Eine kleine Vergnügungsreise

Textdaten
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Autor: Hans Arnold
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Titel: Eine kleine Vergnügungsreise
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46–48, S. 782–787, 798–803, 813–818
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine kleine Vergnügungsreise.

Humoreske von Hans Arnold.

Im Hause des Amtsrichters Schwarz war gestern die Schwester der Frau Amtsrichter angekommen, die, eben aus der Pension entlassen, hier ihre Heimath finden sollte. Beide Schwestern, durch ihre Elternlosigkeit doppelt auf einander angewiesen, freuten sich trotz des Altersunterschiedes von zehn Jahren herzlich auf ihr Zusammenleben und saßen heut schon behaglich im Fensterplatz bei einander.

Die Amtsrichterin, eine sehr hübsche, muntere Frau mit dunkeln Haaren und blauen Augen, hörte mit nur schlecht verhehlter Belustigung dem kindlichen Geplauder der Jüngeren zu. Diese, ein bildhübscher, blonder Backfisch, war vor der Hand noch etwas schüchtern, und nur mit der Schwester allein wagte sie ihre Betrachtungen und Erlebnisse, deren noch sehr wenige zu sein schienen, zu erzählen. Solange der Amtsrichter zugegen gewesen, war die kleine Schwägerin stumm geblieben und hatte mit hartnäckig niedergeschlagenen Augen dagesessen, kaum ein leises „ja!“ oder „nein!“ auf alle Fragen antwortend, so daß der Herr des Hauses seine Versuche, sich mit dem jungen Gast zu unterhalten, schon achselzuckend aufgegeben hatte. Eben stellte die Amtsrichterin ihre Schwester über diesen Punkt zur Rede.

„Aennchen, Du mußt nicht so ängstlich gegen Karl sein,“ sagte sie vorwurfsvoll, „er liebt das gar nicht!“

„Ja, ich kann mir nicht helfen, Helene,“ erwiderte die Kleine treuherzig, „Du mußt es mir nicht übelnehmen – aber Karl kommt mir so furchtbar heftig vor! Heut morgen z. B., wie der Milchtopf umfiel – Himmel, wie fuhr er da auf! Nein – ich fürchte mich entsetzlich vor ihm.“

Helene lachte.

„Du bist eine kleine Thörin,“ sagte sie und strich der Schwester über das blonde Haar, „Karl ist im Grunde der gutmüthigste Mensch von der Welt und sein Poltern nur eine Art von äußerlicher Angewohnheit. Wenn Du so etwas so schwer nehmen willst, darfst Du einmal gar nicht heirathen.“

„Nun?“ setzte sie nach einer erwartungsvollen, kleinen Pause hinzu.

Aennchen blickte auf. „Was denn – nun?“ frug sie.

„Ich erwartete den Ausruf der Entrüstung, mit dem alle sechzehnjährigen Mädchen auf eine derartige Aeußerung antworten und mit größter Bestimmtheit versichern, sie wollten überhaupt nie heirathen!“

Anna nahm ihren langen blonden Zopf in die Hand und warf ihn wieder über die Schulter zurück – sie erwiderte nichts.

Helene hob ihr den Kopf am Kinn in die Höhe.

„Aennchen, Aennchen – was muß ich sehn! Du bist ja ganz roth geworden! Du Pensionskücken wirst doch nicht Heirathsgedanken haben?“

Anna stand hastig auf.

„Heirathen, Helene – solcher Unsinn! Aber ich will es doch nicht geradezu verschwören, – das würde ich sogar für unrecht halten,“ setzte sie feierlich hinzu; „‚man soll nie etwas mit Bestimmtheit aussprechen, was man nicht ganz sicher ist, halten zu können!‘ sagte Mademoiselle immer.“

Sie trat ans Fenster und sah hinaus.

„Nein, Kind – mit diesem tugendhaften Gemeinplatz kann ich mich bei der Veranlassung nicht zufriedengeben,“ warf Helene ein, die ihr gefolgt war, „gestehe es doch – Du hast irgend jemand gesehen, der in Deinem thörichten Köpfchen solche Ideen hervorgerufen hat.“

Aennchen sah angelegentlich auf die Straße.

„Aber Helene – kein Gedanke!“ sagte sie energisch.

„Gewiß einen recht überspannten, unreifen Jüngling,“ fuhr Helene unbeirrt in strafendem Tone fort, „mit einer Künstlermähne und rollenden, schwarzen Augen!“

Das junge Mädchen drehte sich hastig und glühend roth um.

„Keine Spur! – blaue Augen und ganz kurz geschnittene Haare – blond! – Ach!“ rief sie dann, erschrocken über das unfreiwillige Zugeständniß, und schlug die Hände vors Gesicht.

„Aha!“ sagte Helene ruhig, „das nennt man ‚kein Gedanke!‘ Und wo hast Du diesen kurzgeschorenen Helden kennengelernt?“

[783] Das junge Mädchen ließ die Hände sinken und sah der Schwester trotzig ins Gesicht.

„Da Du’s nun doch weißt – wir vier Aeltesten aus der Selekta waren gestern vor acht Wochen –“

So lange hat’s vorgehalten?“ neckte Helene; „Aennchen, Aennchen – nun wird mir angst! Also gestern vor acht Wochen – weiter! was war da?“

„Wir waren auf einem kleinen Ball beim Bürgermeister – eigentlich ein Tanzstundenball – es war himmlisch! Und da war Er auch!“ fügte Anna leise hinzu.

„Wie heißt Er denn?“ frug Helene gespannt.

„Das weiß ich nicht! Nur den Vornamen – Er heißt Kurt! Reizend – nicht wahr?“

„Was habt Ihr denn zusammen gesprochen?“ forschte Helene weiter, ohne auf die Begeisterung der Schwester einzugehen.

Kein Wort! – Das war eben das Schöne!“ sagte Anna mit großer Entschiedenheit. „Siehst Du, Helene, ich habe mir gedacht, wenn er überhaupt spräche, müßte er etwas Entzückendes sagen – ganz etwas Besonderes – und wenn er dann gesprochen hätte wie andere Leute, wäre ich zu sehr enttäuscht gewesen! Da war ich froh, daß er überhaupt nicht mit mir sprach! Er hat sich mir auch gar nicht vorstellen lassen,“ setzte Anna mit sinkender Stimme hinzu, „und wenn ich ihn nicht mit einer andern Dame hätte sprechen hören, wüßte ich nicht mal, wie seine Stimme klingt und wie er mit dem Vornamen heißt!“

Sie schwieg.

„Ach, wenn Du lachst!“ sagte sie dann vorwurfsvoll.

„Ach Aennchen, Aennchen,“ erwiderte Helene und trocknete ihre Lachthränen, „das ist ja ein recht gefährlicher Roman! Und was hast Du ihn denn sprechen hören? War das nun so überwältigend geistreich?“

Das Backfischchen sah etwas verlegen drein.

„O ja,“ sagte sie dann zögernd, „ich fand es ganz hübsch! Eine ältere Dame sagte zu ihm: ‚Tanzest Du denn gar nicht, Kurt?‘ Da sagte er mit sehr hübscher, tiefer Stimme: ‚Nein, Tante, zu solchem Lämmerhüpfen bin ich denn doch nicht mehr kindlich genug!‘“

„Allerdings ein bedeutender Ausspruch!“ bemerkte Helene, die noch immer nicht ihren gebührenden Ernst wiedergefunden hatte, „aber nun weiß ich ja Deine ganze Herzensgeschichte, – jetzt muß ich gehen, Kind! Karl kann jeden Augenblick kommen und sein zweites Frühstück verlangen!“

Sie verließ das Zimmer und Aennchen blieb allein zurück, mit ganzer Seele wieder in ihren Traum hinein versetzt. Nachdem sie sich vorsichtig überzeugt hatte, daß sie allein und von keines Menschen Auge beobachtet sei, zog sie eine seidene Schnur aus ihrem Kleide, an der eine kleine Kapsel hing.

In dieser Kapsel trug sie, nach dem Vorbild sämmtlicher Schülerinnen der Selekta, den Anfangsbuchstaben des angeschwärmten Helden – und zwar aus dem an und für sich nicht sehr poetischen Stoffe des – Nudelteigs angefertigt, den ein unternehmender Materialwarenhändler der Pension gegenüber in ganzen Alphabeten feil hielt. Der Mann machte glänzende Geschäfte damit – besonders da in dem Alter, in welchem seine Kundinnen sich sämmtlich befanden, der Anfangsbuchstabe der „ersten und einzigen“ Liebe öfters zu wechseln pflegt und dann unter tiefem Erröthen und großer Verlegenheit statt des heilig gehaltenen A nun vielleicht ein B in die Kapsel wandert.

Unser Aennchen machte aber von diesen flatterhaften Grundsätzen eine rühmliche Ausnahme! Ihr Herz hatte in der Tanzstunde den gefährlichen Erscheinungen sämmtlicher Primaner und sogar zweier Studenten gänzlich und erfolgreich Widerstand geleistet, und der Klavierlehrer war ihr der gleichgültigste der Menschen geblieben!

Ja, sogar der junge Docent, dem das beneidenswerthe Amt oblag, die „erste Klasse“ in der Litteraturgeschichte zu unterrichten, hatte sie kalt gelassen – er, der sonst alle Mädchenherzen in Flammen setzte, dem man die Ueberschuhe mit Rosenblättern füllte, aus dessen Pelz man Haare auszupfte, um sie im Brieftäschchen bei sich zu tragen, und der durch die männliche Entschiedenheit, mit der er sich eines Tages „derartige Albernheiten“ verbat, noch einen dämonischen Zauber mehr in den Augen seiner Schülerinnen gewann.

Wie gesagt, auch dieser war Aennchens Ruhe nicht verderblich geworden – dem unbekannten Kurt blieb es vorbehalten, ihr sechzehnjähriges Herz ohne jede Bemühung von seiner Seite einzunehmen, und das K aus Nudelteig sollte, so gelobte sie sich, ewig, unverdrängt durch einen andern Buchstaben in ihrer Kapsel bleiben. Der Abschied von der Pension, die zugleich „Seinen“ Aufenthaltsort zu bedeuten schien, war ihr wesentlich erleichtert worden, indem ihr das namenlose, allerdings stark mit Wehmuth versetzte Glück zu theil wurde, daß sie den Unbekannten eines Tages in einer Droschke mit einem Koffer wie andere Sterbliche nach dem Bahnhof hatte fahren sehen. Er war also fort – wohin? ließ sich bei der unbequemen Größe der Welt und der Unberechenbarkeit der Eisenbahnen allerdings nicht feststellen, und sich nach ihm zu erkundigen, hätte Anna in ihrer Schüchternheit nie fertiggebracht.

Aber mit der der Jugend eigenen Hoffnungsseligkeit ging sie jetzt umher und war fest überzeugt, der Unbekannte würde ihr irgendwo und irgendwann wieder begegnen. Hier, in dem kleinen Krähwinkel, das Schwager und Schwester nun seit sechs Jahren bewohnten, war dies freilich recht unwahrscheinlich – aber wer konnte wissen! Sie zog wieder ihre Kapsel hervor, betrachtete das K und seufzte so recht aus tiefstem Herzen.

In demselben Augenblick ging die Thür auf und ihr Schwager, der Amtsrichter Schwarz, trat in das Zimmer, von seiner Frau gefolgt. Anna fuhr mit einem leichten Schrei zusammen und verbarg ihr Heiligthum.

„Nun, was hast Du denn?“ frug der Hausherr etwas verdrießlich, „Du thust ja, als ob ich der schwarze Mann wäre!“

„Laß sie nur,“ beschwichtigte Helene, „sie muß erst bekannter werden, dann wird sie schon aufthauen!“

Der Amtsrichter hatte inzwischen an dem zum zweiten Frühstück gedeckten Tisch Platz genommen. Er war ein ganz hübscher, angenehm aussehender Mann mit einem Zuge von Humor um die Lippen, der nur ungenügend durch einen etwas grämlichen Blick und buschige Augenbrauen versteckt wurde. Der Amtsrichter war nie aus kleinen Städten herausgekommen – eine Thatsache, die dem Menschen unbarmherzig ihr Gepräge aufzudrücken liebt! In einem Nest von zehntausend Einwohnern aufgewachsen, hatte er auf der winzigsten aller Universitäten studiert und seine Referendariatszeit in einem oberschlesischen Städtchen zugebracht, wo er als „der Referendar“ ohne weitere Bezeichnung umherging – ja sogar in der Ortskneipe am Stammtisch nur ein Serviettenband mit der Aufschrift „der Referendar“ hatte, weil er eben einzig in seiner Art und dadurch jede Verwechselung ausgeschlossen war.

Dort hatte er seine Frau kennengelernt, und das Ehepaar saß nun, wie erwähnt, seit sechs Jahren in einer andern kleinen Stadt, in der jeder die genaueste Lebensbeschreibung des andern liefern konnte, dessen Speisezettel auswendig wußte und genau erfuhr, wenn die Post dem lieben Nächsten ein Packet brachte – wo dann nach Form und Größe dieses Packets der nächste Damenkaffee die unfehlbarsten Schlüsse auf den Inhalt und den Absender des fraglichen Gegenstandes zu ziehen verstand. Der Amtsrichter Schwarz, als Honoratiore der Stadt, litt natürlich ganz besonders unter der leidenschaftlichen Aufmerksamkeit seiner Nachbarn und behauptete, er könnte sich keinen Knopf an den Rock nähen lassen, ohne daß seine guten Bekannten dies frohe Ereigniß sich gegenseitig meldeten, sich darüber wunderten und ergötzten – ja, er könnte, meinte er, sehr froh sein, wenn das Lokalblättchen sich nicht der Thatsache bemächtigte und sie in einem pikant gehaltenen Artikel seinen Lesern am nächsten Morgen vorsetzte.

Dieser Zustand hatte sich im Laufe der Jahre im Bewußtsein des Amtsrichters bis zur Unerträglichkeit gesteigert, und wie sich schwierige innerliche Vorgänge in bestimmten Menschen oft verkörpern, so gipfelte alle die Kleinstädterei, die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle für die Familie Schwarz in der Person des Apothekers Lebermann, eines ganz gutmüthigen, aber entsetzlich langweiligen und neugierigen Mannes, der sich für alles in der Welt interessirte und alles wissen wollte – andererseits aber auch dieselbe rege Antheilnahme für sich und seine Erlebnisse bei seinen Nebenmenschen voraussetzte.

Der Amtsrichter kehrte heut, an dem Tage, da unsere Erzählung beginnt, schon ein wenig gereizt vom Gericht zurück, und sein Antlitz verdüsterte sich merklich, als er den Apotheker auf sich zukommen sah.

War es, wie wir gehört haben, Herrn Lebermanns berechtigte Eigenthümlichkeit, alles wissen zu wollen und mit einer gewissen [784] bohrenden Zähigkeit seinen lieben Nächsten so lange durch Fragen mürbe zu machen, bis dieser ihm die gewünschte Auskunft wüthend an den Kopf warf wie ein gereizter Quartaner einen Schneeball, so war der Amtsrichter von Natur eher das, was man im gewöhnlichen Leben einen Geheimnißkrämer nennt. Niemand sollte wissen, was er that, was er trieb, wo er seine Sachen kaufte und mit wem er in Briefwechsel stand – ja sogar seinen Vornamen betrachtete er als tiefstes Geheimniß, und es hatte einmal zu einem leidenschaftlichen Zerwürfniß mit seiner Frau geführt, als sie, diesen Grundsatz nicht gebührend würdigend, ihn in der Eisenbahn mit der harmlosen Anrede: „Sieh doch die reizende Aussicht, Karl!“ – vor den Mitreisenden demaskirt hatte.

Die beiden so sehr verschiedenen Herren trafen sich also, und während der Amtsrichter sich wie ein Aal wand, um dem Apotheker zu entgehen, hielt dieser ihn ebenso beharrlich fest und eröffnete die Unterhaltung mit der allerdings schon durch den Augenschein genügend beantworteten Frage: „Nun, kommen Sie schon vom Gericht, Herr Amtsrichter?“

„Nein!“ sagte der Amtsrichter unliebenswürdig.

„Nein?“ wiederholte Herr Lebermann verwundert, „aber das ist doch Ihr gewöhnlicher Weg? Wo kommen Sie denn her?“

Der Amtsrichter stellte sich taub.

„Um die Zeit kommen Sie doch gewöhnlich vom Gericht,“ fuhr Herr Lebermann fort; „ach, Sie wollen’s bloß nicht sagen,“ setzte er gemüthlich hinzu, „ich weiß es ganz gut!“

„Nun, wenn Sie’s wissen, brauchen Sie mich ja nicht erst zu fragen,“ brummte der Amtsrichter.

„Und jetzt gehen Sie nach Hause,“ bemerkte Herr Lebermann mit der glücklichen Sicherheit eines Mannes, der seinen Lebenszweck erreicht hat, genau über anderer Leute Ziele und Wege auf dem Laufenden zu sein, „ich komme ein Stückchen mit! Ich gehe nämlich jetzt jedem Tag um diese Zeit spazieren!“

„Das machen Sie recht!“ bemerkte Herr Schwarz mit tödlicher Gleichgültigkeit.

„Und wenn ich nach Hause komme, esse ich mein belegtes Brötchen,“ theilte der Apotheker vertraulich mit, „nur eins! sonst verderbe ich mir das Mittagsessen! Ja, dabei fällt mir ein – wie bekommt Ihnen denn das spätere Mittagsbrot?“

Der Amtsrichter sah ihn giftig an.

„Woher wissen Sie denn, daß ich später esse wie gewöhnlich?“ frug er entrüstet.

„Nun, Ihre Pauline ist ja die Schwester von unserer Klara – die hat es ihr erzählt. Nicht wahr, Sie essen um halb Zwei?“

„Wie es kommt!“ stieß der gereizte Amtsrichter hervor, der seiner selbst kaum mehr mächtig war, „aber hier bin ich zu Hause – guten Morgen, Herr Lebermann!“

„Halt!“ sagte der Apotheker und faßte den Amtsrichter, der sich ärgerlich loszumachen suchte, am Rockknopf; „noch eins – bei Ihnen ist wohl Besuch angekommen?“

„Warum?“ frug Schwarz, zitternd vor Zorn – er hatte seine Schwägerin vor zwölf Stunden bei stockfinsterer Nacht von der Bahn geholt und hoffte, die Thatsache ihrer Anwesenheit sei noch niemand bekannt.

„Nun, ich sah heute, daß Ihre Pauline drei Törtchen von Steidler holte,“ meinte der Apotheker harmlos, – „sonst haben Sie doch immer zwei – da dachte ich mir –“

Der Amtsrichter warf dem Frager einen vernichtenden Blick zu.

„Nehmen Sie doch den Fall an, ich hätte einmal zwei Törtchen essen wollen!“ sagte er mit beängstigender Höflichkeit und ging voll Aerger in das Haus.

Große Entschlüsse reiften in seinem Herzen, und das Ergebniß dieser Ueberlegungen zeigte sich darin, daß er, als er mit seinen Damen beim zweiten Frühstück saß, plötzlich die überraschenden Worte ausstieß: „Wir reisen heute abend nach Berlin!“

Helene ließ die Gabel sinken und sah ihren Mann mit weitgeöffneten Augen an. „Heute abend?“

„Na, wenn ich sage, heute abend, da meine ich nicht in anderthalb Jahren,“ brummte der Hausherr. „So seid Ihr Frauen! Immer hast Du geredet und gebeten: wir wollen doch einmal reisen – wir wollen doch einmal herauskommen! Und jetzt, wo ich es Euch anbiete, machst Du Schwierigkeiten!“

„Aber bester Karl!“ beschwichtigte seine Frau, „ich war ja nur so überrascht durch den plötzlichen Entschluß! Wie kommst Du denn darauf?“

„Ich habe die Krähwinkelei hier satt – und besonders den Apotheker!“ sagte Karl energisch. „Was tausend – ich kann mir ja nicht die Nase putzen, ohne daß der Lebermann herschickt und mich fragen läßt, ob ich den Schnupfen habe! Die Leute ersticken einen hier mit ihrer Neugier! Ich will einmal sehen, wie es in einer großen Stadt ist, wo man so ganz inkognito herumgeht – ich kann gerade den Sonntag über abkommen – wir nehmen drei Retourbillette und fahren heute abend nach Berlin! Abgemacht! Geht und packt Eure Sachen!“

Er legte die Serviette zusammen und erhob sich. Ein halblauter Ausruf Aennchens unterbrach ihn:

Drei? – fahre ich auch mit?“

Eine so unverhohlene Glückseligkeit sprach aus ihrem reizenden Gesichtchen, daß der Schwager sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.

„Na freilich,“ sagte er, „wir werden Dich doch wohl nicht zu Hause lassen!“

„Ach, Karl – danke!“ rief Anna hocherfreut, und während Helene ihren „Brummbär“ von der einen Seite streichelte, klopfte die kleine Schwägerin ihn von der andern auf die Schulter, „danke, Karl – Du bist entzückend!“

„Na, das hat mir auch seit meinem zweiten Jahr keiner mehr gesagt,“ meinte der Amtsrichter, dessen üble Laune vor den Strahlen der durch ihn verbreiteten Glückseligkeit zerging wie Schnee an der Frühjahrssonne, „nun weiß ich doch, wie man solche kleine, scheue Vögel zahm macht – nicht wahr, Helene? Entzückend!“

Und mit einem halb ironischen, halb geschmeichelten Achselzucken verließ er das Zimmer, um sich in das Studium des Kursbuches zu vertiefen, welches ihm wie den meisten selten reisenden Leuten ein Buch mit sieben Siegeln war.

Der Tag, an welchem dieser folgenschwere Entschluß gefaßt wurde, war ein kalter, windiger Herbsttag, der aufs entschiedenste gebot, sich für die Nachtfahrt mit warmen Kleidungsstücken zu versehen, Die Damen waren den ganzen Nachmittag mit dem Herrichten ihrer Garderobe beschäftigt, die sich plötzlich, angesichts der Reise, in mancherlei Hinsicht als der Ergänzung bedürftig erwies.

„Das kaufen wir alles in Berlin!“ beruhigte Helene die Schwester, die mit äußerst sorgenvoller Miene ihr einfaches Strohhütchen aufsetzte und gar nicht zu bemerken schien, wie allerliebst es ihr zu Gesicht stand. Der Amtsrichter ging ab und zu und warf kurze Bemerkungen in das Zimmer der Damen: „Nehmt nur nicht die halbe Aussteuer mit auf die zwei, drei Tage!“ warnte er.

Der Abend kam schnell heran, die Zeit wurde möglichst ausgenutzt, und als schon die Lampen brannten, fand sich immer noch dies und jenes, was zu besorgen oder zu bestellen war. Im letzten Augenblick – man saß schon beim Thee – fiel dem Hausherrn nach etwas ein – er klingelte.

„Hast Du besorgt, was ich Dir heute vormittag auftrug?“ frug er das eintretende Mädchen in seiner geheimnißvollen Art.

Pauline sah ihren Herrn mit nicht allzu geistreichem Ausdruck an.

„Was denn, Herr Amtsrichter?“

Das abgeholt!“ umschrieb der Angeredete.

Pauline schwieg aus entschiedenstem Mangel an Verständniß.

„Aber Karl, sage ihr doch, was Du meinst,“ bat Helene, „die Zeit drängt – wir müssen ja fort!“

„Nun ja,“ erwiderte der Amtsrichter verdrießlich, „Ihr könnt es natürlich nicht ertragen, wenn Ihr nicht wißt, wovon die Rede ist! Hast Du meinen Pelz vom Kürschner geholt, Pauline?“

Pauline erröthete schuldbewußt.

„Ach, das habe ich ganz vergessen, Herr Amtsrichter – ich springe jetzt noch rasch hin!“

„Ja, und ‚springst‘ erst zurück, wenn wir schon in der Bahn sitzen,“ sagte ihr Herr verächtlich; „na, dann werde ich mich eben an den Tod erkälten auf der Reise – wenigstens brauche ich dann dem Lebermann nicht zu erzählen, wie es bei meinem Begräbniß war!“

„Nun, nun, Karl,“ beschwichtigte Helene diese düstere Auffassung, „da ließe sich wohl noch ein Mittelweg finden! Pauline bringt uns den Pelz direkt auf die Bahn und Du nimmst ihn dort in Empfang! Verstehst Du, Pauline?“

[786] Die Pauline nickte gedemüthigt und trollte sich, während der Amtsrichter aufstand und sich die kleine Ledertasche für Geld und Billette umhing, seine Damen auch zur Eile antreibend:

„Macht Euch fertig, Kinder – ich glaube, da kommt schon der Wagen!“

Droschken gab es nicht; ein Lohnkutscher stellte zu den äußerst seltenen Gelegenheiten, wo man in Solau nicht zu Fuß ging, – also meist nur zu Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen – seinen Zweispänner. Dieser war auch für heute abend gewonnen, um Amtsrichters zur Bahn – und auf dem Rückweg die wichtige Neuigkeit von ihrer Reise durch die ganze Stadt zu bringen, die man zu abseitiger Freude mit ihrem Geklatsch und vor allem mit Lebermann auf ein paar Tage hinter sich lassen wollte.

Als die Amtsrichtersfamilie auf dem Bahnhof ankam, erlitt ihre frohe Laune noch eine kleine Trübung, indem Pauline mit dem Pelz nicht zu erblicken war. Vergeblich spähte alles durch das Dunkel der Nacht, und schon hatte man, in sein Schicksal ergeben, die Plätze im Wagen eingenommen, als die Erwartete wie Schillers Taucher athemlos herbeistürzte, „und hoch in ihrer Linken schwang sie den Pelz mit freudigem Winken!“ Der Amtsrichter schlüpfte eilig in die wärmende Hülle, und es war auch die höchste Zeit, denn schon wurden die Wagenthüren zugeschlagen – ein gellender Pfiff – und der Zug setzte sich in Bewegung.

Unsere drei Reisenden waren in rosigster Stimmung. Helene, die seit ihrer Verheirathung keinen Fuß aus der Provinz gesetzt hatte, malte sich die Herrlichkeiten Berlins in den buntesten Farben aus, und Aennchen träumte unbestimmte, goldene Träume und baute die glänzendsten Luftschlösser, in denen der unbekannte Kurt immer im entscheidenden Augenblick aus irgend einem Fenster sah.

Der Amtsrichter rieb sich vergnügt die Hände.

„Na – endlich einmal aus unserem elenden Nest heraus,“ sagte er und lehnte sich behaglich in die Ecke zurück, „nun wollen wir alle hübsch schlafen und erst morgen früh in Berlin die Augen wieder aufthun!“

Die Nachtfahrt ging ohne Störung vorüber, und erst kurz vor Berlin erwachte man allerseits und fuhr mit dem gehobenen Bewußtsein, sich in der Reichshauptstadt zu befinden, in den Bahnhof Friedrichstraße ein.

Der Amtsrichter steckte sein etwas verschlafenes Haupt zum Wagenfenster hinaus.

„Da seht einmal dies Gewimmel und Getreibe,“ sagte er fröhlich, „hier ist es freilich anders wie bei uns in Solau! Hier verschwindet der einzelne wie ein Tropfen im Meer, und keiner kümmert sich um das, was der andere thut und treibt. Nun steigt aus, Kinder!“

Er dehnte sich behaglich und nahm die Handkoffer aus dem Wagennetz, um sie seinen Damen zuzureichen, denen er sogleich auf dem Fuß folgte.

„Seht Ihr, hier kennt einen nun kein Mensch,“ begann er dann von neuem, „wir können die drei Tage thun und treiben, was wir wollen – man ist wie auf einem großen Maskenball!“

„Guten Morgen, Herr Amtsrichter!“ tönte in dem Augenblicke eine Stimme hinter ihm, „darf ich eine Droschke besorgen?“

Der Angeredete fuhr erschreckt zusammen. Ein ihm und seinen Damen gänzlich unbekannter Kofferträger stand vor ihm und griff mit einem sehr verschmitzten Gesicht eben nach den Gepäckstücken, mit denen er sich mit lastthierartiger Geschicklichkeit belud.

„Woher kennen Sie mich denn?“ frug der Amtsrichter etwas gereizt über diesen sofortigen Angriff auf sein Inkognito.

Der unbekannte Freund hatte aber bereits den Weg nach der Droschke angetreten und schaffte die Koffer auf deren Verdeck.

Ein herrlicher Herbstmorgen lag dämmernd über der Stadt, die in ihrer vornehmen Großartigkeit unseren Kleinstädtern verlockend winkte.

„Weißt Du, Karl,“ begann Helene, die sich mit Aennchen inzwischen über ihre gemeinsamen Absichten und Wünsche verständigt hatte, „wie wäre es denn, wenn wir zu Fuß nach dem Hotel gingen? Da wir nur so kurze Zeit hier sind, müßten wir doch jeden Augenblick auskosten, und ich glaube, nach der durchreisten Nacht wird uns ein Spaziergang sehr viel erfrischender sein als die Droschkenfahrt!“

„Ach ja!“ stimmte Aennchen ein, deren strahlende Augen die neue Wunderwelt betrachteten wie ein Kind das Märchenland.

„Nun, immer zu!“ versetzte der Amtsrichter, den die Luft der Residenz mit einem Schlage in einen jovialen Lebemann umgewandelt hatte, „ich hole nur einen Plan von Berlin und bin gleich wieder bei Euch!“

Er bezahlte die Droschke, während die Damen langsam voranschritten, und gab noch ein Trinkgeld, um sicher zu sein, daß der Rosselenker auch die Koffer richtig am Hotel abliefern würde. Als er sich nach dem Bahnhof zurückwandte, wo er den Plan zu erstehen beabsichtigte, rief ihm der Droschkenkutscher nach:

„Danke bestens, Herr Amtsrichter!“

Der brave Mann stutzte nun doch – er warf einen mißtrauischen Blick zurück, – da stand noch immer der Kofferträger neben der Droschke, und beide Männer grinsten teuflisch.

„Aha!“ dachte unser Amtsrichter, „der Kerl hat vorhin gemerkt, daß er mich mit seiner dummen Anrede geärgert hat, und nun utzen sie mich hier in Kompagnie. Das ist so Berliner Humor – das muß man sich hier gefallen lassen!“

Mit einem Plan von Berlin bewaffnet, der ungefähr so groß war wie ein mäßiger Bettschirm, eilte der Amtsrichter seinen Damen nach, die an jedem Laden in der Friedrichstraße so sicher hängen blieben wie die Fliegen an der Leimruthe.

Ein schönes Schaufenster mit Gegenständen aus cuivre poli fesselte unsere Gesellschaft eben und der Amtsrichter sagte behaglich:

„Nun, labt Euch nur hier! Wo man so unbekannt ist, kann man ruhig an den Schaufenstern stehen bleiben!“

Er vertiefte sich seinerseits auch in die Betrachtung der Herrlichkeiken.

„Na, Herr Schwarz, das gefällt Ihnen wohl?“ rief da eine krähende Stimme, und ein Schusterjunge mit einem schelmischen Spitzbubengesicht huschte lachend an ihm vorüber.

Der Amtsrichter stand sprachlos.

„Nein, nun wird mir’s zu toll!“ rief er aus, „das geht nicht mit rechten Dingen zu! Kommt, Kinder, die Sache ist entschieden unheimlich! Das ist gewiß so eine Bauernfängergeschichte – machen wir, daß wir ins Hotel kommen! Redet mich aber noch einmal einer Herr Amtsrichter oder Herr Schwarz an, der soll’s kriegen!“

Die Schwestern waren auch schon ganz ängstlich geworden.

„Ja, ja,“ stimmte Helene bei, „gehen wir rasch nach dem Hotel – das ist ja ungemüthlich hier in Berlin! Ich begreife gar nicht, Karl,“ setzte sie hinzu, „Du mußt doch irgend einer stadtbekannten Persönlichkeit hier fabelhaft ähnlich sehen, die auch Schwarz heißt!“

„Und auch Amtsrichter ist?“ frug Karl höhnisch, „recht wahrscheinlich, mein Kind! Aber ich sage es ja, man muß nur einmal vergnügt sein wollen, gleich fängt der Aerger an!“

Sie waren im eifrigen Verhandeln über die mögliche Ursache des ungewöhnlichen Ereignisses weitergegangen und bemerkten plötzlich, daß sie die Richtung verloren hatten.

„Wo sind wir denn eigentlich?“ fragte Aennchen mit zitternder Stimme, „ich dachte, wir sollten hier unter die Linden kommen?“

„Eben, Karl,“ stimmte Helene bei, „Du führst uns ja immer weiter! Hier ist es schon gar nicht mehr hübsch, und ich bin auch todmüde!“

Karl zog seinen riesigen Plan hervor.

„Wartet einmal,“ sagte er würdevoll, „wir werden es gleich haben!“

Und er entfaltete das ungeheure Blatt. Ein tückischer Morgenwind aber zauste dasselbe unbarmherzig hin und her, und es blieb den Damen nichts anderes übrig, als sich wie Bannerträger rechts und links von dem Amtsrichter aufzupflanzen und den Plan zu halten. So schnell gelang es nun aber Karl nicht, sich zurechtzufinden, und während er noch suchte, kam ein großer feingekleideter Mann die Straße herunter und betrachtete mit unverhohlener Belustigung die auffallende Gruppe, Aennchens reizende Erscheinung dabei besonderer Beachtung würdigend. Das Gesicht des Fremden trug einen heiteren, fast übermüthigen Ausdruck und sah dabei so hübsch und angenehm aus, daß gar kein Grund vorhanden schien, warum Aennchen, die eben die Augen erhob, plötzlich bis in die Stirn erröthete und mit vor Schreck zitternder Hand kaum den Plan festzuhalten vermochte, auf dem Karl und Helene noch immer vierhändig und wehklagend nach ihrem Hotel suchten.

[787] Der Fremde, auf den das liebliche, befangene Mädchen entschieden Eindruck machte, ging indessen langsam weiter und kehrte noch einmal um. Eine unverhohlene Lustigkeit und ein mühsam bekämpftes Lachen lag auf seinem Gesicht, als er hinter Karl vorkam und vorn an den Planhaltern vorbeiging.

„Guten Morgen, Herr Amtsrichter Schwarz,“ sagte er, indem er den Hut tief vor den Damen zog und sich anschickte, seinen Weg fortzusetzen.

Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Aufs äußerste gereizt, stürzte der Amtsrichter hinter ihm her.

„Mein Herr, was fällt Ihnen ein? Woher kennen Sie meinen Namen und Titel?“ brachte er mühsam hervor, während Helene ihm vergeblich mit einigen „aber Karl!“ über die ihr selbst unfaßliche Thatsache fortzuhelfen suchte.

Karl schüttelte sie unwillig ab.

„Wie kommen Sie dazu,“ wiederholte er mit noch größerer Heftigkeit, „mich bei meinem Namen anzureden?“

„Ja, wenn der ein Geheimniß sein soll, verehrter Herr,“ sagte der Fremde lachend, „da möchte ich Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß es besser wäre, Sie trügen ihn weniger deutlich auf dem Rücken!“

Karl starrte den Sprecher wortlos an. Helene drehte ihren Mann mit größter Schnelligkeit herum – ja, nun war freilich das Räthsel gelöst! Der unselige Kürschner hatte in der Eile vergessen, den Zettel von dem Pelz abzunehmen, mit dem er dieses Werthstück vor andern ihm in Verwahrung gegebenen bezeichnet hatte, und unser armer Karl lief seit einer Stunde in Berlin herum, einen großen Zettel auf dem Rücken, auf dem mit großen Buchstaben stand: „Herr Amtsrichter Schwarz!“

[798]
Während Helene und Anna beschäftigt waren, den Feind des Inkognitos von dem Rücken ihres Herren und Gebieters loszulösen, fand Aennchen Gelegenheit, ihrer Schwester zuzuflüstern: „Das ist Kurt!“

„Ach Thorheit!“ rief Helene überrascht und sah nun den Peiniger erst genau an, der vergeblich bemüht war, den zornigen Karl zu besänftigen, leider, wie zu vermuthen steht, mehr aus Interesse an dem reizenden Mädchen als aus allgemeiner Menschenliebe. Karl wollte aber nichts von Verzeihen hören, und selbst das Anerbieten des Unbekannten, ihm den Weg nach seinem doch entschieden verlornen Ziel zu weisen, hatte nur ein sehr mürrisches „Meinetwegen!“ zur Folge.

„Wir wollen nach dem R.-Hotel,“ fügte der Amtsrichter widerwillig hinzu, „wenn Sie wissen, wo das ist!“

Der andre lachte wieder.

„O ja, das weiß ich ganz genau,“ sagte er, „es liegt mir durchaus nicht aus dem Wege, wenn ich die Herrschaften begleiten darf!“

„Nein, ich danke,“ stieß Karl unfreundlich hervor, „sagen Sie uns nur die Richtung – ich habe sonst sehr viel Ortssinn, aber in diesem verwünschten Berlin finde sich einmal einer zurecht!“

„Darf ich mich Ihnen wenigstens bekannt machen?“ sagte der Fremde, nachdem er in Kürze den Weg beschrieben hatte, und zog schon den Hut.

„Ich danke auch dafür,“ murrte der Amtsrichter, „ich pflege Bekanntschaften nicht auf der Straße zu machen! Kommt, Kinder!“

Und nach einem kurzen, nicht gerade sehr liebenswürdigen Gruß an den jungen Mann bot er jeder seiner Damen einen Arm und zog sie mit sich fort. Der so kurz Abgefertigte sah den drei Gestalten einen Augenblick nach, pfiff unhörbar vor sich hin und ging, noch immer lachend, seiner Wege.

Inzwischen hatte Helene, durch das niedergeschlagene Gesicht ihrer Schwester gerührt, dem Gatten lebhafte Vorwürfe gemacht, daß er den Fremden so unhöflich behandelt habe.

„Ich begreife Dich gar nicht, Karl,“ sagte sie, „wie Du den jungen Mann so anfahren konntest! Es war ja zu natürlich, daß er unter diesen Verhältnissen sich den harmlosen Spaß erlaubte, Dich anzureden!“

„Dummheiten – Unverschämtheiten!“ stieß Karl ärgerlich hervor.

„Und im Grunde mußt Du ihm noch dankbar sein,“ fuhr Helene unbeirrt fort, „denn ohne ihn und seine Aufklärung liefst Du noch immer mit dem Zettel auf dem Rücken umher, wie ein Buch aus der Leihbibliothek. Der Mann sah so nett aus!“

Karl blieb stehen.

„Wißt Ihr, Kinder,“ sagte er mit Energie, „laßt mich mit Eurem unbekannten Freunde ungeschoren! So sind alle Frauen – danach bilden sie ihr Urtheil! Sah nett aus! Und solche Wesen wollen gleichberechtigte Stellung mit den Männern haben! Wenn Ihr Geschworne seid und ein überführter Mörder hat ein paar blaue Kalbsaugen, so sprecht Ihr ihn alle zusammen frei! Der Mann war entschieden ein Bauernfänger, daß Ihr’s wißt!“

„Aber Karl!“ rief Anna, vor Empörung ihre Schüchternheit vergessend. – Ihr Ideal ein Bauernfänger – das war zu viel!

Ihr Schwager sah sie scharf an.

„Was geht denn das Dich an, wenn ich fragen darf?“

„Aennchen kennt ihn ja aus D. . . !“ kam Helene der tief beschämten Schwester zu Hilfe.

„Was?“ frug Karl mißtrauisch, „Du kennst den Monsieur? Wie heißt er denn?“

Das war nun, wie wir wissen, eine unangenehme Frage! Daß der Unbekannte Kurt hieß, konnte schwerlich genügen, um den Amtsrichter über dessen Personalien zu beruhigen, und weiter [799] wußte ja Anna nichts von ihm! Sie schwieg daher und wurde nur wieder roth, was zwar sehr hübsch aussah, aber nicht als genügende Auskunft gelten konnte, – wenigstens nicht einem prosaischen Schwager und Amtsrichter gegenüber.

„Aha!“ meinte Karl überlegen, „die Bekanntschaft ist also so genau, daß Du nicht ’mal seinen Namen weißt! Nein, Kinder, da verlaßt Euch auf mich – ich sage Euch, der Mann war ein Bauernfänger – dabei bleibe ich! Die sehen immer am feinsten und anständigsten aus! Und jetzt basta!“

Sie waren inzwischen glücklich nach ihrem Hotel gelangt und man konnte dem allgemeinen Bedürfniß nach Schlaf und Ruhe Rechnung tragen. Allerdings wurde dies nicht lange befriedigt, denn die Aufregung und der Wunsch, Berlin nun auch ganz zu genießen, trieb unsere Vergnüglinge bald wieder empor.

Im Speisesaal wurde die Frage: „Was nun?“ von dem Ehepaar erörtert, während Anna mit entschiedener Gleichgültigkeit alle Vorschläge anhörte. Für sie war Berlin nur noch ein einziger, großer Rahmen um das Bild des Unvergleichlichen geworden, der heute morgen in so überraschender Weise ihren Lebensweg wieder gekreuzt hatte, und – o Schmerz! – keine Ahnung zu haben schien, daß er sie je vorher gesehen hatte.

Der Unbekannte, den wir unsern Lesern hier gleich als Doktor Rüdiger vorstellen wollen, hatte inzwischen auch das R.-Hotel erreicht, in dem er, wie es der Zufall nun einmal wollte, gleichfalls seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Er ging an der halbgeöffneten Thür des Speisesaals vorbei, sah seine Bekannten von heute morgen am Tische sitzen und faßte den Entschluß, dem jungen Mädchen da drin unter allen Umständen bekannt zu werden. Es lockte ihn gar zu sehr, die in so eigenartiger Weise angeknüpften Beziehungen weiter zu spinnen, wobei noch dazu kam, daß ihm Aennchens Gesicht so bekannt erschien, als hätte er es schon irgendwo gesehen, ohne daß er sich genaue Rechenschaft zu geben vermocht hätte, daß und wo dies der Fall gewesen sei.

Selbst unbemerkt, beobachtete er, wie der Amtsrichter und seine Damen nach kurzer Rücksprache mit dem Portier das Hotel verließen, und kaum waren sie um die nächste Ecke gebogen, als er sich gleichfalls dem Portier näherte.

„Ist Herr Amtsrichter Schwarz schon ausgegangen?“ frug er nachlässig.

„Jawohl, mein Herr – eben sind die Herrschaften fort,“ erwiderte der Portier, der die Würde eines spanischen Granden mit aalglatter Verbindlichkeit zu vereinigen wußte.

„Das ist ja ärgerlich!“ bemerkte Rüdiger unbefangen, „wir wollten zum Abend etwas verabreden!“

„Die Herrschaften haben auf morgen abend Billette zur Oper bestellt,“ sagte der Portier.

„Ah – vortrefflich!“ erwiderte Rüdiger, „besorgen Sie für mich doch einen Platz in derselben Loge – ich hole ihn mir dann bei Ihnen ab.“

Er entfernte sich sehr vergnügt und lief die besuchtesten Sehenswürdigkeiten Berlins ab, in der stillen Hoffnung, das Glück werde ihm günstig sein und er die Familie irgendwo treffen. Aber dem war nicht so!

Museum und Nationalgalerie, Aquarium und Panoptikum wurden vergebens von ihm durchsucht – nirgends sah er das reizende, blonde Gesicht wieder, dem zuliebe er Berlin mit all’ seinen Herrlichkeiten erst in zweiter Linie genoß.

Unsere Amtsrichtersfamilie hatte inzwischen auch ihre Vergnügungswanderung angetreten. Zuerst waren verschiedene Läden abpatrouillirt worden und man war mit Ah und O dahin übereingekommen, daß Berlin doch der einzige menschenwürdige Aufenthalt sei! Dann jagte man keuchend hinter zwei geschlossenen, kaiserlichen Wagen her und versuchte, sich gegenseitig glauben zu machen, daß jeder etwas von den Insassen erspäht habe. Schließlich, nachdem noch das Museum, in Anbetracht der bereits eingetretenen Müdigkeit mit vieler Andacht und mäßigem Verständniß, durcheilt war, fühlten alle den entschiedensten Hunger und traten mit der Absicht, ein gemüthliches Mittagsmahl einzunehmen, in ein zu ebener Erde gelegenes höchst elegantes Restaurant ein.

Eine wahre Schar von beispiellos vornehmen Frackträgern begrüßte unsere Kleinstädter mit jener Mischung von Selbstbewußtsein und Verbindlichkeit, durch die der richtige Kellner sofort sein Verständniß für die Gäste an den Tag legt, für die ihm jede Abstufung im Betragen von kriechender Unterwürfigkeit bis zu herablassender Unverschämtheit zu Gebote steht.

Der Amtsrichter führte seine Damen nach einem einladend gedeckten Tischchen am Fenster, von dem aus man die Straße mit ihrem lebhaften Treiben übersehen konnte – allerdings auch nicht die Wohlthat des bekannten Liedes für sich in Anspruch nehmen durfte: „Wir sehn in die weiten Lande und werden doch nicht gesehn“ – denn jeder Schluck Wein und jede Gabelspitze voll Braten konnte von den Vorübergehenden aufs genaueste festgestellt werden.

Aber der für den Amtsrichter so erfreuliche Grundsatz: „Hier kennt einen ja kein Mensch!“ beruhigte über diese Schattenseiten eines Aufenthalts, der sonst mit seinem „Tischlein deck’ dich“ in jeder Weise befriedigte.

Die Frage des Kellners: „Was befehlen die Herrschaften zu speisen?“ hätte der Amtsrichter bei seiner Vorliebe für die Diskretion allerdings übelnehmen können, da ihn aber hungerte, so verzieh er sie großmüthig, und man vertiefte sich in das Studium der Speisekarte, die eine Menge von Namen trug, bei denen sich schlechterdings alles denken ließ, so daß man beim Erscheinen des betreffenden Gerichts einer frohen Ueberraschung jedenfalls sicher war.

Bald stand auch eine Flasche mit vielversprechendem, silbern überzogenem Kork in zierlichem Eiskübel auf der Tafel, und der Amtsrichter hob sein Glas, um den Damen zuzutrinken: „Kinder, wie wohl mir ist, daß wir hier mal ohne gute Freunde und getreue Nachbarn sind, das kann ich nicht sagen! Es lebe das Inkognito!“

Da klopfte es schalkhaft ans Fenster. Der arme Karl erstarrte, als sähe er ein Gespenst – ja, wer weiß, ob ihm solches nicht noch ein erwünschterer Anblick gewesen wäre, als das lächelnde Gesicht des Herrn Lebermann, der mit dem unverkennbaren Bewußtsein, Amtsrichters eine große und unverhoffte Freude zu machen, seine Nase an die Glasscheibe preßte.

Unserem Amtsrichter sank die Gabel aus der Hand. „Alle guten Geister – Lebermann!“ brachte er mühsam hervor.

Eine weitere Kritik des unerwünschten Zuwachses zu der Gesellschaft mußte unterbleiben, denn der gute Bekannte stand schon schmunzelnd vor unseren Vergnüglingen.

„Nun, das hätten Sie wohl auch nicht gedacht, daß Sie mich hier treffen würden?“ sagte er voller Seligkeit.

„Nein – nichts lag mir ferner!“ erwiderte Karl tonlos, „was machen Sie denn hier?“

„Das will ich Ihnen gleich erzählen,“ entgegnete Herr Lebermann, nachdem er die Damen ritterlich begrüßt und sich über Anna mit der Frage: „Ah, das ist wohl der Besuch, der vorgestern zu Ihnen kam?“ als durchaus unterrichtet erwiesen hatte.

Er zog sich einen Stuhl zum Tisch und bestellte sich bei dem Kellner ein Beefsteak.

Der Amtsrichter sah mit wilden Blicken umher und war allem Anschein nach so nahe am Grobwerden, daß Helene, um den Sturm abzuwenden, die Unvorsichtigkeit beging, den Apotheker an die verheißene Erzählung zu erinnern.

„Nun sehen Sie,“ begann der interessante Ankömmling, „ich bemerkte schon lange, daß die Plombe in meinem einen Backzahn – dem dritten oben,“ setzte er hinzu, um jeden Zweifel zu verscheuchen – „nicht mehr so recht fest sitzt. Ich glaube, ich sprach schon einmal mit Ihnen davon, Herr Amtsrichter?“

„Möglich!“ seufzte Karl ganz gebrochen.

„Ja, ja, ich weiß es noch ganz gut! Wir saßen bei König in der Weinstube – es ist sogar noch nicht lange her! Na einerlei! Also vorgestern abend fängt es mir an, in dem Zahn wehzuthun –“

„O!“ machte Helene bedauernd, um der Höflichkeit zu genügen.

„Nicht gerade sehr!“ beruhigte Herr Lebermann, „aber es machte sich doch bemerklich! Gestern früh aber – der Provisor hatte die Hinterthür in der Apotheke offen gelassen, und das giebt jedesmal einen Zug – nein, davon machen Sie sich keine Vorstellung! Zum Wegfliegen! Wie oft hab’ ich’s ihm schon gesagt: ‚Herr Schemmler,‘ sag’ ich, ‚lassen Sie mir nicht immer die Hinterthür offen‘, er kann sich’s aber nicht abgewöhnen! Sie werden sagen: ‚Warum lassen Sie sich’s denn gefallen?‘“

Er sah seine Opfer erwartungsvoll an.

„Ach, fällt mir ja gar nicht ein!“ knurrte Karl, aufs äußerste erbittert, „eßt Kinder – wir müssen weiter!“

[800] „Ich bin gleich zu Ende,“ sagte Herr Lebermann, „ja – wo war ich doch stehen geblieben? Ich weiß schon! Also der Provisor! Auf gütliches Zusprechen hört er nicht, und zu sehr mag ich ihn auch nicht anfahren; er ist ein ordentlicher Mensch, und man kann sich heutzutage einen mit der Laterne suchen, auf den man sich so verlassen kann! Etwas Vermögen hat er auch –“

„Ja, aber Herr Lebermann,“ unterbrach Helene, die ihren Mann schon im Geist mit dem Messer auf den Erzähler losgehen sah, „Sie wollten ja erzählen, warum Sie nach Berlin gekommen sind!“

Herr Lebermann zerschnitt mit Behagen sein Beefsteak.

„Ich komme eben dazu,“ sagte er mit einer liebenswürdigen Verbeugung gegen die Frau Amtsrichter, „na – gestern ist die Thür wieder offen – ich, etwas erhitzt – ich hatte einen dickeren Ueberzieher an – war auch wohl etwas rascher gegangen als gewöhnlich – ich nehme es wenigstens an! – komme an die Apotheke – der Zug! Sie machen sich keinen Begriff – und in dem Augenblick – au – da fühle ich’s im Zahn! – Ich, ganz außer mir, gehe hinauf zu meiner Frau – es ist doch sehr angenehm, daß wir die Wohnung jetzt im selben Hause haben. – ‚Emma,‘ sag’ ich, ‚mein Zahn!‘ ‚Der plombirte?‘ schreit sie auf – ‚ja,‘ sag’ ich. – Sie kennen meine Emma, Frau Schwarz!“ – Helene neigte zustimmend den Kopf – sie fühlte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Karl trommelte nervös und donnernd auf die Tischplatte, und Anna war die einzige, die sich nicht langweilte, da sie mit fieberhafter Erregung auf die Straße sah, ob sich der unbekannte Kurt nicht zeigen werde, und gar nicht auf den Sprecher hörte.

„Na,“ fuhr Lebermann fort, „meine Frau, herzhaft, wie sie ist, sagt: ‚Lebermann‘ – sie nennt mich jetzt immer Lebermann, seit unser Robert nicht mehr Dicker, sondern Robert genannt wird – Sie wissen ja, ich heiße auch Robert, und da gab es ewig Verwechselungen – Robert – Robert – ja, wer ist gemeint? Nun, um es kurz zu machen – sie sagt: ‚Lebermann, damit ist nicht zu spaßen – geh’ bald vor die rechte Schmiede!‘ Ich, kurz entschlossen, nehme mir ein Retourbillet – fahre her – heut morgen gleich zum Zahnarzt – und nun bin ich vogelfrei und muß Sie hier treffen! Das ist ja ein einziger Zufall – wirklich einzig!“

„Na ja,“ sagte Karl, der an der äußersten Grenze menschlichen Erduldens angelangt war, „und wir müssen weiter! Gesegnete Mahlzeit, Herr Lebermann!“

„Wo wohnen Sie denn?“ frug der Apotheker.

„Noch gar nicht,“ log Karl mit dreister Stirn, sein Gewissen damit beschwichtigend, daß man ja noch keine Nacht im Hotel gewesen war, „wir sind eben auf der Suche! Kellner – zahlen!“

„Und wo treffen wir uns zunächst wieder?“ frug der Nachbar weiter, der durchaus gewillt schien, sich als furchtbares Gespenst der Nacht an die Sohlen seiner Landsleute zu heften.

„Nun, weiter fehlte mir nichts – ich meine, ich habe noch keine bestimmten Pläne,“ sagte Karl und nahm seinen Hut vom Nagel, während die Damen, recht niedergeschlagen über die Entwickelung ihrer so glücklich begonnenen Reise, sich auch fertig machten. Anna konnte mit ihrem Mäntelchen nicht so ganz zurecht kommen, als plötzlich ein sehr verbindliches: „Erlauben Sie mir, gnädiges Fräulein,“ ihr ans Ohr schlug und der soeben auch in dieses Restaurant eingetretene Doktor Rüdiger mit seinem vergnügtesten Gesicht vor der Gruppe stand.

Des Amtsrichters Miene in diesem Augenblick konnte nur bedauern lassen, daß kein Augenblicksphotograph zur Stelle sei! Er sah den ungebetenen Helfer niederschmetternd an, gab seiner Frau den Arm, winkte Aennchen an seine Seite und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, nach kurzem Abschiedsgruß an Lebermann das Lokal, während Rüdiger etwas verlegen zurückblieb, weil er sich ohne wirkliche Aufdringlichkeit doch nicht anschließen konnte.

Es war hart! Nach stundenlanger Jagd war es ihm endlich gelungen, das reizende Mädchen von heut früh wieder zu finden, und im selben Augenblick mußte sie ihm auch schon wieder einführt werden! Als einzigen Strohhalm der Rettung griff er nach Herrn Lebermann, der mit der Familie zusammen gesessen hatte, also doch entschieden Näheres über sie wissen mußte.

„Die Herrschaften hatten es sehr eilig,“ wandte er sich mit etwas erzwungener Heiterkeit an den Apotheker, der, erfreut, einen Ableiter für seine Unterhaltungsgabe zu haben, sofort seinen Stuhl rückte und dem neuen Ankömmling Platz am Tische machte.

„Ja, so ist mein guter Freund Schwarz,“ sagte er behäbig, „immer ein bißchen hitzig – ein bißchen ungestüm! Ich bin nun nicht so! Ich bin ruhiger, und da gleichen wir uns so hübsch aus! Meine Frau sagt manchmal: ‚Lebermann‘ – ich heiße nämlich Lebermann, Apotheker Lebermann aus Solau –“

„Doktor Rüdiger!“ erwiderte sein neuer Freund mit einer Verbeugung.

„Sehr angenehm! – Also meine Frau sagt immer: ‚Lebermann, Du bist nicht aus Deiner Ruhe zu bringen!‘ Und Sie kennen meinen Freund Schwarz also auch, Herr Doktor Rüdiger? Dr. juris? oder medicinae?“

„Das letztere, Herr Lebermann,“ erwiderte Rüdiger, dem mit Entsetzen klar wurde, an welch’ tödlich langweiligen Gesellen ihn der tückische Zufall geschmiedet habe.

„I sehen Sie mal – da sind wir ja beinah Kollegen!“ fuhr Herr Lebermann mit einem Tone freudigster Erregung fort, „Sie kennen den Amtsrichter schon länger?“

„Ich hatte heut morgen durch einen Zufall Gelegenheit, den Herrschaften den Weg nach ihrem Hotel zu weisen,“ sagte der junge Arzt und sah sich ungeduldig nach einer Gelegenheit zu entschlüpfen um.

„So? – Da fällt mir eben ein – ich habe Schwarz nicht recht verstanden, ob er schon ein Hotel gefunden hätte – welches war es denn?“ frug Herr Lebermann.

„Das R.-Hotel,“ erwiderte der ahnungslose Rüdiger, der damit allerdings der Familie, der er sich so gern angenehm gemacht hätte, den denkbar teuflischsten Dienst erwies.

„Ach, das ist mir sehr lieb – da werde ich mich auch einquartieren,“ sagte Lebermann erfreut, „da hat er gleich einen Anschluß! Sind Sie nur vorübergehend in Berlin, Herr Doktor? Ich nur auf zwei Tage – denken Sie mal!“

„Jawohl,“ sagte Rüdiger und stand auf, „und soeben fällt mir ein, daß ich weiter muß – ich habe eine Verabredung – ich empfehle mich, Herr Lebermann!“

Er stürzte eilig davon und ließ den armen Lebermann abermals in seiner Einsamkeit zurück, der aber nun doch wenigstens wußte, wo er Amtsrichters wieder finden werde, und sich, wie wir gesehen haben, auch sofort entschloß, im R.-Hotel einzukehren.

Der Amtsrichter und seine Damen hatten indeß ziemlich verstimmt ihre Wanderung wieder angetreten. Die Thatsache, daß die Welt rund ist, war ihnen noch nie ärgerlicher entgegengetreten als hier, wo ihnen vermittelst dieser verhängnißvollen Rundheit Herr Lebermann so unerwartet entgegengerollt kam.

„Bei unserem Pech,“ bemerkte der Amtsrichter bitter, „wird uns wohl der Kerl überall in den Weg laufen – nach dieser Erfahrung bin ich überzeugt, ich könnte auf den Vesuv steigen, um dem Menschen zu entgehen, und wenn ich oben angelangt wäre, würde der Vesuv den Lebermann ausspeien. – Na, wo sind wir denn hier wieder?“ setzte er mißvergnügt hinzu, „ewig verläuft man sich in diesem Berlin! Darin ist mir Solau wirklich beinah noch lieber!“

Er verschwand wieder hinter seinem großen Plan und suchte mit gespanntester Aufmerksamkeit nach seinem Hotel, oder besser, nach der Straße, wo dieses gelegen war.

Ein kleiner Straßenjunge mit einem frechen, pfiffigen Gesicht kam in diesem Augenblick singend und tänzelnd den Weg entlang. Beim Anblick der planstudierenden Familie flog ein Zug seliger Freude über sein Gesicht, und mit dem Ausruf: „Dahinter wohnt wohl jemand?“ fuhr er mit ausgestrecktem Zeigefinger mitten durch den Plan; dann ergriff er unter einem wahrhaft kreischenden Gelächter die Flucht, ehe der Amtsrichter sich so weit von seiner Erstarrung erholt hatte, um ihm mit einiger Aussicht auf Erfolg nachjagen zu können.

Helene und Anna sahen mit größter Besorgniß auf ihren Beschützer, in der bangen Erwartung, er würde vor Aerger außer sich gerathen – aber das Gegentheil begab sich! Herr Schwarz, der seine Blicke noch immer auf den beschädigten Plan gerichtet hatte, sah merkwürdigerweise ganz befriedigt aus und sagte mit einem tiefen Athemzug: „Na, das ist mir sehr lieb – der Junge hat gerade an der Stelle ein Loch in den Plan gebohrt, die ich immer so mühsam suchen mußte – das erleichtert die Sache bedeutend.“

[802] Diese unerwartete Auffassung des Unfalls belustigte alle drei aufs äußerste, und in wieder hergestellter Seelenharmonie bestieg man eine Pferdebahn und kehrte nach dem Hotel zurück, da die durch Herrn Lebermann unterbrochene Mahlzeit nicht genügend gewesen war, um die table d’hôte im Hotel verschmähen zu lassen.

Am unteren Ende der langen, blumengeschmückten Tafel waren noch einige Plätze frei und die Familie Schwarz nahm diese ein. Der Amtsrichter, der sich für die Seelenruhe seiner Schwägerin verantwortlich fühlte, sah mit ärgerlicher Besorgniß, wie sich allseitig bewundernde Blicke mit mehr oder weniger Bescheidenheit auf das reizende Mädchen richteten, und fuhrwerkte mit einer großen Blumenvase wie mit einem Rangierzuge vor seinen Damen herum, um sie bald vor diesem, bald vor jenem ihrer Tischgenossen zu verbergen.

Bei dieser Beschäftigung konnte es ihm entgehen, daß ein etwas verspäteter Ankömmling sich in der Thür zeigte und mit einem verbindlichen und erfreuten Gruß den leeren neben Aennchen befindlichen Platz einnahm, dessen Ungefährlichkeit den Schwager schon höchlichst beruhigt hatte.

Als er sich befriedigt umwendete und halblaut zu seiner Frau sagte: „So, nun habe ich Aennchen wohl glücklich versteckt!“ erschrak er aufs heftigste, denn der Unbekannte von heut morgen saß, bereits in die Anfänge einer eifrigen Unterhaltung vertieft, neben dem jungen Mädchen, das, glückselig und verlegen, es kaum wagte, die Augen zu erheben, da sie mit Recht befürchten mußte, daß ihr Schwager als „Schicksal rauh und kalt“ sie aus ihrem Glückstraum reißen würde.

Der Amtsrichter aber flüsterte nur mit hohler Stimme: „Der Bauernfänger!“ und ergab sich ins Unvermeidliche! Er konnte ja auch füglich nichts weiter thun, denn ein Versuch, seine kleine Schwägerin glauben zu machen, daß ihr Platz der Zugluft ausgesetzt sei, mißlang gänzlich. Anna versicherte mit plötzlich erwachter Löwenkühnheit, sie merke nichts, und blieb sitzen. Zum Ueberfluß raunte ihm seine Frau noch ins Ohr: „Karl, thu’ mir die einzige Liebe und gieb jetzt Ruhe – die Leute merken ja alle sofort, daß wir aus einer kleinen Stadt sind, wenn Du Dich so auffallend benimmst!“

Einigermaßen beschämt versuchte denn Karl, sich einen Anschein von Gelassenheit und Seelenruhe zu geben, wie er für Berlin paßt – ja, er ließ es sogar mit leidlicher Fassung über sich ergehen, daß Rüdiger sich ihm vorstellte, und zwang sich ein allerdings etwas säuerliches Lächeln ab bei der gegenseitigen Verbeugung. Anna und ihr Nachbar aber waren bald in das vergnügteste Plaudern versunken.

„Ich habe bisher gar nicht gewußt,“ sagte Rüdiger halblaut und ernsthaft, „daß ich einen so mächtigen Gönner besitze!“

Sie blickte erstaunt auf.

„Wen meinen Sie denn?“ frug sie.

„Den Zufall!“ erwiderte er lachend. „Denken Sie doch, wie allerliebst sich dieser brave Gesell heut schon gegen mich benommen hat! Sogar meinen dummen Schuljungenstreich von heut morgen wendete er zu meinen Gunsten – und brachte mich sodann wieder zweimal mit Ihnen zusammen – er muß es wirklich besser mit mir im Sinn haben, als ich bisher geglaubt habe!“

Anna war bei aller inneren Seligkeit doch etwas kurz und kühl. Ihr sechzehnjähriger Stolz empörte sich bei dem Gedanken, daß sie die Nudelteig-Initiale eines Mannes in der Kapsel trug, der sich nicht einmal zu besinnen schien, daß er sie je gesehen hatte!

Da nahm er wieder das Wort:

„Ich zerbreche mir seit heut früh immerfort den Kopf, gnädiges Fräulein, wo ich Ihnen schon einmal begegnet bin! – Aber das Ergebniß ist, daß es wohl im Traum geschehen sein mag – trotzdem ich,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, „einen so schönen Traum wohl nicht vergessen hätte!“

Die Sache ließ sich gut an für die kurze Bekanntschaft, das mußte man sagen! Der Amtsrichter, zu dem immer nur einzelne Silben der halblauten und unverkennbar „courmachenden“ Unterhaltung drangen, litt wahre Qualen der Angst und genoß nur bewußtlos die Tafelfreuden. Er machte seiner Frau die sich in ihrer Nähe anbahnende dramatische Verwicklung beständig durch drohende Blicke bemerklich, und da diese nicht verfangen wollten, trat er sie zur Erregung ihrer Aufmerksamkeit so beständig auf den Fuß, als wenn er eine Nähmaschine vor sich gehabt hätte.

Helene stellte sich aber blind, taub und gefühllos – sie war auch einmal sechzehn Jahre alt gewesen und hatte das tiefste Verständniß für die Sachlage.

Anna führte indessen das Gespräch munter fort. Man war schon zu dem Uebereinkommen gelangt, daß Rüdiger wirklich den verhängnißvollen Backfischball besucht hatte, eine Feststellung, die ihn zu der Wendung bewog, daß man ein Knöspchen wohl übersehen und sich erst beim Anblick der erblühten Rose klar werden könne, daß man ihm schon begegnet sei! Aus diesem Gebiet der Blüthen- und Frühlingsredensarten gelangte man dann mit einiger Mühe wieder zur Prosa, und Anna wunderte sich im Stillen über sich selbst, daß ihre Schüchternheit so ganz verschwunden sei.

Rüdiger, dessen Muth und Neigung während der Tischunterhaltung bedeutend gestiegen waren, machte sich unmittelbar nach Tische sehr niedlich um den Amtsrichter, bot ihm eine Cigarre an und setzte sein Hofmachen mit ungeschwächten Kräften bei ihm fort, nach dem Grundsatz, daß es ja in der Familie bleibe!

Der Amtsrichter thaute bei der wirklich liebenswürdigen Art des jungen Mannes etwas auf, und man entdeckte sogar einen gemeinsamen guten Bekannten in der Person von Rüdigers Onkel, so daß der Amtsrichter seine schwarzen Gedanken an den „Bauernfänger“ nun wirklich aufgeben mußte. Alles war in guter Laune, und die mit so viel wechselnden Geschicken gesegnete Reise schien nun in die erfreulichste Bahn gelenkt.

Da, während die Herren in eifrigster Unterhaltung im Fenster standen, öffnete sich wieder die Thür zum Speisesaal und zu Helenens und Annas Schrecken tauchte mit den Worten: „Die schönen Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande“ die Gestalt des Herrn Lebermann auf und kam freudeglänzend auf seine Bekannten zu. Karl hatte ihn, da er der Thür den Rücken wandte, noch nicht gesehen.

Helene und Anna begrüßten den wackern Mann etwas kühl, was er in seinem unzerstörbaren Selbstbewußtsein nicht zu merken schien. Er erging sich wenigstens sofort in einer langathmigen Schilderung alles dessen, was er seit dem unerwarteten Zusammentreffen im Restaurant gesehen, gegessen, getrunken und gesagt habe, mit der tiefsinnigen Bemerkung schließend: „Und wie ich die Siegessäule sah, da sagte ich: ‚Ah – allen Respekt!‘“

„Und wie kommen Sie denn in dieses Hotel?“ frug Helene mit schlecht verhehltem Abscheu.

Herr Lebermann wies freudig auf Rüdiger.

„Unser junger Freund dort hat mir erzählt, wo Sie wohnen,“ sagte er, „ja, sehen Sie, man findet sich immer wieder, – auch in dem großen Berlin! Und Berlin ist wirklich groß, – das muß wahr sein – sogar sehr groß! Ich sagte noch in Solau zu meiner Frau: ‚Emma, Berlin ist sehr groß!‘ – ich dachte mir’s schon! Aber ich muß sagen, ich bin überrascht! Allein die Friedrichstraße – nehmen Sie mal an!“

Während Herr Lebermann eine „kurze und gedrängte“ Uebersicht von Berlin gab, flüsterte Anna ihrer Schwester zu:

„Wenn Karl das nur nicht herausbekommt, daß Rüdiger Herrn Lebermann unser Hotel genannt hat – dann ist er gleich wieder so böse auf ihn!“

„Auf wen?“ frug Helene, sich verständnißlos stellend.

„Ach, Helene – sei doch nicht so häßlich!“ bat Anna, „Du weißt doch ganz gut –“

„Nun, laß nur, Kleine!“ lachte Helene; „aber wie willst Du verhindern, daß Rüdiger sich verräth?“

„Ich verbiete es ihm!“ meinte Anna einfach.

Helene sah sie groß an.

„Sieh mal an, was Du für Muth bekommst!“ bemerkte sie bedächtig; „die Berliner Luft scheint Dir wirklich gutzuthun!“

Karl hatte inzwischen Lebermann entdeckt, dessen Anblick bereits auf ihn wirkte wie ein rothes Tuch auf einen Stier. Er legte sofort die Cigarre weg – der Geschmack daran war ihm vergangen.

„Wir müssen fort!“ sagte er, nach der Uhr sehend, „wir haben noch allerlei vor.“

„Was denn?“ frug Lebermann.

„Das kann Ihnen gleichgültig sein!“ bemerkte der Amtsrichter, „Sie müssen doch erst zu Mittag essen!“

„Alles schon besorgt,“ lächelte der Apotheker, „ich habe in dem netten Restaurant, wo ich Sie traf, ganz gründlich gespeist – nach dem Beefsteak mit Bratkartoffeln – Sie erinnern sich doch, Herr Amtsrichter! – noch ein Viertel Gans, dann –“

[803] „Na ja – das ist mir ganz gleichgültig!“ unterbrach ihn der Amtsrichter unhöflich, „denken Sie, ich bin nach Berlin gereist, um zu hören, was Sie zu Mittag essen?“

Der unerschütterliche Lebermann lachte herzlich.

„Nein, hört ihn bloß an! Immer muß er mich necken! Ja, ja, Herr Schwarz – wir kennen uns, – was sich liebt, das neckt sich!“

„Da haben Sie recht!“ sagte Karl ausdrucksvoll, „aber nun adieu – wir gehen jetzt!“

„Wo wollen Sie denn hin?“ erkundigte sich Lebermann abermals.

„O – so ziellos bummeln!“ meinte Karl leichthin – nicht wahrheitsgetreu, da er nur auf einen Vorwand sann, seine beiden Herren loszuwerden – beide – denn vermöge des männlichen Egoismus wollte er auch nicht mit einem liebenden Paar spazieren gehen, auf das er beständig acht geben mußte.

„Ziellos bummeln,“ wiederholte Lebermann erfreut, „das ist mein Fall – ich komme mit!“

„Ich schließe mich, mit Erlaubniß der Damen, auch an,“ sagte Rüdiger hinzu.

Ueber des Amtsrichters Gesicht flog ein Zug boshafter Freude.

„Sehr schön!“ sagte er mit plötzlicher Liebenswürdigkeit, „wir gehen nur nach unserem Zimmer, um uns mit einigen Tüchern gegen die Abendkühle zu versehen – die Herren erwarten uns vielleicht an der nächsten Pferdebahn, und wir fahren dann alle zusammen nach dem Zoologischen Garten hinaus.“

Er zog seine Damen mit sich fort; statt sie aber nach ihrem Zimmer zu geleiten, lud er sie freundlich ein, ihm nur immer nachzukommen, und ging ihnen voran, die Hintertreppe des Hotels hinunter und durch einen zweiten Ausgang ins Freie.

„Aber Karl, was soll denn das?“ Hier finden uns ja die Herren nie wieder!“ rief Helene vorwurfsvoll.

„Das ist mir außerordentlich lieb,“ sagte Karl gemüthlich, „wir amüsieren uns jetzt auf eigene Hand, und der Doktor Rüdiger kann die Cour schneiden, wem er will – meinethalben dem Lebermann! Kommt, Kinder!“

Und ohne den langen Gesichtern seiner Damen irgend welche Beachtung zu schenken, zog Karl mit ihnen ab.

Die beiden Herren, die er in so hinterlistiger Weise verlassen hatte, standen indeß mit einiger Ungeduld an der Pferdebahnhaltestelle. Schon ein Wagen war vorbeigefahren und noch immer schienen die Erwarteten nicht mit ihren Toilettenvorbereitungen fertig zu sein. Endlich verlor Rüdiger die Geduld, ging nach dem Hotel zurück und erfuhr dort, daß die Herrschaften nicht auf ihrem Zimmer seien. So blieb denn nur der Gedanke, daß man sich verfehlt hätte, und Rüdiger mußte wohl oder übel zu Lebermann zurück und diesem die Nachricht bringen.

„Die letzte Gelegenheit, sich wieder zu finden, bleibt nun der Zoologische Garten,“ sagte er etwas verstimmt, „wir wollen doch da hinaus fahren!“

Und mit einigem Unwillen bestieg er mit dem Apotheker die Pferdebahn und hatte das Vergnügen, mit diesem im Zoologischen Garten von Käfig zu Käfig zu wandern und sich zwei Stunden lang die merkwürdigen Geschichten aller Menagerien erzählen zu lassen, die sein Begleiter je gesehen hatte, und deren Insassen er mit grauenhafter Ausführlichkeit mit den anwesenden Bestien verglich; als einzige Abwechslung ward etwa dreißigmal eingefügt: „Nein, aber wo Schwarzens bleiben, ist mir unerklärlich!“

So endete dieser Tag in Berlin für Rüdiger, der den Abend nichts mehr vornehmen mochte, sondern sich, durch Aerger und Langeweile abgespannt, einsam in eine Bierstube setzte und zornig alle Lobsprüche auf den Zufall widerrief, der ihm statt des reizendsten Mädchens einen entsetzlichen Apotheker an die Seite geführt hatte.

Amtsrichters waren indeß im Wintergarten des Centralhotels und unterhielten sich mehr oder weniger vortrefflich, obwohl Anna ein bedeutendes Herzweh bei der Erinnerung an ihren treulos verlassenen Helden nicht unterdrücken konnte.

Helene und Karl genossen aber den Abend voll und ganz; Karl sogar ruchlos erfreut und auch nicht von den leisesten Gewissensbissen angefochten, daß er Lebermann abgeschüttelt und jemand anderm aufgebürdet hatte! Mit befriedigtem Gefühl kehrte man spät ins Hotel zurück und gedachte den morgigen Sonntag für Potsdam zu verwenden.

Im Augenblick, als der Amtsrichter mit den Seinigen die Treppe hinaufstieg, um sich zur Ruhe zu begeben, erlebte er allerdings noch den Schmerz, sich überzeugen zu müssen, daß Lebermann sein Haus- und Flurgenosse geworden war, denn Lebermann steckte sein Haupt zur Thür heraus und rief ihm vorwurfsvoll zu: „Aber wo haben Sie denn gesteckt?“

„Wo anders!“ gab Karl kurz und vieldeutig zur Antwort und schlug die Thür seines Zimmers zu.

Von Rüdiger war nichts zu sehen und zu hören – er schlief wohl seinen Groll aus!

[813]
Am andern Morgen wurde der Amtsrichter durch ein vernehmliches Klopfen an seiner Thür aus dem Schlaf gestört. Er setzte sich im Bette auf.

„Wer ist da?“ frug er unwillig, und seine Stimmung wurde nicht verbessert, als der Klopfer mit der allerdings nicht zu rascher Klarstellung dienenden Silbe „ich!“ diese Frage beantwortete.

„‚Ich‘ kenne ich nicht,“ schrie Karl zornig hinaus, „‚ich‘ kann jeder sein! Ich bin auch ‚ich‘!“

„Nun, ‚ich‘ heißt in diesem Fall Lebermann,“ tönte es freundlich durch die geschlossene Thür, „stehen Sie nur auf, Amtsrichterchen; wenn wir noch mit dem nächsten Zuge nach Potsdam wollen, ist es die höchste Zeit!“

Wir?“ frug Karl gedehnt zurück, mit unverkennbarer Empörung über diese Ausdehnung des eben gerügten „ich“, „woher wissen Sie denn, daß ich nach Potsdam will?“

„Der Portier hat es mir gesagt,“ gab Lebermann zurück, „und ich komme natürlich mit – das kann sehr hübsch werden.“

Karl verstummte, da er seinen wahren Gefühlen nicht ohne einige Gefahr einer Beleidigungsklage hätte Worte leihen können. Er zog sich eiligst an, nachdem er seine im Nebenzimmer wohnenden Damen auch durch Rufen und Klopfen ermuntert hatte.

Man war nämlich, des Sonntags halber, zu dem Entschluß gelangt, mit einem frühen Zuge nach Potsdam zu fahren, da man erstens mit Recht befürchten mußte, später unter großer Ueberfüllung der Bahnzüge zu leiden, und sodann auch abends zur Oper wieder zurück sein wollte. Wie vorher erwähnt, hatten unsere Reisenden sich Theaterbillette genommen und zwar zu einer Aufführung der „Lustigen Weiber von Windsor“.

Karl hatte für diese Tonschöpfung eine besondere Vorliebe, da die einzige Melodie des Weltenraums, die in seinem etwas ungefügen musikalischen Gedächtniß hängen geblieben war, der eben genannten Oper entstammte. Allerdings erkannte nur er selbst noch ihren Ursprung, denn der Uneingeweihte hätte die rauh hervorgestoßene Reihenfolge von Tönen, mit welcher der Amtsrichter sowohl den höchsten Grad der Heiterkeit wie sprachlose Wuth zu begleiten pflegte, ebensowohl für einen treu überlieferten indianischen Kriegstanz halten können. Aber der glückliche Eigenthümer dieser Melodie blieb dabei, „wir gehen in die ‚Lustigen Weiber von Windsor‘ – da kann ich schlimmstenfalls mitsingen,“ setzte er mit schönem Selbstgefühl hinzu.

Helene und Anna waren früher mit ihrem Anzug fertig als das Familienoberhaupt und begaben sich zum Frühstück in [814] den Speisesaal, wo sie zu gegenseitiger angenehmer Ueberraschung Doktor Rüdiger schon vorfanden, der sich sofort zu ihnen setzte, um sein Bedauern über das gestrige Verfehlen auszudrücken, worauf die Damen etwas verlegen erwiderten, da ihnen ja die Tücke ihres Gebieters schwer aufs Herz fallen mußte.

„Und was steht heute auf dem Programm?“ frug Rüdiger.

„Wir wollen mit dem nächsten Zuge nach Potsdam,“ sagte Anna etwas scheu, „und abends in die Oper.“

„Ich möchte mich sehr gern anschließen,“ meinte der junge Arzt zögernd und halblaut, „aber ich weiß nicht, ob es nicht unbescheiden wäre! Ich hatte gestern ein paarmal das Gefühl, als ob Ihr Herr Schwager lieber mit seiner Familie allein wäre!“ –

Anna schwieg und spielte in tödlicher Verlegenheit mit ihrem Theelöffel, während Helene eine Zeitung vornahm.

„Ist dem so?“ fuhr Rüdiger fort und beugte sich zu ihr, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Sie nickte ehrlich – sah aber so betrübt dazu aus, daß er nicht allzu entmuthigt war.

„Und Sie, Fräulein Anna, theilen Sie seine Ansicht?“ fuhr er in noch leiserem Tone fort und schwieg dann erwartungsvoll.

Aennchen sah ängstlich nach ihrer Schwester hinüber. Helene, die jedes Wort hörte, that, als wenn sie den Leitartikel der Zeitung zu morgen auswendig lernen müßte, und wandte keinen Blick davon.

„Nun?“ frug Rüdiger dringend, „sagen Sie nur ein Wort, und ich gehe – und komme Ihnen nie wieder vor Augen! Ein Wort, bitte! Soll ich gehen?“

„Nein!“ brachte Aennchen mühsam, aber mit großer Entschiedenheit heraus, so daß dies „eine Wort“ wenigstens nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ.

Rüdiger, der ebenfalls sich erst durch einen raschen Blick auf Helene versicherte, daß ihre Aufmerksamkeit ganz von der Zeitung gefesselt sei, wagte es, auf dieses „Nein!“ hin seiner reizenden, kleinen Nachbarin die Hand zu küssen, – ein Vorgang, der Aennchen im selben Augenblick auf den höchsten Gipfel der Glückseligkeit hob und in den tiefsten Abgrund der Verlegenheit stürzte, da in ihrem sechzehnjährigen Herzen derartiges noch zu den ungemachten Erfahrungen zählte. Zum Glück trat in diesem bedenklichen Augenblick der Amtsrichter in den Speisesaal. Er sah nicht allzu freundlich drein, als ihm der Verehrer seiner Schwägerin schon wieder auf nüchternen Magen vorgesetzt wurde, und war auffallend wortkarg.

„Beeilt Euch, Kinder,“ trieb er, „es ist bald zehn Uhr und wir wollen noch etwas vom heutigen Tage haben!“

„Das will ich auch,“ bemerkte Rüdiger und erhob sich; „ich wünsche den Herrschaften viel Vergnügen zu Ihren Unternehmungen!“

Er empfahl sich mit einer allgemeinen Verbeugung und einem besondern, sehr vergnügten Blick auf Aennchen, den diese wohl zu deuten wußte, und verließ das Zimmer, während Karl sich die Hände rieb.

„Den habe ich weggegrault,“ sagte er mit großer Selbstzufriedenheit, „und was das Beste ist, noch eh’ er fragen konnte, was wir vornehmen! Wäre ich nur den Lebermann auch mit so guter Manier losgeworden! Nun, einer ist doch wenigstens abgeschüttelt!“

„Das ist ja ganz schön,“ bemerkte Helene und legte die Zeitung zusammen; „Aennchen, hole doch das Opernglas, ich habe es auf unserm Zimmer liegen lassen!“

Während Anna ging, sagte die Amtsrichterin kopfschüttelnd zu ihrem Manne: „Ich begreife Dich nicht, Karl! Was hast Du gegen den netten, jungen Rüdiger?“

„An und für sich gar nichts,“ erwiderte ihr Mann, „aber ich bin doch nicht nach Berlin gefahren, um ein Brautpaar zu segnen! – eine Lage, in die ich unfehlbar kommen würde, wenn wir den Doktor noch zwölf Stunden mit herum schleppten. Er rollt ja schon die Augen wie Billardkugeln – das kenne ich! Das dumme Ding, die Anna, ist imstande und verlobt sich mit ihm! Mit sechzehn Jahren!“

„Nun, das wäre ja kein Unglück,“ warf Helene begütigend ein, „viel älter war ich auch nicht, als wir uns verlobten, Karl, und es ist doch ganz gut ausgeschlagen!“

„Das lag an mir!“ erwiderte der Amtsrichter mit der den Ehemännern eigenen Art, jede ihnen gesagte Liebenswürdigkeit in einen Dolch zu verwandeln, den sie in das Herz ihrer Frau stoßen; „aber jetzt sei still, Helene, da kommt sie wieder! Sie sieht übrigens sehr fidel aus,“ setzte der Schwager lobend hinzu, „es ist ihr also ganz gleichgültig, ob der Jüngling mit uns kommt oder nicht. Setze Du ihr nicht erst etwas in den Kopf!“

Helene lächelte überlegen, da ihr der Grund von Annas Fassung bekannt war; schwieg aber wohlweislich.

Trotz der größten Vorsicht gelang es unserer Gesellschaft nicht, Lebermann zu entgehen, der an der Thür des Hotels lehnte. Er hatte sich mit dem Portier auf eine Unterhaltung eingelassen, und dieser sah infolge der dabei ausgestandenen Langenweile schon ganz elend aus.

Man mußte nun unweigerlich mit dem Apotheker abwandern und Karl es sogar noch ertragen, daß Rüdiger sich auf dem Bahnhof befand und mit einem selbstverständlichen „Sie erlauben?“ in dasselbe Coupé mit Amtsrichters stieg.

Die Fahrt wurde auf diese Weise unter recht verschiedenen Empfindungen zurückgelegt, wenn auch Karl gerecht genug war, um sein Vorurtheil gegen Rüdiger mit jeder Minute mehr schwinden zu lassen. Als der junge Mann beiläufig bemerkte, er müsse den nächsten Morgen wieder nach seinem Heimathsorte abreisen, da sein Vertreter ihm nur bis zu dem Tage Zeit gelassen habe, brachte dieser Hinweis auf eine bereits vorhandene Praxis das letzte Eis des Widerstandes in Karls Brust zum Schmelzen, und Anna, die sich von Lebermann mußte unterhalten lassen, fühlte mit frohem Herzklopfen, daß das Opfer nicht vergebens gebracht wurde.

Man durchwanderte nun mit großem Vergnügen Potsdam mit seinen historischen Denkwürdigkeiten; dann begab man sich nach Sanssouci, wo Lebermann allerdings einige Bitterkeit in den Kelch des Genusses träufelte, indem er mit erbarmungsloser Ausführlichkeit die bekanntesten Anekdoten vom Alten Fritz mittheilte und durch kein ihm entgegengerufenes: „Das kenne ich schon!“ zum Abbrechen seiner Erzählungen zu bewegen war.

„Wenn wir nur diesen Kerl loswürden!“ sagte der Amtsrichter knirschend zu Rüdiger; „helfen Sie mir doch auf ein Mittel denken, daß wir ihn unterwegs verlieren!“

Rüdiger zuckte die Achseln. „Wir nennen solche Leute ‚Klebstoff‘,“ sagte er lachend; „sie sind nicht abzuschütteln. Umbringen könnte man ihn wohl nicht?“

„Es wäre das Einfachste,“ meinte der Amtsrichter, „aber es würde am Ende darüber gesprochen werden.“

Im Schloßgarten zu Sanssouci war das Glück unseren Reisenden hold. Lebermann gab selbst die erwünschte Handhabe, unschädlich gemacht zu werden. Unmittelbar vor der Rückkehr nach Potsdam ließ er sich durch die Farbenpracht einer Georgine verleiten, sie abzupflücken, um seiner Emma damit den handgreiflichen Beweis zu liefern, daß er wirklich an dem historischen Ort gewesen sei. Da faßte ihn ein Gärtnergehilfe mit rauher Hand am Arme und zwang ihn, ihm als straffälliges Subjekt zu folgen – ein Vorgang, der den Amtsrichter zu der feigen Handlungsweise bewog, mit seiner Gesellschaft schleunigst das Weite zu suchen und, ohne auf des Apothekers Winken und Zurufen zu achten, den Häusern von Potsdam zuzueilen.

Die Schwestern empfanden eine Spur von Mitleid mit dem armen Lebermann – die Herren aber freuten sich roh und gefühllos und erklärten, es sei dem Patron sehr gesund, daß seine Missethat sich so blitzschnell gerächt habe.

Höchst vergnügt kam man auf dem Bahnhof in Potsdam an, allein hier bot sich ein unerwarteter Anblick dar. Eine Unmenge von Menschen aller Stände, Klassen und Bildungsgrade raunte lachend, scheltend, tobend durcheinander und suchte mit gänzlicher Nichtachtung ihrer gegenseitigen Menschenrechte die Eisenbahnwagen zu stürmen.

Verschiedene Versuche unserer Freunde, sich an den allgemeinen Eroberungsversuchen zu betheiligen, mißlangen gänzlich, Aennchen, die kraft ihrer sechzehn Jahre noch etwas kindisch war, zerfloß plötzlich in Thränen, da sie das Gefühl hatte, als wenn diese heulende Meute zu keinem andern Zweck auf den Potsdamer Bahnhof gekommen wäre, als um ihr an Leben und Geldbeutel zu gehen. Während Rüdiger sie durch Theilnahme und Zuspruch zu beruhigen suchte – ein der gegenseitigen Zuneigung sehr förderliches Verfahren! – stand der Amtsrichter auf dem Trittbrett eines Wagens, entschlossen, den Zugang mit Güte oder Gewalt zu erzwingen. Hinter ihn auf dasselbe Trittbrett hatte sich [815] ein derber Familienvater geschwungen, der im vollsten Gefühl seines Rechts – auf dem schon vorher eroberten Eckplatze saß seine ihm ebenbürtige Gattin – auf den Rücken des Amtsrichters drosch und ihn herunter zu zerren suchte.

Karl hielt nach dem Losungswort „nur über meine Leiche!“ unentwegt Stand, als ein bis auf den heutigen Tag unaufgeklärter kleiner Stoß aus dem Innern des Wagens – wahrscheinlich von obengenannter Gattin ausgetheilt – ihn in seinem unsichern Standpunkt erschütterte und seinem Angreifer Gelegenheit gab, sich in seine so schwer errungene Stellung zu begeben.

Empört, gestoßen, gepufft, mit zerdrücktem Hut sprang Karl vom Trittbrett herunter und bot seiner Frau den Arm, sie voll blinder Wuth mit sich fortziehend, während Rüdiger und Anna gedankenlos folgten.

„Ich werde doch sehen, ob ich mir nicht Recht schaffen kann!“ keuchte der Amtsrichter und wanderte, ohne Ziel und Richtung zu beachten, über den Bahnhof. „Sie müssen uns mitnehmen, das habe ich zu verlangen,“ sagte er, die Billette emporhaltend, „wartet nur ruhig ab – sie müssen Wagen anhängen, oder ich beschwere mich!“

Der Amtsrichter beschwerte sich nämlich mit Wonne wie viele cholerische Menschen und hätte eine Reise, auf der er sich nicht mindestens einmal beschweren konnte, halb und halb zu den verfehlten Unternehmungen gerechnet.

Ein Schaffner, der unsern halb betäubten Reisenden eben in den Weg lief, wurde von Karl mit der heute schon unzählige Male wiederholten Frage: „Haben Sie noch Platz für uns?“ angehalten.

Zur größten Ueberraschung erwiderte der Gefragte höflich: „Ja wohl, mein Herr, – bitte einzusteigen!“ – öffnete einen ganz leeren Wagen und ließ unsere ganze Gesellschaft darin sich einschachteln.

Während der Amtsrichter halb erleichtert, halb gekränkt, und die Freude des Beschwerens gebracht zu sein, sich zurechtsetzte, schloß der Beamte die Thür – es pfiff, und der Zug fuhr langsam aber sicher mit unsern beiden Paaren zum Bahnhof hinaus.

„Na, das nennt man noch vor Thorschluß mitkommen!“ sagte Karl behaglich und legte sich in die Kissen zurück, „seht Ihr, sie haben Wagen angehängt! Man muß sich nur nichts gefallen lassen – merkt Euch das! Aber,“ setzte er hinzu, „solche Prügel wie heute auf dem Wagentritt habe ich doch seit Sexta nicht mehr bekommen, das muß ich sagen!“

Die andern lachten mit ihm und die Fahrt ging weiter, ohne daß man auf den Weg geachtet hätte, der ja auch unseren Reisenden ganz fremd war. Helene schloß ermüdet die Augen, Anna und Rüdiger plauderten halblaut und Karl nahm seinen Hut ab, um die Spuren des männermordenden Kampfes daran zu vertilgen.

Da tönte auch schon ein langgezogener Pfiff, – der Zug hielt.

Neugierig steckten unsere Reisenden die Köpfe zum Fenster hinaus – ein kleiner, einsamer Bahnhof lag vor ihnen und nur zwei oder drei Menschen stiegen langsam und gemächlich aus.

„Ach, das ist noch nicht Berlin!“ sagte Karl etwas enttäuscht und setzte sich wieder zurecht.

Da öffnete der Schaffner die Thür: „Alles aussteigen – Station Wildpark!“

Karl blieb sitzen.

„Ich will aber nicht nach Wildpark!“ sagte er.

„Das thut mir sehr leid, das hätten Sie sich früher überlegen müssen,“ sagte der Schaffner kühl, „jetzt sind Sie in Wildpark!“

Unsere Reisenden sahen sich wortlos an.

„Wir wollten ja nach Berlin!“ brachte Helene endlich kläglich hervor.

„Da sind Sie in einen falschen Zug gestiegen,“ erklärte der Schaffner bedauernd.

„Warum haben Sie uns das denn nicht gesagt?“ schrie Karl wuthbebend.

„Sie haben mich ja gar nicht gefragt!“ erwiderte der Beamte nun auch mit erhobener Stimme.

„Ich werde mich beschweren!“ zischte Karl, dem die Stimme den Dienst versagte, „was fange ich denn nun hier an? Ich beschwere mich!“

„Ja, das ist Ihre Sache!“ sagte der Schaffner, dem nun auch die Geduld riß, „ein andermal fragen Sie erst, wo ein Zug hinfährt, eh’ Sie sich hineinsetzen! Das Unglück ist übrigens nicht so groß,“ setzte der Beamte mit einem mildern Blick auf die verzweifelten Gesichter der Damen hinzu, „wenn Sie sich beeilen, können Sie hier Billette nachlösen und in demselben Wagen in zehn Minuten über Potsdam zurück nach Berlin fahren!“

Helene und Anna dankten erfreut und erleichtert, während die Herren noch sehr beleidigt aussahen und vergeblich nach einem Vorwand sannen, um der Bahnverwaltung die Ursache des Unfalls aufzubürden.

Als man aber zum zweitenmal in den Potsdamer Bahnhof einfuhr, sagte Karl sehr befriedigt:

„So, nun haben wir hier unsere schönen, festen Plätze und brauchen uns nicht zu drängen – seht Ihr!“

Sein Ton schien anzudeuten, daß er bereits anfing, die unfreiwillige Fahrt nach Wildpark für eine Art genialen Schachzugs anzusehen, durch den er sich und den Seinigen eine bequeme Rückfahrt gesichert habe. Man sah nun dem Gewühl und Geschrei auf dem Bahnhof mit den Empfindungen von Menschen zu, die aus wohlverwahrtem Hause Sturm und Wind brausen hören und sich bewußt sind, daß ihnen beides nichts anhaben kann.

So ganz unbedrängt sollte nun aber die Familie doch nicht davonkommen. Ihre Wagenthür wurde jetzt aufgerissen und eine Anzahl von Reisenden kletterte zu ihnen herein, bis der Schaffner hinter einem letzten Einsteigenden die Thür zuschlug und der Zug im selben Augenblick losfuhr, als der neue Ankömmling mit einem erleichterten „So!“ auf den Sitz gegenüber dem Amtsrichter sank und sich zu allgemeinem Schrecken als – Lebermann auswies.

„Lebermann!“ rief Karl beinahe mit Thränen der Wuth, „wie kommen Sie denn hierher?“

„Ja, das hätten Sie nicht gedacht,“ schmunzelte der Apotheker, „als Sie mich so treulos verließen! Ich nehme es Ihnen übrigens nicht etwa übel!“

„Schade!“ brummte Karl.

„Denn jeder ist sich selbst der nächste,“ fuhr Lebermann fort, „das sage ich auch immer! Aber ich habe mich ganz schlau frei gemacht! Ich gab dem Jungen, der mich gefaßt hatte, ein ordentliches Trinkgeld –“

In Karls Gesicht blitzte ein Gedanke auf – er unterbrach den Sprecher hastig.

„Still – ums Himmelswillen!“ sagte er, sich ängstlich umsehend, „nicht so laut!“

Lebermann sah ihn verständnißlos an, während der Amtsrichter sich mit Rüdiger durch einen Blick in Verbindung setzte, den dieser auch sofort begriff und erwiderte.

„Sie haben den Gärtnergehilfen durch ein Trinkgeld dazu gebracht, daß er Sie laufen ließ?“ sagte der Amtsrichter mit leiser, aber düsterer Stimme; „Lebermann, da muß ich Ihnen sagen, da haben Sie eine große Dummheit gemacht – das wird Ihnen sehr schlecht bekommen!“

„Ja – wieso denn?“ stammelte der Apotheker bestürzt.

„Wissen Sie, wie man das nennt?“ frug Karl feierlich; „‚Bestechung‘! Lebermann, Lebermann, da können Sie schön ankommen!“

„Ach was!“ sagte Lebermann etwas bleich, aber mit erkünstelter Leichtfertigkeit; „ich lasse mich nicht ins Bockshorn jagen – wird so schlimm nicht sein!“

Karl sah ihn strafend an.

„Bin ich Jurist, oder sind Sie’s?“ frug er nachdrücklich, „Bestechung, Paragraph 333, Gefängniß – Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte – Geldstrafe bis zu 1500 Mark! Was sagen Sie jetzt?“

„Ums Himmelswillen!“ rief Lebermann händeringend, „ich habe auch noch einen Schutzmann gefragt, ob der Gärtner das Recht gehabt hätte, mich zu verhaften – wenn der nun nachforscht!“

„Das ist eine böse Geschichte!“ bestätigte Rüdiger nun auch, „das kann sehr unangenehm werden!“

Beide Herren sahen sich wieder ängstlich im Wagen um, ob auch keiner der Mitreisenden ihr Gespräch belausche.

„Ja, was mache ich denn nun?“ frug Lebermann kläglich.

Die ganze Gesellschaft verstummte und saß eine Weile in düsterem, nachdenklichem Schweigen bei einander.

[816] „Was ich thäte, weiß ich,“ nahm der Amtsrichter endlich wieder das Wort, „ich machte, daß ich nach Solau zurück käme. Es ist zwar kein streng gesetzlicher Rath, den ich Ihnen da gebe, aber es wäre mir doch peinlich, wenn ein alter Bekannter hier in solche Sachen verwickelt würde.“

„Um so mehr,“ setzte Rüdiger mit durchbohrenden Blicken hinzu, „da wir, der Herr Amtsrichter und ich, als Zeugen vernommen werden könnten – sehr – sehr peinlich!“

„Wenn ich Ihnen rathen soll, Lebermann,“ sagte Karl, „so fahren Sie geradeswegs von der Bahn nach dem Hotel – bezahlen Ihre Rechnung – aber möglichst ruhig, nicht etwa mit auffälliger Hast, vor der Sie sich auch auf dem Bahnhof hüten müssen! – und reisen heut abend nach Hause; weit davon ist gut vorm Schuß! Unmaßgeblich, Lebermann! Ich will Sie zu nichts veranlassen, was Sie lieber nicht thäten.“

„Sie haben ganz recht,“ sagte der arme Lebermann, „ich bin Ihnen sogar sehr dankbar, Herr Amtsrichter!“

Und er drückte Karl mit Innigkeit die Hand.

„Bitte!“ erwiderte dieser etwas beschämt, und er wäre am Ende noch gerührt worden, wenn nicht in dem Augenblick der Zug gehalten hätte und Berlin erreicht worden wäre.

Der zitternde Lebermann griff nach seinem Ueberrock und Hut. „Ich gehe jetzt gleich nach dem Hotel,“ sagte er mit sichtlicher Angst.

„Das machen Sie sehr recht!“ nickte Karl billigend, „ich wollte, ich könnte mit Ihnen zurückfahren – aber meine Damen würden doch zu unglücklich sein!“

Man stieg aus und gerieth sofort in das undurchdringlichste Gewühl der Reisenden, in dem Lebermann nach flüchtigem, kurzem Abschiedsgruß an den Amtsrichter untertauchte und verschwand wie ein gehetztes Wild, während dieser über seine gelungene Niedertracht frohlockte und sich jetzt nach dem Rest seiner Gesellschaft umsah. Aber wehe ! Die Häupter seiner Lieben bestanden nur noch aus seinem eigenen Haupt und dem seiner Frau – Rüdiger und Anna waren spurlos verschwunden!

Das Gedränge hatte die beiden von ihren natürlichen Beschützern getrennt, und es war ihnen unmöglich, sich wieder mit denselben zusammenzufinden. Anna, der die Thränen in den Augen standen, flehte nur Rüdiger an, nicht zu rufen, da sie ihres Schwagers Abneigung gegen öffentliche Namensnennung genugsam kannte. Als die vollständige Unmöglichkeit, durch den Augenschein die Verlorenen wieder zu erlangen, klar zu Tage trat und das erst verschmähte Hilfsmittel des Rufens nun doch ergriffen wurde, war es zu spät – die Menge verlief sich bereits, und Rüdiger und Anna standen verlegen und bestürzt allein miteinander, was unter andern Verhältnissen gewiß seine großen Annehmlichkeiten gehabt hätte, auf dem Bahnhof und sahen sich stumm an.

„Ja, was thun wir jetzt?“ nahm der junge Arzt endlich beklommen das Wort. „Das Klügste wird wohl sein, wenn ich Sie sofort nach dem Hotel zurückbringe, Fräulein Anna – dort finden Sie die Ihrigen so sicher wieder, und wir gehen dann alle zusammen ins Theater.“

Anna willigte ohne weiteres ein. Auch ihr schien dieser Ausweg der beste, und man bestieg eine Pferdebahn und sauste dem Hotel zu.

Dort angekommen, fand man aber die Gesuchten nicht und wurde durch den Portier beschieden, daß die Herrschaften nur vorgefahren wären und sich alsbald nach dem Opernhaus begeben hätten. Anna rang die Hände – es war ja auch eine höchst peinliche Lage, in der sie sich befand!

„Also jetzt nach dem Opernhaus!“ entschied Rüdiger, bot Anna den Arm und ging mit ihr die Straße hinunter, während sie so erbarmungswürdig schluchzte, als wenn sie, statt zu den „Lustigen Weibern von Windsor“, aufs Schaffot geführt werden sollte.

Inzwischen hatte der Amtsrichter mit seiner Frau sich, wie wir gehört haben, vom Bahnhof nach dem Hotel begeben, dort nach Anna gefragt und, als sie nicht vorhanden war, sich in der festen Ueberzeugung, sie sei mit Rüdiger unmittelbar von der Bahn nach dem Opernhaus gegangen, auch dorthin verfügt.

Hier stand nun das Ehepaar auf dem großen Platz, Karl vor Ungeduld und Aerger mit dem Fuß stampfend, als sollte er Pflastersteine einrammen, Helene zitternd vor Besorgniß, Abspannung und Erregung, und suchte unter dem zuströmenden Theaterpublikum nach den Vermißten.

Karl zog die Uhr. „Gleich sieben! Wir kommen noch zu spät!“ sagte er stirnrunzelnd, „Anna sitzt am Ende mit Eurem Doktor doch im Hotel und wartet dort auf uns – ich werde hinfahren und sie abholen. Du bleibst hier, Helene, für den Fall, daß sie etwa vor mir hier eintreffen sollten!“

Nun brach auch Helene in Thränen aus.

„Nein,“ rief sie außer sich, „ich bleibe nicht hier! Ich fürchte mich zu Tode, Karl, abends allein in der fremden, großen Stadt! Wenn auch Du dann nicht wieder kommst, bin ich verloren!“

Und sie verbarg das Gesicht im Taschentuch. Karl stand rathlos.

„Ich will Dir etwas sagen,“ begann er nach einer Pause. „Siehst Du den Schutzmann dort? Der geht immer vor dem Theater auf und ab. Gehe Du immer hinter dem her, da thut Dir kein Mensch etwas! Ich schwöre Dir, Helene, ich bin in einer halben Stunde wieder hier, wenn ich Anna im Hotel finde – sei doch vernünftig!“

Er entfernte sich eilig, und Helene, in einer Hand Opernglas und Fächer, in der andern das Taschentuch, folgte mit zitternder Gewissenhaftigkeit und bitterlich weinend den Spuren des Schutzmanns, der ihr als einziger Fels in dem brandenden Meer des Berliner Lebens erschien.

Nach einer Viertelstunde etwa, die sie in dieser wenig belustigenden Weise verbracht hatte, entdeckte sie endlich Rüdigers Gestalt mit ihrer Schwester am Arm.

„Hier, hier!“ rief sie überlaut und aller großstädtischen Haltung vergessend und schwang ihr Thränentuch hoch in der Luft; das ankommende Paar, das sich in sichtlicher Verwirrung befand und sich gegenseitig nicht ansah, stürzte dann auf sie los, und Annas erste Frage war: „Wo ist Karl?“

„Ja, wo ist Karl?“ gab Helene erschreckt zurück, „er hat Dich ja doch abgeholt?“

O weh – Karl war also an den beiden wieder gerade vorbeigefahren, und wenn sich jetzt wieder jemand nach dem Hotel zurückbegab, um ihn zu holen, so war kein Grund ersichtlich, warum dies Spiel nicht bis zum nächsten Morgen fortgesetzt werden sollte. Die drei Zurückgebliebenen sahen sich mit dem deutlichen Gefühl an, daß sie als lebende Illustration zu der bekannten Geschichte von Wolf, Kohlkopf und Ziege dienen konnten. In Helene dämmerte nebenbei beim Anblick ihrer Schwester die unabweisbare Ueberzeugung auf, daß dies Kind die so entschieden günstige Gelegenheit benützt habe, um sich mit Rüdiger zu verloben – Anna sah sie so beweglich stehend an! Empfindungen jeder Art bestürmten die beiden Schwestern, und die kaum versiegten Thränenströme brachen aufs neue hervor, während Rüdiger tödlich verlegen dazwischen stand und sich in den Schoß der Erde wünschte, da das weinende Schwesternpaar schon die lächelnde Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen begann.

In dem Augenblick stürmte, den Hut auf dem Hinterkopf, glühend roth vor Eile, Aerger und Aufregung, der ersehnte Amtsrichter herbei. Alle begannen nun auf einander einzusprechen, sich mit Erklärungen, Vorwürfen, Thränen und Abbitten zu überhäufen, während keins ein Wort von dem verstand, was das andere sagte.

„Und zum Ueberfluß versäumen wir noch den ersten Akt der ‚Lustigen Weiber‘,“ sagte Karl, sich die Stirn trocknend, „und im ersten Akt kommt gerade meine Melodie vor. Wann fängt es denn an?“

Er sah nach dem Zettel und prallte erschreckt zurück.

„Na, das fehlt bloß noch!“ sagte er dumpf.

„Was giebt’s denn?“ frugen die andern gespannt.

„Die ‚Lustigen Weiber‘ werden gar nicht aufgeführt, sondern ‚Rienzi‘,“ sagte Karl niedergeschmettert, „den ‚Rienzi‘ kann ich nach dem gehetzten Tage heut nicht aushalten – ich gehe ins Hotel und lege mich schlafen.“

Die übrigen fühlten sich auch nicht sehr für „Rienzi“ gestimmt – andererseits aber schien die einfache Rückkehr ins Hotel doch eine zu zahme Auflösung des Abends. „Das hätten wir auch in Solau haben können!“ sagte Helene halblaut.

„Ja ja, es ist dumm,“ gab Karl bedrückt zu, „aber Wagnersche Musik nach diesem Hetzen und Rasen – das halt’ ich nicht aus! Da hätten wir ebenso gut den Lebermann dabehalten können!“

Anna und Rüdiger hatten unterdeß ein paar leise Worte gewechselt.

[818] „Darf ich mir einen Vorschlag erlauben?“ sagte der junge Arzt, der bis dahin auffallend still gewesen war; „lassen wir die Theaterbillette unbenützt und gehen wir zu Siechen, um ein Glas Bier zu trinken! Das scheint mir der geeignetste Abschluß für den Tag und zugleich eine Möglichkeit, den Damen noch ein Bild großstädtischen Lebens zu zeigen.“

„Einverstanden!“ rief Karl erfreut, da das Zauberwort „Bier!“ ihm wie jedem guten Deutschen unwiderstehlich war, sehr einverstanden – auf nach Valencia!“

Wieder machte man sich paarweise auf den Weg und ging, die Damen nun ganz getröstet, in das Lokal, wo das Ehepaar sehr vergnügt bei seinen schäumenden Biergläsern saß, während Rüdiger und Anna weder sich gegenseitig, noch jemand anders ansahen, und der Doktor aufs ersichtlichste „maikäferte“, d. h. tief sinnend sich vorbereitete, um eine Mittheilung zu machen. Plötzlich schlug sich der Amtsrichter vor die Stirn.

„Da fällt mir eben ein – ich habe im Hotel eine Depesche vorgefunden und in der Eile noch nicht aufgemacht!“

Er öffnete das Telegramm, las und reichte es seiner Frau.

„Prost, Helene, und Adieu Lebermann! Ich bin Landrichter in D . . . geworden – die Stadt wird hoffentlich groß genug sein, daß der Apotheker nicht darüber Buch führt, ob ich zwei Löffel Suppe esse, oder drei!“

Das Ehepaar stieß jubelnd mit einander an, – und auch Rüdiger erhob sein Glas.

„Einen unleugbaren Vorzug von D... darf ich auch nicht unerwähnt lassen,“ sagte er verlegen und vergnügt, „es liegt nur eine halbe Stunde von meinem Aufenthaltsort entfernt, und da Ihr Fräulein Schwägerin sich vorhin bereit erklärt hat, mir, mit Ihrer Zustimmung, einmal dorthin zu folgen, so wird sich ja hoffentlich der Verkehr recht gemüthlich gestalten!“

Der Amtsrichter und seine Frau sahen erst sich gegenseitig und dann Anna starr und strafend an. Anna saß glühend mit gesenkten Augen da.

„Du kennst ihn doch noch gar nicht!“ brachte Karl endlich mühsam hervor.

„Ach, wie lange!“ rief Anna und schlug, in glückselige Thränen ausbrechend, die Hände vors Gesicht.

„Sehr lange!“ bestätigte Helene zwischen Rührung und Lachen, „frage sie nur einmal, was sie in der Kapsel hat! Zeig’ her, Aennchen!“

„Lieber sterben!“ rief diese, wie es schien, fest entschlossen, das K aus Nudelteig bis zu ihrem letzten Athemzug zu vertheidigen und zu verheimlichen.

„Nein, das alles will in Ruhe abgemacht und besprochen sein,“ meinte der Amtsrichter und erhob sich. „Mir scheint dies Lokal nicht gerade geeignet zu einer solchen Familienscene! Gehen wir ins Hotel“ – er sah nach der Uhr – „Lebermann muß ja nun schon auf dem Wege nach Solau sein – und dann besprechen wir alles in Ruhe mit einander! Wir machen den Leuten hier noch einen Extraspaß!“ setzte er hinzu und sah sich mit bedenklichen Blicken nach den andern Gästen um, die allerdings, was ihnen nicht zu verdenken war, mit sichtlich gespitzten Ohren da saßen.

Als unsere Gesellschaft sich zum Abschluß dieses denkwürdigen Tages im Hotel wieder zusammenfand – als Rüdiger noch die allerbefriedigendsten Aufschlüsse über seine Persönlichkeit und Verhältnisse gegeben hatte und man das Wohl des jungen Paares unter acht Augen fröhlich trank, fragte der Amtsrichter plötzlich: „Nun, und wem habt Ihr Euer Glück eigentlich zu danken?“

„Dir – oder Lebermann!“ sagte Rüdiger lachend.

„Nein, dem Kürschner aus Solau,“ erwiderte Karl feierlich, „denn hätte der nicht den Zettel auf meinem Pelz loszumachen vergessen, so wüßte ich nicht, wie der Doktor unsere Bekanntschaft hätte machen sollen.“

„Ich glaube, wir hätten uns auch so gefunden – irgendwie und irgendwo, es wäre gar nicht anders möglich gewesen!“ sagte Rüdiger glücklich und zog die Hand seiner kleinen, reizenden Braut an die Lippen, „aber einerlei – der Kürschner aus Solau soll leben, und alle Dummheiten, die er macht, sollen ebenso erfreuliche Folgen haben als diese!“