wählte und jenen, so theuer er ihr war, zurückwies – ist dies nicht die beste Gewähr für Ihr künftiges Glück?“

Er starrte sie mit trüben Augen an und antwortete eine ganze Weile nicht.

„Mein künftiges Glück!“ wiederholte er endlich. „Mein Glück! Wenn ich nur daran glauben könnte! Ich verdiene es nicht, ich weiß es – und anstatt es nun in Demuth hinzunehmen wie aus der Götter Hand, verbittere und verderbe ich es mir – und es wird mir zuletzt doch noch vom Schicksal erbarmungslos in Scherben geschlagen werden, das fühle ich deutlich! Jener hat ruhig und einfach seinen Weg durchs Leben gemacht, wenn er sich auch mühsam den Beruf erkämpfen mußte … ich … durch wieviel Schlamm und Schmutz habe ich waten, gegen welch trostloses Verhängniß ankämpfen müssen, ehe ich dahin kam, wo ich jetzt stehe! Nun stehe ich da – jawohl – und es ist eine ganz leidliche Höhe – aber ich blicke hinunter – und ich blicke zurück – und es läßt mich nicht glücklich sein – und ich bin meines Glückes nicht werth – ich kann nur dann vergessen, wenn ich sie an meinem Herzen halte, wenn ich sie sehe, sie höre – und man wundert sich, daß ich mit jeder Minute geize, die mir gehören könnte – daß ich mein einziges Heilmittel keinem andern gönne!“

Thekla sah es zucken in seinen Zügen, und ein Gefühl des Mitleids wallte in ihr auf, zugleich aber auch die alte Angst, zehnfach verstärkt gegen früher: er wird Annie nicht glücklich machen – er ist kein Mann für sie! Woher denn seine Furcht, sein Glück könne ihm in Trümmer gehen? Wozu die immer wiederkehrende Anklage, er verdiene Annie nicht – er sei ihrer nicht werth? Wenn er den Vorhang von seiner Vergangenheit zöge – welches Bild würde sich dort entrollen?

„Sie sollten offen gegen uns – ich meine, gegen Annie – sein!“ sagte Thekla, und ihre spröde Stimme klang fast sanft. „Wer hat denn ein näheres Anrecht auf Ihr Leid als sie? Vielen wird doch das Herz leichter, wenn sie sich rückhaltlos aussprechen dürfen, und, glauben Sie mir, so jung meine Schwester noch ist, sie verdient jedes Vertrauen. Als Kind schon verstand sie, unverbrüchlich zu schweigen, wenn mein Vater oder ich sie einmal heimlich mit diesem oder jenem Versprechen, das wir ihr abnahmen, auf die Probe stellten. Und wie süß sie zu trösten, mitzuempfinden, zu entschuldigen und endlich zu verzeihen versteht – so, als wär’ es gar keine Verzeihung ihrerseits, nur ein Aufgehen im Schmerz und in der Reue anderer! Ich bin durch meine Krankheit zuweilen bitter und ungerecht gegen sie gewesen – aber unser Vögelchen um Vergebung zu bitten, das ist mir nie schwer geworden, ich konnte mich nur jedes Blickes freuen in ihr goldenes Herz. Sie sollten das auch versuchen!“

Er hatte ihr gesenkten Hauptes zugehört und schüttelte schließlich nur stumm den Kopf; da klang die Thür, und ein fröhliches Stimmchen wurde laut. „Das hat aber schön lang’ mit mir gedauert! Bist Du böse, Karl? Was sind denn das wieder für Augen! Gar nicht meine Augen, wie ich sie für mich liebe! Hat Thea Dich so schlecht unterhalten? Sieh nur, wie der Regen nachgelassen hat – es gewittert auch fast gar nicht mehr! Mach’ dieses Fenster auf, daß wir die Luft herein bekommen, ich hab’s drüben in meinem Zimmer auch gethan, es duftet so herrlich nach jungem Laube. Und wenn’s aufhört zu regnen, gehen wir in den Garten – da, sieh, ich hab’ mir schon feste Lederstiefel angezogen und einen von Deinen

[808]

Im Weihnachtsurlaub.
Nach einer Zeichnung von Edm. Herger.

[809] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [810] wunderschönen persischen Shawls mitgenommen – den purpurrothen mit den Goldblumen. Da! Wie der Künstler in Dir den Menschen erzieht – jetzt machst Du gleich ein ganz anderes Gesicht!“

„Nicht der Künstler – der Liebhaber war’s, der den Menschen erzog!“ flüsterte er ihr zu, indem er verstohlen ihre Hand küßte. Er legte ihr mit raschem, geschultem Griff den persischen Seidenshawl malerisch um Kopf und Schultern und führte sie dann zum nächsten Spiegel. Unbeschreiblich reizend staunte das süße Gesichtchen aus der fremdartigen rothen Hülle hervor – Delmont stand daneben und betrachtete seine Braut mit flammendem Blick. Jede Spur der brütenden Sorge von zuvor war von seinem Antlitz verschwunden, sein anziehendes Gesicht schien um zehn Jahre verjüngt.

Ein fern abziehendes Grollen begleitete das sanfte Getröpfel, das dem heftigen Regen gefolgt war. Durch das geöffnete Fenster schlich sich köstlich würzige Luft ins Gartenzimmer, draußen standen die Sträucher im blitzenden Perlengewand. Vereinzelte schüchterne Vogellaute ließen sich hören, und plötzlich kam ein goldiges Leuchten über die triefenden Bäume und Büsche und weckte in ihnen ein märchenhaftes buntes Gefunkel; darüber jubelten die kleinen Vogelstimmen lauter auf, und aus der Tiefe des Gartens kam es wie ein Schluchzen aus leiderlöster Menschenbrust, süß und liebesehnend … da faßte der Mann drinnen im Zimmer sein Lieb in die Arme und schritt mit ihr hinein in den wonnigen Sommerabend.




13.

Ja, Reginald von Conventius war unglaublich rasch beliebt geworden in der kurzen Zeit seines Aufenthalts in F. Es verhielt sich wirklich so, wie Professor Delmont es Thekla Gerold in seinem eifersüchtigen Unmuth geschildert hatte: die Thür zu Reginalds Wohnung stand selten still, kaum fand er spät abends ein paar ruhige Stunden, um seine Predigten vorzubereiten und seinen Studien obzuliegen – und auch das ermöglichte er nur dadurch, daß er beharrlich die vielen Einladungen, die dem gefeierten Pfarrer von Sankt Lukas zu Landpartien, Picknicks und Gartenfesten zugingen, ausschlug und sich hinter die Ausflucht verschanzte, er sei kein Mann der Geselligkeit – eine Behauptung, die sein liebenswürdiges, formengewandtes Wesen überall, wo er sich zeigte, schlechterdings Lügen strafte. – Vornehme Herren und Damen jeden Alters fanden sich bei dem jungen Geistlichen ein, es galt durchaus nicht für „chic“, die Kinder in einer andern Kirche als in der zu Sankt Lukas taufen zu lassen, Präsidenten- und Geheimrathstöchter ließen sich mit Vorliebe in der alten, stilvollen Kirche trauen, und die Meldungen zum Konfirmandenunterricht nahmen kein Ende. Aber auch zahllose Arme, Leute in derben Arbeitskitteln, Frauen mit verhärmten Gesichtern und rauhen Händen, stiegen täglich die Treppe zur Wohnung des Herrn Predigers empor, denn sie wußten es nun schon genau, der Herr redete ihnen nicht nur mit geistlichem Zuspruch ins Gewissen, sondern er fragte auch eingehend nach ihren Verhältnissen, ließ sich ihre Sorgen und Kümmernisse beichten und wußte es, wenn die Betreffenden es verdienten, jedesmal so einzurichten, daß sie ihn mit leichterem Herzen und schwererem Geldbeutel verließen, denn er half gern und freudig, und, Gottlob, er konnte es auch! –

Die alte Lehmann, Reginalds dereinstige Amme, jetzt die Vorsteherin seines Haushalts, war unsagbar stolz auf ihren ehemaligen Pflegling und empfing seine Beichtkinder, hoch und gering, jedesmal mit einer Würde, als habe sie Theil an allem guten, was ihr Herr ihnen zukommen ließ. Sie dachte noch oft an die Bibel- und Andachtsstunden der verstorbenen „Gnädigen“, Reginalds Mutter, denen sie, die Lehmann, dereinst als junge, blühende Frau beigewohnt hatte, ihren schönen, blonden Zögling, der so früh schon andächtig die Händchen zu falten und still zuzuhören verstand, auf den Knieen. Später hatte der „Junker“, wie sie ihn nannte, neben ihr gelehnt, dann hatte er die Gebete beim Beginn und beim Schluß gesprochen, bis er schließlich die Hausandachten selbständig geleitet hatte, immer aber hatte er die frommen, unschuldigen Augen aus seinen Kindheitstagen behalten. Den Titel „Junker“, den die alte Lehmann ihrem Lieblinge während langer Jahre gegeben hatte, konnte sie nicht vergessen - und es klang seltsam genug, wenn sie ihn jetzt, eingedenk seiner geistlichen Würde, mit Beharrlichkeit „Ehrwürden Herr Junker“ anredete.

„Ehrwürden Herr Junker“ war seit einigen Wochen ein wenig verändert – so wenig, – daß solche, die ihn nicht genau kannten, gar keinen Unterschied herausfanden … wer aber sollte ihn wohl besser kennen als seine alte Lehmann? Ihr entging nichts, kein zerstreutes Lächeln, keine nachdenkliche Miene, kein halbverzehrtes Lieblingsgericht, kein Insichversinken und hastiges Auffahren – aber sie ließ sich nichts merken; wie käme sie denn dazu? Sie wußte ja auch nicht, mas ihn quälte! Ein Uebermaß von Arbeit konnte es nicht sein, denn ihr Herr war ja jung und gesund und liebte seinen Beruf mit voller Hingebung. Vielleicht machte seine Stellung zu den Gefangenen ihm zu schaffen; Frau Lehmann wußte, daß einer darunter war, ein Dieb und Mörder, an dem nächstens die Todesstrafe vollzogen werden sollte – was ihr für ein solches „Scheusal“ ganz gerechtfertigt erschien.

Reginald ging jetzt jeden Tag zu dem armen Sünder – „und es ist keine Kleinigkeit,“ sagte sich die alte Frau, „so eine rabenschwarze Teufelsseele weiß zu waschen, daß unser Herrgott sie in Gnaden aufnimmt! Daher mag er auch oft so bedenklich aussehen. Wenn nur nicht etwas anderes, vielleicht gar eine Liebe, dahinter steckt! Zwar ist es unglaublich, daß eine meinen Junker ausschlagen könnte, – meinen Junker! Da müßte sie doch gleich blind und von Sinnen sein! Er weiß vielleicht noch nicht, woran er ist! Ich hab’ wohl den Vetter Lieutenant gefragt, und der sagte ‚nein‘ und ‚bewahre‘! Aber das ist ein leichtsinniger Vogel, der nicht immer die Wahrheit redet – dem glaub’ ich einfach nicht!“ – –

Eine Freude aber erlebten die beiden doch, Frau Lehmann und ihr „Junker“: der „leichtsinnige Vogel“, der Vetter Lieutenant, kam eines Tages in glanzvoller Uniform stramm und stolz zu ihnen hereinmarschirt und stellte sich ihnen als Bräutigam vor. „Die kleine Hedwig Rainer, weißt Du, Regi, damals von Weylands her? So eine zierliche Blondine mit auffallend hübschen Augen – diese Augen haben, wie sie mir ehrlich bekannt hat, gleich beim ersten Zusammensein nach mir ausgeschaut, ich hab’s ihr sofort angethan gehabt – siehst Du, was ich für’n Kerl bin! Jetzt hab’ ich das kleine Mädchen glücklich gemacht, aber so glücklich, kann ich Dir sagen! Sie hatte die Augen voller Thränen vor Freude, und meine Schwiegermama – wirklich eine angenehme Ausnahme dieser berüchtigten Sorte! – gleichfalls. Ich solle ihr Kind glücklich machen, beschwor sie mich immer wieder – als ob ich was anderes beabsichtigte! Na, ich, als der rührselige Michel, der ich bin, bekam auch so was Dummes in die Augen bei dieser feierlichen Geschichte, – aber jetzt ist mir seelenvergnügt zu Muth, und, meine liebe Frau Lehmann, Sie holen eine von meines Vetters besten Sektflaschen aus dem Keller herauf, ich seh’ es ihm am Gesicht an, er möchte mit edlem Getränk unser junges Glück begießen – und ich bin in meiner gehobenen Stimmung nicht dafür, jemand einen Wunsch zu durchkreuzen!“

Der lustige Ulan hatte dann die alte Frau, die nicht wußte, wie ihr geschah, bei den Armen gepackt und zur Thür hinausgewirbelt, aber „Ehrwürden Herr Junker“ hatten genickt und gelacht, und so war sie in Gottes Namen in den Keller hinabgestiegen, hatte die verlangte Sorte zu den Herren ins Zimmer befördert und dem glücklichen Bräutigam wahrhaftig Bescheid thun müssen; darauf hatten die Vettern noch eine ganze Weile mit einander geplaudert und getrunken, und Reginald war gesprächiger und heiterer gewesen als seit lange. Nur, als Fritz ihn beim Abschied im Vorsaal auf die Schulter schlug und mit unvorsichtig lauter Stimme dazu rief: „Nun mach’ es mir bald nach, Freundchen! Teufel auch! Vergiß, was sich nicht ändern läßt! Ist’s die nicht, nun, so ist’s eben eine andere!“ da hatte der „Junker“ mit seiner ruhig beherrschten Stimme erwidert: „Laß das ruhen, Fritz! Darüber komme ich nicht hinweg!“ – und Frau Lehmann, die ihren Herrn gleich darauf an ihrer geöffneten Küchenthür vorüberschreiten sah, konnte wahrnehmen, daß die Fröhlichkeit von seinem Antlitz wie weggewischt war. –


*      *      *


Schönfeld sollte sterben, das Todesurtheil war bestätigt worden, der Mann hatte seinen Willen! Reginald von Conventius ging schon in der letzten Zeit vor der Entscheidung täglich zu „Nummer achtundfünfzig“; bald früh des Morgens, bald zu vorgerückter Stunde, wenn der Sommerabend niederzusinken begann, sah man die hohe, schlanke Gestalt des Pfarrers von Sankt Lukas [811] über den Gefängnißhof schreiten, Gretchen Remmlers freundlichen Knix – das Kind wußte ihm sehr oft zu begegnen – jedesmal mit ein paar herzlichen Worten erwidernd. Wenn dann Remmler die Zelle des zum Tode Verurtheilten aufschloß und der Prediger über die Schwelle trat, dann kam ihm der Gefangene schon bis dorthin entgegen, und in seinem Blick war zu lesen, wie wohl ihm jetzt der Besuch that, den er zu Anfang so schroff zurückgewiesen hatte.

Freilich war es immer mehr die Persönlichkeit Reginalds, die ihn fesselte, als das Amt, das er vertrat. Sehr allmählich erst ging der Prozeß in ihm vor sich, nicht nur zu beachten, wie der Mann zu ihm sprach, sondern auch dem, was er sprach, aufmerksames Gehör zu schenken. Und die Thatsache, daß Reginald ein flottes, lustiges Leben als reicher Majoratsherr und Offizier hätte führen können und das alles, väterlichen Segen und Erbtheil dazu, muthig und ohne zu schwanken in die Schanze geschlagen hatte um seines Glaubens willen, – diese Thatsache hatte gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht und sein Nachdenken von dem Manne selbst auf die Sache gelenkt, der er diente. „Es muß ihm doch ungeheuer ernst damit sein, wenn er alles das darum aufs Spiel setzen konnte!“ sprach es in seinem Innern, und: „Er glaubt in allem Ernst jedes Wort, das er spricht, darauf könnte man die Hand ins Feuer legen!“ – und wieder: „Es muß doch ein ganz merkwürdiges Ding sein um solch einen felsenfesten Glauben; wer den hätte! Man könnte den Pfarrer beneiden um seine unerschütterliche Zuversicht!“

Jetzt, da Schönfeld schon seit langer Zeit von seinen einstigen Genossen losgelöst war, konnten solche Gedanken eher bei ihm Eingang finden und Wurzel fassen als früher, da ihnen von anderer Seite entgegengearbeitet wurde. Dann aber war die Bestätigung des Todesurtheils, so gelassen und selbstbeherrscht sie der Gefangene auch aufgenommen hatte, nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Er hatte es so gewollt, das war gewiß, und er wollte es auch jetzt noch nicht anders – das Leben ekelte ihn an, und er wünschte, es wie eine Last von sich zu werfen. Aber die Gedanken über „Etwas nach dem Tode“ ließen ihn nun doch nicht mehr los; er hatte sie früher verlacht und nur immer von einem traumlosen Ausruhen, einem ewigen Schlaf gesprochen. Der tiefe Ernst, mit dem ihn Conventius bat, für seine unsterbliche Seele zu sorgen, die unerschütterliche Ueberzeugung, die er ihm auf alle Fragen und Zweifel entgegenstellte, prallten nicht so wirkungslos an ihm ab, wie es die ersten Male den Anschein hatte; es arbeitete weiter in ihm, oft fand er sich gegen seinen Willen in Grübeleien vertieft – neue Widersprüche, neue Gegengründe tauchten in ihm auf, die er dem Pfarrer unterbreiten wollte, – ungeduldig sehnte er dessen nächsten Besuch herbei, und immer wieder zerflossen alle seine nebelhaften Zweifel und Bedenken vor der glorreichen Sonne dieses sieghaften Gottesglaubens in nichts und sanken haltlos in sich zusammen. Conventius war ein viel zu feiner Menschenkenner, um nicht mit innerer Freude diese Wandlung zu bemerken, aber er hütete sich wohl, diese Freude zu zeigen, den Nachtwandelnden vorzeitig anzurufen – er sprach von sich selbst, seinem eigenen Empfinden, seinen Erfahrungen und fragte niemals: „Und wie steht es nun mit Dir? Glaubst Du endlich?“

Von Zeit zu Zeit sprach er ein kurzes Gebet, frei aus seinem Herzen heraus – das bewegte den Gefangenen jedesmal in tiefster Seele, denn Conventius betete nicht in pathetischen, großen Worten – er sprach ganz schlicht und vertrauensvoll, wie ein Kind mit seinem Vater spricht, von dem es ganz genau weiß: er giebt mir das, was mir gut ist!

Annie Gerolds liebliche Frühlingsblumen waren allgemach verdorrt; sie hatten schön geblüht und köstlich geduftet, und der Gefangene hatte sie emsig gepflegt im Verein mit Remmler, der sie stets vor Anbruch der Nacht auf den Flur hinaus- und jeden Margen wieder hereintrug. Jetzt prangte nur ein hoher, schöner Rosenstock, mit zahllosen weißen Blüthen und Knospen bedeckt, in der Zelle, sowie eine schlanke, feingefiederte Palme – beides Gaben von Conventius. – –

Draußen brütete eine erdrückende Schwüle. Die weißen Pflastersteine des Gefängnißhofes flimmerten grell im Sonnenschein, es that den Augen weh, darauf hinzusehen, Verdrossen und träge schlenderten die Gefangenen in der Gluth dahin, von den Aufsehern überwacht. Am ganzen Himmel war kein Wölkchen sichtbar, unerbittliches Blau, soweit der Blick reichte.

Schönfeld durfte in diesen letzten Tagen, die er noch zu leben hatte, manche Vergünstigung erfahren, machte aber von diesem Vorzug nur geringen Gebrauch. Den Kopf in die Hand gesetzt, sah er gedankenverloren zu seinem hochgelegenen Fenster empor, durch dessen Gitterstäbe ein Stückchen des lachenden Juni-Himmels hereinblaute. Hatte man sich dort in der fernen Unendlichkeit wirklich Gott zu denken – die Urkraft, die Allmacht, von der alles Lebendige ausgeht – zu der alles Lebendige zurückkehrt? Zu der auch er so bald schon zurückkehren sollte? Trotz der Sommerhitze überlief ihn ein plötzliches Schaudern. Sterben – sterben durch Henkers Hand! Von keinem betrauert, von niemand beweint, schimpflich und schmählich gewaltsam vom Leben zum Tode gebracht zu werden! Aber hatte denn nicht auch er dem Lauf der Natur vorgegriffen, war nicht auch durch seine rohe Gewalt ein Menschenleben verkürzt worden? Er hatte gut sagen, daß es ein elendes, nutzloses, ja, ein verwerfliches Dasein gewesen sei, das er vernichtet habe, daß er seine That nicht bereue – er würde ja doch die Erinnerung an die zuckende, blutüberströmte Gestalt, wie sie hilflos vor ihm zusammengesunken war, an die starren, verglasten Augen, die ihn aus dem fahlen Leichengesicht anstierten, nie verlieren! Und es war keineswegs der Ekel vor dem Leben allein, das ihn den Tod herbeisehnen ließ – es war das ewig lebendige Bild seiner Blutthat, das ihn verfolgte, und das ihn ebenso sehr sein eigenes Dasein verwünschen machte. Wie hatten sie ihn belobt und umjubelt, die Gefährten, als er ihnen seinen „Plan“ mittheilte! Er sah es noch, das düstere, rauchige Lokal, in dem sie ihre Zusammenkünfte damals hielten, sah die verwegenen, wilden Gesichter, die gierigen Blicke, athmete die erstickend schwüle Atmosphäre, hörte die wüsten, lästerlichen Reden: „Tod und Verderben den Reichen!“ „Nieder mit den Kapitalisten!“ „Unsere Todfeinde, die Besitzenden!“ „Zu oberst das Unterste und umgekehrt!“ „Wollen doch ’mal sehen, wie das den oberen Zehntausend gefällt!“ – Und sie hatten ihn begeistert als ihren Retter, ihren Führer gepriesen, … und dann hatte er ihnen die Kastanien aus dem Feuer geholt und war beinahe fertig damit gewesen, als man kam und ihn griff. Aber die andern waren allesammt frei ausgegangen – er hatte keinen einzigen vom „Verein“ genannt, keinen Kameraden verrathen! Niemals hätte er das gethan, nie in seinem ganzen Leben! Ob Conventius das wußte, als er dem Gefangenen, der sich selbst in überströmender Bitterkeit „einen gemeinen Verbrecher“ genannt hatte, lebhaft widersprach: „Gemein? Das Wort paßt nicht auf Sie! Ein gemeiner Verbrecher sind Sie nicht!“

Heute saß er noch hier und sann und sah den goldenen Sonnenstrahl, der durch die Eisenstäbe seines Fensters schlüpfte und eine glänzende Bahn bis zu ihm zog – hörte das Schwirren der Schwalben, die fröhlich aus- und einflogen, unbekümmert darum, daß sie ihre Nester unter den Dachfirst eines Gefängnisses gebaut hatten – zählte die Glockenschläge einer tief dröhnenden Thurmuhr in seiner Nähe – athmete die schwüle Sommerluft … und in wenig Tagen lag er verscharrt in einem versteckten Winkel, und niemand würde an seinem verlassenen Grabe niederknieen und um ihn weinen und Blumen auf seinen Hügel pflanzen! Der Menschheit hatte er dienen wollen – freilich auf falschem Wege, wie er jetzt recht wohl einsah – aber die Menschheit stieß ihn aus ihrer Gemeinschaft …

Ein Zittern kam über ihn, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Konnte das Todesfurcht sein? Heinrich Schönfeld und Todesfurcht! Unmöglich! Er haßte ja das Leben, er wünschte sich den Tod! Was aber heute sein Geist für wunderliche Sprünge that! Da war er auf einmal mitten in seiner frühesten Kinderzeit – ein kleiner, etwas schwerfälliger Junge, nicht so lärmend wie seine Kameraden, – und in demselben Hause, in dem er mit seinen Eltern und Geschwistern eine finstere Hinterwohnung innehatte, wohnte auch der Flickschneider Oehmke mit seinem kleinen Töchterchen Lieschen. Konnte das Lieschen lachen und lustig sein! All die winkligen Ecken und steilen Treppen des alten, baufälligen Hinterhauses hallten von ihrem helltönigen Lachen wieder – und worüber hatte sich denn das Lieschen im Grunde zu freuen? Ueber nichts! Denn es bekam nicht einmal immer satt zu essen, und der Vater war ein verkümmerter, trauriger Gesell, der das Kind wenig beachtete. Aber jeder im Hause hatte es lieb, und es liebte getreulich alle wieder. Wenn Lieschen einmal irgendwo ein paar gute Bissen erhascht [812] hatte, so theilte sie dieselben redlich mit ihren Gefährten, ebenso aber verlangte sie ihren Antheil, wenn ein anderer etwas Schönes hatte. Unbefangen, als müßte es so und nicht anders sein, streckte Lieschen dann sein Händchen aus, um die erwartete Gabe in Empfang zu nehmen, und blieb diese einmal aus, dann kam ein Zug äußersten Erstaunens in seine klaren Kinderaugen – es begriff eben gar nicht, daß man etwas haben und nichts davon abgeben könne! –

Und eines Tages war das sonst so rothwangige, lachlustige Kind todtenbleich und still ins Haus gebracht worden – es hatte einen grauenhaften Sturz aus einer hohen Bodenluke gethan und war auf der Stelle todt gewesen – das Haus war seitdem wie ausgestorben, und Heinrich Schönfeld hatte seine ersten bitteren Schmerzensthränen geweint und seinen ersten Kummer gehabt. „Heini“ hatte sie ihn immer gerufen, da sie mit dem r noch ihre Mühe hatte – es hatte ihn seitdem nie wieder ein Mensch so genannt! –

Jahrzehnte hindurch hatte er nicht mehr an das kleine Geschöpf gedacht – wie stand es ihm jetzt urplötzlich lebhaft, greifbar deutlich vor Augen in seinem kurzen Kleidchen von verschossener rother Farbe und den abgewetzten winzigen Lederschuhen! Allerdings – sein Leben sollte zu Ende gehen, da knüpften die Gedanken unwillkürlich wieder an den frühesten Anfang an – er hatte das irgendwo gehört oder gelesen! – Diese Einsamkeit, die ihn umgab – diese tiefe, beklommene Stille! Und jetzt wieder dieser eisige Schauer – immer noch dies seltsame innere Zittern! War er krank? Er horchte angestrengt hinaus – war keine Menschenstimme vernehmbar – fiel kein Tritt auf den Steinfliesen des Flurs? Alles still, wie ausgestorben! Wenn doch der Pfarrer käme! Aber um diese Zeit würde es sicher nicht geschehen. Wieviel Uhr mochte es sein? Die alte Freundin vom nahen Thurm hatte so lange nicht zu ihm gesprochen – oder hatte er es nur überhört? Seinen eigenen Herzschlag konnte er belauschen – angstvoll – unregelmäßig! Allein und verlassen! – Conventius hatte gesagt: „Allein und verlassen ist niemand! Gott ist bei ihm, sobald er ihn ruft!“

War er auch bei ihm, dem zum Tode Verdammten, der Blut vergossen und fremdes Gut genommen hatte? War das Gott, der aus dem Angstruf der zitternden Seele sprach – war das Gott, der seine Hände jetzt zusammenfügte und sein Haupt sich beugen ließ? „Erbarme Dich meiner!“ flüsterte er tonlos – und noch einmal: „Erbarme Dich meiner!“

Da fiel mit dumpfem Ton eine ferne Thür ins Schloß – noch eine – aber schon näher – wieder eine – sehr nahe – rasche, feste Tritte wurden hörbar – ein wohlbekannter Laut von aneinander rasselnden Schlüsseln – es kam jemand – er blieb nicht länger allein mit seiner hilflosen Angst! Auf der Schwelle stand eine hohe, schlanke Gestalt mit einem edeln schönen Gesicht – stand und sah in das Antlitz des Gefangenen, der immer noch regungslos am Tisch saß – und winkte hastig dem Schließer zum Gehen, trat dicht zu dem Verurtheilten heran, schloß seine warmen, lebensvollen Hände gefaltet um die eiskalten, bebenden und sagte mit leiser Stimme: „Wir wollen heute miteinander beten!“ – – –

Nun war es schon seit geraumer Zeit still in der Zelle; Reginalds tiefe Stimme war verstummt, verstummt waren auch die leisen, abgebrochenen Laute aus Schönfelds Brust. Aber immer noch hielt der Geistliche die Rechte des Mörders fest in der seinen, und dieser klammerte sich an die starke, warme Hand wie an die letzte Stütze, die das Leben, aus dem er so bald scheiden sollte, ihm noch bot. – Der Sonnenstrahl war weitergerückt, er fiel nur ganz schräg noch in das Zimmer und streifte Reginalds blondes Haar. Die drückende Schwüle hatte nachgelassen, der Gefangene vermochte wieder frei zu athmen.

„Ich habe einen Wunsch!“ begann er endlich mit heiserer, stockender Stimme.

„Wenn es in meiner Macht steht, ihn zu erfüllen, so soll das geschehen!“

„Ich – ich möchte Ihnen von meiner Vergangenheit erzählen – aus meinem Leben – aber Sie haben gewiß keine Zeit –“

„Ich habe immer Zeit!“ entgegnete Reginald mild. „Und Sie wissen es ja, für Ihr Leben habe ich viel Interesse gehabt. Das wenige, was ich aus den Akten über Sie weiß, ist nur, daß Sie in Hamburg geboren sind, wo Sie etwa bis zu Ihrem achtundzwanzigsten Jahre als Kaufmann, theils Handlungsgehilfe, theils Comptoirist, gelebt haben – die Thatsache, daß Ihnen die Eltern sehr früh gestorben, die Geschwister fremd geworden sind – daß Sie dann eine geraume Zeit in London waren und von da nach Amerika gingen, wo Sie lange in verschiedenen Städten – New-Orleans, Cincinnati, St. Louis, San Francisko – Ihren Aufenthalt nahmen, um endlich wieder nach Europa zurückzukehren. Alles, was dazwischenliegt, ist mir verborgen –“

„Es ist das beste, daß das meiste davon Ihnen auch verborgen bleibt!“ fiel Schönfeld ein. Seine Brauen hatten sich finster gefurcht, um seine Lippen lief ein Zucken. „Von dem Tage an, da ich nach London ging, war ich schon das, was man vom Standpunkt staatsbürgerlicher Rechtschaffenheit einen Verbrecher nennt – das Mitglied, bald das Oberhaupt einer fest organisirten Gesellschaft, von deren System und Verbreitung ich nicht reden werde. Aber ich habe mir vorgenommen, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen über ein anderes Stück meiner Lebensgeschichte, von meiner Hamburger Zeit möchte ich mit Ihnen sprechen. Denn dort ist gewissermaßen die Wurzel zu suchen von allem, was später verderblich und bösartig in mir aufstrebte. Daß ich die Eltern früh verlor, als ich noch in die Hamburger Stadtschule ging, wissen Sie. Ich war der älteste von fünf damals lebenden Geschwistern, Vermögen hatten wir keinen Heller, und es galt, sobald als möglich etwas zu verdienen. Man nahm mich alsbald aus der Schule, in der ich mich nicht schlecht gehalten hatte, – namentlich war ich ein guter Rechner gewesen – und gab mich als Laufjunge, Austräger und so weiter in ein kaufmännisches Geschäft, in dem ich es sehr schwer hatte und nur wenig erwarb. Ich kam nicht weiter, der Herr weigerte sich, mich von meinem untergeordneten Posten auf einen höhern zu erheben, und so ging ich dort fort und kam als Lehrling in ein Materialwarengeschäft, in welchem sich einer der dortigen jungen Leute meiner annahm, mir Bücher lieh, mich rechnen ließ und Buchführung lehrte. Er fand Vergnügen daran, mich zu unterrichten, nannte mich einen anschlägigen Kopf, der es zu etwas bringen werde, und verhieß mir durch seine Verbindungen – es waren lauter Makler, Kleinhändler, Kaufleute – bald eine bessere Stelle, in der ich meine ‚Fähigkeiten‘ voll entwickeln könnte. Das dauerte denn aber doch ein paar Jahre, während welcher ich eifrig dem Materialwarenhandel oblag, mich aber immer mehr nach einer Comptoirstellung sehnte, die meinen Neigungen am meisten entsprach. Ich frischte in meinen Mußestunden meine halbvergessenen französischen Kenntnisse aus, ich fing an, auf eigene Faust Englisch zu treiben, und stümperte mich langsam in dieser Sprache weiter. Meine Thätigkeit wurde mir aber immer unangenehmer, je älter ich wurde, und so begrüßte ich denn mit Freuden einen Vorschlag, den mein ehemaliger Beschützer, der inzwischen längst das Geschäft verlassen, mich aber nicht aus den Augen verloren hatte, mir machte. Er kam sehr zögernd mit seinem Plan heraus, meinte, es sei kein schöner Posten, den er für mich im Sinn habe, es würde ihn gar nicht wundern, wenn ich es dort nicht aushielte – es sei eben nur, weil meine jetzige Beschäftigung mir so zuwider wäre – und so fort.

Schließlich, auf mein eifriges Zureden, erfuhr ich, daß es sich um eine Stelle bei einem alten, in der Hamburger Geschäftswelt überaus verrufenen Manne handelte, der einen Gehilfen für seinen Buchhalter und Korrespondenten suchte. Der Alte betrieb eine Art von überseeischem Handel, er hatte Antheil an verschiedenen Schiffen, betheiligte sich mit Einlagen von Geld bei mehreren Firmen, die sammt und sonders keinen sehr sauberen Namen trugen, machte auch auf eigene Hand Geschäfte im Getreidehandel, im Kaffeeumsatz und dergleichen – alles mit großem Glück. Sein Haupterwerb aber bestand darin, daß er, mit Hilfe eines abgefeimten Winkeladvokaten, armen Leuten Geld zu hohen Prozenten lieh, sich ihr ganzes Hab und Gut aneignete und die Beraubten nackt und hilflos von seiner Thür jagte, wobei er seine Sache immer so schlau anfing, daß ihn gerichtlich niemand fassen konnte. Von diesem letzteren Umstand erfuhr ich damals nichts, ich hörte nur, der alte Heßberg sei steinreich, außerordentlich geizig, nehme es mit der Reinlichkeit seines Geschäftsbetriebes nicht genau und sei überhaupt ein von allen gemiedener Sonderling. So wenig verlockend das klang, war ich dennoch fest entschlossen, die Stelle anzunehmen, denn ich wollte um jeden Preis in einen [813] neuen Wirkungskreis hinein, und es hätte sich mir, meiner lückenhaften Kenntnisse und mangelnden Verbindungen halber, sicher sobald kein anderer aufgethan. Im übrigen – ich war jung und muthig – was ging es mich an, wie mein künftiger Prinzipal unter den Leuten angesehen wurde unb welcher Art seine Ehrbegriffe waren? Für mich handelte sich’s in erster Linie darum, zu lernen, viel zu lernen, wozu ich fest entschlossen war und wozu sich mir vollauf Gelegenheit bieten würde. – Hätte ich ahnen können, was mir bevorstand – hätte ich ahnen können!“

Schönfeld ließ das Haupt sinken und starrte eine Weile stumm und finster vor sich hin.

„Im alten Theil von Hamburg,“ fuhr er nach einer langen Pause fort, "stand das schmale, baufällige Haus, in das ich meinen harmlosen Jugendsinn, meine unschuldige Welt- und Lebensauffassung hineintrug, um sie auf immer darin zu begraben und Jahre darauf statt ihrer einen bittern, wilden, unauslöschlichen Haß gegen die Besitzenden, die Kapitalisten mit mir zu nehmen. Mich hat keine innere Stimme gewarnt, ich ahnte nicht, daß ich dermaleinst als Anarchist, als Revolutionär über diese Schwelle schreiten würde!

Das alte Haus sah engbrüstig und wie von einem feuchten Schimmel überzogen aus – innen roch es nach dumpfem Moder. Als ich einzog – ich sollte ein Zimmer hier beziehen – empfing mich der Buchhalter, der gleichfalls mit seiner Familie im Hause eine Wohnung hatte. Gleich die Erscheinung dieses Mannes machte mich stutzen – er sah aus wie ein vornehmer Herr, wie ein verkappter Edelmann; seine formgewandten Manieren, seine Redeweise, alles imponirte mir, der ich bisher nichts Aehnliches in meinen Kreisen gesehen hatte, bis zur Verblüffung. Wie kam ein Mann wie dieser hierher – in diese Stellung? Ich erfuhr später, daß er einer aus Frankreich gebürtigen, ehemals hochangesehenen Emigrantenfamilie entstammte, ganz jung und hilflos seine Angehörigen verloren hatte und durch widrige Verhältnisse aller Art herabgedrückt worden war. Eine ausgeprägte Schwermuth, eine Art von unheilbarer Melancholie, die seinem ganzen Wesen gleichsam den Stempel aufdrückte, ließ mir den Mann – seinen Namen möchte ich Ihnen nicht nennen – noch anziehender erscheinen; ich kam lange Zeit gar nicht aus dem Grübeln und Erstaunen über ihn heraus, zumal er eine kaufmännische Gewandtheit, eine Sprachkenntniß und Umsicht an den Tag legte, die mich, den unerfahrenen jungen Menschen, vollständig blendete, indessen auch heute noch meine vollste Bewunderung erregen und verdienen würde.

Der Anklöpfelesel
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.


Er war sehr gütig gegen mich und führte mich gleich am ersten Tage in seine Familie ein, indem er die Hoffnung aussprach, daß ich mich dort anschließen und etwaige Freistunden des öftern im Kreise der Seinigen zubringen würde. Ich fand eine Frau, so zart und schön wie eine Blume, aber wie eine Blume, die im Entblättern, Hinwelken und Sterben begriffen ist – blond, zart, liebreizend, mit großen, unnatürlich klaren Augen, mit Farben wie ein Hauch, und einem eigenthümlich leichten, schwebenden Gang, wie ich ihn nie, weder vorher noch nachher, je gesehen habe. Sie hatte schon damals ein tödliches Leiden, um das sie wußte, das sie aber mit heroischer Tapferkeit Mann und Kindern verschwieg. Ein paar kleine blonde Wesen, zart und süß wie die Mutter, tummelten sich in den düstern, feuchtkalten Zimmern, die mir für diese Frau und diese Kinder wie eine sichere Todtengruft erschienen; dem Vater glich nur ein einziges Kind – sein ältester Sohn, der, als ich ihn zum ersten Male sah, vor einem Reißbrett stand und mit schwarzer Kreide so zauberschnell und mit so genialer Sicherheit einen Kopf aus dem Gedächtniß auf das aufgespannte Papier hinzeichnete, daß ich sprachlos vor Entzücken stehen blieb. Der hochaufgeschossene Junge war etwa siebzehnjährig, Primaner eines Gymnasiums, vielversprechend in jeder Hinsicht, aber so offenbar zum Künstler geboren, daß über seine spätere Laufbahn nicht der leiseste Zweifel aufkommen konnte. Ebenso feingebildet und begabt wie sein Vater, unterschied er sich doch in seinem Wesen auffallend von diesem; der Junge loderte geradezu vor Feuer und Leidenschaft, alles an ihm war Kraft, stürmender Thatendrang – ein prachtvolles, junges Menschenbild! Wenn ich jemals einen Menschen in meinem Leben bewundert und geliebt habe, so war es dieser! Und ich hab’ es ihm bewiesen – ja mit Stolz kann ich es sagen – ich hab’ es ihm bewiesen bis heute! –

Mindestens fünf bis sechs Jahre älter als er, war ich doch der Schüchterne, der Nehmende – er der Großmüthige, Gewährende; seine Erzählungen von seinem Schülerleben, seinen Lehrern und Freunden, seinen Plänen für die Zukunft erfüllten mich mit Begeisterung, ich hätte ihm tagelang zuhören können. Als er mir meine Schicksale abgefragt und vernommen hatte, daß ich die Schule frühzeitig, um des Broterwerbs willen, zu verlassen gezwungen gewesen sei, als er von meinen mühseligen Selbststudien hörte, erbot er sich sofort, mir Unterricht zu ertheilen in allen Fächern, in denen es mir fehlte und die ich doch nicht entbehren zu können meinte. Ich nahm dies Anerbieten voll dankbarer

[814] Rührung an, und selten wohl hat ein Lehrer mit mehr gutem Willen und jugendlichem Feuereifer sein Amt betrieben, selten ein Schüler mit solcher Begeisterung und solchem Ehrgeiz gelernt, als es in dem kleinen, kahlen Hinterzimmerchen geschah, welches ich bewohnte. Dies Zimmerchen bekam auch meines jungen Freundes und Lehrers kühne Zukunftsideen zu hören, die alle darin gipfelten, der Mutter, die er abgöttisch liebte, ein behaglicheres Los, ein Jahr im Süden und beste Pflege zu bieten – ‚es ist ja meines Vaters ewiger Kummer, daß er dies nicht kann, denn er liebt die Mutter, wenn das möglich ist, noch mehr als ich. Aber mit guten Bildern kann man natürlich hundertmal mehr verdienen als in dieser elenden Buchhalterstelle! Ist’s nicht eine Sünde und Schande, daß ein Mann mit den Fähigkeiten und Kenntnissen meines Vaters in einer so erbärmlichen Stellung aushalten muß?‘

Ja – es war eine Sünde und Schande – er hatte recht! Daß es ein eisernes, unerbittliches ‚Muß‘ war, welches den Mann zwang, für ein unglaublich geringes Gehalt Dienste zu leisten, die ein anderer zehnfach so hoch bezahlt hätte, das begriff ich schon in den ersten Tagen – welcher Art dieses ‚Muß‘ war, das erfuhr ich erst viel später!“ –

„Sie haben mir aber noch kein Wort von Ihrem eigentlichen Prinzipal gesagt!“ erinnerte hier Conventius den Redenden.

Ein Zug von Ekel und Abscheu ging über Schönfelds Züge.

„Es fällt mir schwer, von ihm zu sprechen!“ murmelte er. „Aber ich kann mir’s ja nicht ersparen; es gehört mit dazu – und wie sehr! Glauben Sie es, Herr Pfarrer, daß Gott seinen Geschöpfen seinen Stempel aufdrückt, sie böswillig und lasterhaft aussehen läßt, wenn sie es sind, und umgekehrt ihnen freundliche, gute Gesichter giebt, wenn es in ihrem Herzen ebenso aussieht?“

„Das thut nicht Gott – die Menschen selbst sorgen dafür, daß die Tugenden und Laster, die ihr Handeln bestimmen und ihr Leben lang mit ihnen gehen, ihren Ausdruck finden in ihrem Antlitz: aber auch das täuscht oft, und es gehört viel Seelenkenntniß dazu, solche Schrift jedesmal richtig zu deuten!“

„Nun – diesmal täuschte es nicht! Selten wohl hat Gottes Sonne eine so niederträchtige Physiognomie beschienen; ein kleiner kahler Schädel von abschreckender Häßlichkeit, ruhelos funkelnde, böse Augen ohne Wimpern und Brauen, die dünnen Lippen beständig in zuckender Bewegung; der Unterkiefer weit vorgeschoben, die Hände zitternd gekrümmt wie die Krallen eines gierigen Raubvogels, dazu eine hohlklingende, pfeifende Stimme und seltsam schleichende, tastende Bewegungen! Er gab vor, sehr kurzsichtig und schwerhörig zu sein, hatte aber die feinsten und schärfsten Sinne, die mir je vorgekommen sind. Zahllose Leute, denen er seine Gebrechen vorheuchelte, glaubten ihm und gingen so in die Falle, die er ihrer Einfalt stellte, indem sie sich in seiner Gegenwart gehen ließen, was er natürlich stets zu seinem Vortheil ausbeutete. In der ganzen Nachbarschaft nannte man ihn allgemein den ‚Bluthund‘ – die Kinder, die vor den Thüren spielten, liefen scheu davon und versteckten sich, sobald er auf die Straße trat, ja, ein paar katholische Frauen, die in seiner Nähe wohnten, bekreuzten sich heimlich, wenn er vorüberging. Die Leute, die geschäftlich mit ihm verkehrten, setzten sich aus den verschiedensten Arten zusammen: da war der elegante Offizier, der hochmüthig mit dem Peitschchen an seine hohen Reitstiefel schlug und mit der Mütze auf dem Kopf im Zimmer stehen blieb – da der derbe, sonnenverbrannte Matrose – die verarmte Witwe aus guter Familie – der heruntergekommene Gutsbesitzer – der stellenlose Handwerker – der verschuldete Student … alle sah man in dem nach dem kleinen, rauchgeschwärzten Hof gelegenen Comptoir verschwinden, in welchem der ‚Bluthund‘ seine ‚Privatgeschäfte‘ betrieb, während der Buchhalter und ich in dem kahlen Vorderzimmer an unsern Pulten das ‚Offizielle‘ erledigten, die Korrespondenz besorgten, Listen ausfertigten, mit Schiffsmaklern und Kapitänen Abrechnung hielten und was sonst noch zum ‚anständigen‘ Betrieb des Geschäfts gehörte. Freilich mußten auch wir tanzen, wie unser Herr und Gebieter pfiff: unnachsichtlich jede Forderung einklagen, keine Stunde über die festgesetzte Frist hinaus Geduld üben. Mahn- und Drohbriefe in den härtesten Ausdrücken abfassen, uns von der beweglichsten Bitte ungerührt abwenden – und so fort. Aber die ‚Privatgeschäfte‘ waren noch viel schlimmerer Art, es war ein Gaunersystem der allergemeinsten Sorte, aber ich ahnte nur einiges davon, denn der ‚Bluthund‘ ließ niemand in seine Karten sehen, und der Buchhalter, der vielleicht um alles wußte, sprach mit mir nie eine Silbe über seinen Prinzipal – sobald ich die Rede auf ihn brachte, verstummte er, bis er mich eines Tages geradezu ersuchte, dies Thema ihm gegenüber nicht wieder zu berühren, es sei ihm unmöglich, darauf einzugehen.

Desto mehr ging sein Sohn darauf ein. Der junge, leidenschaftliche Mensch schäumte vor Wuth und Empörung, sowie nur der Name Heßberg genannt wurde, und ich möchte darauf schwören, daß die allgemein gewordene Bezeichnung ‚der Bluthund‘ von meinem jungen Freunde stammte. Er wußte nicht, auf welche Weise sein Vater diesem Scheusal verpflichtet war, sonst hätte er es mir gewiß gesagt; er sah nur, was auch ich sah, daß der hochgebildete und begabte Mann sich rastlos von früh bis spät im Dienst dieses Schurken mühte, daß er mehr leistete als drei andere, daß ihm dafür der kärglichste Lohn zutheil ward, daß er, die Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit in Person, die nichtswürdigen Räubereien des anderen klar durchschaute, durchschauen mußte – und dennoch auf seinem jammervollen Posten ausharrte, scheinbar taub und blind für alles, was um ihn her vorging … genug, um den Sohn, der seinen Vater über alles liebte und verehrte, außer sich gerathen zu lassen. Nur die unausgesetzte Thätigkeit, seine Vorstudien zum Abiturientenexamen, seine Malerei, die Musik, für die er ebenfalls hervorragend beanlagt war, hoben den Jüngling über dieses Elend des täglichen Lebens, über die Angst um seine Mutter, deren Aussehen immer ätherischer wurde, hinweg, nur, wenn er angestrengt und eifrig arbeitete, konnte er für den Augenblick vergessen. Wenn er einmal zufällig Herrn Heßberg auf der Straße oder im Hausflur traf – was zum Glück selten geschah – konnte er es nicht über sich gewinnen, ihn auch nur zu grüßen. Die Zähne fest aufeinandergebissen, Haß und Verachtung in jedem Zuge des edlen, stolzen Gesichts, sah er starren Blicks an jenem vorbei, als sei er leere Luft. Glückselig machte es ihn, wenn er hier und da ein kleines Bildchen, eine Zeichnung verkaufen konnte; von diesem Gelde rührte er keinen Heller an, er kaufte Wein, Früchte und allerlei Leckerbissen für die Mutter, fuhr bei mildem Wetter ein Stündchen mit ihr spazieren und stellte ihr blühende Blumen ans Fenster. Fast sah es aus, als beneide der Vater den Sohn um diese kleinen Freuden, die er selbst mit all seiner harten Arbeit der geliebten Frau nicht erringen konnte, um jeden kleinen Ritterdienst überhaupt, den der junge Mensch der zarten Frau erwies. –

So ging unser Leben während einiger Jahre hin; meine Freundschaft mit Karl – so hieß der Sohn des Buchhalters – war immer wärmer und fester geworden, und mit unbeschreiblichem Kummer sah ich unserer baldigen Trennung entgegen. Er hatte sein Examen mit Auszeichnung bestanden und sollte in einem halben Jahr die Kunstakademie in München beziehen, woselbst ihm der Vater eines Schulfreundes ein billiges Unterkommen verschafft hatte und ihm einige Mittel zum weitern Studium vorschießen wollte. Daß meines Bleibens dann auch nicht länger in Hamburg sei, stand bei mir fest – ich hatte mir jetzt einige Geschäftskenntnisse angeeignet, auch meine dürftigen wissenschaftlichen Errungenschaften einigermaßen befestigt und erweitert … es ließ sich annehmen, daß ich nun ohne zu große Mühe eine bessere Stellung in einem Comptoir erlangen würde.

Inzwischen waren verschiedene Versuche gemacht worden, bei Herrn Heßberg einzubrechen und die Reichthümer des Geizhalses, die der Glaube der kleinen Leute bis ins Märchenhafte und Unermeßliche steigerte, zu rauben – bisher waren aber diese Unternehmungen jedesmal mißglückt. Bei dem ohnehin mißtrauischen, menschenfeindlichen Charakter des alten Mannes, seinem regen Bewußtsein des grimmigen Hasses, mit dem man ihn von allen Seiten verfolgte, wuchs seine Furcht, ausgeraubt und erschlagen zu werden, von Tag zu Tag. Er ließ kunstvolle Schlösser an seine Thüren, Pulte und Schränke legen, er überwachte die Leute, die dies besorgten, aufs ängstlichste, er versteckte seine Gelder, Papiere und sonstigen Werthsachen auf die ausgesuchteste Weise, gönnte sich bei Tag und Nacht keine Ruhe, schlich zu den ungewöhnlichsten Stunden wie ein Geist mit einer Kerze durch alle Räume, aß und trank kaum mehr, aus Furcht, mau wolle ihm Gift beibringen, und wagte sich nur bei hellem Sonnenlicht, wenn alle Straßen ungewöhnlich belebt waren, ins Freie. Ein geladener Revolver lag tagüber auf seinem Pult im ‚Privatzimmer‘, des Nachts auf einem Tischchen neben seinem Bett, er beargwohnte die Leute, die ihn bedienten, ihm die Nahrungsmittel [815] lieferten, aufs schlimmste, so daß bald niemand mehr bei ihm aushielt. Dabei konnte er doch wieder das Alleinsein nicht ertragen, aber nur der Buchhalter durfte um ihn sein, in jedem andern witterte er einen Spion und Aufpasser. Auch mich duldete er nur selten in seiner Nähe – ‚mein Blick gefiele ihm nicht!‘

In der That fing schon damals, geschürt durch einige junge Sozialisten, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, ein dumpfer Haß gegen solche Blutsauger in mir zu gähren an, und etwas davon mag sich zuweilen in meinen Mienen verrathen haben. Ich war überhaupt in düsterer Stimmung damals. Ich hatte die Familie des Buchhalters liebgewonnen im Lauf der Jahre – ich bedauerte und schätzte den unglücklichen Mann, der wie durch einen Fluch an einen so hassenswürdigen Peiniger gekettet war, ich liebte meinen Freund, liebte auch seine feinen blonden Geschwister, die wie kleine verkleidete Prinzchen und Prinzessinnen in dem finstern Hause umherliefen und oft in mir einen freundlichen Spielkameraden fanden, und ich verehrte aufs innigste die zarte, immer noch schöne Frau, die ohne ein Wort der Klage ihr unheilbares Leiden und den ganzen Jammer ihres haltlosen Lebens trug und mit einer Selbstlosigkeit ohnegleichen für die Ihrigen sorgte und litt. Und ich sah – deutlicher, als ihre Angehörigen es sahen – daß sie hinwelkte und dem Tode nahe kam, während vielleicht – nein, sicher! – sorgsamste Pflege und ein längerer Aufenthalt im Süden dies theure Leben noch auf einige Jahre hätten hinfristen können. Ich hörte von Bankbeamten, von Fabrikdirektoren, von Geschäftsführern, Kassirern und Korrespondenten, die beinahe fürstlich besoldet wurden, – und hier saß ein Mann bei der Arbeit, elf bis zwölf Stunden des Tages, ausgestattet mit einem glänzenden Verstand und riesiger Leistungsfähigkeit – und er verdiente kaum das tägliche Brot für sich und die Seinen, dankte Gott, wenn er seinen Kindern freie Schule auswirken konnte, und mußte sein abgöttisch geliebtes Weib langsam vor seinen Augen hinsterben sehen, weil ihm die Mittel fehlten, ihr die nöthige Pflege zu verschaffen!! –

So war Ostern hingegangen, so das Frühjahr – der Sommer nahte heran … es war um die Zeit der Sonnenwende, wie eben jetzt – und häufige Gewitter gingen nieder. Die Frau des Buchhalters war in dieser Zeit besonders matt, sie konnte sich mit aller Anstrengung kaum auf den Füßen erhalten, und es ging eine so große Veränderung in ihrem Aeußern vor, daß selbst die Kinder es merkten, um wieviel mehr der Gatte und der älteste Sohn! Dazu kam eine entsetzliche Scharlachepidemie, die damals in Hamburg zahllose Opfer hinraffte – und binnen drei Tagen starben zwei der zarten, blonden Kinder – der jüngste Knabe und das älteste Mädchen. Die Eltern und Geschwister waren kaum zu trösten in ihrem Gram, namentlich die arme Mutter war ganz zusammengebrochen und ihren Gatten ergriff eine so große Angst um sie, daß er sich nicht mit dem bisherigen Hausarzt, einem gutmüthigen, unbedeutenden Manne, begnügte, sondern eine wissenschaftliche Größe zu Rathe zog. Die hielt denn mit ihrer Meinung nicht weiter hinterm Berge, nahm den Buchhalter beiseite, sagte ihm klar und deutlich, wie die Dinge standen, stieg in ihren vor der Thür haltenden Wagen und fuhr davon. –

An einem Sonntagnachmittag war’s, und wir beide, Karl und ich, waren gerade auf dem dumpfigen, kleinen Höfchen beschäftigt, einem kleinen Kanarienvogel, der den Kindern gehört hatte und gestorben war, ein Grab zu graben, als plötzlich Karls Vater geisterbleich, mit verstörtem Blick, wie ein Wahnsinniger aus seiner Wohnung an uns vorbeistürzte und, ohne uns zu sehen, durch den niedrigen Thorweg lief, der zur Straße und von dieser aus zum Eingang von Heßbergs Wohnung führte. Diese hatte keine andere Thür sonst, aber dicht an das ‚Privatzimmer‘ des Prinzipals stieß eine kleine, einfenstrige Kammer, in welcher Kohleneimer, Besen, Bürsten und sonstige Dinge aufbewahrt wurden. Ein starkes Drahtgitter vor dem zum Hofe führenden Fenster dieses Raumes war dem Geizhals nicht mehr sicher genug erschienen und es sollte durch ein solches aus mächtigen eisernen Stangen ersetzt werden. Die Arbeiten waren durch den Sonntag unterbrochen worden und das Fenster selbst war der Hitze wegen – es stand ein drohendes Gewitter am Himmel – geöffnet. Karls Blick traf sich mit dem meinen sofort in stummem Einverständniß. In demselben Augenblick, als die Thür zu Heßbergs ‚Privatzimmer‘ mit Ungestüm geöffnet wurde, stiegen wir nach einander geräuschlos durch das nicht hoch gelegene Fenster hinein, drückten uns dicht gegen die Thür und verloren kein Wort von der ganzen Unterredung!“

Auf Schönfelds Stirn standen helle Tropfen – er zog sein Tuch, sie zu trocknen, und athmete ein paarmal zitternd auf. Conventius saß neben ihm, den Kopf in die Hand gestützt, die Blüthen des weißen Rosenstocks nickten über seinem Haupt; er hatte mit lebhafter Aufmerksamkeit zugehört, zuletzt war etwas wie eine unruhige Spannung über ihn gekommen, die er mit Macht von sich abzuschütteln bemüht war. Er mußte mehrmals tief athmen, um die Brust frei zu bekommen, aber ganz nach seinem Wunsch wollte ihm dies nicht gelingen.

„Ermüdet es Sie, Herr Pfarrer?“ fragte der Gefangene.

„Im Gegentheil, es regt mich auf – – und Sie selbst?“

„Mir wird leichter ums Herz werden, wenn ich alles gesagt habe!“

„Gut – so sagen Sie alles!“

„Der Buchhalter sprach in erregtem, lautem Ton, wie ich ihn noch nie hatte reden hören – er muß ganz außer sich gewesen sein. Wir erfuhren nun auch, wodurch ihn der ‚Bluthund‘ in seiner Gewalt hatte, es ging aus den aufgeregten Reden des Mannes nach und nach hervor. Er war mit seinem jungen Weibe und seinem damals vierjährigen Sohn nach Hamburg gekommen, mittellos und verschuldet; wie es dahin gekommen war, was er zuvor getrieben hatte, sagte er nicht. Genug, daß Heßberg seine Lage erfuhr, das Unglück des Mannes ausbeutete und ihn einen Schein unterschreiben ließ, der ihm den Armen vollständig in die Hände lieferte. Natürlich war für das Darlehen, welches Heßberg ihm bewilligte, ein hoher Prozentsatz berechnet, und der Buchhalter hätte eine wirklich große Einnahme haben müssen, um allmählich diese Schuld zu tilgen. Zugleich aber hatte er sich schriftlich verpflichten müssen, in Heßbergs Dienste zu treten von demselben Tage an, da er das Geld zur Bezahlung seiner Schulden erhielt. Diese zweite Verpflichtung wurde sein Verderben, denn sie hinderte ihn, sich eine einträglichere Stellung zu suchen, da er ausdrücklich das Zugeständniß hatte machen müssen, nicht eher seine Stellung als Buchhalter bei Heßberg aufzugeben, als bis er demselben seine Schuld sammt Zinsen auf Heller und Pfennig bezahlt habe. Die Schuldverschreibung und die Dienstverpflichtung banden den unglücklichen Mann an seinen Quälgeist mit doppelter Kette für zeitlebens fest. Es war mir zuerst vollkommen unfaßlich, wie ein Mann mit dieser Geschäftskenntniß in eine solche Falle hatte gehen, sich auf ein derartiges Uebereinkommen überhaupt hatte einlassen können. Aber später mußte ich mir sagen, daß er in Hamburg fremd, hilflos, von Noth gequält, ohne Verbindungen dastand, daß es niemand gegeben hatte, der ihn vor einer Gemeinschaft mit Heßberg warnte, und daß er doch gehofft hatte, allmählich etwas von seinen Verpflichtungen abzuwälzen, weil jene Verschreibung ausdrücklich die Bestimmung enthielt, daß sein Gehalt im Verhältniß zu seinen Leistungen im Lauf der Zeit gesteigert werden sollte. Selbstverständlich wurde es nicht gesteigert, da diese Bestimmung den Ausfertiger des Schriftstücks ja zu nichts verpflichtete, die Leistungen des Schuldners nur mit des Gläubigers Maß gemessen wurden und es lediglich in seinem Belieben lag, das klägliche Gehalt zu erhöhen. Vier Kinder kamen nach und nach hinzu, Krankheit stellte sich ein, die Sorgen mehrten sich, die Einnahme blieb unverändert dieselbe, an allmähliches Abzahlen des Darlehens war nicht zu denken, nicht einmal die Zinsen konnten gedeckt werden, und die eigentliche Schuldsumme, anstatt sich mit den Jahren zu verringern, wuchs und wuchs.

Es ging aus den aufgeregten Reden und Anklagen des unglücklichen Mannes hervor, daß er in der ersten Zeit mehrfach versucht hatte, auf seinen Peiniger einzuwirken, durch Bitten, Vorstellungen, Schilderungen der wahrlich unverschuldeten Nothlage, in die er sammt den Seinigen immer tiefer hineingerieth, Hinweise auf jene versprochene Gehaltszulage … er hätte es ebensogut versuchen können, einen Stein zu erweichen, als diesen Teufel! Er sei ja kein unmündiges Kind gewesen, als er die Scheine unterzeichnet habe, er habe wissen müssen, was er that – das Recht sei durchaus auf seiner, des Gläubigers, Seite, und er selbst zu nichts verpflichtet – er möge es doch versuchen, klagbar zu werden – er, Heßberg, sehe diesem Verfahren mit Seelenruhe entgegen – sowie aber der Schuldner Miene mache, vertragsbrüchig zu werden, eine andere Stelle zu suchen, werde er seine Ansprüche geltend machen und er gedenke ihm doppelt zu beweisen, auf wessen Seite hier das Recht sei! Das waren die Entgegnungen auf alle Bitten des Mannes. Schließlich verstummte dieser und trug sein unabwendbares Unglück [816] mit jener tiefen Schwermuth und finstern Ergebung, die ich vor Jahren schon an ihm kennengelernt hatte, bis zu diesem Tage, da ihm der fremde Arzt als einziges Hilfsmittel, das Leben seines Weibes noch eine Zeit lang hinzufristen, einen längern Aufenthalt im Süden, die sorgsamste Pflege und vollkommene Ruhe genannt hatte. Da brach der Damm der Selbstbeherrschung, der wehrlosen Duldung rettungslos durch vor der wilden Verzweiflung, die den Mann bei dem Gedanken packte, sein Lebensglück, das einzige, was ihm sein trostloses Dasein noch erträglich machte, könnte ihm genommen werden. Wie ich Ihnen schon sagte – er war außer sich, führte eine Sprache, deren ich ihn nie für fähig gehalten hätte – bat und flehte nicht, sondern forderte und drohte – forderte jenen Schuldschein und jenes Versprechen zurück, das ihn für ewige Zeiten an die Sklavenkette schmiedete, forderte diese Papiere, um sie hier, angesichts des Gläubigers, auf ewig zu vernichten, und begehrte ein Kapital dazu, das ihn instand setzte, alles das zu thun, was der Arzt gewünscht hatte.

Und dazu brach ein Gewitter los, so furchtbar, daß das alte, baufällige Haus bis in den Grund hinein erbebte. Soweit ich zurückdenke, nie habe ich ein ähnliches Unwetter erlebt wie an jenem Tag der Sonnenwende – es sind gerade heute sechzehn Jahre seitdem vergangen! Und während der Donner dröhnend über uns hinfuhr, hatte ich Mühe, mit hastig geflüsterten Worten, mit angstvollen Gebärden meinen jungen Freund zurückzuhalten, der am ganzen Körper bebte vor Wuth und während der Anklagen und Zornesausbrüche seines Vaters immer wieder auf dem Sprung stand, sich auf den Teufel zu stürzen, der sie alle ins Elend gebracht hatte. Fahlbleiche Blitze durchzuckten den kleinen, halbdunklen Raum und ließen das Jünglingsgesicht geisterhaft wie ein Todtenantlitz erscheinen; ich träume zuweilen noch von diesem Gesicht. – – Wenn dann das erschütternde Grollen über unsern Häuptern nachließ, hörten wir wieder nebenbei den leidenschaftlichen Ansturm auf Recht, Pflicht, Gewissen – lauter Begriffe, die der Mann, dem sie entgegengeschleudert wurden, gar nicht kannte, die er von sich wies mit seiner hohlen, dünnen, pfeifenden Fistelstimme. Er den Schuldschein hergeben, der hier, in eben diesem Pult, an dem er sitze – er schlug hart mit der Hand auf das Holz – wohlverwahrt liege? Daß er ein Narr wäre! Das hieße denn doch, sein Geld einfach auf die Straße werfen, dazu habe er keine Lust! Und noch Geld obendrein geben? Wofür denn? Für die Schreiberdienste, die ihm der Monsieur mit dem vornehmen, französischen Namen geleistet? Möge er doch das Gesetz anrufen zur Entscheidung – er selbst wisse freilich genau, wie diese ausfallen müsse, aber man könne es ja probiren! Wozu habe man eine kranke Frau und eine Menge hungeriger Kinder, wenn man sie nicht ernähren könne? Er, der Gläubiger, sei noch gütig und geduldig genug gewesen – er brauche nur seine Schuldforderung einzuklagen, und die gesammte Bettelgesellschaft fliege auf die Straße. –

Hier folgte ein dumpfer Wuthschrei des Buchhalters, wahrscheinlich von einer drohenden Gebärde begleitet, denn wir hörten deutlich die angstheisere Stimme Heßbergs: ‚Hinaus – hinaus mit Ihnen, auf der Stelle – oder ich schieße Sie nieder!‘ Eine Thür flog schmetternd ins Schloß – – – – – – – – Dann – – – –

Wie es sich in der Reihenfolge begab, weiß ich noch heute nicht – nur daß Karl sich plötzlich wie ein Rasender von meinen haltenden Händen losmachte, mich zurückstieß wie einen Spielball und in das Nebenzimmer stürzte. Zugleich brach der Donner über uns mit einer Gewalt los, daß ich meinte, es stürze alles über uns zusammen – kein anderes Geräusch konnte dagegen aufkommen – und als ich, halbgelähmt vor Entsetzen, die Thür des Nebenzimmers öffnete, sah ich in der Nähe des Fensters ein kleines, blaues Rauchwölkchen sich zertheilen, und Heßberg lag entseelt am Boden, während Karl mit dem im Schloß steckenden Schlüssel das Pult öffnete und, anscheinend ganz kaltblütig, nach dem Schuldschein suchte. – – Als er mich gewahrte, als unsere entsetzten Blicke sich trafen, sagte er nur mit tonloser Stimme: ‚Du wirst mich nie verrathen!‘ und ich erwiderte ein ebenso tonloses: ‚Nein!‘

Wir suchten dann gemeinsam den Schuldschein und jene unselige Verschreibung, fanden sie, ließen alles übrige stehen und liegen, wie es stand und lag, und verließen, unter einem neuen Ausbruch des Gewitters, das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Allein am Weihnachtsabend.

Ganz allein! Denn der gelangweilte Kellner an der Thür dort zählt so wenig als die Bierkrüge auf dem Tisch, die heute umsonst der braven Familienväter harren. Keiner läßt sich blicken, und Herr Amtsrichter Streber, der „schöne Streber“, wie man vor zehn Jahren sagte, sitzt allein vor der Extraflasche, die ihm den Weihnachtsabend erheitern sollte, aber er sieht ganz und gar nicht heiter aus. Verdammte Gefühlsduselei! ’S ist ein Abend wie ein anderer auch, warum geht man nicht heim, setzt sich an den Schreibtisch und erledigt bei einer guten Cigarre seine Akten, wie dreihundertvierundsechzig Mal im Jahre? Ja – warum?! …

… Der einsame Mann stützt den Kopf in die Hand, seine Gedanken fliegen rückwärts. Nicht bis zur Zeit, wo er selber als glückliches Kind unter dem Christbaum jubelte, nein, nur bis zum ersten Weihnachtsabend, den er, der damals neu aufgegangene Stern, hier im Städtchen feierte. Damals kämpften die Familien um seine vielversprechende Person, und mit einem gehörigen Selbstgefühl war er bei den glücklichen Siegern oder vielmehr Siegerinnen eingetreten. Aber gleich jener lustigen Weihnachtsbowle zwischen Luisens, Paulinchens und Berthas hübschen Augen weitere Folgen geben?! … Keine Spur! Der schöne Streber kannte seinen Werth und es fiel ihm nicht ein, so aus dummer Verliebtheit zu heirathen wie verschiedene seiner guten Freunde, die nun zwischen Sorgen und kleinen Kindern saßen. Nein – er war ein Lebenskünstler, er wußte, daß die Leute sich ihre elenden Schicksale alle selbst zurechtmachen, er wollte das seinige gestalten, daß es eine Art hatte!

Reich mußte Sie sein, unbedingt! Aber auch noch schön, liebenswürdig und häuslich. Er wollte beneidet werden um seine Wahl, Carrière machen und nebenbei das elegante Leben führen, welches er seiner Persönlichkeit allein für angemessen erachtete. So lautete sein Programm.

Und die Ausführung ? … Ja, die hatte doch manche Haken, es gab überall ein Aber! Verliebt waren die sämmtlichen Mädels ja bald, diese Vorbedingung zur Wahl kostete den schönen Streber keine Anstrengung, er hätte nur zu wollen brauchen … Da war zum Beispiel Lina, die Fabrikantentochter mit dem blassen gedunsenen Gesicht und den wässerigen Augen. Die Mutter fast unmöglich, der Vater Winkler geradezu grotesk. Aber seine plumpen Schaufelhände hatten Millionen zusammengescharrt, und man konnte sie bekommen, wenn man sich überwand, die Tochter zu heirathen. Wenn man sich überwand – ja! …

Da war ferner die einzige, die sein Herz lebhaft schlagen machte, die schöne, temperamentvolle und hinreißend lebenslustige Ottilie, der Mittelpunkt aller Gesellschaften. Sie sang und tanzte entzückend, sie war dabei auch noch häuslich und stets fröhlicher Laune. Aber sie hatte einen Hauptfehler – sie war arm! Also ein Unsinn, an „so etwas“ zu denken! Er dachte auch nicht daran, er gestattete seinem Herzen nur einstweilen das süße Geplänkel von Blicken und halben Worten, das so angenehm innerlich erwärmt und alles oder nichts bedeuten kann, je nachdem man’s nimmt.

Er sieht wieder deutlich das Gesellschaftszimmer, wo man am Sonntag vor Weihnachten zu Spiel und Musik versammelt war. Die Herzenstemperatur hatte bei ihm einen bedenklich hohen Grad erreicht, auch Ottiliens Augen strahlten in verheißungsvollem Glanze …

„Du meine Seele, du mein Herz –“

sang er mit seiner weichen Tenorstimme, einzig an sie gerichtet, und jubelnd erklang es bald darauf von ihren Lippen:

„Er ist gekommen in Sturm und Regen –“

… Dann ein langer glühender Handkuß, ein Lispeln: „Fräulein Ottilie, ich danke Ihnen!“ – und ein Blick, unter dem das Mädchen glückselig erschauerte.

Am nächsten Morgen kam Streber – nicht. Ottilie wanderte rastlos von einem Fenster ans andere – umsonst. Aber plötzlich fiel ihr ein: Donnerstag war ja Bescherabend, und neulich hatte er angefragt, ob ein später Gast wohl zurückgewiesen würde, wenn er anklopfe? Gewiß, er wollte dann kommen und sich selbst, ihr Lebensglück, als Bescherung bringen!

Ottilie flog jetzt wie auf Federn durchs Haus; ihr lebhafter Sinn malte ihr den Weihnachtsabend bis aufs Kleinste aus, sie war glückselig! –

Auch er beschäftigte sich mit dem gleichen Gedankengemälde, als er vor dem Spiegel bedachtsam die helle Binde und den schwarzen Tuchrock anlegte. Er sah das bescheidene Zimmer, die überraschte Miene der Majorswitwe bei seiner Erklärung, den Jubel Ottiliens. Fünf volle Minuten gestattete er sich den Wonnetraum, das glühende junge Geschöpf in den Armen zu halten und ihre süßen Lippen zu küssen … Dann

[817]

Allein am Weihnachtsabend.
Nach einer Zeichnung von Willy Stöwer.

[818] ergriff er seinen Hut und ging zu Fabrikant Winkler. – Ein kluger Mann hat stets mehrere Eisen im Feuer, und die Entscheidung stand ja schließlich immer bei ihm!

Da – vor Neujahr noch erhielt er ein großes weißes Couvert und entnahm demselben – die Verlobungsanzeige Ottiliens mit einem jungen Kaufmann. Teufel – das hatte er nicht gedacht! … Welche Gemeinheit! … Das war ja eine ganz raffinirte Kokette, die erst mit seinem Herzen spielte und dann – –

Der schöne Streber lief wüthend im Zimmer auf und ab, es dauerte lange, bis er seiner Empörung Herr wurde und zu dem Entschluß kam, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die kleine Fabrikanten-Lina verlangte es nicht besser … Wenn er gleich hinginge?! …

Aber da sah er im Geiste wieder mit demselben kalten Abscheu wie am Weihnachtsabend die plumpen Hände und Füße des Parvenukindes, die steifen Haare von einem unmöglichen Zwiebelblond, er hörte wieder ihr nichtssagendes Gerede – brrr! … Nicht um alles! … Nein, nur in der ersten Wuth keine Dummheiten machen! Er hatte ja Zeit, er konne wählen!

Und er wählte so lange, bis die Mütter anfingen, kalte Gesichter zu machen, und die Töchter in ihren Kränzchen ihn mit dem Namen eines „bloßen Courmachers“ brandmarkten. Noch zwei Jahre, und er erlebte es, nicht mehr ernsthaft genommen zu werden.

Dann – dann kam die Geschichte mit der schönen Frau von M. ., das dumme Geschwätz der Leute und der Bruch mit dem eifersüchtigen Ehemann. Und als er dann, um den verdammten Klatschereien ein Ende zu machen, sich entschloß, in einer der ersten Familien wirklich als Freier anzuklopfen, da bekam der schöne Streber einen Korb – auch an einem Weihnachtsabend – und dieser Korb blieb nicht verschwiegen! …

Ja, es sind keine erfreulichen Bilder, die aus dem Glase emportauchen! Längst ist der Amtsrichter das geworden, was man einen eingefleischten Junggesellen nennt. Es muß ja nicht geheirathet sein, Gott bewahre! Man lebt eigentlich bequemer so …

Aber am Weihnachtsabend, wenn überall die Lichter flimmern und andere Männer in Weib und Kind nicht die Summe ihrer Sorgen, sondern ihres Glückes ans Herz drücken, da wird es ihm sonderbar eng um das seinige. Erinnerungen steigen auf und der Blick wird trübe. Wenn er damals Ottilie geheirathet hätte, sie oder eine andere – wie wäre es wohl heute? …

Die geschäftigen Weihnachtsgeister haben nur auf dies Stichwort gewartet. Sie rücken den Wirthstisch zur Seite, lassen Tannengrün aufsprießen, füllen den Raum mit Weihnachtsduft, und jetzt wird es hell – dort schimmert der Baum, darunter staunen glückselig ein paar rosige Kindergesichter, das jüngste trägt die Großmama auf dem Arm, während sein eigener alter Vater vergnügt im Lehnstuhl ein Pfeifchen raucht. Er selbst aber, er hält die immer noch schöne, glückstrahlende Frau im Arm, und sie stammelt an seinem Herzen: „Lieber, liebster Mann! Wie glücklich sind wir, daß wir uns haben!“

– – – Ach, es war alles nur ein Traum! Die nüchterne Wirthslampe scheint wieder und die unglücklichen Bierkrugdeckel erglänzen in ihrem Licht. Es ist alles wie vorher. Und doch nicht ganz! Die Weihnachtsgeister haben in dem erkalteten Herzen noch ein Fünkchen unter der Asche gefunden und eifrig darauf geblasen. Nun brennt es. Der unlustige Trinker steht rasch auf, er hat einen plötzlichen Entschluß gefaßt. In seinem Hause wohnt ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren – nicht schön und nicht reich, aber gut und klug. Daß sie ihn im stillen liebt, weiß er längst, es war dies Bewußtsein für ihn eine Art von unsichtbarer Nelke im Knopfloch. Nun aber – er tritt vor den Spiegel und sieht beim Handschuhanziehen prüfend hinein.

„Ja, ja,“ flüstert ihm der kleine Weihnachtsgeist ins Ohr, „sie paßt ganz gut zu Dir, denn Du bist auch nicht mehr der Jüngste, und Du hast sie lieber, als Du weißt. Erinnerst Du Dich noch des Plätzchens im Erker, wo Du es neulich abends so gemüthlich bei ihr und ihrer Mutter fandest? Dort sitzt sie jetzt und denkt an Dich! Also eile Dich, schnell, schnell!“

Und er eilt sich und stürmt unaufhaltsam in die Dunkelheit hinaus. Denn wenn einer das Glück einfangen will, das er zehn Jahre lang umsonst vor seiner Schwelle warten ließ, da muß er große Schritte machen – es könnte im letzten Augenblick davongeflogen sein.

Die Christglocken aber tönen verheißungsvoll durch das Schneegestöber, sie geben ihm das Geleit, und ihr Ruf klingt dem sehnsuchtsvollen Manne deutlich wie:

„Nächstes Jahr – nicht mehr allein!“ R. A.




Eine Großthat der Wissenschaft.

Robert Koch und die Heilung der Lungenschwindsucht.

Acht Jahre sind es her, seit Robert Koch durch die Entdeckung des Tuberkelbacillus allgemeines Aufsehen in der medizinischen Welt erregte, und sieben Jahre sind es, seit er durch die Auffindung des Cholerabacillus der berühmteste unter den Aerzten der Gegenwart wurde. Als seinerzeit die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1884 ihren Lesern Kenntniß gab von diesen epochemachenden Erfolgen des großen Forschers, durch welche zunächst einmal die Ursachen bisher für unheilbar geltender Krankheiten festgestellt wurden, da hat sie ihrer festen Zuversicht Ausdruck gegeben, daß nunmehr auch die Frage der Heilung dieser Leiden ihrer Lösung sicher entgegengehe. Und diese Hoffnung ist nicht getäuscht worden. Ein gutes halbes Jahrzehnt eifrigster, gewissenhaftester, aber dabei auch von einem genialen Geiste gelenkter Forschung haben Robert Koch, den heute 47jährigen Mann, dahin geführt, das Mittel zu finden, welches den Tuberkelbacillus, jenen entsetzlichen, schleichenden Zerstörer des menschlichen Körpers, zu überwinden vermag, welches Hunderttausenden, ja Millionen das Leben zu retten, die Gesundheit wiederzugeben berufen ist. Ein Segen ohne gleichen wird ausgehen von dieser wissenschaftlichen Großthat, die auf solchen Ehrentitel um so mehr Anspruch hat, als sie nicht aus einem glücklichen Zufall, wie z. B. die Schutzpockenimpfung, sondern auf planmäßigster, angestrengtester Arbeit aufgebaut ist, und es will uns scheinen, als ob sie gerade damit den Stempel der deutschen Wissenschaft trüge. Da, wo es sich um das Heil der Menschheit handelt, giebt es keine Schranken der Nationen. Ehre dem Guten, es komme, woher es komme! Aber stolz können wir Deutsche doch darauf sein, daß wir diesen Mann, der so Großes vollbracht hat, den unsern nennen dürfen, daß es ein Sohn unseres Vaterlandes ist, den alle Völker als ihren Wohlthäter verehren werden. Ein Werk der Menschenliebe, so erhaben wie selten eines, geht von dem bescheidenen Manne in der Berliner Gelehrtenstube aus, und ein erlösender Lichtstrahl fluthet von dort in die Welt, die das Fest der Liebe zu begehen sich rüstet. Möge die Weihe solcher Geburtstunde fortan schweben über dem Werke Robert Kochs!

Und nun geben wir einer berufenen sachverständigen Feder das Wort, daß sie uns über das Wesen der Kochschen Entdeckung eingehender unterrichte.


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Als Robert Koch im Jahre 1882 seine Forschungen über den Krankheitserreger der Tuberkulose, der Lungenschwindsucht, veröffentlichte, in denen er den Nachweis führte, daß ein kleines Lebewesen, ein dem Pflanzenreiche angehöriger Mikroorganismus von Stäbchenform, ein Bacillus, als die Ursache der Krankheit anzusehen sei, bemächtigte sich eine tiefe Erregung der ganzen Welt, denn es waren nicht nur die wissenschaftlichen Kreise, die mit diesem neuen überraschenden Thatsache zu rechnen hatten, nein, die ganze Menschheit durchzitterte eine nur zu berechtigte Aufregung. Handelte es sich doch um eine Krankheit, die als eine der schlimmsten Geißeln Gesundheit und Leben bedrohte, auf deren Rechnung die ungeheure Zahl von 1/7 aller Todesfälle zu setzen ist! Während aber das Laienpublikum aufathmend die Kochsche Entdeckung als erster Schritt auf dem Wege zur wirksamen Bekämpfung der bis jetzt nur ganz ausnahmsweise und eigentlich mehr zufällig geheilten furchtbaren Krankheit jubelnd begrüßte, stellte sich ein großer Theil der Aerzte der neuen Auffassung zweifelnd, ja geradezu ablehnend gegenüber. Aber der stolze Schluß Kochs, „daß die Tuberkelbacillen nicht bloß eine Ursache der Tuberkulose, sondern die einzige Ursache derselben sind, und daß es ohne Tuberkelbacillen keine Tuberkulose giebt“, ging in kurzer Zeit aus allen Anfechtungen der Kritik siegreich hervor, und es konnte sich zuletzt nur darum handeln, die gewonnene Thatsache auch in Betreff der Behandlung der Lungenschwindsucht richtig zu verwerthen, ein Mittel zu finden, die kleinen verderblichen Lebewesen, die „pathogenen Mikrobien“, im Körper zu vernichten, sie wenigstens unschädlich zu machen, ihrer zerstörenden Einwirkung auf den Organismus Einhalt zu thun. Und aller Orten in der ganzen civilisirten Welt wurden denn auch zahlreiche Versuche angestellt und wieder und wieder vorgenommen, ohne jedoch zu dem gewünschten Ende zu führen. Man drang immer tiefer in die Lebensverhältnisse, die Daseinsbedingungen des Mikroorganismus ein, lernte erkennen, welche Umstände sein Wachsthum, seine Vermehrung zu fördern imstande sind, welche Luft-, Wärme- etc. Verhältnisse, welche Arzneimittel ihn im bakteriologischen Laboratorium, der Werkstatt für Untersuchungen über die Bakterien (der Gattungsname für alle derartige Pilzbildungen) zu schädigen, zu tödten vermögen – allein praktische Erfolge in Bezug auf die Heilung der Tuberkulose [819] wurden damit nicht erzielt. Sobald man nämlich ein Mittel, das sich bei den Züchtungsversuchen, den sogenannten Kulturen, als die Tuberkelbacillen im Wachsthum hemmend oder zerstörend erwiesen hatte, bei Thierversuchen in Anwendung brachte, versagte es entweder in seiner Wirkung vollständig oder tödtete mit den Mikrobien zugleich das Versuchsthier.

Auf diesem Wege war nach der überwiegenden Ansicht der Aerzte dem Parasiten der Lungenschwindsucht und damit dieser Krankheit selbst nicht beizukommen, man versuchte es daher, wenn auch einzelne Forscher auf dem einmal beschrittenen Wege weiter wandelten, mit einem andern Verfahren. Vermochte man nicht unmittelbar dem Bacillus zu Leibe zu gehen, so konnte man doch hoffen, auf mittelbarem Wege ihn erfolgreich zu bekämpfen, dem so schwer durch die schreckliche Krankheit heimgesuchten Menschengeschlechte ersprießliche Dienste zu leisten. Dies ließ sich auf zweierlei Weise bewerkstelligen, einmal durch Vorbeugemittel gegen die Weiterverbreitung der Krankheit und sodann durch Stärkung, Kräftigung des Körpers in seinem Kampfe mit dem tückischen Feinde.

Der Erreichung des ersteren Zieles widmete sich besonders Cornet, welcher durch außerordentlich scharfe und mühsame Untersuchungen nachwies, daß der Auswurf der Phthisiker, der Lungenschwindsüchtigen, einer der vornehmlichsten Ansteckungsträger sei. Nicht allein, daß er durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten in der ärztlichen und in der Laienwelt die Anschauung von der Ansteckungsfähigkeit immer mehr zur Geltung brachte, er wirkte auch für die allgemeine Einführung eines geeigneten Vorbeugungsmittels. Dies besteht darin, daß die tuberkulösen Kranken dazu angehalten werden, ihren Auswurf stets nur in mit Wasser gefüllte oder auch, nach Verlassen der Wohnung, in besonders angegebene trockene Speinäpfe abzusondern und so Fußboden und Taschentücher, an denen die bacillenhaltigen Massen trocknen und von da aus pulverisirt sich der Athemluft beimischen können, rein zu halten.

Die Stärkung des ganzen Körpers als wichtigste Grundbedingung der Schwindsuchtsheilung hatte als erster, schon lange vor der Entdeckung der Tuberkelbacillen, der bekannte Leiter der Heilanstalt Görbersdorf, Brehmer, aufs nachdrücklichste betont und zur Grundlage seines therapeutischen Verfahrens gemacht. Doch drang er, da er seine praktischen Regeln mit einer Menge von der Wissenschaft nicht anerkannter theoretischer Ansichten verwob, nicht recht durch. Erst in der neueren Zeit, unter dem Einflusse der neu gewonnenen Anschauungen, schälte man den guten brauchbaren Kern aus der deckenden theoretischen Hülle heraus und folgte den von Brehmer gegebenen Anregungen. Besonders der berühmte Berliner Kliniker Ernst Leyden trat mit dem ganzen Gewichte seines Könnens und seiner Stellung für diese Seite der Schwindsuchtsheilung ein. Er war es auch, auf dessen Anregung hin in diesem Jahre die verschiedenen Berliner medizinischen Gesellschaften sich zur Absendung von Delegirten zu einer Kommission verstanden, deren Aufgabe es sein sollte, die nöthigen Schritte zur Erbauung von Heilanstalten für weniger bemittelte Tuberkulöse in der Nähe Berlins zu thun, Heilanstalten, in denen besonders der ganze Apparat einer vernunftgemäßen Hygieine und Ernährungsweise in den Dienst der Schwindsuchtsbehandlung gestellt werden sollte (vergl. „Gartenlaube“ 1890, S. 570). Anfang dieses Sommers trat die Kommission unter dem Vorsitze Leydens zum ersten Male zusammen, und als erster Punkt wurde darüber berathen, ob überhaupt solche „Heilstätten für Tuberkulöse“ errichtet werden sollten. Nachdem wir uns fast ausnahmslos in diesem Sinne ausgesprochen hatten, erhob sich Robert Koch und erklärte seine Zustimmung zu dem ganzen Plane, konnte sich aber mit der Bezeichnung der Anstalten als „Heilstätten“ nicht befreunden. Wir seien nicht imstande, so meinte er, die Tuberkulose zu heilen; wenn auch mal ab und zu derartige Fälle zur Heilung kämen, so wären diese mehr als Zufallsheilungen anzusehen denn als gewollte Erfolge einer systematischen Therapie. Man möge nicht durch solchen Namen in den Kranken Hoffnungen erwecken, die doch nicht erfüllbar seien.

Wenige Wochen nach diesem viel besprochenen Vorfall trat in Berlin der X. internationale medizinische Kongreß zusammen. Den zweiten Vortrag in der ersten allgemeinen Sitzung am 4. August d. J. hielt Robert Koch: „Ueber die bakteriologische Forschung.“ Er gab in derselben in seiner knappen, klaren Redeweise einen geschichtlichen Ueberblick über die Entwicklung der noch jungen, kaum fünfzehn Jahre alten Wissenschaft der Bakteriologie und ging vornehmlich auf den Punkt ein, der für die Aerzte ja der wichtigste sein mußte, auf das Verhältniß der Mikroorganismen zu den Infectionskrankheiten. Zum Nachweise, daß solche Gebilde als Ursache einer Krankheit aufzufassen seien, verlangte Koch die Erfüllung folgender Bedingungen. 1. daß der Parasit in jedem einzelnen Falle der betreffenden Krankheit anzutreffen sei; 2. daß er bei keiner anderen Krankheit als zufälliger und nicht pathogener Schmarotzer vorkomme; 3. daß er, in Reinkulturen auf ein anderes Thier übergeimpft, imstande sei, von neuem die Krankheit zu erzeugen. Diesen Bedingungen werde bei einer Anzahl von Infectionskrankheiten, dem Milzbrand, der Tuberkulose, dem Erysipelas (Rose), dem Tetanus (Wundstarrkrampf) vollständig entsprochen, so daß deren parasitäre Natur nicht mehr in Frage stehe. Aber auch für eine Anzahl anderer Infectionskrankheiten, in denen nur die beiden ersten Bedingungen, diese indessen regelmäßig, ausnahmslos erfüllt würden, die Ueberimpfung dagegen noch nicht oder nur unvollkommen erreicht worden sei, müsse derselbe Zusammenhang angenommen werden. Hierher gehören besonders der Unterleibstyphus, die Diphtheritis und die asiatische Cholera. – Später auf die praktischen Erfolge der Bakteriologie übergehend, gestand Redner ein, daß wir bis jetzt noch keine unmittelbar wirkenden therapeutischen Mittel gegen die durch die Schmarotzer hervorgerufenen Krankheiten besäßen. Schon bald nach der Entdeckung der Tuberkelbacillen habe er angefangen, nach Mitteln zu suchen, die sich gegen die Tuberkulose therapeutisch verwerthen ließen, und im Laufe der Jahre eine große Anzahl von Substanzen darauf geprüft, welchen Einfluß sie auf die in Reinkulturen gezüchteten Tuberkelbacillen ausübten. Es habe sich ergeben, daß gar nicht wenige Stoffe imstande sind, schon in sehr geringer Menge das Wachsthum jener Mikrobien zu verhindern. Alle diese Substanzen blieben aber vollkommen wirkungslos, wenn sie an tuberkulösen Thieren versucht wurden. Trotz dieser Mißerfolge habe er sich von dem Suchen nach entwicklungshemmenden Mitteln nicht abschrecken lassen und habe schließlich Substanzen getroffen, welche nicht allein im Reagensglase, sondern auch im Thierkörper das Wachsthum der Tuberkelbacillen aufzuhalten vermochten. Diese Versuche, welche ihn bereits fast ein Jahr beschäftigten, seien noch nicht abgeschlossen, er könne über dieselben daher nur so viel mittheilen, daß Meerschweinchen, die bekanntlich für Tuberkulose außerordentlich empfänglich seien, wenn man sie der Wirkung einer solchen Substanz aussetze, auf eine Impfung mit tuberkulösem Gifte nicht mehr reagiren, und daß bei Meerschweinchen, welche schon in hohem Grade an allgemeiner Tuberkulose erkrankt seien, der Krankheitsprozeß vollkommen zum Stillstand gebracht werden könne, ohne daß der Körper von dem Mittel etwa anderweitig nachteilig beeinflußt würde.

Redner schließt mit folgenden Worten: „Sollten die im weiteren an diese Versuche sich knüpfenden Hoffnungen in Erfüllung gehen, und sollte es gelingen, zunächst bei einer bakteriellen Infektionskrankheit des mikroskopischen, aber bis dahin übermächtigen Feindes im menschlichen Körper selbst Herr zu werden, dann wird man auch, wie ich nicht zweifle, sehr bald bei anderen Krankheiten das gleiche erreichen. Es eröffnet sich damit ein vielverheißendes Arbeitsfeld mit Aufgaben, welche werth sind, den Gegenstand eines internationalen Wettstreites der edelsten Art zu bilden. Schon jetzt die Anregung zu diesen Versuchen nach dieser Richtung zu geben, war einzig und allein der Grund, daß ich, von meiner sonstigen Gewohnheit abweichend, über noch nicht abgeschlossene Versuche eine Mittheilung gemacht habe.“

Den Eindruck dieser Rede zu schildern, ist eine schwierige Aufgabe. Es war, als ob eine Bombe in die Versammlung eingeschlagen hätte, so erregt, ja verblüfft schauten alle Theilnehmer drein. Man hatte einen interessanten wissenschaftlichen Vortrag erwartet und stand nun auf einmal vor geheimnißvollen Eröffnungen und Andeutungen, welche Aussichten von unendlicher Tiefe und Weite eröffneten, Aussichten auf künftige Heilerfolge, wie sie die kühnsten Träume nicht hatten vorgaukeln können. Diese Rede Kochs war das Ereigniß des Tages, beherrschte die Gemüther während des ganzen Kongresses fast ausschließlich, ließ allen übrigen noch so hervorragenden Vorgängen der glänzenden Vereinigung nur ein untergeordnetes Interesse abgewinnen. Denn darüber war alle Welt sich klar, wenn ein so vorsichtiger Forscher wie Koch sich in der Weise mit einer gewissen Zuversichtlichkeit [820] aussprach, so mußte er in seinen glücklichen Ergebnissen schon weit gelangt sein. Politische wie Fachzeitungen bemächtigten sich eifrigst des Themas, und durch manche wenn auch unbestimmte Nachrichten, daß der große Forscher seine Versuche jetzt auch an Menschen anstelle, wurde die Spannung in der ganzen Welt aufs höchste gesteigert. Bald kamen nun auch mehr oder weniger authentische Berichte über Behandlung Tuberkulöser durch Koch in Krankenhäusern und Privatkliniken, dann schilderten Zeitungen aus Frankfurt a. M. die Erfolge der Therapie bei Lupus (fressender Flechte), ein Leiden, das als Hauttuberkulose aufzufassen ist und bei dem auch die specifischen Tuberkelbacillen nachgewiesen sind. Man erfuhr, daß das Verfahren darin besteht, eine kleine Menge einer bestimmten Flüssigkeit den Patienten unter die Haut zu injicieren, daß schon nach einer einzigen Einspritzung oftmals eine heilende Wirkung zu beobachten sei. Mit fieberhafter Ungeduld wartete alles auf einen darauf bezüglichen Vortrag Kochs, den er, wie behauptet wurde, in einer der nächsten Sitzungen der großen „Berliner medizinischen Gesellschaft“ zu halten gesonnen sei – da plötzlich erschien am 13. November eine Extraausgabe der „Deutschen medizinischen Wochenschrift“ und brachte als ersten Artikel: „Weitere Mittheilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose. Von Professor R. Koch, Berlin.“

Koch.
Nach einer Photographie von J. C. Schaarwächter in Berlin.

Im Eingange der Arbeit sagt der Verfasser, er habe mit seiner Veröffentlichung eigentlich bis zum vollen Abschlusse der Untersuchungen warten wollen, allein es sei trotz aller Vorsichtsmaßregeln schon so viel davon, und zwar in entstellter und übertriebener Weise in die Oeffentlichkeit gedrungen, daß ihm eine orientierende Uebersicht über den augenblicklichen Stand der Sache schon jetzt geboten erscheine. Ueber die Herkunft des Mittels könne er, da die Arbeit noch nicht abgeschlossen, hier noch keine Angaben machen, sondern behalte sich solche für eine spätere Zeit vor. Das Mittel besteht aus einer bräunlichen klaren Flüssigkeit, die zum Gebrauch mehr oder weniger verdünnt werden muß; vom Magen aus wirkt es nicht, sondern nur als Einspritzung unter die Haut; die geeignetsten Einstichstellen sind die Rückenhaut zwischen den Schulterblättern und die Lendengegend. Eigenthümlicherweise erwies sich der Mensch außerordentlich viel empfindlicher für die Wirkung des Mittels als das Meerschweinchen, mit dem bisher experimentiert worden war; schon 1/8 von der Menge, welche bei letzterem noch keine merkliche Wirkung hervorbringt, ist für den Menschen sehr stark wirkend.[1] Die untere Grenze der Wirkung des Mittels liegt für den gesunden Menschen ungefähr bei 0,01 kcm; die auf diese Dosis folgende Reaktion besteht meistens nur in leichten Gliederschmerzen und bald vorübergehender Mattigkeit, während nach größeren Gaben heftiger Schüttelfrost mit Erbrechen und hoher Körpertemperatur eintritt. Die wichtigste Eigenschaft des Mittels ist seine specifische Wirkung auf tuberkulöse Prozesse, welcher Art sie auch sein mögen. Der gesunde wie auch der nicht tuberkulöse kranke Mensch reagiert auf eine Injektion von 0,01 kcm gar nicht oder unbedeutend, bei Tuberkulösen dagegen tritt auf dieselbe Dosis sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche Reaktion ein. Die allgemeine Reaktion besteht in einem Fieberanfall, welcher, meistens mit Schüttelfrost beginnend, die Körpertemperatur über 39°, oft bis 40 und selbst 41° steigert; daneben bestehen Gliederschmerzen, Hustenreiz, große Mattigkeit, öfters Uebelkeit und Erbrechen. Der Anfall, von dem die Kranken auffallend wenig angegriffen werden, beginnt in der Regel 4–5 Stunden nach der Injektion und dauert 12–15 Stunden.

Die örtliche Reaktion kann am besten an solchen Kranken beobachtet werden, deren tuberkulöses Leiden sichtbar zu Tage liegt, wie z. B. bei den an fressender Flechte (Lupus) Leidenden. Einige Stunden nach der Injektion beginnt eine Schwellung und Röthung der lupösen Stellen, die allmählich einen ganz bedeutenden Grad erreichen, sodaß das kranke Gewebe stellenweise abstirbt. Nach 2–3 Tagen ist die Schwellung in der Regel verschwunden, die Lupusherde selbst haben sich mit Krusten von aussickernder und an der Luft vertrockneter Flüssigkeit bedeckt, sie verwandeln sich in Borken, welche nach 2–3 Wochen abfallen und mitunter schon nach einmaliger Injektion des Mittels eine glatte rothe Narbe hinterlassen. Gewöhnlich bedarf es aber zur völligen Heilung mehrerer Einspritzungen. Die angegebenen Veränderungen beschränken sich durchaus auf die lupös erkrankten Hautstellen, die gesunde Haut wird nicht afficiert.

Die geschilderten Reaktionserscheinungen sind, wenn irgend ein tuberkulöser Prozeß im Körper vorhanden war, auf die Dosis von 0,01 kcm in den bisherigen Versuchen ausnahmslos eingetreten, sodaß das Mittel in Zukunft ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erkennung der Krankheit bilden wird. Man wird damit imstande sein, zweifelhafte Fälle von beginnender Schwindsucht selbst dann noch zu erkennen, wenn es nicht gelingt, durch irgend welche andere Untersuchungen eine sichere Auskunft über die Natur des Leidens zu erhalten.

Die wichtigste Bedeutung des Mittels aber ist seine Heilwirkung. Nach der subcutanen Injection wird das Lupusgewebe, wie [821] wir oben beschrieben, mehr oder weniger zerstört und verschwindet. In welcher Weise dieser Vorgang sich vollzieht, läßt sich augenblicklich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, nur so viel steht fest, daß es sich nicht um eine Abtödtung der im Gewebe befindlichen Tuberkelbacillen handelt, sondern daß nur das Gewebe, welches die Bacillen einschließt, von der Wirkung des Mittels getroffen wird. Zur richtigen Ausnutzung der Heilwirkung des Mittels muß also zunächst das noch lebende tuberkulöse Gewebe zum Absterben gebracht und dann alles aufgeboten werden, um das todte sobald als möglich, z. B. durch chirurgische Nachhilfe, zu entfernen. Da aber, wo dies nicht möglich ist und nur durch Selbsthilfe des Organismus die Aussonderung langsam vor sich gehen kann, muß zugleich durch fortgesetzte Anwendung des Mittels das gefährdete lebende Gewebe vor dem Einwandern der etwa noch vorhandenen lebenden Parasiten geschützt werden. Da das Mittel nur auf das tuberkulöse lebende Gewebe einwirkt, so kann es in sehr schnell gesteigerten, in etwa drei Wochen auf das fünfhundertfache der Anfangsgabe getriebenen Dosen gegeben werden, denn nach jeder Injection verringert sich ja die Menge des reaktionsfähigen Gewebes. Ist der Tuberkulöse soweit gebracht, daß er nur noch ebensowenig reagirt wie ein Nichttuberkulöser, so kann er wohl als geheilt betrachtet werden.

Die Erfolge, die erzielt worden sind, erstrecken sich für Lupus-Kranke dahin, daß bei zwei Kranken durch drei beziehentlich vier Injectionen die lupösen Stellen zur glatten Vernarbung gebracht, die übrigen derartigen Patienten der Dauer der Behandlung entsprechend gebessert sind. Alle diese Kranken haben ihr Leiden schon viele Jahre getragen und sind vorher in der verschiedensten Weise erfolglos behandelt worden. Das Gleiche gilt für Drüsen-, Knochen- und Gelenktuberkulose.

Etwas anders gestalteten sich die Verhältnisse bei der Hauptmasse der Kranken, bei den Schwindsüchtigen. Kranke mit ausgesprochener Lungentuberkulose sind nämlich gegen das Mittel weit empfindlicher als die mit chirurgischen tuberkulösen Leiden behafteten. Die Anfangsdosis mußte daher auf 0,002 und selbst 0,001 kcm herabgesetzt, dann aber bald wieder erhöht werden. Als Wirkung des Mittels zeigte sich anfangs gewöhnlich eine mäßige Zunahme von Husten und Auswurf, die dann aber allmählich geringer wurden, um in den günstigsten Fällen schließlich ganz zu verschwinden; auch verlor der Auswurf seine eitrige Beschaffenheit, er wurde schleimig. Die Zahl der Bacillen nahm gewöhnlich erst dann ab, wenn der Auswurf schleimiges Aussehen bekommen hatte, und verschwanden schließlich mit dem Auswurfe vollständig. Gleichzeitig hörten die Nachtschweiße auf, das Aussehen besserte sich, und die Kranken nahmen an Gewicht zu. Die im Anfangsstadium der Phthisis behandelten Kranken sind sämmtlich im Laufe von vier bis sechs Wochen von allen Krankheitssymptomen befreit, so daß man sie als geheilt ansehen konnte; Schwerkranke wurden gebessert. „Nach diesen Erfahrungen möchte ich annehmen, daß beginnende Phthisis durch das Mittel mit Sicherheit zu heilen ist. Theilweise mag dies auch noch für die nicht zu weit vorgeschrittenen Fälle gelten.“ Befindet sich aber die Krankheit schon in einem späten Stadium, sind erst nicht mehr zu beseitigende krankhafte Folge-Veränderungen in anderen wichtigen Organen eingetreten, dann ist natürlich auf Herstellung nicht mehr zu rechnen, wenn auch hier noch vorübergehende Besserung wohl meistens zu erreichen ist. Der Schwerpunkt des Heilverfahrens liegt daher in der möglichst frühzeitigen Anwendung, und um dies zu erreichen, ist eine höchst sorgfältige Untersuchung verdächtiger Kranker, besonders auf Tuberkelbacillen, dringendes Erforderniß. –

Dies der wesentliche Inhalt der epochemachenden Veröffentlichung unseres großen Forschers. Wir stehen hier vor einer Thatsache, deren Tragweite in medizinischer und socialer Beziehung noch gar nicht zu ermessen ist. Ich sage Thatsache, denn den positiven Angaben eines Mannes wie Koch gegenüber, der die Technik des Experimentirens aufs feinste ausgebildet hat, der mit der peinlichsten Selbstkritik bei seinen Forschungen zu Werke geht, der nur mit größter Vorsicht Resultate als gegeben erachtet und nur mit Ueberwindung mit diesen Resultaten vor die Oeffentlichkeit tritt – den positiven Angaben eines solchen Mannes, sage ich, läßt sich meiner Ueberzeugung nach ein berechtigter Zweifel nicht entgegenstellen. Nicht viele Jahre werden vergehen und wir werden die Tuberkulose nur noch in älteren Büchern beschrieben finden – die Krankheit selbst besteht nicht mehr, mordet nicht mehr die Blüthe der Jugend dahin, bringt nicht mehr unsäglichen Jammer und Elend in Palast und Hütte. Ein neues kräftiges Geschlecht wird erblühen, unbehelligt von dem tückischen Tuberkelbacillus. – Allein damit ist’s nicht geschehen, eine viel weitere, umfassendere Perspektive eröffnet sich uns. Wenn gegen den Mikroorganismus der Lungenschwindsucht das wirksame, heilkräftige Mittel gefunden ist, da kann es ja nur eine Frage der Zeit sein, auch gegen die Parasiten der anderen akuten Infectionskrankheiten, wie Diphtherie und Typhus, oder gegen chronische Infectionskrankheiten, wie z. B. den Krebs, die geeignete Injectionsmasse zu entdecken. Hat doch Koch selbst in seinem Vortrage auf dem internationalen medizinischen Kongresse solche Aussichten angedeutet.

Die Folgen der Kochschen Entdeckung auszudenken sind wir, wie gesagt, nicht imstande, aber das vermögen wir und das ist unsere Pflicht, unsere höchste Bewunderung dem genialen Manne auszudrücken, der, ein wahrhaft großer Mann, wohl der größten einer, die je gelebt, als Wohlthäter der ganzen Menschheit geliebt und verehrt werden muß. Dr. Max Salomon.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Großes Reinmachen.

Humoreske von Hans Arnold.
(Schluß.)

Sie sollte ein Trinkgeld annehmen – unmöglich!

Mit sorgenvollem Kopfschütteln verließ die Mutter das Zimmer und überließ es der kleinen Wirthschaftlichen, ihren verantwortliche Aufgabe nach besten Kräften zu erfüllen.

Das Backfischchen, glückselig, ohne Beaufsichtigung zu sein und alles nach Gutdünken angreifen zu können, begann denn auch mit Feuereifer sein Werk und stand bald vor einem großen Kübel mit heißem Wasser, in dem es die Staubspuren von den Porzellankrügen abspülte.

Ihre Gedanken – wie junge Gedanken nun einmal sind, bei denen eben das erste Fluggefieder sich zu regen beginnt – blieben nicht ganz streng bei der Sache! Sie flogen über die Stube, über das Haus hinaus in die blaue Luft, auf die Schlittschuhbahn – in die Tanzstunde – und schließlich in das nächste Jahr hinein – auf den ersten Ball!

Die Zukunft lag vor ihr wie der Wintertag da draußen – klar, heiter, funkelnd und flimmernd – in ungetrübter Schönheit, da es in Luftschlössern bekanntlich keinen Schatten giebt! Daß in etwas unbestimmter, aber ganz herrlicher Gestalt auch ein Märchenprinz in diesem Luftschloß wohnte, wird uns wohl jede Leserin glauben – auch wenn sie nicht mehr fünfzehn Jahre alt ist – und am Ende auch mancher Leser!

Unter den Erscheinungen der Wirklichkeit hatte bisher keiner auch noch so entfernt vermocht, an Liesbeths erträumten Helden heranzureichen, der gewissermaßen als ein Extrakt sämmtlicher gelesenen Schriften „für die reifere Jugend“ und etlicher verstohlen genossener harmloser Liebesgeschichten sich darstellte und je nach der zuletzt gelesenen als ein in allem Sport bewanderter, strahlender, formgewandter Salonheld – oder auch als düsterer, unheimlicher Rinaldo mit einer unbegreiflichen Grobheit gegen alle Damen sich die Herzen eroberte.

[822] In solche Gedanken vertieft, arbeitete Liesbeth schweigsam und eifrig weiter.

Die Thür des Zimmers, welches der Haustreppe und dem Flur gegenüber lag, war nur angelehnt, und die Flurthür ebenfalls nicht geschlossen, da alle Augenblicke jemand hinaus oder herein lief.

So konnte es geschehen, daß ein junger Offizier, der eben die Treppe heraufstieg, alle Eingänge zur Wohnung gastfreundlich offen fand und, nachdem sein Klingeln nicht beantwortet worden war, nach Soldatenart zum entschiedenen Angriff auf die Festung überging, in den Flur trat und die nächste Thür sachte aufmachte.

Liesbeth stand, mit dem Rücken gegen ihn gewendet, auf einer kleinen Steigeleiter und hob eben mit übermächtiger Anstrengung und einigem Seufzen einen schweren Krug mit beiden Armen empor, um ihn auf das Sims über der Thür zum Nebenzimmer zu setzen.

Der junge Mann sah einen Augenblick mit belustigter Miene auf die zierliche Mädchengestalt, die sich auf die Zehenspitzen hob und vergeblich versuchte, die Höhe der Thür zu erreichen. Dann trat er mit einem freundlichen „Lassen Sie mich das mal machen!“ neben die Leiter, und während Liesbeth vor Schreck, Ueberraschung und Erstaunen wortlos mit einem flinken Satz auf den Boden sprang, nahm er ihr den Krug aus den Händen und stellte ihn an seinen Platz.

Sie stand schweigend, dunkel erröthet, mit gesenkten Augen vor ihm – wie sie es machte, daß sie ihn trotzdem genau sah, das mußte sie am besten wissen!

„So!“ sagte er gemüthlich und sah mit lächelndem Wohlgefallen auf das reizende Gesicht unter dem bunten Tuch, „nun habe ich Ihnen einen Gefallen gethan – thun Sie mir auch einen Gefallen – melden Sie mich einmal beim Herrn Oberstlieutenant!“

Er hielt ihr seine Visitenkarte hin.

In Liesbeth empörte sich bei dieser etwas nachlässigen Anrede jeder Blutstropfen – sie warf den kleinen Kopf hochmüthig zurück und hätte beinah eine mehr wie kurze Antwort gegeben, als ihr wie ein Blitz der Gedanke durch den Sinn flog: „Er hält dich für das Stubenmädchen!“ und im selben Augenblick war ihr Entschluß gefaßt.

Sie wollte diesem strahlenden, hübschen, blonden Helden, der im ersten Augenblick alle Gebilde ihrer Phantasie in das Schattenreich geworfen und deren Stelle eingenommen hatte, nicht in ihrer wahren Gestalt erscheinen – sie hätte sich ja in ihrem Zofenkostüm zu Tode schämen müssen! – nein, sie wollte jetzt Aschenbrödel bleiben und bei der ersten Gelegenheit, wo der junge Offizier wieder käme, als strahlende Prinzessin erscheinen – vorausgesetzt, daß sie ausnahmsweise bis zehn Uhr aufbleiben durfte!

In diesem Entschluß nahm sie mit gesetzter Miene die Karte in Empfang und sagte mit großer Ruhe: „Der Herr Oberstlieutenant wird sehr bedauern – er ist ausgegangen!“

„Ach so – und hier ist der Reinmacheteufel los, wie ich sehe!“ bemerkte der Lieutenant lachend, „da komm’ ich wohl recht ungelegen?“

„Ich glaube,“ stotterte Liesbeth, „ich glaube – die Herrschaften erwarteten Sie heut noch nicht – wenn Sie vielleicht morgen –“

„Nein,“ sagte der junge Mann kurz, sah vor sich nieder und drehte verdrießlich an seinem Schnurrbart, „ich reise heut nachmittag wieder ab.“

Ein Wehegefühl zerfleischte das Herz des Backfischchens – ade, du schöner Traum!

„Und ich hätte die Herrschaften so gern gesprochen,“ fuhr der Gast ärgerlich fort, „ich hatte außer einer Visite noch eine Bitte an die Damen – es ist ja wohl eine Tochter hier, nicht wahr? – ein halbwüchsiges Schulmädel, wenn ich recht berichtet bin.“

Liesbeth hätte den Gegenstand ihrer Schwärmerei in diesem Augenblick mit kaltem Blut ermorden können!

„O nein!“ erwiderte sie mit blitzenden Augen, „das Fräulein ist erwachsen – sie geht nicht mehr in die Schule, sondern nimmt nur noch einzelne Stunden.“

„So?“ frug der Lieutenant verwundert, „ich dachte doch, sie wäre erst fünfzehn Jahre – meine Schwester sagte mir so.“

Liesbeth schwieg vernichtet angesichts dieser beschämenden Wahrheit.

„Nun einerlei,“ setzte der Sprecher hinzu und warf erst jetzt wieder einen Blick in das Gesicht seines Gegenübers, der seine Züge wieder erhellte, „älter wie fünfzehn Jahre sind Sie wohl übrigens auch noch nicht, mein Kind?“

„Doch!“ stieß Liesbeth mit Nachdruck hervor, ihr Gewissen durch die Thatsache beschwichtigend, daß sie fünfzehn und ein halbes sei! –

„Na, mehr wie sechzehn sind Sie gewiß nicht,“ fuhr der junge Offizier fort, „in jedem Fall sind Sie noch sehr jung, um sich schon unter fremden Leuten Ihr Brot zu verdienen!“ setzte er mit weichem Ton und einem mitleidigen Blick hinzu.

Liesbeth erwiderte nichts und wendete sich ab.

„Er ist himmlisch!“ dachte sie für sich, „wenn er bloß noch nicht wegginge!“

„Hören Sie einmal,“ begann der Fremde nach einer Weile wieder, „wie heißen Sie übrigens?“

In Liesbeths Kopf jagte sich in fliegender Eile eine Menge herrlicher Namen, die sie sich immer gewünscht hatte – aber dann schienen sie ihr wieder für ein Stubenmädchen zu schön und zu unwahrscheinlich – so sagte sie gar nichts!

„Nun?“ frug der blonde Held und bückte sich lächelnd, um ihr ins Gesicht zu sehen, „ist das ein Geheimniß?“

„Nein,“ sagte sie mit raschem Entschluß, „ich heiße – Christel!“

„Also – Christel,“ fuhr er fort, „ich habe die höchste Eile – könnten Sie mir einen Auftrag besorgen?“

„Sehr gern!“ erwiderte sie halblaut.

„Das ist nett von Ihnen!“ sagte der junge Mann vergnügt; „es handelt sich um ein Weihnachtsgeschenk für meine Schwester.“

„Ja?“

„Dieses Wurm ist nämlich ebenso alt wie das Backfischchen hier und wird wohl auch dieselbe Handschuhnummer haben. Nun giebt es hier solche Spezialität von Handschuhkasten mit Handschuhen, die Ihr kleines Fräulein voriges Jahr für meine Schwester besorgt hat; sie wird sich ja wohl noch erinnern.“

„Ja, ich weiß,“ sagte Liesbeth eifrig.

„Nun, und dieselben soll ich dies Jahr zu Weihnachten beschaffen; würden Sie mir das etwa besorgen, da ich doch Ihr kleines Fräulein nicht sprechen kann? Sechs Paar Handschuhe in verschiedenen Farben – zeigen Sie mal! Ihre Hand wird wohl auch das Kaliber haben!“

Liesbeth steckte entschlossen die beiden kleinen Hände, die sie fraglos verrathen hätten, unter die Schürze.

„Meine Hände sind zu abgearbeitet,“ sagte sie kurz, „die zeige ich nicht!“

Wieder traf sie der mitleidige Blick, der vorhin schon solches Unheil angerichtet hatte – der junge Mann sah ernsthaft aus.

„Also, meine liebe Christel,“ fuhr er nach einer kleinen Pause fort, besorgen Sie mir solch’ einen netten Kasten mit sechs Paar Handschuhen – Ihr kleines Fräulein sucht ihn gewiß aus, wenn Sie sie recht schön darum bitten – und lassen Sie das Packet an diese Adresse hier abschicken!“

Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, kritzelte ein paar Worte darauf und gab es ihr.

„Und hier haben Sie zwanzig Mark, die können Sie dafür verputzen – und hier – für Ihre Mühe!“

Er hielt ihr ein Goldstück und eine einzelne Mark hin. In Liesbeths Kopf wirbelte es aufs entsetzlichste durcheinander. Sie sollte ein Trinkgeld annehmen – unmöglich! Und that sie es nicht, so verrieth sie ihr Inkognito!

Sie nahm mit spitzen Fingern das Goldstück und ließ die Mark unberührt.

„Bitte!“ stammelte sie erglühend.

„Na, ohne Umstände!“ sagte der Lieutenant gutmüthig und schob ihr, deren Widerstand er für falsche Bescheidenheit hielt, das Geldstück mit sanfter Gewalt in die Hand, „und nun, Christel, sagen Sie den Herrschaften meine Empfehlung! Hoffentlich treffe ich sie zu Haus, wenn ich übers Jahr wieder hier durch komme! Adieu, Christel – ich hoffe, es geht Ihnen immer gut und Sie bekommen mal einen guten Mann!“

„Ich danke!“ brachte Liesbeth mühsam hervor.

„Und hier – geben Sie meine Karten ab,“ setzte er noch eilig hinzu, nickte freundlich und klirrte zur Thür hinaus – und Liesbeth stand mit dem Gelde und dem Zettel in der Hand da und sah ihm nach wie verzaubert.

Was hatte ihr dieser so nüchtern anfangende Tag doch für ein herrliches Abenteuer gebracht! Davon konnte man ja ein ganzes Leben lang zehren!

Wie freundlich, wie sicher, wie gutmüthig und wie hübsch [823] war dieser junge Kriegsgott! Und wie schade – wie jammerschade, daß er nicht mehr wiederkam – bis übers Jahr!

Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und vergaß ihre Arbeit, ihre Pflicht, das Durcheinander der Stube – kurz alles, was wirklich und greifbar um sie her war! Dann nahm sie die Visitenkarten vor. „Kurt Binder“ las sie halblaut, „Kurt – wie aus einer Geschichte!“

Eine von den Karten konnte sie gewiß aus der Schale stibitzen! Und die Mark! das war ja ein herrliches Andenken!

Sie ergriff den kleinen Lederlappen, den sie zum Blankreiben des silbernen Theekessels mitgenommen hatte, und begann aus Leibeskräften die Mark zu putzen, so eifrig, daß sie den Schritt der Mutter überhörte, die eilig herein kam.

„Aber Liesbeth!“ rief die Hausfrau schon in der Thür, „das ist alles, was Du geleistet hast? Ich denke, Du bist halb fertig! Natürlich!

Liesheth sah beschämt zu Boden.

„Und was machst Du denn jetzt?“ fuhr die Mutter strafend fort.

„Ich putze!“ sagte Liesbeth verlegen.

„Das sind ja Dummheiten!“ rief die Mutter ärgerlich. „Du bist doch wirklich noch zu gar nichts zu gebrauchen! So ein großes Mädchen!“

Liesbeth flog ihrer Mutter ungestüm um den Hals.

„Ach Mama – schilt nicht! ich kann nichts dafür! Denke Dir, der Lieutenant Binder war hier und läßt Euch schon grüßen!“

„Und Du hast ihn hier angenommen?“ frug die Mutter, starr vor Entsetzen, „in diesem Aufzug?“

„Er kam ja unangemeldet herein!“ rief Liesbeth mit so aufgeregter Stimme, daß die Mutter ihre Tochter ganz verwundert ansah, „und ich habe Stubenmädchen gespielt, und er denkt, ich heiße Christel – –“ schloß sie und tanzte wie toll in der Stube herum.

Die Mutter schüttelte bedenklich den Kopf.

„Na, Du scheinst heut die Litteraturstunde mit Nutzen versäumt zu haben,“ sagte sie gedehnt, „nun hilf mir aber hier – jetzt ist’s genug des Unsinns!“

Als dieser bedeutsame Tag zu Ende war und die Wohnung sich wieder in dem Zustand befand, den man von gebildeten Räumen zu erwarten und zu verlangen berechtigt ist, schlich Liesbeth noch einmal in das Zimmer der Brüder, wo Ernst noch mit lauten Verwünschungen gegen das Schicksal und den Klassenlehrer an einem Aufsatz über die Freuden des Winters sich abquälte, während Franz schon schlief.

„Ernst!“ begann das Backfischchen verlegen und zögernd, „ich möchte Dich etwas fragen!“

„Na, dann mach rasch!“ brummte Ernst, „ich habe noch zu ‚ochsen‘!“

Uneingeschüchtert durch die zarte Bezeichnung, die der Tertianer für die Pflege der Wissenschaften wählte, legte ihm Liesbeth die Hand auf die Schulter.

„Ernst, kannst Du Löcher bohren?“ frug sie.

„In was?“ erkundigte sich der Befragte vorsichtig, um sich nicht zu allzu schwierigen Leistungen zu verpflichten.

Liesbeth nahm verlegen ihren Zopf in die Hand und zupfte an der Bandschleife, die ihn zusammenhielt.

„In ein Markstück!“ sagte sie halblaut.

Der Tertianer schob das Heft zur Seite.

„Ja!“ entschied er dann, „ich kann’s! – aber Du mußt mir auch meinen Schluß machen! Du kannst ruhig etwas Schwulst anbringen,“ setzte er hinzu, als ihn die Schwester zweifelhaft ansah, „unser Ordinarius ist so ein Schmachtlappen, der liest solchen Blödsinn gern, wie ihn die Mädchen schreiben!“

Dergestalt ermuthigt, nahm Liesbeth den Platz ihres Bruders am Schreibtisch ein, und während Ernst mit unsäglicher Kraftanstrengung und unter abscheulich quietschendem und knarrendem Geräusch das Markstück durchbohrte, schrieb das Backfischchen mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen einen Schluß an den Aufsatz über die Freuden des Winters, der so schwungvoll und empfindungsreich wurde, daß der Lehrer bei späterer Zurückgabe des stilistischen Meisterwerks drohend bemerkte. „Zuletzt hat wohl jemand anders sich Deiner erbarmt, Solten – ich habe bei Dir noch nie ein solches zartes Verständniß für die Schönheit des Winters und den Mondschein auf der kalten Eisfläche entdeckt“ – und Ernst, der sich dabei in einer recht peinlichen Lage befand, sah sich zur Verbergung seiner Verlegenheit genöthigt, in der großen Pause seinen besten Freund durchzuprügeln, der seiner Behauptung nach bei der Rede des Lehrers „gegrinst“ hatte.

Liesbeth aber befestigte glückselig ihr Markstück am Bettelarmband und erwiderte auf die erstaunte Frage ihrer Angehörigen und Freundinnen, was denn dieses sonderbare Anhängsel zu bedeuten habe, mit unerschütterlichem Ernst: „Es ist ein Talisman!“




Zwei Jahre waren seit jenem großen Tage im Soltenschen Hause hingegangen.

Liesbeth war nun wirklich „erwachsen“ – das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und sie sah von der sonnigen, frühlingsfrischen Höhe ihrer siebzehn Jahre „hinein in das blühende Land!“

Daß im Lenz auch manchmal ein lustiger Sturmwind und eine übermüthige Laune weht, das gehört dazu – und man müßte schon ein ganz besonderer Griesgram sein, um sich nicht ganz gern von einem solchen schütteln zu lassen.

Das empfand auch der Papa Oberstlieutenant, der für alle Streiche und Tollheiten des Töchterchens im schlimmsten Fall nur ein nachsichtiges „na, na“ hatte, so daß die Mutter oft klagte: „Mit den armen Jungen bist Du immer so streng, und das Mädel kann thun und lassen, was es will!“

Der Vater schmunzelte behaglich.

„Die Jungen machen ihre Dummheiten später ohne väterliche Aufsicht, liebe Anna,“ sagte er, „in einem Alter, wo das arme Mädel schon lange vernünftig geworden ist – das bedenke!“

Und nach der halb wehmüthigen Mahnung des alten Walzertextes

„Des Lebens Mai – zwei drei –
Ist bald vorbei – zwei drei!“

gab sich auch die Mutter zufrieden und ließ den kleinen Uebermuth gewähren.

Augenblicklich war es aber still im Hause bei Soltens, denn Liesbeth hatte sich für einige Wochen auf Besuch zu der Familie des Generals Binder begeben, deren Sohn wir bei Gelegenheit des „großen Reinmachens“ kennenlernten und deren Tochter ja Liesbeths Pensionsfreundin war.

Mit welchem innern Herzklopfen und welcher äußern Gleichgültigkeit die kleine Heuchlerin diese Einladung anhörte – wie nachlässig sie auf die Frage der Mutter: „Nun, hast Du Lust, zu fahren?“ erwiderte: „Wie Du meinst, liebe Mama!“ – das muß man erlebt haben, um es zu glauben.

Die Mutter hatte, eingedenk der erstmaligen Begegnung mit dem Lieutenant, ihre stillen Bedenken und trug dieselben auch dem Vater vor. „Sie war ziemlich aus dem Häuschen, kann ich Dir sagen,“ meinte sie zweifelhaft.

„Ach Unsinn!“ sagte der Vater, „sie hat den Menschen fünf Minuten lang gesehen und dann nie wieder – so sind siebzehnjährige Mädel nicht, daß sie zwei Jahre lang an solcher Geschichte hängen!“

Die Mutter schwieg unüberzeugt.

„Und außerdem,“ schloß der Vater, „steht der Lieutenant in B… und Liesbeth geht nach M…, also wird sie ihn gar nicht sehen!“

Dieser Einwand entschied, und Liesbeth befand sich nun schon seit mehreren Wochen im Schoße der Generalsfamilie und hatte auch dort jung und alt bald ganz für sich erobert.

Die Schulfreundschaft mit Lina Binder war aufs schnellste aufgefrischt worden, die Mädchen vertrugen sich herrlich und genossen die schöne Zeit glückselig miteinander.

Nur das Haupterforderniß der gegenseitigen Vertraulichkeit, das Beichten, wollte nicht recht blühen. Lina hatte zwar schon geheimnisvolle Erlebnisse aus der Tanzstunde und tief erregende Begegnungen auf der Schlittschuhbahn berichtet und Gegenseitigkeit verlangt – aber Liesbeth schüttelte den Kopf.

„Bei uns zu Hause ist kein Mensch, in den man sich verlieben könnte – in der ganzen Stadt nicht!“ versicherte sie mit großer Entschiedenheit, als die Freundin sie eines Abends unmittelbar vor dem Schlafengehen etwas ausfragte.

„Darum bist Du wohl zu uns gekommen?“ lachte Lina.

Aber unerwarteterweise nahm Liesbeth diesen harmlosen Scherz bitter übel, brach in Thränen aus und ging zu Bett, ohne der Freundin zu verzeihen, so daß diese, als am andern Morgen alles wieder gut war, sich die milde Frage erlaubte: „Bei Dir [824] rappelt’s wohl manchmal?“ eine bescheidene Erkundigung, die Liesbeth mit überlegenem Schweigen beantwortete.

Darf man in diese hochwichtige Konferenz eintreten?

Um die Weihnachtszeit sollte unsere kleine Heldin natürlich nach Hause kommen. Da in der befreundeten Familie der Sohn zu diesem Feste erwartet wurde, so war dies ein nagender Schmerz – aber was half’s!

Es schien, als sollte Liesbeth ihr Ideal vom Reinmachetag her nicht wiedersehen und die Mark am Bettelarmbande die einzige Beziehung bleiben, die sie zu ihm haben durfte.

Da traf eines Morgens die überraschende Nachricht ein, daß der Lieutenant mit einem Kameraden, der mehrere Jahre nicht zum heiligen Abend daheim gewesen war, den Urlaub getauscht hätte und schon am nächsten Tage bei den Seinigen eintreffen würde, um diesmal im November vierzehn Tage bei den Eltern zu verleben.

Eine freudige Aufregung bemächtigte sich der ganzen Familie. Die Stube für den Sohn wurde aufs schönste geschmückt, und Lina forderte Liesbeth auf, sich an der Herstellung eines „Willkommen“-Transparents zu betheiligen, welches sie für den Bruder mit unsäglichem Aufwand von Oelpapier anfertigte.

Aber Liesbeth lehnte ab.

„Ich kenne ihn ja gar nicht!“ sagte sie kurz.

„Ja, richtig!“ bemerkte die andere, „es war eigentlich schade, daß er Euch damals nicht zu Hause traf, als er bei Euch war!“

„Hat er Dir davon erzählt?“ frug Liesbeth athemlos.

„Weiter nichts, als daß er ins Hauptscheuerfest gekommen sei,“ versetzte die ahnungslose Freundin.

„So!“ sagte Liesbeth gedehnt.

„Er ist göttlich!“ rief die begeisterte Schwester, „Liesbeth, Du wirst Dich bis über beide Ohren in ihn verlieben – ich sage es Dir!“

„Höchst unwahrscheinlich!“ erwiderte Liesbeth würdig.

„Du wirst schon jetzt roth!“ jubelte Lina, „das ist nett von Dir!“ Und sie umarmte die Freundin vor Freude.

Liesbeth zuckte mit gut gespielter Unbefangenheit die Achseln.

„Wenn ich nicht bei Euch zu Besuch wäre, würde ich jetzt etwas sagen!“ meinte sie kühl.

„Thu Dir keinen Zwang an!“ ermuthigte Lina freundlich.

„‚Schaf!‘ würde ich sagen,“ erwiderte die Freundin mit großer Ruhe, machte eine Pirouette auf dem Absatz und ging in ihre Stube. – – –

Der Erwartete war endlich angekommen, und am Theetisch wurde es Liesbeth vergönnt, ihr Ideal wiederzusehen! Sie gab sich, als sie an diesem Abend im Begriff war, einzuschlafen, mit innerer Befriedigung das Zeugniß, daß sie sich tadellos benommen hätte.

„Er“, im Tagebuche so: ER (mit zwei großen lateinischen Buchstaben) bezeichnet, war zwar womöglich noch bezaubernder geworden seit ihrer ersten Begegnung, und als er ihr vorgestellt wurde, konnte sie sich eines höchst peinlichen, wie ihr schien, bis in die Augäpfel sich erstreckenden Erröthens nicht erwehren, welches, schlecht gerechnet, drei Minuten lang anhielt – aber sie erwiderte, trotz dieses verhaßten Uebelstandes, seine Verbeugung gerade so kurz, so gehalten und so obenhin wie die meisten siebzehnjährigen Damen, die auf die Wahrung ihrer weiblichen Würde eifrig bedacht sind.

Er hatte nicht viel mit ihr gesprochen an jenem ersten Abend, da die Seinigen ihn natürlich sehr in Anspruch nahmen, aber ab und zu sah er sie flüchtig und mit einer Art von fragendem Blick an, als wollte er sagen: „Wo der Tausend habe ich doch dieses allerliebste Mädchen schon einmal gesehen?“ was für Liesbeth jedesmal eine wahre Folterqual bedeutete.

Ob er sich innerlich über die Sache noch weiter den Kopf zerbrach, mußte dahingestellt bleiben. In jedem Falle begann er vom folgenden Tage an, dem jungen Gaste des Hauses seine besonderen Aufmerksamkeiten zu widmen. Dieselben verstiegen sich schon in den ersten vierundzwanzig Stunden bis zum Wollehalten, was stets als ein äußerst bedrohliches Anzeichen zu betrachten ist.

Die kurze Zeit, die Liesbeth noch im Hause des Generals vergönnt war, gestaltete sich denn von Tag zu Tag reizender und bedeutsamer, und ihre heldenhaften Versuche, die kühnen Hoffnungen und Pläne ihres Herzens vor sich selbst für „Blödsinn“ zu erklären, wurden merklich schwächer und lebensunfähiger.

Am Tage vor der drohenden Abreise sollte noch ein kleines Tanzfest stattfinden, und die Mädchen saßen am Fenster zusammen und nähten Cotillonschleifen aus buntem Band.

„Du!“ begann Lina nach einem ziemlich langen beiderseitigen Stillschweigen.

Liesbeth erhob die Augen von der Arbeit. „Was giebt’s?“

„Wie findest Du Kurt?“ frug Lina mit einem kleinen Triumphblitz in den Augen, der ihrer Freundin nicht entging.

Liesbeth wendete eine wahrhaft übermenschliche Selbstbeherrschung an, um nicht roth zu werden – es glückte – ausnahmsweise glückte es!

„Nun?“ wiederholte Lina, als ihre Frage unbeantwortet blieb, „ich will wissen, wie Du Kurt findest?“

„Ganz nett!“ sagte Liesbeth herablassend.

Lina sah sie sprachlos an.

„Ganz nett?“ wiederholte sie in schneidendem Ton, „nun, das nimm mir nicht übel – das ist wirklich großartig!“

In diesem Augenblick zeigte sich der Besprochene in der Thür.

„Darf man in diese hochwichtige Konferenz eintreten?“ frug er lachend, als beide jungen Damen bei seinem Erscheinen verstummten, „oder werden hier Geheimnisse verhandelt?“

„Gar nicht!“ sagte Lina mit einem boshaften Blick auf die Freundin, „Liesbeth hat Dir mir soeben Dein Zeugniß ausgestellt!“

Da lag er schon auf einem Knie, hob das Bettelarmband auf und hielt es ihr hin.

[825]

Stille Nacht, heilige Nacht!
Nach einer Zeichnung von A. Zick.

[826] „Seit Sexta eine unangenehme Sache für mich!“ bemerkte Kurt ernsthaft, „darf ich fragen, wie es ausgefallen ist?“

„Sie hat gesagt, Du wärst ‚ganz nett‘!“ gab Lina zur Auskunft, stand auf und ging hinaus.

Die beiden blieben allein und schienen zunächst von ihrer Ungestörtheit wenig Vortheil ziehen zu wollen, denn keines von beiden sprach ein Wort.

Liesbeth nähte mit einem Eifer, als sollte sie ihr Brot damit verdienen, daß sie Cotillonschleifen anfertigte; das versäumte Rothwerden von vorhin hatte sich jetzt mit wahrhaft lähmender Heftigkeit eingestellt – sie hoffte im stillen, daß ihre Stellung mit tief gesenktem Kopf diese peinliche Thatsache verbergen würde.

Der junge Mann hatte in einem Sessel ihr gegenüber mit verschränkten Armen Platz genommen und sah sie lächelnd an.

„Ganz nett,“ sagte er dann, „nun, das ist ja immer schon etwas!“

„Das finde ich auch!“ brachte Liesbeth mühsam hervor. Sie fühlte sich namenlos beängstigt unter dem nachdenklich prüfenden Blick ihres Gegenübers und richtete mit der Schere erbarmungslose Verheerungen unter dem bunten Bande an.

Das Bettelarmband klirrte bei ihren unruhigen Bewegungen.

„Darf man das Armband einmal bewundern?“ frug der junge Mann harmlos und streckte die Hand danach aus, „ich habe gehört, die jungen Damen wissen darin ganz besonders raffinirte Dinge zu erfinden!“

„Um keinen Preis!“ rief Liesbeth, ganz blaß werdend, „das darf niemand sehen!“

„Hoho!“ sagte der Lieutenant, belustigt durch ihren Eifer, „das scheint mir ja eine gefährliche Sache zu sein! Aber ich bin diskret – ich bringe das Gespräch auf etwas anderes,“ fuhr er scheinbar ganz unbefangen fort, „ich wollte Sie schon dieser Tage immer nach jemand fragen – darf ich?“

Liesbeth fühlte alle Schrecken des Geächteten über ihrem Haupte.

„Bitte!“ erwiderte sie fast unhörbar.

„Als ich vor zwei Jahren durch A… kam,“ begann er langsam, indem er seine Augen noch immer fest auf ihrem Gesicht ruhen ließ, „und den vergeblichen Versuch unternahm, Ihrem Herrn Vater meine Aufwartung zu machen, da war bei Ihnen gerade großes Scheuerfest!“

„So?“ erwiderte Liesbeth anscheinend sehr verwundert.

„Ja, denken Sie ’mal!“ fuhr er gemüthlich fort, „und die Damen der Familie waren natürlich nicht sichtbar!“

„Natürlich!“ wiederholte Liesbeth mechanisch.

Kurt bückte sich tief, um ihr in die Augen zu sehen – ein erfolgloses Unternehmen, denn die dichten, schwarzen Wimpern hoben sich auch nicht um eine Linie weit.

„Da hatten Sie solch ein allerliebstes Stubenmädchen,“ sagte er lachend, „sie hieß Christel – was ist denn aus der geworden?“

Liesbeth warf einen hilflosen Blick umher und suchte nach einem Vorwand, das Zimmer zu verlassen – sie antwortete nicht.

„Ist sie noch bei Ihnen?“ frug der erbarmungslose Gegner weiter.

„Nein!“ murmelte Liesbeth.

Der Lieutenant lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah zur Decke empor.

„Schade,“ meinte er nachdenklich, „es war das niedlichste Persönchen, das ich jemals gesehen habe!“

Liesbeth schwieg.

„Sie wird gewiß auch eine gute Hausfrau werden,“ bemerkte der Lieutenant mit einem halb ernsten, halb neckenden Blick auf das Mädchen, „meinen Sie nicht?“

„Ich hoffe!“ erwiderte Liesbeth tapfer, mit dem Muth der Verzweiflung.

„Ich hoffe auch!“ sagte der junge Mann jetzt in einem plötzlich ganz ernsthaften Ton, „und wissen Sie, was ich mir eigentlich ausgedacht habe?“

„Nein – das kann ich doch unmöglich wissen!“ stammelte Liesbeth mit einem letzten Versuch, unbefangen zu sein.

„Ich wollte immer nur ein Mädchen heirathen wie jene Christel,“ gab er ruhig zurück, „glauben Sie, daß sie mich nehmen würde?“

Liesbeth stand hastig auf – die Bandschleifen flatterten wie aufgescheuchte Vögel von ihrem Schoß herunter zur Erde.

„Das weiß ich nicht!“ flüsterte sie fast unhörbar.

Er lachte etwas verlegen.

„Nun wahrhaftig, ich weiß es auch nicht!“ sagte er und stand auf, „aber wie denken Sie denn darüber?“ fuhr er fort und faßte die Hand mit dem Bettelarmband, die Liesbeth ihm nicht entzog.

„Fragen Sie sie doch!“ erwiderte sie und hing den Kopf.

Da ging das Bettelarmband auf und fiel kirrend zur Erde – er lag schon auf einem Knie, hob es auf und hielt es ihr hin.

„Ich habe noch keine Antwort,“ setzte er dringend hinzu.

„Sehen Sie sich doch das an!“ flüsterte Liesbeth in tiefster Verlegenheit.

Er hielt das kleine, rasselnde Ding in der Hand und warf einen verständnislosen Blick darauf.

„Ich begreife nicht!“ sagte er dann und zuckte die Achseln.

„Das ist ja die Mark, – die Sie – die Sie – die damals die Christel als Trinkgeld bekommen hat,“ rief Liesbeth und machte nach diesem Bekenntniß einen kühnen Versuch, an ihm vorbei zur Thür zu gelangen.

Aber er hielt sie fest.

„Liebe Liesbeth!"“ sagte er mit ganz unsichrer Stimme und feuchten Augen, „aber wissen Sie – das finde ich furchtbar rührend von Ihnen!“ –

Und als Lina fünf Minuten später wieder ins Zimmer kam, fand sie ein glückseliges Brautpaar, und die Cotillonschleifen lagen alle am Boden. Sie konnte sich in ihrer stürmischen Freude über diese Wendung der Dinge aber doch nicht enthalten, triumphierend zu bemerken: „Habe ich Dir’s nicht gleich gesagt, Liesbeth, daß Du Dich in ihn verlieben würdest?“

„Als wenn ich das jetzt erst gethan hätte!“ rief Liesbeth glücklich und unvorsichtig.

Die Eltern unserer kleinen Freundin waren zuerst nicht sehr entzückt über das Ergebniß dieses Ausfluges in die Welt. „Kaum hat man etwas an den Töchtern, da verloben sie sich – natürlich!“ brummte der Oberstlieutenant.

Aber dieses „natürlich“ hatte doch einen starken Beigeschmack voll Wohlgefallen und geschmeichelter väterlicher Eitelkeit.

An Liesbeths Polterabend trat die „Christel“ natürlich in höchsteigner Person mit Staubtuch und Besen auf und gab allen anwesenden jungen Damen den Rath, bei vorkommenden Scheuerfesten ja fleißig Hand anzulegen – wie Figura zeige, sei das oft eine ganz glänzende Spekulation.




Die Weissagespiele der Zwölfnächte.

Von Alexander Tille. Mit Abbildungen von E. Limmer.

Soweit Germanen wohnen, soweit reicht auch die Heiligkeit der „Zwölfnächte“ um die Zeit der Wintersonnenwende. Als der Augenblick, in welchem die Sonne ihre niedersteigende Bahn verläßt und umkehrt, um einen neuen Jahresreigen zu führen, gilt im Volksglauben allgemein die Nacht vom 24. zum 25. Dezember, die Christnacht oder der Heilige Abend, an dem die jüdisch-christliche Überlieferung den Rabbi Jesus geboren werden läßt. Ursprünglich schlossen sich die „Zwölf Hilligen Tage“ offenbar so an diese Nacht an, daß sechs vorausgingen und sechs folgten. Dieser Stand der Dinge hat sich bis heute nur in engen Grenzen noch rein erhalten und meist Verschiebungen erlitten, die wohl in der Hauptsache auf die Entführung des Gregorianischen Kalenders an der Stelle des Julianischen zurückgehen, wenn dieselbe auch noch nicht alles ausreichend erklärt. In dem größten Theile Deutschlands versteht man unter den „Zwölf Nächten“ die Zeit vom Heiligen Abend bis zum Dreikönigstage, in Bayern die Zeit vom Thomastage bis zu Neujahr, und in Franken sowie in Mecklenburg die Spanne vom 2. bis zum 13. Januar. In Bayern ist das Ursprügliche also am reinsten erhalten. In Franken und Mecklenburg kommt man mit einer einfachen Verschiebung um elf Tage aus. Die gemeindeutsche Rechnung hingegen muß unerklärt bleiben.

Die Zwölfnächte sind die eigentliche Zeit des Waltens übernatürlicher Mächte, die Zeit, in welcher der Mensch eine Frage frei hat an das Schicksal und wohl auf Antwort hoffen darf, wenn er nur richtig zu fragen versteht. Der Sturmwind der Weihnacht, das Knospen der Bäume, das Reden der Thiere im Stalle, das Gerathen der Weihnachtsstollen und [827] die Stellung der Christbaumzweige, das alles giebt dem Menschen nach dem Volksglauben Winke über die Geschehnisse der Zukunft und insonderheit über sein und der Seinen Schicksal.

Die alten Germanen warfen, um der Götter Willen und die Zukunft zu erforschen, Buchenstäbchen auf ein weißes Tuch, deuteten die Runen, welche diese Stäbchen bildeten, auf bestimmte Worte, und die Priester vereinigten die Worte zu Sätzen, zu Orakelsprüchen. Was einst blutiger Ernst war und über Leben und Tod, über Krieg und Frieden, über das Schicksal ganzer Völker und Stämme entschied, das ward im Laufe der Jahrhunderte zum harmlosen Spiel und meistens, eingeschränkt auf die Vorbedeutung von Ereignissen, die sich in jedem Menschenleben wiederholen, vor allem aber auf die wichtigste Lebensfrage, über die dem einzelnen selbst die Entscheidung zusteht, auf die Ehe. Eine ganze Reihe solcher Losspiele leben noch heute im Volke und werden niemals mit solchem Eifer und solchem Ernst getrieben wie in den Zwölfnächten.

Ebenfalls durch das ganze Germanenthum geht der Glaube an weisende Thiere, der Glaube, daß bestimmte Instinkthandlungen, insbesondere eines Hausthiers, die Bedeutung von Fingerzeigen haben, welche das Schicksal giebt. Wollen die Mädchen zu Pfullingen in Schwaben wissen, welche von ihnen zuerst Braut werden wird, so haschen sie einen Gänserich und binden ihm sorgfältig die Augen zu. Sie bilden um ihn einen Kreis und reichen sich die Hände. Ein loses Liedlein singend, marschiren sie um das taumelnde Thier, und diejenige, welche zuerst von ihm gepackt wird, bekommt zuerst einen Mann. Bei Lorch am Rheine schläfert man am Donnerstag vor Weihnachten eine junge schwarze Henne ein und legt sie auf den Fußboden. In bunter Reihe setzt sich dann die erwachsene Jugend im Kreise darum und wartet auf ihr Erwachen. Sobald sie auffährt, eilt sie auch aus dem Kreise, und das Paar, zwischen dem sie durchläuft, heirathet noch im selbigen Jahre.

Das Weissagespiel der schwimmenden Kerzen in der Bukowina.

In der Bukowina backen die Mädchen um Weihnachten kleine Kuchen, bestreichen sie reichlich mit Fett, versehen jeden mit einem besonderen Abzeichen und legen sie säuberlich der Reihe nach auf ein niedriges Brett. Alsdann wird der Haushund feierlich zum Schmause geladen. Er erscheint auf der Schwelle und wird bald die leckere Speise gewahr. Nun weiß er kraft der heiligen Zeit, in der er sich befindet, ganz genau, welches Mädchen zuerst heirathen wird. Ein Blick auf die lockende Kuchenreihe lehrt ihn sogleich, welcher Kuchen der Glücklichen gehört, und im Vollgefühle seiner Würde als Orakelkundiger erbarmt er sich zuerst über diesen. Doch soll es auch dann und wann vorkommen, daß er, seiner hohen Aufgabe vergessend, sich zugleich über sämmtliche Kuchen macht, ja ganz lose Hunde werfen sogar das Kuchenbrett um. In diesem Falle haben natürlich alle betheiligten Mädchen am gleichen Tage Hochzeit.

Eine andere Gruppe von Losspielen läßt sich zusammenfassen unter dem gemeinsamen Zug der schwimmenden Kerzchen. Auch dieses Spiel kennt die Bukowina. Da ist in der Weihnachtszeit des Abends immer ein reges Laufen von Haus zu Haus. Haben sich zwei, drei oder auch mehr Mädchen zusammengefunden, dann geht’s rasch nach einer stillen Kammer, wo sie sich einschließen und, von niemand belauscht, eine geräumige Schüssel mit reinem Quellwasser auf den Tisch stellen. Jedes Mädchen macht sich nun ein Wachslichtchen auf einer kleinen Wachsscheibe fest. Alle Kerzchen werden aufs Wasser gesetzt, so daß keins den Rand der Schüssel berührt, und zugleich angezündet. Wessen Kerzchen zuerst umschlägt, deren Herzchen ist zuerst verfallen, und ihr Werber wird in Bälde erscheinen.

In Sachsen steht die große Wasserschüssel am Neujahrsabend auf dem Familientische. Sind nur Mädchen zugegen, so verläuft das Spiel folgendermaßen. In leeren Nußschalen werden kleine Stückchen eines dünnen Wachsstockes festgeklebt. Hat das Mädchen nun einen Liebhaber, so denkt sie sich unter einem Kähnchen diesen, unter dem andern sich selbst und unter einem dritten den „Pastor“. Dann setzt sie alle drei Lichterschiffchen brennend aufs Wasser. Kommt sie mit ihrem Schatz zusammen, so wird sie bald seine Braut; kommt auch der „Pastor“ noch dazu, so ist auch bald Hochzeit. Im anderen Falle hat sie böse Aussichten. Hat ein Mädchen mehrere Liebhaber oder mehrere, die sie sich wünscht, so läßt sie für einen jeden eine Nußschale schwimmen und eine weitere für sich. Derjenige, dessen Schale sich mit der ihren vereinigt, wird ihr Schatz. Auch hier spielt der Pastor seine Rolle. – Sind Burschen und Mädchen beim Spiele betheiligt, so bekommt jedes ein Leuchtkähnchen, ein weiteres wird für den Pastor ausgeworfen, und diejenigen, deren Lebensschifflein sich vereinigen, werden ein Paar.

Das beliebteste Weihnachtsspiel Tirols ist „Erde, Brot und Lumpen“. Es wird mit sehr großem Ernste gespielt, und man glaubt noch vielfach an seine Unfehlbarkeit. Auf dem Tische werden drei Töpfe aufgestellt und zwar umgekehrt. Unter dem einen liegt etwas Erde, unter dem andern ein Stück Brot und unter dem dritten befinden sich einige Lumpen. Wer den ersten wählt, kommt in demselben Jahre noch unter die Erde, wer den zweiten vorzieht, zu Brot, und der Besitzer des dritten an den Bettelstab.

Bleigießen.

Weitaus die reichhaltigsten Aufschlüsse über die eigene Zukunft liefert das fast in ganz Deutschland gleichmäßig verbreitete Bleigießen. Auch hier ist ein großes Wasserbecken erforderlich. In einem Eisenlöffel wird über dem Lichte oder auch in der Ofenröhre etwas Blei geschmolzen und dasselbe dann durch einen Erbschlüssel in das Wasser gegossen. Aus den Formen, die es hier annimmt, schließt man auf das Gewerbe des künftigen Ehemannes oder auf sein eigenes Los. Sieht man Seile, Hobel, Leisten oder Scheren, so bedeutet es einen Seiler, Schreiner, Schuster oder Schneider. Rüben und Möhren bedeuten einen Landmann, Schiffe einen Seemann, und kommen Spitzhacke, Kratze und Fäustel zutage, so flüstert man: „Am Ende bekommen wir gar einen Wegearbeiter.“ Hier und da schlägt man auch Eier ins Waser und schließt aus den Gestalten, die der Inhalt annimmt, auf die Zukunft. Aber nicht nur auf die Verehelichung gehen die Winke, die man so erhält. Viele kleine Rüben bedeuten auch Geld, ein Wagen eine Reise, ein Sarg Tod etc.

Eine weitere Gruppe bilden die Wurfspiele. Sie zerfallen in solche, bei denen mit Schuhen, und in solche, bei denen mit Apfelschalen geworfen wird. Mit dem Rücken nach der Thür gewandt, tritt das Mädchen, welches seine Zukunft erforschen will, mitten ins Zimmer. Die anderen schließen um sie einen Dreiviertelskreis, so daß nur der Raum der Thür frei bleibt. Nun wirft das Mädchen den einen ihrer Schuhe über ihren Kopf nach rückwärts. Ist seine Spitze nach der Thür gerichtet, so verläßt sie noch dieses Jahr das elterliche Haus, weist aber der Absatz dorthin, so bleibt sie noch daheim. Liegt der Schuh auf der Sohle, so geht alles glücklich vonstatten, liegt derselbe aber umgekehrt, dann giebt es mancherlei Anstoß.

Im Harz und auch anderwärts wird in der Weihnachtszeit von einem Borsdorfer Apfel die Schale so vorsichtig abgetrennt, daß sie ganz erhalten bleibt. Alsdann wirft man dieselbe über den Kopf. Der Buchstabe, den sie beim Niederfallen auf den Erdboden bildet, ist der Anfangsbuchstabe des Namens des künftigen Gatten. In Böhmen schreiben die Mädchen auch das ganze ABC an die Thür, treten mit verbundenen Augen davor und tippen mit dem Finger unter die Buchstaben. Derjenige, welchen sie treffen, hat die gleiche Bedeutung wie der Apfelschalenbuchstabe.

Ist die Antwort auf die Frage, ob im neuen Jahre Hochzeit sein wird, glücklich bejahend ausgefallen, hat ferner das Bleigießen den Stand des künftigen Gatten bestimmt, so bleibt immer noch allerlei Wissenswerthes übrig; so, ob der Brautigam schön oder häßlich, krumm oder gerade, arm oder reich sein wird. Auch das zu erkunden hat man Mittel gefunden. Geht das Mädchen nachts zwischen Zwölf und Eins in den Holzstall, zieht aufs Gerathewohl abgewandten Gesichts, schweigend und [828] unbeschrieen ein Scheit aus dem Holzstoß und dasselbe ist schlank und gerad gebaut, so ist auch ihr Gatte von solcher Leibesgestalt. Ist es kurz und dick, so wird derselbe weder ein Riese noch allzu schmächtig sein, und ist es ästig, so dürfte ihm gar ein kleiner Rückgratsfehler anhaften. Auch noch auf andere Weise ist das sicher zu stellen. Rafft man zu derselben Stunde einen Arm voll Scheite zusammen und enthält derselbe eine gerade Anzahl, so giebt’s einen gut gewachsenen Mann, andernfalls einen krummen. Dasselbe gilt für das Auszählen eines Kornhäuschens.

Schuhwerfen.

Aber auch derjenige, der längst ein Weib heimgeführt hat, kann allerlei Fragen an die Zukunft thun. Um zu wissen, ob eins aus der Familie im kommenden Jahre sterben wird, braucht man nur mittels eines Erbfingerhutes soviel kleine Salzhäufchen auf den Tisch zu machen, als die Familie Glieder zählt, und jedem derselben eins zuzuteilen. Fällt dann während der Christmetten eins ein, so muß sein Besitzer sterben.

Um das Wetter des folgenden Jahres zu erkunden, giebt es kein so untrügliches Mittel wie das folgende. Am Christabend höhlt man zwölf Zwiebeln aus und füllt sie mit Salz. Man stellt sie auf dem Tische auf und giebt jeder den Namen eines Monats. Ist das Salz einer Zwiebel am folgenden Morgen zerlaufen, so ist der betreffende Monat feucht, wo nicht, trocken. Das Wetter soll freilich in diesem Falle sehr von der Wahl der Zwiebeln abhängen! Aber auch Sonnenschein und Regen bestimmen die Fruchtbarkeit des Jahres und den Ausfall der Ernte noch nicht allein. Daher hat man sich nach einem brauchbaren Verfahren umgesehen, auch dies einigermaßen im voraus festzustellen, und ist übereingekommen, ein Glas Wein ausschlaggebend sein zu lassen. Füllt man nämlich am Heiligen Abend ein Glas Wein bis zum Rande und stellt es beim Zubettgehen auf den Tisch und es läuft in der Nacht über, ohne daß jemand daran stößt, so wird die Ernte überreich. Schon mancher kluge Landwirth hat eine Ernte erzielt, die seine Scheunen kaum zu fassen vermochten, indem er kühlen Wein nahm und beim Zubettgehen noch einmal recht gründlich einheizte. Man muß die Sache nur anzugreifen verstehen!




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Finstere Mächte.

Eine Bauerngeschichte von Elmar Weidrod.

Die Glocken, die den Sonntag einläuteten, sind längst verstummt, im Dorfe sind alle Lichter erloschen, kein Laut dringt mehr zu mir herauf in mein einsames „Herrenhaus“, wie die Leute im Dorfe meine Wohnung nennen. So lange die Glocken klangen, hatte man das Brausen des Nordsturmes nicht gehört, und so lange die Fensterreihen in den Häusern erleuchtet waren, hatte die tiefe Winternacht ihre Herrschaft noch nicht unumschränkt angetreten; jetzt hört man den Sturm wieder ganz allein, und gegen die Herrschaft der Nacht kämpft kein Licht mehr an. Ich könnte mein Licht auch auslöschen und ins Bett gehen, aber ich mag noch nicht. Wenn man Gesellschaft eingeladen hat und die Gäste sind noch versammelt und noch in lebhaftem Gespräch, löscht man auch nicht plötzlich die Lichter aus und geht ins Bett – und ich habe heute abend Gesellschaft: meine Gedanken sind versammelt und erzählen mir eine Menge Geschichten, zum Theil aus längst vergangener Zeit. Das geht bunt durcheinander: die einen fangen an zu erzählen, ehe die andern fertig sind, dann brechen sie ab, fangen etwas anderes an oder erzählen das weiter, was die andern angefangen haben, und diese wieder springen zu etwas neuem über.

Diese Art Unterhaltung gefällt mir nicht, meine Gäste müssen verständig reden und nur über ein einziges gemeinschaftliches Thema. Es ist im Grunde nicht schwer, ein solches Thema zu finden. Der Sturm draußen, der das Glockenläuten überdauert hat, bringt mich darauf, an die finstere Macht zu denken, welche die Herzen der Bewohner des Gebirgsthales, in dem ich wohne, beherrscht, an den Aberglauben, der wohl noch für lange, lange Zeit den Sieg über den reinen Glockenklang der Wahrheit davontragen wird. Wie haben wir schon dagegen angekämpft, der Pfarrer, der Schullehrer, der Arzt und ich, wie haben wir uns bemüht, dem Lichte Eingang zu verschaffen in die finsteren Herzen! In der Schule, in den Kirchen, in den Häusern, an Kranken- und Sterbebetten, an Wiegen und Särgen, bei Trauungen und Einsegnungen ist gewirkt und gestrebt worden, um wenigstens das Unheil abzuwenden, das der Aberglaube schon tausendfach über diese Menschen gebracht hat um wenigstens die Steine hinwegzuräumen, über welche sie im Finstern stürzen würden. Wir haben wenig erreicht. Aber wir wollen weiterkämpfen!

Meine Gedanken haben sich nun alle auf eine Begebenheit geeinigt, welche sich hier ereignete. Ich will sie erzählen, obwohl sie mir nur eine schmerzliche Erinnerung ist an die Fruchtlosigkeit unseres Kampfes. Aber vielleicht wird sie doch auch zum Samenkorn, das da oder dort auf guten Boden fällt und gesunde Frucht trägt.




Etwas abseits vom Pfarrdorfe Dockenförth, in der Nähe der Steinbrüche und der sogenannten Moorheide, liegt der Moorheidehof, der dem Bauern Thomas gehört. Es ist nur ein kleiner Hof mit wenig Vieh und kleinen Aeckern; das Haus ist zwar steinern, aber nur einstöckig, und der Scheuer sieht man es schon an, daß man bei ihrer Errichtung nicht auf große Ernten gerechnet hat – aber der „Moorheidler“ ist doch ein angesehener Mann in Dockenfürth, denn er hat immerhin seinen „eigenen Hof“ und hat nie fremder Leute Brot gegessen. Außerdem ist er der Schwager des Otterhofbauern in Wieselbach, und der ist der reichste Bauer weit und breit, mit dem sich in Dockenförth keiner messen kann, obwohl es das Pfarrdorf ist.

Wie es kam, daß sich die stolze Schwester des reichen Jakob vom Otterhof vor ungefähr dreißig Jahren herabließ, den Moorheidler zu heirathen, weiß ich nicht – jedenfalls genügte es dem Selbstgefühl der Familie des Otterhöfers, daß der Thomas keinen Pachthof hatte, sondern eigenen Grund und Boden, und der Frau war bei ihrem herrischen Charakter ein sanfter, schüchterner Mann

[829]

Im Mondenschein.
Aus dem Bildercyklus zu Julius Wolffs „Lurlei“ von W. Kray und L. W. Heupel
(Verlag von Fr. Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München).

[830] gerade recht; da gab es keinen Zank im Hause, denn es war nicht zweifelhaft, wer darin das Regiment führen würde, ob der stille, friedfertige, wortkarge Mann mit dem einstöckigen Hause und den spärlichen Aeckern, oder sie, die harte, handfeste Frau, die einzige Tochter des reichsten Bauern in der ganzen Gegend. Wie zu erwarten war, fühlte sich der Moorheidler alsbald sehr unglücklich, obwohl er niemals klagte. Er hatte nicht nur unter der Herrschsucht und Heftigkeit seiner Frau zu leiden, sondern auch unter der Tyrannei seines Schwagers, der sich in alle seine Angelegenheiten mischte, ihm beständig anbefahl, was er als „Schwager des Otterhofbauern“ zu thun und zu lassen habe, und gegen den der sanftmüthige, nicht gerade übermäßig kluge Mann waffenlos war.

Niemand bemitleidete ihn, als die Frau nach fünfjähriger Ehe an einem Hitzschlage starb. Aber sie hinterließ ihm einen Sohn, der, beim Tode der Mutter erst vierjährig, dieses kurze Zusammenleben mit ihr doch dazu benutzt zu haben schien, sich ihr Wesen und ihren Charakter genau einzuprägen und ihr getreues Ebenbild zu werden. In seiner Person wurde auch die Tyrannei des Otterhofbauern fortgesetzt, denn der kleine Burkhard wurde in erster Linie als dessen Neffe betrachtet und war nur so nebenbei der Sohn seines Vaters. Der Moorheidler ließ sich diese Bevormundung still gefallen; er fürchtete sich vor der Gewaltthätigkeit seines Schwagers, und dessen Selbständigkeit und Reichthum machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn; er sah selbst ein, daß es eine Ehre für ihn sei, der Vater des Neffen des reichen Jakobs vom Otterhof zu sein.

Nur als er daran ging, sich wieder zu verheirathen – denn die Wirthschaft bedurfte selbstverständlich alsbald eines Ersatzes für die verstorbene Hausfrau – ließ er sich nicht dreinreden, sondern entwickelte urplötzlich einen eigenen Willen. Er heirathete die Tochter eines armen Mannes, der, zu kränklich zur Feldarbeit, sich kümmerlich damit ernährte, daß er Schächtelchen für Spielwaren-Fabriken anfertigte, während Gertrud, seine Tochter, die einzige „Lohnspinnerin“ im Dorfe, das heißt das einzige Mädchen war, das nicht für den eigenen Hausstand, sondern für fremde Leute spann und während der Spinnzeit von den Bauern zur Hilfe in den Spinnstuben bestellt wurde.

Man muß den Bauernhochmuth kennen, um zu beurtheilen, welche niedrige Rolle solch eine vereinzelte Lohnspinnerin in den Spinnstuben spielt; selbst die Mägde betrachteten sie nicht als ihresgleichen, denn sie zogen doch nicht mit ihren Spinnrädern von Hof zu Hof wie Gertrud. Darum hatte auch niemand daran gedacht, daß je etwas daraus entstehen könnte, wenn der Moorheidler öfters in die Hütte des Schachtelmachers ging, anfangs in der That nur, um seinen Flachs spinnen zu lassen, allmählich aber, weil das sanfte, ruhige und dabei doch heitere Wesen der Lohnspinnerin ihm wohlthat und ihn immer mehr bestrickte. Das war ein Mädchen, das für ihn paßte! Das sagte er erst nur sich selbst und dann sagte er es ihr. Dem Jakob vom Otterhof sagte er es nicht, der wurde plötzlich in der Kirche mit dem Aufgebot überrascht und soll an diesem Tage in nicht besonders frommer Stimmung das Gotteshaus verlassen haben. Es kam zu fürchterlichen Auftritten zwischen den Schwägern, das heißt, der Jakob wüthete und tobte, während der Moorheidler still zuhörte – es mochte so schlimm kommen, wie es wollte, genau so hatte er es erwartet. Er heirathete seine Auserwählte doch und Jakob überwarf sich nicht mit ihm, Burkhards wegen, wenn er auch von nun an Burkhard lieber zu sich kommen ließ, als daß er ihn im Moorheidehof besuchte.

Der Moorheidler hätte dem Schwager den Jungen gern ganz abgetreten, wenn Jakob gewollt hätte, denn je größer Burkhard wurde, desto mehr entwickelte sich sein schlechter Charakter; aber Jakob bemerkte dies ebenfalls, und obwohl ihn sein Familienhochmuth dazu trieb, sich seines Schwestersohns in jeder Weise anzunehmen, so bedankte er sich doch im stillen dafür, ein so übelgeartetes Früchtchen in seinem eigenen Hause zu beherbergen. Wenn sein Schwager ihm mit dahinzielenden Anspielungen kam, so sagte er, Burkhard sei der Erbe des Moorheidehofes und der künftige Bauer müsse auf seinem Hofe groß werden. Alle schlechten Streiche, die Burkhard verübte, schob der Otterhofbauer auf die mangelhafte Erziehung, die ihm von seiten seines schwachen Vaters zutheil würde, und darauf, daß es den Jungen erbittern und erbosen müsse, zu sehen, wie Rupert, des Moorheidlers Sohn aus zweiter Ehe, ihm bei jeder Gelegenheit vorgezogen, wie er um dieses Stiefbruders willen in allen Dingen übervortheilt würde.

„Das ist doch nicht so ganz wahr, Schwager,“ bemerkte hierzu schüchtern der Moorheidler. „Wenn einem von den Buben durch die Finger gesehen wird, so geschieht’s dem Burkhard. Wahrhaftig wahr ist’s, Schwager, wenn ich dem Jungen alle die Hiebe aufzählen wollte, die er verdient, ich könnt’ mir zu Johanni eine neue Peitsche kaufen und Michaeli wär’ sie schon hin! Der Rupert ist ein braves Kind, der verdient nie Strafe und kriegt deshalb auch keine.“

Der Otterhofbauer beharrte aber bei seiner Ansicht und äußerte dieselbe auch Burkhard gegenüber.

„Du hast eben eine Schlafhaub’ zum Vater und eine Stiefmutter noch obendrein,“ sagte er zu dem ohnedies schon so trotzigen und bösartigen Jungen, „darum wird Dir Dein Recht nicht. Zehnmal fragt ein Weib nach dem eigenen Kinde, ehe es einmal nach dem Stiefkinde fragt. Aber Du brauchst Dir von der nichts gefallen zu lassen, die hat Dein Vater hinter der Hecke aufgelesen. Hier in meiner Gesindestube hat sie auch gesessen und gesponnen, und wenn einer von den Mägden der Netznapf leer geworden war, so hat sie ihn der Lohnspinnerin hingereicht und nicht ,danke’ gesagt, wenn die ihn ihr gefüllt hat. Eine saubere Stiefmutter für den Sohn meiner Schwester!“

Diese Rede war in der That sehr überflüssig, denn niemand brauchte Burkhard zu sagen, daß er sich von seiner Stiefmutter nichts gefallen lassen solle – er wußte es schon von selbst, und der Gertrud wiederum war das Gefühl, nicht für „voll“ zu gelten, so sehr von Jugend auf in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie es nimmermehr gewagt hätte, an Burkhard einen Anspruch des Gehorsams zu erheben. An ihrem Manne hatte sie keinen Rückhalt und sie scheute sich auch, ihm Unangenehmes zu bereiten; sie wußte, daß ihm Burkhards schlechter Charakter schon Kummer genug verursachte, und so ertrug sie dessen rohes Benehmen ebenso geduldig wie der Moorheidler selber.

Es war daher nicht selten Ruperts Sache, seine allzu nachgiebigen Eltern vor Burkhard zu schützen, und je größer und verständiger er wurde, desto nachdrücklicher that er es. In dem, was ihn selbst betraf, gab auch er Burkhard meistens nach, denn dieser war der älteste, der künftige Bauer und der Erbe des großen Vermögens seiner Mutter; letzteres flößte allen Bauern im Dorfe Ehrfurcht ein, und so auch dem Rupert. Aber er war an Körperkraft seinem Stiefbruder dreifach überlegen, und wenn dieser gegen Vater und Mutter unverschämt und roh war, so bekam er Ruperts Fäuste gehörig zu fühlen.

Der Moorheidler, der vor allen Dingen Frieden und Eintracht herbeisehnte, pflegte zwar bei solchen Gelegenheiten Rupert inständigst zu bitten, seinen Bruder doch lieber gewähren zu lassen, als solche Zänkereien hervorzurufen. Das half ihm aber nichts, das war ein Punkt, wo Rupert niemals nachgab. Und im Grunde gewannen der Moorheidler sowohl als Gertrud ihn um so lieber, weil er sich so tapfer ihrer annahm. In Burkhards Seele hingegen entstand ein Haß gegen seinen Stiefbruder, der mit den Jahren immer heftiger wurde und dessen Folge endlich war, daß ein Zusammenleben der beiden Brüder auf demselben Hofe zur Unmöglichkeit wurde.

Natürlich war es Rupert, der weichen mußte. Burkhard gehörte auf den Hof, obgleich er das windschiefe, schwarze Gebäude zwischen den Steinbrüchen und der Moorheide keineswegs mit heimathlichen Gefühlen ansah. Es wäre allenfalls möglich gewesen, ihn zu seinem Oheim auf den Otterhof zu schicken, wo er die Bewirthschaftung eines größeren Gutes hätte erlernen können, aber der Otterhofbauer bedankte sich dafür. Sein Hauptinteresse an Burkhard war erloschen, seitdem ihm selbst, nach fünfzehnjähriger kinderloser Ehe, ein später Sprößling geboren worden war. Neben der Liebe zum Gelde und zu sich selber war nur noch ein einziger Platz frei im Herzen des Otterhofbauern; diesen Platz hatte bisher, wenn auch nur halb und halb, Burkhard eingenommen, jetzt war er aber ganz daraus verdrängt worden durch den spätgeborenen kleinen Magnus, der mit seinem hellblonden Haar und grobknochigen Gesichtchen, seinen derben Gliedern und großen veilchenblauen Augen seinem Vater wie ein Engel an Schönheit vorkam. Zwar war Jakob streng in der Erziehung des kleinen Buben, denn freundlich war er mit keinem Menschen und konnte es nicht einmal mit dem Kinde sein, [831] das sein Abgott war. Aber mit dem feinen Empfindungsvermögen der kleinen Kinder fühlte es Magnus doch heraus, wie sehr er geliebt wurde, und selbst wenn der Otterhofbauer seinen Jähzorn hatte und die Leute ihm aus dem Wege gingen wie einem losgerissenen Bullen, kletterte Magnus getrost an ihm hinauf und streichelte ihm den struppigen Bart, bis Jakob nicht umhin konnte, zu schmunzeln, und statt des Wuthgefunkels ein Strahl der Liebe aus seinen Augen brach.




Zwischen Rupert und Burkhard wurde unterdessen der Stand der Dinge immer schlimmer, und wiederum, wohl schon zum zehnten Male, mußte der rathlose Moorheidler auf dem Otterhofe erscheinen und seinen Schwager bitten, Burkhard auf den Hof zu nehmen.

„Nur so lang’ nimm ihn, bis Rupert sich irgendwo verdungen hat,“ bat er. „So hart es mich ankommt, den braven Jungen wegzugeben und fremder Leute Knecht werden zu sehen, so will ich’s doch nicht erleben, daß einer von meinen Buben den andern unter die Erde bringt, und weiß Gott! der Burkhard wird mir den Jammer noch anthun, wenn nicht ein Ende gemacht wird. Nimm ihn mir ab, Schwager, nur bis sich der Rupert verdungen hat!“

„Auf wie lang’ wär’ denn das?“ fragte Jakob.

„Ich dächte, so vier Wochen werden draufgehen,“ erwiderte der Moorheidler ängstlich, denn er sah es seinem Schwager an, daß er die angegebene Zeit unter allen Umständen zu lang finden würde. „In Dockenförth selbst kann’s nicht sein, da braucht keiner einen Knecht, da muß der Junge weiter hinunter ins Thal und sich in den andern Dörfern umsehen.“

„Vier Wochen ist mir zu viel!“ sagte Jakob, „so lang will ich den Raufbold nicht auf dem Hofe haben. Aber einen andern Rath wüßt’ ich, Schwager,“ fuhr er bedächtig fort mit der Miene eines Mannes, der weiß, daß seine Rathschläge für andere Leute Gesetz zu sein pflegen. „Thu’ Deinen Rupert in meinen Dienst, fleißige Hände sind auf dem Otterhofe immer zu brauchen und Arbeit habe ich alle Tage genug.“

Aber so gut dieser Ausweg auch war, der Moorheidler griff doch nicht gleich zu. Still und nachdenklich saß er seinem Schwager gegenüber und drehte die gute schwarze Sonntagskappe, die er dem reichen Schwager zu Ehren am Werktage aufgesetzt hatte, langsam in den Händen hin und her. Ihm wollte es doch nicht so recht in den Sinn, daß Rupert da als Knecht dienen sollte, wo sein eigenes Weib die Tochter des Hauses gewesen war.

„Na, was giebt’s da zu überlegen?“ fuhr ihn Jakob an. „Ist mein Rath nicht gut und thu’ ich nicht ein Uebriges, um Dir zu helfen?“

„Ja, Schwager, freilich,“ versicherte der Moorheidler, „aber lieber wäre mir’s, Du nähmest …“

„Den Burkhard kann und will ich nicht nehmen,“ unterbrach ihn der Otterhofbauer barsch, „schon wegen der da nicht!“ Er wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Stubenecke hin, in welcher Eva, seine Nichte und sein Mündel, mit der Dorfnähterin saß und Perlen auf den Boden eines Käppchens nähte. „Du weißt ja, daß das Mädchen mit dem Burkhard so gut wie versprochen ist. Brautleute gehören nicht unter dasselbe Dach!“

Der Moorheidler sah, wie Eva bei diesen Worten auffuhr und einen trotzigen Blick auf Jakob warf.

„Hast Dich gestochen?“ fragte die alte Nähterin. „Der Pappdeckel ist gar bös nähen!“

„Dann geht’s aber mit dem Rupert am Ende auch nicht,“ sagte der Moorheidler mit einem listigen Blick auf Eva, „denn wenn der mit der Eva unter dasselbe Dach kommt, so hat der Burkhard vielleicht das Nachsehen. Die Leute reden so allerlei; es heißt, die Eva lasse den Burkhard immer gehörig abfahren, wenn er mit ihr schönthun wolle, und wenn sie mit dem Rupert zusammen sei, verhalte sich die Sache ganz anders.“

Jetzt war Eva blutroth geworden und beugte den eben noch trotzig erhobenen Kopf tief auf die Arbeit.

„Hast Du Hitze im Kopf?“ fragte die Nähterin. „Siehst Du, warum kocht Ihr den Kaffee ohne Cichorie! Der geht zu viel ins Blut!“

Aber auch Jakob war sehr roth geworden und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Holz krachte.

„Bleib’ mir vom Leibe mit Deinem dummen Gered’!“ donnerte er. „Wenn der Rupert der Ev’ gut genug ist, um auf dem Tanzboden mit ihm zu lachen, so ist er ihr doch noch lange nicht gut genug zum Heirathen, kannst Du das verstehen, he? Meinst Du, die Nichte des Otterhofbauern nähm’ einen, der nicht auf eigenem Grund und Boden sitzt? Mit dem Burkhard ist sie versprochen und mit keinem andern!“

Jetzt stand Eva hastig auf, und ohne näher zu treten, rief sie mit erregter Stimme zu ihrem Oheim hinüber:

„Das ist nicht wahr, Oheim, versprochen bin ich nicht mit ihm! Wir sind noch nicht zusammen in der Pfarre gewesen und einen richtigen Antrag hat er auch noch nicht gemacht!“

Wie von einer Natter gebissen, fuhr Jakob nach ihr herum.

„Was soll das heißen?“ frug er mit blitzenden Augen. „Ist’s etwa wahr, was die Leute reden? Willst Du den Rupert zum Mann haben, der jetzt auf den Höfen herumläuft und sich als Knecht anbietet?“

„Laß ihn gehen!“ flüsterte die alte Nähterin, Eva ängstlich am Kleid zupfend, „jetzt kriegt er seinen Zorn!“

Eva war tapfer und hatte einen unbeugsamen Willen, aber sie fürchtete sich doch vor Jakobs Anfällen von Jähzorn. So setzte sie sich wieder und entgegnete in ruhigem festen Tone:

„Es ist noch keine Rede davon, daß ich mir überhaupt einen Mann hole, Oheim. So weit bin ich noch mit keinem, mit Rupert nicht und mit Burkhard nicht. Das sag’ ich Euch aber, Moorheidler, meinetwegen braucht der Rupert nicht fortzubleiben vom Otterhof, schickt ihn nur ruhig her, hier ist’s immer besser für ihn als bei wildfremden Leuten. Ich fang nichts mit ihm an, das kann ich Euch versprechen.“

„Und ich sorg’ dafür, daß Du Dein Versprechen hältst!“ sagte der Otterhofbauer, zwar noch drohend, aber doch wieder besänftigt; „ich bin der Herr in meinem Hause, das soll jeder fühlen, der die Füße unter meinen Tisch streckt! Und nun, Thomas, sprich das letzte Wort und bedenk’, daß ich Dir immer zum Guten gerathen habe und daß Du Deinen Lumpenhof längst los wärest, wenn ich Dir bei Deinem Wirthschaften nicht beigestanden hätte, weil Du nun einmal der Vater meines Schwestersohnes bist. Willst Du mir den Rupert morgen schicken? Er soll es gut bei mir haben!“

Diese letztere Versicherung überraschte den Moorheidler, denn sehr selten ließ sich der Otterhofbauer zu etwas herab, was wie gütliches Zureden klang. Der Moorheidler fühlte heraus, daß es im stillen seinem Schwager sehr wünschenswert war, Rupert in seinem Dienste zu haben, da dessen Fleiß und Arbeitskraft in der Gegend kaum ihresgleichen hatten. Er fürchtete daher, der einflußreiche Schwager würde sich an ihm rächen, wenn er ihm diesen Wunsch durchkreuzte, und er gab seinen Widerstand auf.

„Nun ja, ich will ihn morgen schicken,“ sagte er etwas gedrückt, „dann bin ich doch wenigstens die Sorg’ und Angst los. Ich bedank’ mich auch, Schwager.“




Rupert trat in den Dienst des Otterhofbauern und der Moorheidler mußte, als ein paar Wochen herum waren, anerkennen, daß der Rath seines Schwagers ein guter gewesen war. Denn so tief es ihn auch wurmte, daß sein Sohn fremder Leute Brot aß, so sah er doch ein, daß Rupert es auf dem Otterhofe besser hatte und dort eine geachtetere Stellung einnahm, als dies auf irgend einem andern Hofe der Fall gewesen wäre. In Jakobs Augen gehörte auch Rupert immerhin noch einigermaßen zur Familie; er schlief nicht beim übrigen Gesinde, sondern in einem Kämmerchen im Wohnhause und hatte auch bei Tisch einen bevorzugten Platz, den ihm der Otterhofbauer eingeräumt hatte, weil der kleine Magnus durchaus neben ihm sitzen wollte. Rupert hatte nämlich das Glück gehabt, das Herz des kleinen Burschen zu erobern; er hatte ihm mit großer Geduld und Geschicklichkeit allerlei Spielzeug geschnitzt und zusammengeleimt, kleine Wurfmaschinen, mit denen man Kastanien und Obstkerne abschießen konnte, Pfeifen aus grünem Holze, Bogen und Pfeile und vor allem ein kleines Segelboot, in das Magnus Püppchen aus Mohnblumen setzen und das er auf dem Mühlbach segeln lassen konnte. Dabei war Rupert auch sonst freundlich und geduldig mit dem Kleinen, litt ihn gern um sich, nahm ihn oft mit aufs Feld, gab dann sorgfältig auf ihn acht und hatte auch mitten in der Arbeit immer nach ein Scherzwort für ihn übrig oder eine [832] Antwort auf die vielen Fragen des lebhaften kleinen Schwätzers. Letzterer vergalt ihm seine Freundlichkeit durch grenzenlose Liebe, die, da er ein sehr lebhaftes Kind war, in deutlichster Weise zu Tage trat. Lautes Jubeln verkündete stets den Hausbewohnern Ruperts Rückkehr vom Felde, Magnus’ erste Frage, wenn ihn die Bäuerin am Morgen zwischen den hochgethürmten Federkissen hervorholte, galt Rupert und seine Abendsuppe aß er nicht, wenn ihn Rupert nicht dabei auf dem Schoße hielt und sich von Zeit zu Zeit den kleinen zinnernen Suppenlöffel in den Mund führen ließ.

Aber nicht allein durch seine Freundlichkeit gegen Magnus erwarb sich Rupert die Achtung seines Dienstherrn. Jakob war bis jetzt der stärkste und größte Mann in Wieselbach gewesen, derjenige, dem jede Arbeit Kinderspiel war, der keine Ermüdung und kein Ruhebedürfniß kannte und der wie körperlich, so auch geistig durch sein schnelles, scharfes Urteil, seine Unbeugsamkeit und seine Herrschsucht allen überlegen war. Wenn die andern über etwas den Kopf verloren, so behielt er seinen klaren Blick und seine ganze Ruhe, plötzliche Ereignisse beraubten ihn nicht seiner Fassung, er kannte weder Angst, noch Gemüthserschütterungen, und es ergab sich daher ganz von selbst, daß er bei allen das Dorf in Aufregung versetzenden Anlässen, bei Bränden und Unglücksfällen, derjenige war, nach dessen Anordnungen sich alle andern richteten. Im Vollgefühle seiner Kraft und seiner Ueberlegenheit wie im Bewußtsein seines gewaltigen Reichtums hatte er in seinem ganzen Wesen etwas Verächtliches, Wegwerfendes gegen die andern Bauern, namentlich seitdem Magnus durch sein sehnlichst erwartetes Erscheinen den letzten Vortheil beseitigt hatte, den diese vor dem reichen Jakob vom Otterhofe gehabt hatten.

Jetzt fand aber Jakob an Rupert jemand, der ihm an Körperkraft, an Unermüdlichkeit, an Ruhe des Geistes, an Klarheit des Urtheils, an Festigkeit des Willens vollkommen gleich war. Es hatte lange gedauert, bis Jakob seinen eigenen Sinnen getraut hatte, daß dem wirklich so sei; denn wo sollte der Sohn des schüchternen, sanften Moorheidlers und der armseligen Lohnspinnerin solche Eigenschaften her haben? Wie konnte man, wenn man als zweiter Sohn in dem niedrigen schwarzen Gebäude auf der öden Moorheide aufgewachsen war, zu Selbstgefühl, zu festem Willen kommen? Wie konnte man einen widerspenstigen Bullen so kaltblütig händigen, wenn man höchstens Gelegenheit gehabt hatte, an einem Ziegenbocke seine Kraft zu erproben? Dann aber, als ihm die Einsicht gekommen war, daß er Rupert wirklich in nichts überlegen war, wurde er von dem Gefühle größter Achtung für ihn erfüllt und er beschloß, alles zu thun, was in seiner Macht stand, um ihn sich möglichst lange zu erhalten.

Rupert fühlte sich trotz aller dieser unerwartet günstigen Umstände nicht glücklich auf dem Otterhofe. Es wurde ihm nicht leicht, zu dienen; so sehr er sich zu Hause auch seinem ältern Bruder und seinen Eltern untergeordnet hatte, so war das doch etwas ganz anderes, war sein ganz freier Wille gewesen. Jetzt mußte er gehorchen, weil er dafür bezahlt wurde, er hatte kein Wort mitzureden, wurde um nichts befragt, und wenn sich auch das letztere bald änderte, nachdem Jakob angefangen hatte, ihn besser zu würdigen, so hatte er doch vorher genug Demütigungen erfahren, um sich unglücklich zu fühlen und die spätere gute Behandlung als eine ihm gewährte Gunst, nicht als ein ihm zugestandenes Recht hinzunehmen.

Das Schlimmste aber für ihn war das tägliche Zusammensein mit Eva, die er schon längst im stillen liebte und die ihm jetzt, wo er sie immer besser kennenlernte, begehrenswerther erschien als je. Täglich sah er sie in ihrer frischen blühenden Jugendkraft, thätig vom frühen Morgen bis zum Abend in Haus und Hof, überall selbst zugreifend und nach dem Rechten sehend; dabei war sie nicht ruhelos, hastig, herrisch, trotz ihrer Thätigkeit und ihres Eifers, sondern es war in ihrem Wesen etwas Ruhiges und Sanftes, das selbst inmitten der gehäuften Arbeit wohlthuend zur Geltung kam. Schön war sie nur nach bäuerischen Begriffen, d. h. sie hatte sehr grelle Farben, sehr rothe Wangen und Lippen, sehr blaue Augen, sehr weiße glänzende Zähne, sehr dichtes, gelbes Haar; dabei war sie groß und schlank und hatte viel Anmuth in ihren Bewegungen. Was aber am meisten dazu beitrug, Ruperts Liebe zu hellen Flammen ausschlagen zu lassen, war die Wahrnehmung, daß dieses Zusammenleben mit ihm für Eva nicht minder gefährlich geworden war wie für ihn. Sie hielt zwar streng ihr Versprechen und näherte sich ihm in keiner Weise; sie wußte ja, daß zwischen einem Knechte und ihr eine Kluft war, welche die innigste Liebe nicht zu überbrücken vermochte. Aber sie konnte es nicht hindern, daß ihre Gefühle für Rupert an den Tag kamen; sie war sichtlich gekränkt bei jeder Demütigung, bei jeder Zurechtweisung, die er anfangs erfuhr, sichtlich stolz und in freudig gehobener Stimmung, so oft sie ihn rühmen hörte. Im Verkehre mit ihm war sie befangen und offenbar ängstlich bemüht, ihre Ruhe zu bewahren, und zum Tanze ging sie nicht mehr, seitdem Rupert diesem Vergnügen, bei dem er früher eine Hauptrolle gespielt hatte, ganz entsagte. Man sah auf dem Tanzboden nicht gerne Knechte und nur mit Mägden durften sie tanzen. Darum brachte es Rupert nicht mehr über sich, hinzugehen.

Fortsetzung folgt.




Vom Weihnachtsbüchertisch.

I. Bücher für die Jugend.

Wiederum will es Weihnacht werden auf Erden, und die Liebe rüstet sich, dieses traulichste und schönste aller Feste mit Duft und Glanz und Gaben zu schmücken. Unter all den dargebotenen Weihnachtsgaben nun nimmt von altersher das Buch eine der ersten Stellen ein; denn, so sagt der altdeutsche Weihnachtsbrief des Kreutznacher Buchhändlers Schmithals mit Recht:

„Eyn gvtt boch ist travn die bast der
gaben / so ze findten weytt vndt
breytt vndt spricht eyn gar beredt
Sprach von hertze ze hertze.“

Viel Schönes, Gutes und Nützliches bietet der Büchermarkt gerade zur Weihnachtszeit, und ganz besonders auf dem Gebiete der Jugendschriften weist die zeitgenössische Litteratur den erfreulichsten Reichthum auf. Ersichtlich aber sind Schriftsteller, Künstler und Verleger nicht nur bemüht, diese wichtige Abtheilung des nationalen Schriftthums fortwährend zu erweitern, sondern mit Lust, Liebe und vielem Verständnis arbeiten sie seit Jahrzehnten auch an der Erhöhung des inneren Wertes der für die Jugend bestimmten Buchgaben. Die neuesten Erscheinungen reihen sich in dieser Beziehung vielfach ebenbürtig an das gute Alte. Das gute Alte! Man wolle es über dem Neuen nicht vergessen! Aber recht und billig ist es doch, auch dem guten Neuen diejenige Aufmerksamkeit zu schenken, auf welche es Anspruch hat.

Wir bieten hier eine gedrängte Uebersicht dessen, was uns besonderer Beachtung werth erscheint.

Bücher für die Kleinen. „Kommt herein!“ (Verlag von W. Effenberger [F. Loewes Verlag] in Stuttgart). Ein Bilderbuch ohne Text. Die in sauberem Farbendruck ausgeführten Bilder bieten in buntem Durcheinander Darstellungen von Menschen, Thieren, Früchten und Gebrauchsgegenständen, welche dem Anschauungskreise der Kleinen angehören oder doch nahe liegen. Unter freundlicher Leitung eines Erwachsenen werden die Kinder eifrig sein, über das, was sie hier sehen, Geschichtchen zu erzählen, und solche Anregung ist offenbar der Zweck des Werkchens. –

„Goldene Reime für die Kinderstube“, gesammelt von Cornelie Lechler, mit 12 Farbdruckbildern nach Aquarellen von W. Claudius, sowie 11 Vollbildern in Holzschnitt nach Zeichnungen von Prof. E. Klimsch (ebenda). Die Texte sind mit Sorgfalt ausgewählt. Neues bieten sie, soweit wir sehen können, nicht. Es entspricht aber durchaus unserer Ansicht, für ein solches Buch lieber den Goldschatz der vorhandenen Kinderdichtung in Anspruch zu nehmen, als Neues von zweifelhaftem Werthe handwerksmäßig herzustellen. Der Bilderschmuck ist prächtig. – „Unser Singvögelchen“, ein Liederschatz für die deutsche Jugend, gesammelt von Klara Reichner, 2. Aufl., mit 100 Textillustrationen und 79 Melodien (Stuttgart, Gustav Weise). Eine reiche Fundgrube von sangbaren Liedern und von Weisen, deren Ausführung wegen ihres meist geringen Tonumfanges den Kleinen möglich ist. Poesie, Zeichenkunst und Musik haben sich hier zu einer schönen Gesammtleistung verbunden.

Märchenbücher. „Es war einmal“, eine Sammlung der schönsten Märchen, Sagen und Schwänke, für die Jugend herausgegeben von Paul Arndt, mit 6 Farbdruckbildern von E. Klimsch und C. Offterdinger, ferner 12 Tondruckbildern und 116 Textillustrationen (Stuttgart, Wilh. Effenberger). Wir begegnen in diesem Buche, dessen künstlerische Ausstattung prächtig ist, den lieben alten Namen; aber neben Grimm, Bechstein und Andersen, deren schönste Märchen in freier Bearbeitung dargeboten werden, kommen auch Neuere zum Wort: wir heben Blüthgen, Lausch, Leander und Sturm hervor. Auch der Herausgeber ist mit einigen hübschen eigenen Arbeiten vertreten. – „Aus der goldenen Märchenwelt“, fünfzig Märchen, gesammelt von Klara Reichner, mit vier Farbdruckbildern nach Aquarellen von P. Wagner (Stuttgart, Gustav Weise). Die Bilder sind gut. Für die Texte sind auch hier die klassischen Autoren bevorzugt worden. Eine Bereicherung des Märchenschatzes finden wir in der Mittheilung einiger Stücke, die mit den Bezeichnunge „wendisch“, „schweizerisch“, „italienisch“ versehen sind.

Bücher für Knaben und Mädchen reiferen Alters. „Auf der Wacht im Osten“, geschichtliche Erzählung aus den Zeiten der Kämpfe [833] mit den Polen im vierzehnten Jahrhundert, von Oskar Höcker (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn). Die vorliegende geschichtliche Erzählung (übrigens nicht die erste dieser Art von demselben Verfasser) ist wohl geeignet, die reifere deutsche Jugend beider Geschlechter in eine der wichtigsten Epochen deutscher Vergangenheit so einzuführen, wie es dem geschichllichen Lehrvortrag, dem geschichtlichen Lehrbuch, und wären sie noch so geistvoll, noch so anschaulich, allein einfach unmöglich ist. Hier hat alles individuelles Leben, hier alles künstlerische Abrundung. Die Abbildungen, mit denen Meister Gehrts das Buch geschmückt hat, verdienen uneingeschränkes Lob: denn abgesehen von der malerischen Auffassung der dargestellten Scenen, abgesehen auch von der zeichnerischen Tüchtigkeit, die sich überall offenbart, verräth jede, auch die unbedeutendste Einzelheit in diesen Bildern das gewissenhafteste Studium der Zeit. – „Auf gefahrvoller Prisenjagd“, nach dem Englischen des Kapitän Marryat bearbeitet von Adalb. Stein, mit 4 Farbdruckbildern von Fritz Bergen (Stuttgart, Wilh. Effenberger). Die meisten Seeromane des durch und durch gesunden Kapitän Marryat könnten der reiferen Jugend so in die Hände gegeben werden, wie sie sind, wenn nicht auch sie an der Weitschweifigkeit litten, die dem englischen Roman überhaupt eigen ist. Die vorliegende Bearbeitung hat die Urschrift in geschickter Weise gekürzt und führt in straff geschlossener Darstellung die Abenteuer des Midshipman Jack an dem Leser vorüber. – „Der Ostafrikaner“, eine deutsche Kolonialgeschichte aus vergangener Zeit, von C. Falkenhorst, mit 12 Tondruckbildern von Fritz Bergen (Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft). Das Buch wird sich viele Freunde gewinnen, und zwar nicht nur unter der Jugend. C. Falkenhorst, den Lesern der „Gartenlaube“ schon längst vortheilhaft bekannt, bietet hier eine Kolonialgeschichte aus dem 16. Jahrhundert, die Abenteuer des Junkers Konrad von Kulm. Der reiche Inhalt und der künstlerische Aufbau der Erzählung erhalten den Leser in angenehmster Spannung von der ersten bis zur letzten Seite des stattlichen Bandes; außerdem bereichert das Buch das kulturgeschichtliche und ethnographische Wissen, und so muß es als eine der bedeutsamsten Erscheinungen auf dem heurigen Weihnachts-Büchermarkte, soweit derselbe der Jugend dienen will, bezeichnet werden. – „Abenteurer“, bunte Bilder aus der Geschichte der Entdeckungsreisen von C. Falkenhorst, mit 6 Tondruckbildern und 54 Textillustrationen (ebenda). In elf abgerundeten, fesselnd geschriebenen, bald mehr, bald weniger ausgeführten Bildern und Skizzen macht uns der Verfasser mit interessanten Gegenden und Menschen bekannt.


Weihnachtsbescherung der Vögel in Norwegen.
Nach einer Zeichnung von Gust. Wendling.


Bücher für Alt und Jung. 1) „Emin-Paschas Vorläufer im Sudan“ und 2) „Emin-Pascha, Gouverneur von Hat-el-Estiwa“, beide von C. Falkenhorst, bilden die ersten beiden Bände der neuen Bibliothek denkwürdiger Forschungsreisen (Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft). Es ist ein dankenswerthes Unternehmen, die Fülle neuer Thatsachen, durch welche in unserm Zeitalter die Wissenschaft der Länder- und Völkerkunde bereichert worden ist, im gewissenhaften Anschluß an die großen Originalwerke der Forscher durch kurze und volksthümlich gehaltene Darstellungen auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen. In beiden Bänden (die ganze Bibliothek wird deren 12 umfassen) kommen die Vorzüge der Falkenhorstschen Erzählweise voll zur Geltung. Die einzelnen Nummern des Unternehmens werden darum schnell genug ihren Weg in die Büchereien gebildeter Familien finden, und gerade dort wären sie an ihrem rechten Platze. Jeder Band ist reich illustrirt, und die Einbände erfreuen durch besondere Schönheit.

Ein Buch für Knaben.Schloß Rotensee und andere Erzählungen“ von Pauline Schanz, mit vier Farbdruckbildern nach Aquarellen von P. Wagner (Stuttgart, Gustav Weise). Die bewährte Freundin unserer Jugend, die vielgewandte Erzählerin, will’s hier einmal nur mit den Jungen zu thun haben, und das werden ihr die Jungen Dank wissen. Was sie ihnen bietet, ist klar und erfrischend wie der Bergquell und echt und lauter wie Gold. Die sechs Erzählungen entsprechen übrigens verschiedenen Altersstufen, und so kann das Buch in derselben Familie manches Jahr Freude bereiten.

Bücher für junge Mädchen.Mädchenjahre in Lust und Leid“ von Marie Beeg, mit einem farbigen Titelbilde (Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft).

Es ist noch nicht allzu lange her, daß wir die englische Litteratur wegen ihres Reichthums an guten Erzählungen für junge Mädchen beneiden mußten. Das ist anders geworden. Seit einer Reihe von Jahren sind tüchtige Kräfte am Werke, diesen Zweig des Schriftthums auch in deutschen Landen zu pflegen, und so hat er manche köstliche Blüthe getrieben. Eine der duftigsten ist die vorliegende Erzählung. Mit warmem Herzen umfaßt, mit hellem Blick durchdringt Marie Beeg die so eigenartige Sphäre unserer herangewachsenen weiblichen Jugend, und da es ihr außerdem nicht an fruchtbarer Phantasie und an schriftstellerischem Können gebricht, da ihr frisch quellender Humor und tief sittlicher Ernst gleichmäßig eigen sind, so wird sie die jungen Gemüther durch ihr liebenswürdiges Weihnachtsgeschenk fesseln und entzücken, belehren und erheben. – „Daheim und draußen“ von Sophie Verena (Berlin, H. W. Müller). Eine interessante und (im besten Sinne) rührende Geschichte in Form eines Briefwechsels. Sie kann durchaus zum Lesen empfohlen werden. – Auch Brigitte Augustis neueste Erzählung, „Zwillingsschwestern“ (Leipzig, Ferdinand Hirt u. Sohn), ist gesunde Kost für Geist und Herz. Das Buch schildert in recht gutem Deutsch die Erlebnisse zweier deutschen Mädchen in Skandinavien und England; vielleicht tritt hier die lehrhafte Tendenz dann und wann zu deutlich hervor. – „Elfriede“ von Clementine Helm (Stuttgart, W. Effenberger [F. Loewes Verlag]). Im Schatten stand als Blümchen klein sie einst, dem Sturme fast erliegend; doch endlich lacht ihr Sonnenschein, und, alles Ungemach besiegend, ist sie in jugendfrischer Pracht zur duftigen Blume aufgewacht, und wem sie blüht, dem tritt nur Segen und Freud’ und Glück fortan entgegen! Die lieben Backfischlein werden in jeder Zeile des neuen Buches das brave Herz und die Meisterhand ihrer Clementine Helm deutlich spüren. – „Aus vornehmen Kreisen“, zwei sehr hübsche Erzählungen von H. Waldemar (Reutlingen, Robert Bardtenschlager). – „Eva“ von T. von Heinz (Stuttgart, Gustav Weise). Aus einem schönen und reichen Familienleben sehnt sich Eva hinaus in die Welt, von der sie das Glück erhofft. Was sie in einem vornehmen Hause der Reichshauptstadt und in einem hocharistokratischen Schlosse auf dem Lande erlebt, und wie sie zur Erkenntniß des wahren Glückes durch ihre Lebensschicksale gelangt, das alles ist mit anerkennenswerther Kunst dargestellt. Es klingt ein warmer Herzenston durch das Ganze, der die Herzen trifft und der Heldin und der Verfasserin Liebe gewinnt.
Emil Wolff.     


II. Romane. Novellen. Gedichte.

Welches Werk ließe sich als Christgeschenk den Lesern der „Gartenlaube“ mehr empfehlen als die jetzt in zehn Bänden vorliegende illustrirte Ausgabe von E. Marlitts gesammelten Romanen und Novellen (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger)! Es hieße alle Pietät verleugnen, wenn die „Gartenlaube“ nicht diese Gesammtausgabe in die vorderste Reihe der von ihr besprochenen Festgeschenke stellte. Der Name der Marlitt ist mit der Chronik unserer „Gartenlaube“ aufs engste verwebt; sie hat mit das meiste dazu beigetragen, diesem Blatte seine hervorragende Stellung unter den volksthümlichen Zeitschriften der Gegenwart zu verschaffen, und ihr hervorragendes Erzählertalent, das ihr so große Erfolge erringen half, wird von einem unparteiischen Urtheil nie in Abrede gestellt werden können. Diese jetzt in so geschmackvoller Einkleidung vorliegende Sammlung ihrer Romane wird auch zuerst ein erschöpfendes Gesammturtheil über ihre Leistungen ermöglichen. Die Phantasie begabter Zeichner, eines C. Koch, Erdm. Wagner, Wilhelm Claudius u. a., hat, was die Dichterin geschaffen, die Hauptgestalten und Hauptvorgänge ihrer Romane in lebensvoller Bildlichkeit der Phantasie der Leser nähergerückt, und man darf diesen Zeichnungen wohl nachrühmen, daß sie nirgends, wie das wohl öfters geschieht, die Bilder der Dichterin entstellen und so die nachschaffende Empfänglichkeit der Leser auf Abwege führen.

Der Roman „Flammenzeichen“ von E. Werner (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger) bedarf ebensowenig einer Empfehlung: er ist den Lesern der „Gartenlaube“ bekannt und gewiß in bester Erinnerung. In eleganter Buchausgabe eignet er sich zu Geschenken für den Weihnachtstisch; die markige Charakteristik der Verfasserin, die vor herben Konflikten nicht zurückschreckt, aber sie zu versöhnen weiß in einer Darstellung, welche große geschichtliche Ereignisse heilkräftig in die Zerrüttung des Familienlebens eingreifen läßt, prägt sich auch in dem neuesten Roman aus und wird dieser Schriftstellerin neben der Marlitt und Heimburg stets eine eigenartige Stellung unter den Lieblingen des Lesepublikums unseres Blattes einräumen.

Von Heinrich Seidels „Gesammelten Schriften“ sind drei neue Bändchen, der sechste, siebente und achte erschienen (Leipzig, A. G. Liebeskind). Heinrich Seidel hat sich durch die Natürlichkeit und köstliche Frische seiner Darstellungsweise eine anhängliche Gemeinde gesichert; seine Aquarellmalerei erinnert bisweilen an diejenige Theodor Storms, in dem er seinen Meister zu verehren scheint. Doch sind seine Genrebilder mehr von einem unbefangenen Humor durchleuchtet.

Anton Ohorn hat vier Klostergeschichten erscheinen lassen (Breslau, Schlesische Buchdruckerei, Kunst- und Verlagsanstalt, vormals S. Schottlaender), denen es an Wärme der Empfindung und Lebendigkeit der Schilderung nicht fehlt. Den Mittelpunkt der Sammlung, das innere Band der einzelnen Geschichten bildet der Kampf des strebenden Geistes und des fühlenden Herzens mit den klösterlichen Satzungen. Namentlich die erste Klostergeschichte „Trinkgold“, mit welcher die zweite, „Aus den Fesseln“, viel Verwandtes hat, schildert uns das Schicksal eines der Chemie und Alchimie beflissenen Klosterbruders, dessen Herz plötzlich von Liebesleidenschaft ergriffen wurde, in ergreifender Weise.

[834] Freunde von Roseggers Muse werden in dem fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Band seiner „Ausgewählten Schriften“ (A. Hartlebens Verlag, Wien) viel Anmuthendes finden. Unter dem Titel „Der Schelm aus den Alpen“ sind allerlei Geschichten und Gestalten, Schwänke und Schnurren zusammengestellt, ernste und lustige Plaudereien, allerliebst ausgeschnittene Silhouetten von sonderbaren Käuzen aus den Alpendörfern, auch manches Traurige, Wunderliche und Wunderbare. Die Nutzanwendung vieler Geschichten ist indeß nicht bloß auf Dörfler, sondern auch auf civilisirte Menschenkinder berechnet. – Da wir einmal im Alpengebiete uns befinden, so sei hier noch die Mittheilung beigefügt, daß von der bekannten Ganghoferschen Hochlandsgeschichte „Der Herrgottschnitzer von Ammergau“ eine von Hugo Engl reizend illustrirte Ausgabe (bei A. Bonz u. Comp. in Stuttgart) erschienen ist.

Meistens heitere Geschichten führt uns Hugo Rosenthal-Bonin vor in seiner Sammlung „Der Student von Salamanca und andere Novellen“ (Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt). Darunter befindet sich eine lustige Geschichte in Versen: „Die Fahrt nach Meersburg“, deren Held ein verliebter, sich das Haar färbender Jüngling ist. Das frische Erzählertalent Rosenthal-Bonins verleugnet sich auch in dieser Sammlung nicht. – Ihr reihen sich am besten die „Lustigen Geschichten“ von Hans Arnold an (Stuttgart, A. Bonz u. Comp.). Es sind die den Lesern der „Gartenlaube“ noch frisch in der Erinnerung lebenden Humoresken „Anvertraute Kinder“, „Eine kleine Vergnügungsreise“, „Schulschluß und Ferien“, „Roberts erste Liebe“; ein Geschichtchen, „Fritz auf dem Lande“, ist neu hinzugekommen.

Ernste und heitere Fälle aus dem Rechtsleben hat Hans Blum unter dem Titel „Aus geheimen Akten“ (Berlin, Gebrüder Paetel) herausgegeben. Es sind drei Geschichten, welche vom Verfasser selbst bei der Titelangabe schon genauer bestimmt werden. Die erste, „Der neue Staatsanwalt“, ist eine kleinstaatliche Geschichte aus großer Zeit; die zweite, „Das Medium des Michelangelo“ eine Erzählung aus der vierten Dimension; die dritte, „Der schneidige Anwalt“, eine Kriminalhumoreske. Hans Blums lebendige und gewandte Darstellungsweise ist ja auch den Lesern unseres Blattes bekannt, und hier bewegt er sich auf dem ihm so vertrauten Gebiete seines Lebensberufs.

Auch Oscar Justinus ist den Lesern unseres Blattes kein Fremdling. Seine neue Schrift, „In der Zehnmillionen-Stadt“ (Dresden, E. Piersons Verlag), ist ein Berliner Roman aus dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Da sind Eiffeltürme, telephonische Korrespondenzen, weibliche Regierungsassessoren, da ist Republik, Aufhebung der Ehe und alles mögliche Zukünftige in humoristischer Einkleidung zu finden.

Unter den Gedichtspenden des Weihnachtstisches erscheinen wohl als die interessanteste Gabe die neuen poetischen Uebersetzungen des Grafen Adolf Friedrich von Schack, die unter dem Titel „Orient und Occident“ (Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger) erscheinen und von denen jetzt drei Bände vorliegen. Es sind Nachbildungen von meisterhafter Formvollendung, von einem Fluß und Guß, einer schimmernden Schönheit, wie man sie manchen deutschen Originaldichtungen wünschen möchte. Der erste Band bringt uns die persische Dichtung „Medschnun und Leila“, einen morgenländischen Liebesroman von Dschami: Romeo und Julie im östlichen Gewand, zwei Liebende, die zu Grunde gehen an der Feindschaft ihrer Familien und Stämme – das ist der Inhalt der Dichtung, welche eine ergreifende Gluth der Empfindung athmet. Der zweite Band bringt uns das Gedicht „Camoens“ von einem neueren portugiesischen Dichter J. B. Almeida-Garret (1799 bis 1854), der politischer Parteimann, Verfolgter und Verbannter und später Minister war. Manches aus seinem eigenen Leben hat der Dichter offenbar in sein Werk hineingeheimnißt, das in Bezug auf farbenprächtige Schilderung und oft schwermüthige Gedankenlyrik an Byron und Victor Hugo erinnert. Der dritte Band enthält „Raghuvansa“, ein indisches Gedicht von Kalidasa, dem auch im Abendland gefeierten Dichter der „Sakuntala“. Das Gedicht macht uns in kürzerer Fassung mit den wichtigsten Begebenheiten bekannt, welche den Hauptinhalt des umfangreichen alten Epos Ramayana bilden. Fremdartiger Blüthenduft schwebt über dem Ganzen und die Bilder zeichnen sich oft durch überraschende Neuheit aus.

Noch erwähnen wir ein hübsches keines Epos von Karl Schäfer, „Der Falkner von Rodenstein, ein Sang aus dem Odenwalde“ (Darmstadt, Verlag von G. v. Aigner). Das glückliche poetische Talent Karl Schäfers hat sich bereits mehrfach erprobt. Sind doch seine „Heiderosen“, eine Sammlung meist lyrischer Gedichte, bereits in dritter Auflage (Darmstadt, ebenda) erschienen!


Blätter und Blüthen.

Im Weihnachtsurlaub. (Zu dem Bilde S. 808 u. 809). Der „blonde Frieder“, eigentlich Friedrich Barth, seines Zeichens ältester von acht Geschwistern, derzeit Ulan im Thüringischen Ulanenregiment Nr. 6, ist sonst Besitzer eines glücklichen Phlegmas. Als er noch daheim den väterlichen Acker pflügte, war es nicht schwer, die Fassung zu bewahren, aber er verlor sie auch nicht, als die Rekrutendressur mit allen ihren Schrecken und Unteroffiziersflüchen über ihn hereinbrach. Wozu auch? Aufregung macht’s nicht besser: dieser Satz war die Grundlage von des blonden Frieders Lebensphilosophie, und sie war bis jetzt nicht ins Wanken gekommen.

Bis jetzt – dieses „jetzt“ bedeutet etwa den dritten Sonntag vor Weihnachten. Von da ab vollzog sich in dem blonden Frieder eine zunächst kaum merkliche, dann aber immer auffallendere Veränderung. Er hatte auf dem Umweg über den Wachtmeister herausgebracht, daß einem Weihnachtsurlaub des Ulanen Friedrich Barth mit Rücksicht auf dessen gute Führung in und außer Dienst ein Hinderniß von seiten des Herrn Rittmeisters nichts im Wege stehe. Und das fuhr dem guten Frieder nun doch eigenthümlich in die Knochen. Der Frieder war ein junger Mensch von 20 Jahren – also freute er sich auf den Urlaub an sich; er hatte auch ein gutes Herz – also freute er sich auf Eltern und Geschwister und auf den Genuß des heimathlichen Weihnachtsfestes! Aber das alles hätte sich doch auch mit Ruhe ertragen lassen, wenn man eine so reichliche Dosis von Gleichmuth besaß wie unser Ulan! Woher nun die prickelnde Ungeduld, die gefährliche Zerstreutheit, die eifrigen Studien auf dem in der Kantine hängenden Fahrplan? Du sollst den Schlüssel zu diesem Räthsel haben, verehrter Leser, – der „blonde Frieder“ war nämlich ein bißchen sehr stark – eitel!

Und nun ermesse man, welche Triumphe – von dieser seiner stärksten Seite aus betrachtet – dem neugebackenen Ulanen im heimatlichen Kreise bevorstanden! Man denke sich – immer vom Standpunkt des „blonden Frieders“ aus – das Erstaunen der Mutter, das Entzücken der Schwestern, den Stolz des Vaters, die Begeisterung des Bruders, wenn „unser Ulan“ in die Stube tritt, angethan mit der vollen Paradeuniform, sporenklirrend, säbelrasselnd, czapkabuschwehend – nein, Frieder kannte sich nicht mehr vor Verlangen, dies alles nicht mehr bloß sich auszumalen bei der Stallwache oder beim Gaulstriegeln, sondern auszukosten in voller, greifbarer, herrlicher Wirklichkeit.

Am Morgen des 22. Dezember lief der Ulan Friedrich Barth ernstlich Gefahr, wegen Nachlässigkeit im Dienst von der Liste der Weihnachtsurlauber gestrichen zu werden. Nur seiner seitherigen Wohlangeschriebenheit bei dem Eskadronschef hatte er es zu danken, daß er doch mitdurfte …

Und nun ist er da, der Augenblick, der langersehnte, köstliche Augenblick, und wir müssen gestehen – Friedrich Barth, Ulan im Thüringischen Ulanregiment Nr. 6, macht sich gut – sehr gut! Was ist aller Glanz des nach thüringischer Sitte von der Decke herabhängenden Christbaums, was ist aller Liebreiz einer ganzen hübschen Schwesternreihe gegen die Pracht, welche nur allein so eine Paradeulanka ausstrahlt! Ja, „blonder Frieder“, du bist schön, tadellos schön vom Kopf – was sag’ ich – vom schön geschwungenen Bogen des Roßhaarbusches bis zur äußersten Stiefelspitze; nur schade, daß du – ein bißchen sehr stark eitel bist! =     

Der Anklöpfelesel. (Mit Abbildung S. 813.) Einst wurde Schwaben von einer furchtbaren Pest heimgesucht. Jeder sperrte sein Haus ab und jeder fürchtete sich, von dem anderen angesteckt zu werden. Ganze Häuser, ganze Straßen und Orte starben aus, und niemand wagte, dem andern zu Hilfe zu kommen. Endlich ließ die Seuche nach, und wenige Gesundgebliebene gingen von Haus zu Haus und warfen Erbsen an die Fenster. Tönte dann von drinnen eine Antwort, so war noch Leben im Hause; wo nicht, so war alles ausgestorben. Später klopften sie dann an die Fensterläden, und ein „Vergelt’s Gott“ lohnte ihnen. Zum Andenken an diese Menschenfreunde feiert man angeblich alljährlich die Klöpflinstage, Klopfnächte, Anklopfete oder Boselnächte (von boslen = lärmen, toben). Unter diesem Namen versteht man die drei beziehentlich vier Adventsdonnerstage, deren letzter auch der Losenpfinztag, d. h. der Loosdonnerstag, heißt, und ganz Süddeutschland kennt sie.

Der Sagenforscher aber weiß eine bessere Deutung. Der Brauch hat nichts mit der Pest zu thun. Das Anklopfen an die Fensterläden ist der letzte Rest toller Umzüge, die dereinst üblich waren und die jedenfalls die Umzüge der Götter in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende nachbilden sollten. An einigen Stellen haben sich dieselben auch wirklich noch erhalten. In der Umgegend von Meran besuchen sich an den Klöpfelabenden gute Bekannte und ergötzen sich wacker an Brot, Wurst, Wein und Obst. In Marienthal ziehen noch jetzt die Burschen herum und singen:

„Heut’ ist die heil’ge Klöpfelnacht,
Wo man Nudel und Küchel bacht,
Nudel heraus, Küchel heraus,
Oder wir schlagen ein Loch ins Haus!“

Das Prachtstück der Klöpflinsnächte aber ist der Anköpfelesel in Pillersee. Zwei kräftige Burschen nehmen ein Lattengerüst auf die Schultern; es ist durch eine Decke verhüllt und ein Sattel liegt darauf. Kopf und Oberkörper sind unsichtbar und nur die vier Beine des neuentstandenen Thieres kann man sehen, das durch einen aufgesteckten Eselskopf noch vervollständigt wird. Ein lustiger Reiter schwingt sich auf den Rücken des Esels; nebenher geht würdigen Schrittes der „Eigenthümer“ nebst dem Fuhrmann, und Zigeuner, Landstreicher, Hexen, Zillerthaler, Oelträger, Quacksalber und ein Thierarzt bilden sein Gefolge. Gemessen bewegt sich der Zug durch das Dorf. Hier und da wird dem Esel eine Krippe mit Wasser zum Saufen hingesetzt, aber stolzen Sinnes verschmäht er den Gänsewein.

Jetzt geht’s in die Bauernstuben. Kaum ist man in das Zimmer eingetreten, das dicht mit Zuschauern gefüllt ist, so wird der Esel krank, er fällt auf die Kniee und ist durch nichts zu bewegen, wieder aufzustehen. Wasser und Heu mag er nicht. Er „yat“ kläglich. Der Eigenthümer prügelt den Fuhrmann, weil dieser den Esel habe krank werden lassen, und der Fuhrmann wendet sich an den Quacksalber. Aber die Kuren verschlimmern nur die Krankheit: der Esel legt sich ganz hin und streckt alle Viere von sich. Jetzt greift der Thierarzt ein. Eine Wurst – und der Esel erholt sich zusehends. Eine Flasche Schnaps – und er ist bereits wieder auf den Knieen angelangt. Eine zweite Flasche, und er ist wieder ganz gesund, so daß er in seine beiden lebendigen Hälften getheilt an dem nun folgenden Mahle teilnehmen kann. Die dabei geführten Gespräche sind typisch und wiederholen sich jedes Jahr. Aber eins wechselt, und das sind die Scherze und Hänseleien, welche eingeflochten werden und an denen fast alle Anwesenden zu schlucken haben.

[835] Ein neuer Cotta’scher Musen-Almanach. Wer würde nicht freudig einen solchen Urenkel jenes Schillerschen Musen-Almanachs begrüßen, der einst in demselben Verlage das Licht der Welt erblickt hat? Und da liegt er vor uns, der Cotta’sche Musen-Almanach für das Jahr 1891, herausgegeben von Otto Braun (Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger), in elegantem Einband, mit sechs Kunstbeilagen, und fast alle namhaften Dichter Deutschlands haben dazu beigesteuert, und die wenigen, die hier fehlen, werden gewiß in den nächsten Jahrgängen nicht vermißt werden. In einem geschmackvolleren, mit schöneren Ahnenbildern geschmückten Salon konnten sich unsere neueren Poeten kein Stelldichein geben: die Erinnerung an Schillers Genius, an die großen Sänger unseres klassischen Zeitalters schwebt ja mit einer gewissen Verklärung über dem netten Unternehmen.

Die Sammlung beginnt mit Prosadichtungen: Georg Ebers erzählt uns in seinem „Probierstein“ diesmal nichts aus dem alten Pyramidenland, sondern eine kleine schalkhafte Geschichte aus unseren neuesten Salons. Einen schlichten Herzensroman schildert P. K. Rosegger in seiner frisch zugreifenden Weise. „Lieb’ läßt sich nicht lumpen“ heißt der Titel der kleinen Erzählung. „Wassertropfen“ von Richard Weitbrecht, lyrische Natur- und Stimmungsbilder in Prosa, schließen sich an.

Dann sehen wir in der Blumenausstellung dieser Gedichtsammlung verschiedene Gruppen, alle viel des Schönfarbigen und Duftigen enthaltend; wir können hier nur einzelne Blüthen aus dieser Blumenfülle herausgreifen. Unter den „poetischen Erzählungen und Balladen“ tritt uns eine Art schwankartiger Legende von Otto Roquette, „Ein Teufel auf Urlaub“, entgegen; sie schildert uns, wie ein Teufelchen auf der Erde lernen will, was Liebe ist, und dazu Urlaub erhält, und welche Abenteuer es, als Student verkleidet, auf seiner Erdenfahrt erlebt. Im Gegensatz zu diesem mehr leichtgeschürzten Gedicht steht das Idyll „Der verlorene Sohn“ von Ernst Ziel. Eine knapp gehaltene Ballade aus der Hohenstaufenzeit ist „Konradins Knappe“ von Conrad Ferdinand Meyer; ebenfalls in frischem Balladenton ist „Der Kaisersohn“ von Martin Greif gehalten. „Kaiser Max“ von Albert Möser hat leidenschaftlichen Pulsschlag.

Der Abschnitt „Gedichte verschiedenen Inhalts“ beginnt mit einem größeren Gedichte von Felix Dahn, „Friede und Kampf“, welches in einer Reihe von Bildern den in der Natur herrschenden Kampf vorführt: Thiere und Pflanzen, selbst Felsen und Gesteine und auch die Sterne am Himmel sind im Kampf begriffen, nirgends ist Friede. Da ruft der Dichter am Schluß:

„Wohlan denn! Kämpf’ auch du bis an das Ende.
Du bist ein Mann, so sei ein Held und lerne:
Das, was du suchtest, ist dem Weltall fremd;
Der Friede ist des Menschen Traum und Wahn,
Das Wesen und Gesetz der Welt ist Kampf:
Ob feig, ob tapfer, kämpfen mußt du doch!
So kämpfe – sonder Klage – bis du stirbst.
Und dann: stirb stumm und stolz auf deinem Schild!“

„Ein steinerner Gast“ ist ein Zwiegespräch mit einem Buddhabild, wie es Wilhelm Jensens phantastische Muse uns vorplaudert. Schön und schwunghaft ist das Gedicht von Isolde Kurz „In Bagamoyo“; Karl Woermann singt uns ein Lied vom römischen Kolosseum; sehr stimmungsvoll ist die Weihnachtsidylle von Heinrich Vierordt, sinnig der Gegensatz zwischen dem Kaiser und seinen Sklaven in dem Gedicht „Hadrian in Tivoli“ von Adolf Stern, schwunghaft das Sturmbild aus Sicilien „Scirocco-Vision“ von Ferdinand Avenarius, trostreich das Zukunftsbild „Alle“ von Conrad Ferdinand Meyer.

Unter dem Strauße der lyrischen Gedichte finden sich anmuthige Blüthen: „Gedichte vom Bodensee“ von Hermann Lingg, „Am Brunnen“ von Ernst Eckstein, das schwerwuchtige „Nachtlied“ von Wilhelm Jordan, „Frühlingsfahrt“ von Adolf Wilbrandt, in welchem Gedicht Natur- und Genrebild verschmelzen, Gedichte von Wilhelm Hertz, Julius Rodenberg, Max Kalbeck, der formenschöne Sonette beigesteuert hat, sinnvolle, etwas herbe und spröde Nordlandslyrik von Georg von Oertzen. Außerdem sind Heinrich Bulthaupt mit einem kleinen, in verschiedenen kunstvoll beherrschten Strophenformen sich abspielenden Gedichtcyklus, „Orpheus“, Arthur Fitger mit einem odenartigen Gedicht, „An die Hoffnung“, Albert Möser mit einem ähnlichen, „An das Alter“, Hans Hoffmann, Carl Hecker, Ludwig Schneegans u. a. mit stimmungsvollen Liedern vertreten. Dann folgen noch Fabeln, Sprüche und Sinngedichte; in dieser Gruppe befinden sich Friedrich Bodenstedt, Adolf Pichler, Wilhelm Hertz, Ludwig Fulda, Georg Scherer.

Viel bringt der neue Musen-Almanach und wohl allen etwas. Künstler, wie W. Kray, Chr. Kröner, G. von Hößlin, F. A. von Kaulbach, R. Geiger und H. Lossow haben ihn mit trefflichen Bildern aus der alten und neuen Welt und aus dem stets unwandelbaren Leben der Natur ausgeschmückt, und so wird er für den Weihnachtstisch die willkommenste Gabe sein. †     

Im Mondenschein. (Zu dem Bilde S. 829.) Wer hat ihn nicht empfunden, den wunderbaren Zauber der Sage vom Lurleifelsen, den Heine in sein unsterbliches Lied „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ gebannt hat. Wer vermag es, ohne ahnungsvolle Schauer auf den Fluthen des Rheinstroms vorbeizufahren an dem trutzigen Fels, auf dem die Phantasie ihm die schönste Jungfrau im goldenen Haare erscheinen läßt. Ist es ein Wunder, daß ein solch mächtiger Quell überwältigender Poesie sich vor allem dem Dichter erschließt, dem Dichter, der berufen ist, die schlummernde Märchenprinzessin, die Sage, zu blühendem Leben zu wecken, und dem Künstler, der die Kraft in sich hat, ihre Gestalt in sichtbarer Leibhaftigkeit vor das Auge zu rücken?

So haben denn auch ein Dichter und ein Künstler zusammengewirkt, ein Werk zu schaffen, das den vollen Reiz der Lurleisage über uns ausgießt. Zu der Dichtung „Lurlei“ von Julius Wolff hat Wilhelm Kray einen Cyklus von zwölf Bildern geschaffen, die in einer Prachtausgabe bei Franz Hanfstängl Kunstverlag A.-G., München, erschienen sind.

Freilich hat Kray seine Arbeit nicht selbst zu Ende führen dürfen; er ist darüber gestorben, und es blieb die verantwortungsvolle Aufgabe L. W. Heupels, das Begonnene im Sinne des Meisters zu vollenden. Daß es ihm gelungen ist, zeigt das fertige Werk, aus dem wir unsern Lesern eine Probe vorlegen.

Im schwanken Kahne beim Vollmondschein hat der junge Graf Lothar die zauberhafte Maid Lurlei gefunden und ihre Liebe gewonnen. Voll Hingebung spricht sie die Worte:

„Das hätt’ ich nicht geglaubt,
Daß Liebe so beglücken,
So selig machen kann,
Und Sinn und Verstand berücken,
Du einzig lieber Mann!“

Aber der wankelmüthige Graf verläßt sie schnöde, und nun kehrt sie zurück, von wo sie gekommen, in die Tiefe des Rheins zu ihrer Mutter Igorne, und Rache „an ihm und allem ohne Wahl, was Mann heißt in der Sonne Strahl“ ist fortan ihre Losung.

Von den deutschen Kolonialmünzen, deren erste wir auf Seite 579 dieses Jahrgangs beschrieben und abgebildet haben, ist nun auch die zweite zur Ausgabe gekommen, die nebenstehend abgebildete Silber-Rupie. Dieselbe kommt an Silberwerth nicht ganz dem Zweimarkstück gleich, ist etwas größer im Umfang als dieses, aber wesentlich dünner. Die eine Seite trägt um einen Schild, auf welchem ein Löwe mit stark erhobener rechter Tatze unter einem Palmbaum vorüber schreitet, wieder die Inschrift „Deutsch-ostafrikanische Gesellschaft“ und die Werthbezeichnung „Eine Rupie“, während die Jahreszahl sich unten auf dem Schilde befindet. Das Merkwürdigste aber an der neuen Münze ist das Bild des Kaisers auf der andern Seite. Es zeigt Wilhelm II. in der Uniform und mit dem adlergeschmückten Helme der Garde du Corps, darum die Schrift „Guilelmus II Imperator“. Die von dem üblichen Münzentypus abweichende Form des prächtig behelmten Kaiserkopfes wurde unzweifelhaft mit Rücksicht auf die für Eindrücke äußeren Herrscherpomps empfänglichen Sinne einer noch verhältnißmäßig wenig entwickelten Bevölkerung gewählt.

Die zweite deutsche Kolonialmünze.

Norwegischer Weihnachtsbrauch. (Mit Abbildung S. 833.) Wenn die Erde mit tiefem Schnee und harter Eiskruste bedeckt ist – das dauert in Norwegen noch ein gut Ende länger als bei uns – und die Vögel kein Körnchen mehr finden auf Feld und Flur, dann rettet sie der Menschen Barmherzigkeit vor dem Hungertode. Jedweder, ob arm oder reich, steckt zum Weihnachtsabend ein Getreidebündel mit den vollen schweren Aehren an den Dachfirst seines „Stabburs“, jenes von norwegischen Gehöften unzertrennlichen Speichers, dessen eigenthümliche Bauart unsere Abbildung veranschaulicht. Da können nun die hungernden Thierchen Einkehr halten und lustig drauf los schmausen an dem gastlich gedeckten Tisch, während die Gastgeber im Kreise der Familie das fröhliche Weihnachtsfest begehen.

Die Weihnachtsfreude weitet das Herz. Vielleicht öffnet sie auch da und dort diesem schönen norwegischen Weihnachtsbrauche die Thür, und hat der deutsche Landmann auch keinen „Stabbur“, so hat er doch sonst ein Plätzchen, darauf er sein Aehrenbündel stellen kann, den Vögeln des Himmels zur Speise, sich selbst zur Ehre.

Theurer Schnee. Mit den ersten Flocken stellt sich bei den Eisenbahnleuten von Beruf die Sorge ein – die Sorge um Aufrechthaltung des Verkehrs. An und für sich hat ein Schneefall nicht viel zu bedeuten. Gesellt sich zu den federleichten Krystallen aber ein scharfer Nordwest, Südwest oder Nordost, dann ist es gefehlt; die Schneeverwehung ist unausbleiblich. Nun wird der Schneepflug hervorgesucht, Tausende geschäftiger Hände werden um hohes Geld gedungen; das Handwerk der Schneeschipper kommt wieder zu Ehren.

Der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen läßt regelmäßige Aufzeichnungen über die für Wegräumung des Schnees aufgewendeten Kosten machen. Dieselben betrugen auf den Bahnen des Deutschen Reiches während des Winters 1888/89 nicht weniger als 3 745 722 Mark, davon entfallen auf den Bezirk Bromberg allein 851 390 Mark. 1887/88 erscheint ein Betrag von 3 653 768 Mark, 1886/87 ein solcher von 1 808 568 Mark. Die österreichisch-ungarischen Bahnen gaben zu demselben Zwecke aus 1888/89 3 516 341 Mark, 1887/88 1 963 044 Mark, 1886/87 2 166 045 Mark.

Der Jugendgarten. Zum fünfzehnten Male tritt der „Jugendgarten“ hinein in die weihnachtsfrohe Welt, seinen jungen Freunden, denen, für die er bestimmt ist, eine gewiß willkommene Gabe, aber auch seinen alten Freunden eine Quelle erfreulicher Gedanken. Ist er doch stets von neuem eine lebendige Erinnerung an die unvergeßliche Ottilie Wildermuth, aus deren Händen einst die ersten Bände hervorgingen, und wenn etwas das Schmerzliche, was eine solche Erinnerung immer in sich birgt, vergessen lassen kann, so ist es die Thatsache, daß ein Stück ihres Geistes fortlebt eben in dem „Jugendgarten“, welcher von ihren Töchtern mit so verständnißvoller Pietät und engverwandter Begabung fortgeführt wird.

Den Inhalt des fünfzehnten Bandes im einzelnen hier durchzusprechen, würde zu weit führen; denn es ist eine auch dem Umfange nach recht stattliche Festgabe, welche von der Verlagshandlung schön und geschmackvoll [836] ausgestattet worden ist. Die Herausgeberinnen, Adelheid Wildermuth und Agnes Willms, haben Gedichte und Erzählungen beigesteuert, andere Erzählungen stammen von Julius Weil, G. Reuter, Sally von Rüts; eine Vogelgeschichte von Dutti, Märchen von Luise Jüngst und Anna Fromm, geschichtliche und naturwissenschaftliche Skizzen schließen sich an. Marie Silling verwebt allerlei Kenntniß und Erfahrung in einen anmuthig geschriebenen Briefwechsel zwischen Tante und Nichte, ein kleines Theaterstück von Helene Binder, „Knecht Ruprecht auf dem Heimwege“, eignet sich zur Aufführung in den Weihnachtsferien, und zahlreiche Räthsel liefern Stoff zum Kopfzerbrechen an den langen Winterabenden. So ist also für viele Wünsche und Bedürfnisse gesorgt, und zwar gesorgt in jenem wohlthuenden Geiste von Anmuth und innerer Gesundheit, wie er allein des Namens werth ist, der noch immer auf dem Titelblatt des „Jugendgartens“ prangt, des Namens Ottilie Wildermuth. =      

Zum Weihnachtsball. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ein glückliches Menschenkind, das uns aus unserem Bilde entgegenschaut! Ihm sind Reichthum und Schönheit zu Theil geworden, und was der Reichthum thun kann, die Schönheit zu schmücken, das ist hier alles geschehen. Prächtig umschließt die weiße Atlasrobe die schlanke Gestalt, einer schmeichelnden zahmen Schlange gleich windet sich der seltene Pelz um Hals und Arme, die Rechte im hohen Glacéhandschuhe hält den noch geschlossenen Fächer gesenkt, zu dessen Herstellung der afrikanische Strauß sein Gefieder lassen mußte, und im üppigen Haare blitzen ein paar funkelnde Brillanten.

Ja, ein glückliches Menschenkind! Aber nicht Atlasrobe und Pelz, nicht Straußenfächer und Diamanten sind es, die es in dem Sinne glücklich machen, wie wir es meinen. Ihm ist mehr gegeben als äußerer Prunk und Glanz: ein sinniges Gemüth und ein weiches Herz, das auch unter der prächtigsten Hülle, inmitten einer gleißnerischen Welt, lauter und unverdorben weiter schlug und sich im harmlosen Genusse des Reichthums offen hielt für liebevolle Barmherzigkeit! Und woher wissen wir das? Wir lesen es in dem leichten, bescheidenen Neigen des Köpfchens, in dem ruhigen Blick aus den dunklen Augen, der so klar und unschuldig auf uns gerichtet ist; er kann nur eine reine Seele, ein keusches Kindergemüth wiederspiegeln!

Glückliches Menschenkind! Tritt Du nur an der Seite der sorgsamen Eltern hinein in den weihnachtsfrohen Ballsaal. Du bringst die richtige Stimmnng mit! =      


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.

E. Z., Bremen. Das ist ganz gut gemeint, und wir unterschreiben dem Standpunkt nach jeden Satz von Ihren „Modethorheiten der Frauen“. Aber man muß die Sache – verzeihen Sie das offene Wort – besser ausdrücken, und das soll demnächst einmal in der „Gartenlaube“ geschehen. Wenn Sie Ihr Manuskript zurückwünschen, dann geben Sie uns freundlichst eine genaue Adresse an.

L., Helmarshausen. Die Erfüllung Ihrer Bitte hat viel größere Schwierigkeiten, als Sie denken. Doch wollen wir Ihre Anregung im Auge behalten. Die Einbanddecken zur „Gartenlaube“ kosten je 1 ℳ 25 ₰.

A. D. in München. Die „Gartenlaube“ hat seinerzeit im Jahrgang 1888, S. 627 einen Athmungsstuhl beschrieben, der geeignet ist, den asthmatischen Beschwerden etwas abzuhelfen. Uebrigens kennt jeder Arzt eine Reihe von Mitteln, welche Linderung in Athemnoth verschaffen, und an einen Arzt würden auch Sie wohl am besten sich wenden.



Auflösung der altägyptischen Papyrusrolle auf S. 804:
Wer die Wahrheit will begraben, der muß viele Schaufeln haben.


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 6 auf S. 804:
1. D c 1 – c3 K d 5 X C 6 1. … g 6 X f 5, L g 4 X f 5
2. S f 5 – g 7 † K beliebig 2. a 7 – a 8 L † K d 5 X e 6
3. d 4 – d 5, – a 8 L matt 3. d 4 – d 5 matt
0
1. … K d 5 – c4 1. … S c 8 – b 6 (c 7 )
2. D c 3 – c 2 † K beliebig 2. S c 6 – c 7 † K d 5 – e 4
3. S c 6 – g 5, c 7 matt 3. S f 5 X d 6 matt
0
1. … S h 2 – f 1 1. … L g 4 – h 5 (e 2, d 1)
2. S c 6 X g 5 beliebig 2. S f 5 – c 3 † beliebig
3. S f 5 – e 3, c 7, a 7 – a 8 L matt 3. S e 6 X g 4, d 4 – d 5 matt,
0
1. … S h 2 – f 3
2. S e 6 – c 7 † K d 5 – e 4
3. D c 3 – c 2 matt
Auflösung des Drudenfußes auf S. 804:
Auflösung des Homogramms auf S. 804:
Auflösung der Domino-Patience auf S. 804:

 1–2: Trifels.
 2–3: Spalato.
 3–4: Oranien.
 4–5: Niemand.
 5–1: Diamant.

Auflösung der Damespielaufgabe auf S. 804:
1. D e 5 – b 8 1. D c 5 – g 1 †
2. D h 8 – c 3 2. h 4 – f 2 †
3. D c 3 – e 1 3. D g 1 – h 2
4. D e 1 – g 3 † und gewinnt.


Auflösung des Räthsels auf S. 804: Polarstern.
Auflösung der Charade auf S. 804: Anti – Lope, Antilope.
Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 804: Sonne – Sonde.



manicula 0 Hierzu die Kunstbeilage „Zum Weihnachtsball“, Weihnachtsgruß der „Gartenlaube“ an ihre Leser.


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

E. Marlitt’s Romane und Novellen.

Illustrierte Gesamt-Ausgabe.
Zehnter Band: „Thüringer Erzählungen“.

Mit diesem Bande liegt die Gesamt-Ausgabe von Marlitt’s Romanen nunmehr vollständig vor.


Zur Aufnahme der 10 stattlichen Bände hat die Verlagshandlung eine feine englische Leinwand-Truhe mit Goldpressung herstellen lassen, und kostet die vollständige Sammlung:

10 Bände, elegant gebunden, in Kassette 40 Mark.

In diesem geschmackvollen Arrangement bildet die Illustrierte Marlitt ein hervorragend schönes und werthvolles Festgeschenk für Weihnachten und andere Gelegenheiten.


Inhalt: Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamsell.“ Mit Illustrationen von C. Koch. – Bd. 2. „Das Heideprinzeßchen.“ Mit Illustrationen von Erdmann Wagner. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela.“ Mit Illustrationen von J. Kleinmichel. – Bd. 4. „Im Schillingshof.“ Mit Illustrationen von Wilhelm Claudius. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrates.“ Mit Illustrationen von H. Schlitt. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen.“ Mit Illustrationen von C. Zopf. – Bd. 7. „Die zweite Frau.“ Mit Illustrationen von A. Zick. – Bd. 8. „Goldelse.“ Mit Illustrationen von Wilhelm Claudius. – Bd. 9. „Das Eulenhaus.“ Mit Illustrationen von C. Zopf. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen.“ („Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“). Mit Illustrationen von M. Flashar, E. Herger und A. Mandlick.

In den meisten Buchhandlungen vorrätig. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
–– Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. ––

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Auf Körpergewicht berechnet ist 1/1500 von der Menge, welche beim Meerschweinchen noch keine merkliche Wirkung hervorbringt, für den Menschen sehr stark wirkend.