Die Gartenlaube (1890)/Heft 10
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Halbheft 10. | 1890. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Madonna im Rosenhag.
(Fortsetzung.)
Mit einiger Verwunderung blickte Marie zu ihrem Onkel auf, als er nach der Entfernung Engelberts und Cillys ganz unvermittelt in einem väterlich herzlichen Tone sagte: „Sie haben ja nun Gelegenheit gehabt, liebste Marie, meine Cilly kennen zu lernen, die Ihnen nach so langer Trennung wohl eine völlig Fremde geworden war. Bekennen Sie mir doch recht aufrichtig, ob Sie sich mit dem kleinen Sprudelköpfchen befreunden zu können glauben!“
„Cilly hat mich mit Liebenswürdigkeiten buchstäblich überschüttet, und ich müßte sehr undankbar sein, wenn ich nicht die herzlichste Zuneigung für sie empfände.“
„Wirklich? Sie glauben nicht, wie sehr mich das erfreut! Es macht mir endlich Muth, Ihnen den Wunsch auszusprechen, den ich schon seit unserem ersten Wiedersehen auf dem Herzen trage. Ich habe es oft beklagt, daß das Schicksal meiner Cäcilie die natürlichste und beste Freundin in Gestalt einer Schwester versagt hat. Bei ihrer Ausgelassenheit und ihrer oft geradezu bedenklichen Neigung, der ersten besten tollen Eingebung zu folgen, würde ich mir von dem freundschaftlichen Einfluß einer ruhigeren und abgeklärteren Natur die allergünstigste Wirkung versprechen, und es würde mich sehr glücklich machen, wenn Sie, liebe Marie, sich entschließen könnten, ihr fortan die fehlende Schwester zu ersetzen.“
Die junge Malerin verstand wohl nicht sogleich seine ganze Meinung. „Wenn Cilly das unbedeutende Geschenk meiner Freundschaft nicht verschmäht, soll es ihr mit tausend Freuden gehören,“ sagte sie einfach.
Der General aber drückte ihr mit einer sehr dankbaren Miene die Hand.
„Und Sie willigen ein, uns künftig – das heißt, schon von diesem Tage an, eine liebe Hausgenossin zu werden, nicht wahr? Die Tochter des Obersten von Brenckendorf, der nicht nur mein naher Verwandter, sondern auch mein bester und treuester Jugendfreund war, hat von vornherein ein Recht darauf, mein Haus wie ein Vaterhaus zu betrachten. Es hat mich aufrichtig betrübt, daß Sie sich in der langen Zeit dieses Rechtes nicht ein einziges Mal erinnert zu haben scheinen.“
Mariens Athem ging schneller und ihre Augen glänzten vor innerer Bewegung.
„Das ist ein großmüthiges Anerbieten,“ sagte sie, „zu großmüthig vielleicht, als daß ich daran denken dürfte, es anzunehmen.“
„O, ich hoffe, Sie werden mich nicht mißverstehen! Von irgend welcher Großmuth ist da nicht die Rede, und ich habe Ihnen kein Geheimniß daraus gemacht, daß ich sogar recht eigennützige Nebengedanken habe. Außerdem aber, liebe Marie – Ihr unvergeßlicher Vater hat mir einst in seinen jungen Jahren
[294] Dienste erwiesen, für die ich mich niemals werde genügend dankbar zeigen können. Es wäre mir geradezu eine Kränkung, wenn Sie mich der Möglichkeit beraubten, es auch nur zu versuchen.“
Hätte er ihr bei seinem ersten Besuch, ja, hätte er ihr noch vor einer Stunde diesen Vorschlag gemacht, sie würde ihn sicherlich zurückgewiesen haben unter dem Eindruck der unbesieglichen Empfindung, daß es doch nur eine nothdürftig verschleierte Wohlthat sei, welche man ihr da erweisen wolle. Jetzt aber regte sich neben dieser peinlichen Empfindung eine Stimme in ihrem Herzen, welche sie mit sehr einschmeichelnden Gründen überreden wollte, daß ihr Sträuben eine Thorheit und ihr Ablehnen wirklich eine Beleidigung sein würde für den General. Konnte es denn nicht Wahrheit sein, was er von seiner Dankesschuld gegen ihren verstorbenen Vater sagte? Sie wußte, daß er als junger Offizier der bei weitem ärmere von beiden gewesen war und daß ihn erst seine Heirath in den Besitz großer Reichthümer gebracht hatte. Lag es da nicht sehr nahe, anzunehmen, daß ihr Vater, dessen Hilfsbereitschaft für seine Freunde stets weit über sein Vermögen hinaus ging, ihn oft genug thatkräftig unterstützt und vielleicht sogar aus schlimmen Verlegenheiten gerettet habe? Und war es nicht am Ende ganz natürlich, daß er der Tochter des Freundes heimzahlte, was er dem Freunde selbst nicht mehr vergelten konnte? Wohl vermochte sie selber nicht recht an die Stichhaltigkeit solcher Erwägungen zu glauben; aber es gab da noch ein Uneingestandenes, Mächtiges in ihrem Innern, das sie mit zwingender Gewalt verhinderte, die erste, rasche Weigerung aufrecht zu erhalten. Sie hatte ihren Fuß in das gelobte Land des Reichthums gesetzt, sie hatte sich für wenig Stunden umschmeichelt gefühlt von allen Annehmlichkeiten eines vornehmen, sorgenlosen Daseins, und sie betrachtete diese Welt des Glanzes nicht mehr, wie es noch gestern der Fall gewesen war, mit halb wehmüthiger und halb heiterer Entsagung, sondern mit einer brennenden Sehnsucht, deren qualvolle Bitterkeit sie ja erst vor wenig Minuten in ihrer ganzen Stärke empfunden hatte.
Sie kämpfte mit sich selber; aber der Kampf war kurz und sein Ausgang war von vornherein entschieden. Als der General, welcher taktvoll genug gewesen war, ihr einige Minuten des Nachdenkens zu gönnen, mit eindringlicher Herzlichkeit seine Frage wiederholte, antwortete sie ihm mit einem zaghaft geflüsterten Ja, und die Anwandlung von Reue, die ihr noch in dem nämlichen Augenblick kommen wollte, verflüchtigte sich schnell, als er – einen väterlichen Kuß auf ihre Stirn hauchend – sagte:
„Ich wußte ja, daß Sie zu edel denken, um sich durch kleinliche Regungen eines falschen Stolzes zu einem unfreundlichen Nein bestimmen zu lassen, und ich hoffe, daß Sie die Entschließung dieser Stunde niemals bereuen werden!“
Als hätte sich Seine Excellenz just für den rechten Augenblick die erwünschte Unterbrechung bestellt, erschien Friedrich in der Thür, um einen Besuch von dienstlichem Charakter zu melden. Der General entschuldigte sich und bat Marie um die Erlaubniß, sie zu seiner Gemahlin führen zu dürfen. Im Vorzimmer aber stießen sie auf den eben heimgekehrten Lothar, und nachdem der General mit wenig raschen Worten die Wiederanknüpfung der Bekanntschaft vermittelt hatte, ließ er sie mit ihm allein.
Marie fühlte dem älteren Vetter gegenüber nichts von jener athembeklemmenden Verlegenheit, von welcher sie vorhin bei dem Eintritt Engelberts zu ihrem eigenen Verdruß überrascht worden war. Sie hatte ihm ganz unbefangen in das ernste Gesicht gesehen, und seine unschönen Züge hatten ihr unwillkürlich Cillys unbarmherzige Worte ins Gedächtniß zurückgerufen, daß ihr Bruder Lothar einer von denen sei, die niemals eine Frau bekommen. In der That, es war sehr wenig wahrscheinlich, daß ein Mann von solchem Aussehen der Ruhe eines weiblichen Herzens jemals gefährlich werden könnte, und Marie empfand eine stille Heiterkeit bei der Erinnerung an den Vorschlag, welchen die übermüthige Cilly jenen Worten angefügt hatte.
Aeußerlich freilich zeigte sie wenig von dieser guten Laune. Es war ihrem Gefühl nach etwas so Steifes und Erkältendes in dem Wesen Lothars, daß auch sie unwillkürlich eine vornehme und gemessene Haltung annahm. Cillys überschwängliche Zärtlichkeit und der kameradschaftlich vertraute Ton, welchen Engelbert ohne weiteres angeschlagen, hatten sie so rasch heimisch gemacht in diesem Hause, daß sie die ruhige Höflichkeit Lothars fast wie etwas Verletzendes empfand. Er sagte ihr keine Artigkeit über ihr Aussehen oder ihre künstlerischen Talente wie die andern, sondern er hielt es zu ihrer unangenehmen Verwunderung für angemessen, nach wenigen gleichgültigen Redensarten ein ziemlich ernsthaftes Thema anzuschlagen.
„Ich kann wohl annehmen,“ äußerte er, „daß Sie einigen Einfluß auf Ihren Bruder besitzen, und ich möchte Sie bitten, sich dieses Einflusses in einem ganz bestimmten Sinne zu bedienen.“
Zum ersten Male schoß es Marie bei dieser Erwähnung Wolfgangs durch den Sinn, daß bisher keines von den anderen ihres Bruders gedacht hatte, und daß man stets schnell darüber hinweg gegangen war, wenn sie einmal bei diesem oder jenem natürlichen Anlaß seinen Namen genannt hatte. Sie hatte dieser Erscheinung kein Gewicht beigelegt, und in einem eigenthümlichen Trotzgefühl, für das sie selber keine rechte Erklärung hatte, fühlte sie sich jetzt fast geneigt, ein gleiches zu thun.
„Einfluß?“ wiederholte sie kühl. „Ich glaube kaum, daß man es so nennen darf. Jedenfalls ist er der ältere von uns beiden, und ich denke nicht daran, ihn irgendwie bevormunden zu wollen.“
„Das muthe ich Ihnen nicht zu. Aber Wolfgang ist im Begriff, einen Entschluß zu fassen, der auch Sie nahe berührt. Er will mit dem Beginn seiner zahnärztlichen Wirksamkeit den Freiherrntitel und das Adelsprädikat ablegen. Ich kann mir nicht denken, daß Sie mit dieser Verleugnung seiner Herkunft einverstanden seien.“
Das war wieder derselbe überlegene und – wie sie es im Stillen nannte – schulmeisterliche Ton, durch welchen er schon das siebenjährige Mädchen geärgert hatte. Sie warf den Kopf ein wenig in den Nacken und sagte sehr bestimmt:
„Ich billige seine Absicht im Gegentheil vollkommen! Man darf nicht davor zurückschrecken, die Folgerungen seiner eigenen Handlungen zu ziehen. Wenn von einer Verleugnung seiner Herkunft überhaupt die Rede sein kann, so machte mein Bruder sich derselben nicht erst jetzt, sondern viel eher schon damals schuldig, als er sich einem Beruf zuwandte, welcher schwerlich die Zustimmung seiner Familie, wenigstens sicherlich niemals diejenige meines Vaters gefunden haben würde. Es erscheint mir nur als eine richtige Würdigung der Sachlage, wenn Wolfgang nun auch den zweiten Schritt auf dem einmal eingeschlagenen Wege thut.“
Lothar sah sie in ehrlichstem Erstaunen mit großen Augen an.
„Und das wäre Ihre wirkliche Meinung? Sie lebten wahrhaftig in dem Glauben, daß es irgend eine anständige Art des Erwerbs gäbe, die einen Mann von adliger Geburt in der Achtung vernünftiger Leute herabsetzen könnte?“
Der Verdruß über die Zurechtweisung, deren er sich unterfing, trieb ihr das Blut in die Wangen.
„Wenn ich mich wirklich zu diesem thörichten Glauben bekennen müßte, möchten Sie mir nicht freundlich gestatten, bei demselben zu verharren?“
„Ich bedaure von ganzem Herzen, daß es ein Irrthum war, als ich in Ihnen eine Bundesgenossin gegen den Eigensinn meines Freundes zu finden hoffte. Ich bedaure es auch um Ihretwillen, denn die Art, in welcher das Leben uns früher oder später solcher Vorurtheile entwöhnt, pflegt in der Regel eine ziemlich schmerzhafte zu sein.“
Marie preßte die Lippen zusammen, als müßte sie gewaltsam eine heftige Entgegnung zurückdrängen. Lothar aber mußte das nicht wahrgenommen haben, denn er fuhr ruhig fort:
„Uebrigens zweifle ich noch immer, daß Sie in Wahrheit Ihrer innersten Ueberzeugung Ausdruck gegeben haben. Sie bringen sich ja in einen Widerspruch mit Ihrer eigenen Handlungsweise, denn ich weiß aus Wolfgangs Munde, daß Sie in rühmlichem Streben nach Unabhängigkeit nicht verschmähten, mit der Arbeit Ihrer Hände Ihren Unterhalt zu verdienen.“
Mit einer stolzen Bewegung wandte sich Marie zur Thür.
„Sie zürnen mir?“ fragte Lothar, ohne eine besondere Bestürzung zu verrathen. „Wollen Sie mir nicht das verwandtschaftliche Recht einräumen, ehrlich zu sein?“
„Ehrlich?“ – Sie wandte ihm das blonde Köpfchen zu, und er sah, wie der mühsam unterdrückte Unwille aus ihren schönen Augen sprühte. „Ich erwarte von jedem, daß er ehrlich gegen mich ist, nicht nur von meinen Verwandten. Aber ich werde nicht jeder beliebigen Unzartheit und Rücksichtslosigkeit gestatten, sich hinter dies wohltönende Wörtchen zu flüchten!“
[295] Sie bereute die unfreundliche Erwiderung, fast ehe sie ausgesprochen war. Hätte Lothar jetzt ein einziges freundlich einlenkendes Wort der Entschuldigung gehabt, so wäre der peinliche Eindruck dieses ersten, unerfreulichen Gespräches durch eine Unterhaltung über unverfänglichere Dinge vielleicht noch zu verwischen gewesen; aber Lothar erwiderte nichts und machte keinen Versuch, sie zu halten. Nach einem flüchtigen Zaudern ging sie hinaus, von Herzen froh, Cillys muntere Stimme schon wieder in einem benachbarten Zimmer zu vernehmen.
Bei der Mittagstafel, die um fünf Uhr abgehalten wurde, brachte der General, nachdem er dem aufwartenden Diener zugewinkt hatte, sich zu entfernen, Mariens Gesundheit aus und machte dabei mit einigen geschickten, herzlich klingenden Worten den Seinigen die Mittheilung von der bevorstehenden Vergrößerung des Familienkreises. Außer der Generalin, welche Marie mit vollen Backen freundlich zunickte, schien niemand etwas derartiges erwartet zu haben, aber die Begeisterung, mit welcher sowohl Cilly als Engelbert die Neuigkeit aufnahmen, war darum nur desto schmeichelhafter für die junge Malerin. Der Dragoner-Lieutenant, welcher an ihrer Seite saß, hatte sich erhoben, und während er, den Oberkörper tief herabneigend, sein Glas an das ihre klingen ließ, traf sie ein so beredter Blick seiner klaren Augen, daß sie in neuer Verwirrung die Lider senkte. Sie bemerkte darüber nicht, daß auch Lothar ihr den schäumenden Champagnerkelch entgegengestreckt hatte, und erst Cillys lachender Zuruf mußte sie darauf hinweisen. Sie wollte ihre Unachtsamkeit entschuldigen, denn sie fühlte ohnedies ein aufrichtiges Bedauern über ihr voriges Benehmen gegen Lothar, und es würde ihr sicherlich leicht geworden sein, ein scherzendes Wort des Schuldbekenntnisses und der Reue zu finden, wenn sie auch nur das geringste Anzeichen des Gekränktseins oder des Schmollens in seinen Mienen gelesen hätte. Aber es war eine so gelassene Freundlichkeit in der Art, wie er ihr zutrank, ein – wie sie meinte – so überlegen huldvoller Ausdruck des Wohlwollens in seinen Augen, daß sie trotz aller guten Vorsätze nicht zur Ausführung ihrer Absicht gelangte, und daß es bei einem kurzen, wortlosen Zusammenstoßen der Gläser sein Bewenden hatte.
Und fast derselbe Vorgang wiederholte sich, als Cilly, von den neckischen Geistern des Weines nur noch übermüthiger gemacht, gegen das Ende des Mahles plötzlich ausrief:
„Aber ist es nicht furchtbar komisch, Marie, daß sie Dich alle so förmlich mit Sie anreden, als wärest Du nicht eine leibliche Nichte und Base, sondern irgend eine Prinzessin von Trapezunt? Auf, füllt Eure Gläser und trinkt Brüderschaft miteinander, wie sich’s gehört! – Auf unverbrüchliche Freundschaft und auf Du und Du!“
Engelbert warf einen raschen, forschenden Blick zu seinem Vater hinüber. Da aber das freundliche Lächeln nicht von dem Gesicht des Generals verschwunden war, nahm er Cillys Vorschlag sogleich mit gewohnter Lebhaftigkeit auf, und unter Scherz und Gläserklang wurden die heiteren Bräuche vollzogen.
„Den Bruderkuß dürft Ihr Euch schenken!“ sagte Cilly, „das thue ich für Euch alle!“
Und sie küßte Marie auf den Mund, daß es schallte.
Zwischen Lothar und seiner jungen Verwandten aber war auch jetzt kein Wort gewechselt worden, und so glücklich sich auch Marie im Kreise dieser prächtigen, liebevollen Menschen fühlte, mit so unumstößlicher Gewißheit stand es doch in ihrem Herzen fest, daß der Anblick dieses klugen, ernsten Gesichts mit seiner unveränderlichen, beleidigenden Ruhe stets einen Tropfen Wermuth in den Becher ihrer Freude träufeln würde.
Es war merkwürdig, daß sie sich trotzdem ein paar Minuten lang aufrichtig ärgerte, als Lothar bald nach aufgehobener Tafel aus dem Familienkreise verschwunden war. Natürlich sah sie darin nur einen neuen Beweis angeborener Unhöflichkeit, und sie faßte im Stillen den feierlichen Entschluß, ihn fortan auch ihrerseits mit vollkommener Gleichgültigkeit zu behandeln.
Engelbert hatte ohne weiteres auf seine geliebte Cigarre verzichtet, um die beiden jungen Damen auf dem Spaziergang im Wintergarten zu begleiten, zu welchem Cilly plötzlich Lust verspürt hatte. Als seine Schwester dann für eine kurze Zeit abgerufen wurde, wußte er Marie sehr geschickt mit dem Hinweis auf einige besonders prächtig blühende Orchideen zurückzuhalten. Seine botanischen Kenntnisse waren äußerst gering und er bemühte sich durchaus nicht, diese Lücke in seinem Wissen heuchlerisch zu verhüllen; aber die Unzahl drolliger Bemerkungen, mit denen er bei offenem Eingeständniß seiner mangelhaften Bildung diese oder jene Pflanze zu kennzeichnen versuchte, erschien Marie ungleich unterhaltender, als es selbst die gründlichsten und geistreichsten wissenschaftlichen Belehrungen sein konnten.
Sie waren zuletzt vor einer Königspalme von seltener Schönheit stehen geblieben, deren herrlich entwickelte Krone sich fast unmittelbar unter dem Glasdach des Wintergartens ausbreitete.
„Wie heißt es doch in des wackeren Simon Dach unsterblichem Liede vom Aennchen von Tharau?“ fragte Engelbert. „Ist da nicht auch von einem Palmbaum die Rede?“
„Ja,“ erwiderte Marie arglos, und mit halblauter Stimme sprach sie, das liebliche Antlitz sinnend zu der Krone des schlanken Stammes emporgerichtet, die einfachen, innigen Verse:
„Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
Je mehr ihn Regen und Hagel anficht:
So wird die Lieb’ in uns mächtig und groß
Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Noth.
Aennchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“
„Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“ wiederholte Engelbert, sie mit seinen heißen Blicken fast verzehrend. Und dann, einem unbezwinglichen Verlangen seines vom Wein erregten Blutes nachgebend, beugte er sich über das holdselige Mädchenantlitz herab und küßte sie auf den Mund.
Mit halb geschlossenen Augen duldete Marie die Liebkosung, ohne sie zu erwidern. Aber als er nun seinen Arm um ihre Gestalt legen und sie fester an sich ziehen wollte, machte sie sich los und flüchtete bis an den Eingang des Wintergartens zurück. Ihre Wangen glühten, und halb abwehrend, halb bittend hatte sie beide Hände erhoben.
„O, nicht so, Engelbert, nicht so!“ sagte sie leise. „Ich bitte Dich von ganzem Herzen!“
Der Dragoner hatte bei ihrem raschen Entweichen etwas verblüfft und unbehaglich dreingeschaut, denn er fürchtete vielleicht, daß sie einen peinlichen Auftritt herbeiführen würde. Jetzt aber leuchtete es glückstrahlend und siegesgewiß in seinem hübschen Gesicht.
„Ich hätte es ja leicht, mich zu entschuldigen,“ erwiderte er, seine Stimme nun ebenfalls dämpfend und ihr langsam näher tretend, „denn Du warst mir den Bruderkuß noch immer schuldig geblieben. Aber ich liebe die hinterlistigen Küsse nicht, und so kann ich zu meiner eigenen Rechtfertigung nur den alten Königsberger Professor anklagen und dies ungestüme, ungebärdige Herz da in meiner Brust!“
„Seid Ihr denn noch immer hier?“ schallte es von der Glasthür her. „Mein Gott, welch merkwürdige Dinge müßt Ihr Euch zu erzählen haben!“
Ein flehender Blick aus Mariens schimmernden Augen, auf deren feuchtem Grunde er gut genug ein gar verheißungsvolles Leuchten sah, traf das Antlitz Engelberts. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, ihm zu antworten, doch auch dieser Blick war eine Antwort gewesen, deren Deutlichkeit ihm wohl genügen mußte.
„Gewiß, äußerst merkwürdig!“ bestätigte er lächelnd der eintretenden Cilly. „Wir haben eine Probe gemacht auf das berühmte Wort, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandle.“
Er führte die Damen hinaus, und bald nachher verabschiedete sich Marie, um noch einmal, zum letzten Mal, in ihr bisheriges Heim zurückzukehren. Es gab ja noch mancherlei zu ordnen und herzurichten, ehe ihre Uebersiedelung in das Haus des Generals erfolgen konnte, und sie hatte sich darum in lebhaftem Kampfe gegen Cillys Drängen eine dreitägige Frist für diesen Schritt ausgebeten, der eine so wichtige Wendung in ihrem Leben bedeutete.
Fast überwältigt von den zauberischen Eindrücken dieses Tages lehnte sie das Köpfchen in die bequemen Polster des Wagens zurück. Sie fühlte sich todmüde, aber ein seliges Lächeln war auf ihren Lippen. Vor ihr lag die Zukunft wie ein unendlicher blühender, sonnenbeschienener Garten, und sie war so glücklich, so über alles irdische Maß hinaus glücklich, wie es eben nur ein junges Menschenherz sein kann, dem sich das Wunder der ersten Liebe erschlossen hat.
Ueber Nacht war der erste Winterschnee gefallen, und nun blies um die Mittagsstunde bei unbewölktem Himmel der Wind recht unwirthlich und rauh in die weiß verhüllten Straßen. Mit vorgebeugtem Kopfe kämpfte sich Joseph Hudetz, von dem [296] Kältegefühl sichtlich bis ins Mark durchschauert, über den freien Platz des Lustgartens vor dem Museum. Derselbe Wind, welcher die Wangen und die Nasen der anderen so lustig röthete, hatte ihn nur noch um eine Schattirung bleicher und fahler werden lassen; die dunklen Schatten unter seinen Augen zeichneten sich schärfer ab als sonst, und die Umrisse seiner hageren Gestalt traten erbarmungswürdig schmal und eckig unter dem langen havelockartigen Mantel hervor, den der Sturm zu toller Unförmlichkeit aufbauschte.
Die Katalogverkäufer am Fuße der großen Freitreppe mußten ihn bereits kennen, denn sie verschmähten es, ihm ihre Ware anzupreisen. Oder sie hielten ihn vielleicht auch für einen jener Unglücklichen, die sich zur Winterszeit in die öffentlichen Kunstsammlungen flüchten, weil es für sie keine andere Möglichkeit giebt, die Wohlthat eines geheizten Raumes zu genießen.
Ohne einen Blick auf die mächtigen Trümmer der Gigantomachie vom Altar zu Pergamon in der Rotunde und auf die Skulpturen im Erdgeschoß zu werfen, stieg Hudetz nach dem ersten Stockwerk empor. In dem großen Oberlichtsaale zur Linken wo des Peter Paul Rubens ewig junge Meisterwerke hängen, blieb er eine kleine Weile stehen – ähnlich einem frommen Kirchenbesucher, der zaudernd in der Vorhalle verharrt, damit alles irdische Denken und der unreine Odem der Straße von ihm abgethan sei, ehe er seinen Fuß in das eigentliche Heiligthum setzt.
Denn sein Allerheiligstes war nicht dieser prunkende Saal mit den üppigen, in kühner Farbenpracht und überquellender Daseinsfreude leuchtenden Gestalten, sondern ein kleines, abseits gelegenes Zimmerchen, dessen Thür sich zur Rechten öffnete, und an welchem weitaus die meisten anderen Besucher achtlos vorubergingen.
Nur zwei Wände dieses Kabinetts waren mit Bildern geringen Umfanges bedeckt, und diese unscheinbaren Gemälde in ihren schlichten, alterthümlichen Umrahmungen behandelten durchweg Gegenstände, die auf die Neugier der großen Menge keinen Reiz zu üben vermögen. Außer dem uniformirten Beamten, der sich mit äußerst gelangweiltem Gesicht auf einem Stuhl neben der Thür niedergelassen hatte, blieb Hudetz lange Zeit der einzige in dem kleinen Raume. Keine verständnißlose Phrase und kein platter Scherz, wie sie an solchem Orte nur zu häufig laut werden, störte die weltvergessene Andacht, mit welcher er sich in die Betrachtung seiner kostbaren Lieblinge versenkte.
Wie oft hatte er diese kleinen Porträts, den „Mann mit den Nelken“ und das Bildniß des fast abenteuerlich häßlichen Tuchhändlers Giovanni Arnolfini, bereits betrachtet, wie zahllose Viertelstunden hatte er vor dem Christuskopf und den kleinen Madonnenbildern des Jan van Eyck bereits zugebracht! Und doch vermochte er an ihnen immer neue Reize und künstlerische Feinheiten zu entdecken – doch erfüllte ihn immer tiefere, immer liebevollere Bewunderung für den wackeren alten Meister, der als schlichter Handwerksmann mit unendlichem Fleiß und kindlich frommem Herzen eine neue Kunst ins Leben gerufen und den Größeren, die nach ihm kommen sollten, den Weg zur Erreichung der höchsten Ziele gewiesen hatte.
Schon wollte er sich zum Gehen wenden, um das Hauptwerk der Brüder von Maaseyck und den Stolz des Berliner Museums, die Altargemälde von Sankt Bavo zu Gent, aufzusuchen, als sein Blick auf ein winziges Bildchen zunächst dem Fenster fiel, von dem er sofort wußte, daß es früher nicht dagewesen war. Es war ohne Zweifel eine neue Erwerbung; denn statt der üblichen Katalognummer trug es nur auf einem kleinen Schildchen die Bezeichnung:
„Jan van Eyck, Madonna im Rosenhag.“
Eine fiebrische, fleckige Röthe der Aufregung trat auf Hudetz’ Wangen, während er mit weit vorgeneigtem Oberkörper das unscheinbare Holztäfelchen betrachtete, dessen bemalte Fläche von der ausgespreizten Hand eines großen Mannes wohl zu bedecken gewesen wäre. Was war alles Schöne und Bewunderungswürdige, das der Meister von Brügge sonst geschaffen, was waren selbst seine Genter Altarbilder neben diesem kleinen, köstlichen Meisterwerk!
„Johes. de eyck me fecit anno 1435“, „Johannes von Eyck hat mich gemacht im Jahre 1435“, so war mit zierlichen, kaum wahrnehmbaren Buchstaben in die Steinbank eingemeißelt, neben welcher die Gottesmutter in ihrem weich herabfließenden weißen Mantel stand. Mehr als vier Jahrhunderte also waren über diese malerische Schöpfung hinweg gegangen, und doch prangte sie in einer so durchsichtigen, leuchtenden Reinheit und Frische der Farben, als hätte erst vor wenig Tagen des Meisters Hand den letzten Pinselstrich gethan. –
Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ Hudetz in heftigem Erschrecken aus seiner Verzückung emporfahren. Der Kopf schmerzte ihn infolge der langdauernden Anspannung des Gesichtssinnes, und als er sich rasch umwandte, wankte er in einer Anwandlung von Schwindel gleich einem Trunkenen. Der Museumsbeamte war noch immer der einzige, welcher sich außer ihm in dem kleinen Zimmer befand; aber während er den Eintretenden vorhin nicht der geringsten Beachtung gewürdigt hatte, waren seine Augen jetzt mit einem Ausdruck lebhafter Verwunderung auf Hudetz gerichtet. Und dieser prüfende Blick, der vielleicht nichts anderes war als eine Aeußeruug argloser Neugierde, erfüllte den ehemaligen Studenten mit athembeklemmender Angst. Wie kam der Mann dazu, ihn so durchdringend und forschend anzusehen? Warum hegte er Mißtrauen gegen ihn? Hatte er ihn vielleicht gar im Verdacht, daß er einen Diebstahl ausführen wolle wie im Kupferstichkabinett zu Breslau? In äußerster Verwirrung kehrte Hudetz sein Gesicht wieder den Bildern zu; aber er fühlte den mißtrauischen Blick, auch ohne ihn zu sehen, und langsam, Schritt für Schritt, schob er sich klopfenden Herzens gegen den einzigen Ausgang des kleinen Raumes hin. Noch in der Thür erwartete er, daß der Mann ihn anrufen und nach seinem Namen fragen werde. Aber nichts derartiges geschah, und ungehindert konnte er den Saal mit den Riesengemälden des Rubens und seiner Schüler durchschreiten.
Tief aufathmend blieb er in einem der angrenzenden Gänge stehen. Sein Erschrecken war sehr thöricht gewesen – gewiß! Seine beständig gereizte Einbildungskraft hatte ihm einen Streich gespielt – nichts weiter! Wie sollte der Beamte dazu kommen, einen Argwohn gegen ihn zu hegen? Er hatte sich ganz unauffällig benommen, und in seiner äußeren Erscheinung war doch am Ende nichts, was ein besonderes Mißtrauen erwecken konnte.
Aber wenn er nun doch richtig gesehen hatte? Wenn es vielleicht eine Uebereinkunft zwischen den einzelnen Museumsverwaltungen gab, nach welcher sie sich die Beschreibung derjenigen mittheilten, die einmal bei einem Galeriediebstahl betroffen worden waren? Der beängstigende Gedanke nahm in seinem aufgeregten Gehirn sofort eine fürchterliche Wahrscheinlichkeit an. Was wollte es am Ende beweisen, daß er schon so oft unbehelligt diese Räume durchwandert hatte? Man hatte ihn eben unter den vielen anderen nicht bemerkt, oder die Museumsdiener, die sonst hier aufgestellt gewesen, hatten sich jener Beschreibung nicht erinnert! Jetzt aber, wo das Mißtrauen des einen einmal geweckt worden war, jetzt würden auch alle übrigen auf ihn aufmerksam werden. Man würde ihn auf Schritt und Tritt beobachten, würde vielleicht der Polizei einen Wink geben, ein Geheimpolizist würde ihn um seine Papiere befragen, und dann – o, er wußte nur zu gut, was dann das Ende sein würde: ein Zwangsabschub in die Heimath, eine Vernichtung der letzten Hoffnung, die ihn noch an dies elende, gehetzte, kaum zu ertragende Dasein fesselte!
Wie geistesabwesend stierte er auf des jüngeren Teniers „Versuchung des heiligen Antonius“, vor der er seit zehn Minuten stand. Ein Fieberschauer schüttelte seinen Leib. Die abenteuerlichen Ungeheuer auf dem Bilde schienen plötzlich Leben zu gewinnen und sich in einem tollen Wirbeltanze zu bewegen. Von der plötzlichen Furcht gepackt, daß er hier krank oder ohnmächtig zusammenbrechen könnte, ging Hudetz mit beschleunigten Schritten denselben Weg zurück, den er gekommen war. Als er an dem offenen Eingang des kleinen Kabinetts vorüberkam, zog es seinen Blick mit unwiderstehlicher Gewalt dahin. Ein breiter Streifen hellen Wintersonnenscheins lag über dem kleinen Bilde zunächst dem Fenster. Scharf und körperlich hob sich die Madonna in ihrem weißen Mantel von dem grünen Rosengehege ab. Der Fuß des Fliehenden zauderte, denn eine schier unnatürliche, zwingende Lockung ging für ihn von dem winzigen Gemälde aus. Er meinte, der Versuchung einzutreten nicht länger widerstehen zu können – da hob der Beamte, der noch immer auf seinem Stuhle hockte, das gelangweilte Gesicht, sein erster Blick streifte die hagere Gestalt in dem weiten, fadenscheinigen Mantel, und jetzt glimmte vielleicht wirklich etwas wie ein leises Mißtrauen in seinen Augen auf. Hastig, zitternd, die Entgegenkommenden anrennend, und fast ohne zu sehen, wohin er trat, eilte Hudetz die Treppe hinab und durch die Vorhalle hinaus ins Freie; der scharfe,
[297][298] eisige Wind, der ihm entgegen blies, kühlte seine pochenden Schläfen nicht. Was vorhin nur wie eine ferne, unwahrscheinliche Möglichkeit in seinem Kopfe aufgedämmert war, hatte sich ihm jetzt zu unumstößlicher Gewißheit gesteigert: er war da drinnen erkannt worden – er wurde beargwohnt – und er durfte seine Besuche in der Bildergalerie nicht wiederholen, wenn er nicht die Gefahr der polizeilichen Ausweisung über sich heraufbeschwören wollte – diese Gefahr, vor der er heftiger zitterte als vor dem Gedanken an den Tod.
Die Thränen liefen ihm über die Wangen, ohne daß er es bemerkte, während er über das holperige Pflaster am Spreeufer dem Norden zustrebte. War es denn überhaupt der Mühe werth, weiter zu leben, wenn ihm auch diese letzte Daseinsfreude für immer entzogen wurde? That er nicht hundertmal besser, durch einen Sprung über das Eisengeländer der steilen Uferböschung all dem Jammer ein kurzes Ende zu bereiten? Wie sollte er seine Arbeit fertigstellen, wenn undurchdringliche Mauern ihn von dem Anblick der Werke trennten, über die er schrieb? – Und jetzt – gerade jetzt, wo er ein Kleinod gefunden hatte, das ihm bereits bei der ersten, kaum den Gesammteindruck erschöpfenden Betrachtung hundert neue Anregungen gegeben, hundert neue Ausblicke eröffnet hatte! – Ließ sich die Vorstellung ertragen, daß er es niemals – niemals wiedersehen sollte?
Mit keuchendem Athem und verwirrten Gedanken stieg er die Treppe zu seiner Wohnung empor. Die Wirthin stand am Herd und rührte in einem dampfenden, unangenehme Zwiebelgerüche ausströmenden Topfe. Mit ihrer starkknochigen, abgemagerten Gestalt, ihren harten Zügen und dem wirren grauen Haar legte sie den Vergleich mit den Bewohnerinnen einer Hexenküche nahe. Sie schenke dem Eintritt ihres Miethers anscheinend keine Beachtung, aber als er eben die Thür seiner Stube hinter sich schließen wollte, redete sie ihn an:
„Machen Sie sich darauf gefaßt, einen Besuch zu bekommen! Ich glaube, er wird Ihnen nicht angenehm sein, aber ich kann nichts dagegen thun.“
Welch eine neue Hiobspost war es, die da auf ihn wartete!
„Einen Besuch?“ wiederholte er, bemüht, seine Gedanken zu sammeln. „Wer könnte das sein?“
„Der Gerichtsvollzieher!“ sagte sie, gleichmüthig in ihrer Beschäftigung fortfahrend. „Es ist merkwürdig, was für eine Anhänglichkeit diese Art von Menschen für mich hat. Ich war noch nicht sechs Jahre alt, da nahm ein solcher Kerl – damals hieß er Exekutor – meiner Mutter das letzte anständige Kleid weg, das sie im Schranke hatte, und den Schrank dazu. Seitdem ist kein einziges Jahr vergangen, ohne daß ich die unselige Uniform nicht einmal oder ein paarmal hätte zur Thür hereinkommen sehen. Alle anderen können einen vergessen – der nicht, und wenn ich einmal kalt und todt da auf dem Lumpenbündel von Bett liege, wird noch der Gerichtsvollzieher kommen und meine Wohnung vergeblich nach einem pfändbaren Stücke durchstöbern.“
Sie hustete heftig und lange. Es war, als ob sie mit der Gefahr der Erstickung zu kämpfen habe; zum ersten Mal machte Hudetz die Wahrnehmung, daß sie seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft um vieles hinfälliger geworden war. Aber es gab jetzt näher liegende Sorgen als diese. Der angekündigte Besuch mußte unter allen Umständen verhindert werden.
„Um was handelt es sich denn?“ fragte er. „Ist die Summe groß?“
„Für Rothschild nicht – für mich, ja! Es sind Steuern oder so was. Das bezahl’ ich nie! Was hab’ ich denn davon? Vielleicht, daß unter den Linden Asphaltpflaster gemacht wird und elektrisches Licht? Sie sollen einer armen alten Frau meinetwegen das Hemd vom Leibe nehmen, wenn sie’s verantworten können! Freiwillig aber – freiwillig geb’ ich nicht einen Pfennig!“
Hudetz strich sich das dunkle Haar aus der Stirn.
„Ich werde die Steuern für Sie bezahlen, Frau Haberland,“ sagte er mit einem leisen Seufzer. „Wir dürfen nicht erst den Gerichtsvollzieher kommen lassen.“
Es war ihr nicht der Mühe werth, auch nur den Kopf zu erheben.
„Da auf dem Tisch liegt der Mahnzettel,“ meinte sie, „bis heute abend muß es in Ordnung sein.“
Sie kostete von ihrer Suppe, um dann noch etwas Salz hinzuzufügen. Trotz des rauhen Gleichmuths, den sie an den Tag legte, war doch ein ausgeprägter Zug von Lebensmüdigkeit auf dem harten alten Gesicht mit dem fest zusammengepreßten, zahnlosen Munde.
Hudetz nahm den Zettel und las den darauf angegebenen Betrag. Derselbe war nicht eben groß, aber er überstieg die kleine Baarschaft, über welche der ehemalige Student noch verfügte, doch um ein Beträchtliches. Er war es ja gewöhnt, von der Hand in den Mund zu leben, und die Einkünfte waren in den letzten Tagen besonders spärlich geflossen, weil er sich mit vermehrtem Eifer seiner wissenschafllichen Arbeit hingegeben hatte.
„Es wird mir hoffentlich gelingen, das Geld noch rechtzeitig zu beschaffen,“ sagte er, den Zettel zusammenfaltend und sich zum Gehen wendend.
„Wollen Sie nicht zuvor etwas essen?“ rief ihm die Alte nach. „Brotsuppe mit Zwiebeln – ich setze sie Ihnen nicht auf die Rechnung.“
Aber er lehnte mit einigen Dankesworten ab. Nicht um den höchsten Lohn hätte er jetzt einen Bissen über die Lippen bringen können. Unten auf der Straße überlegte er eine Weile, was sich unternehmen ließe, um die fehlende Summe aufzubringen. Dann erinnerte er sich eines Weinhändlers, von dem er wiederholt kleinere Inseratenaufträge für verschiedene Berliner Zeitungen erhalten hatte. Er hatte bei dem Manne seit geraumer Zeit nicht mehr vorgesprochen; wenn er heute ein geneigtes Ohr bei ihm fand, mochte der auf ihn selbst entfallende Gewinnanteil wohl hinreichen, das dringende Bedürfniß des Augenblicks zu befriedigen.
Aber die Aussichten schienen nicht sehr günstig, denn als Hudetz das kleine Kontor betrat, fand er den Weinhändler, einen alten Herrn von dem würdevollen Aussehen eines biblischen Patriarchen, in sehr eifrigem Gespräch mit mehreren Besuchern.
„Was wünschen Sie denn schon wieder?“ klang es ihm wenig ermunternd entgegen. „Kommen Sie ein anderes Mal! – Oder meinetwegen mögen Sie auch warten, bis ich Zeit habe, mich mit Ihnen zu befassen!“
Ohne ein Wort zu erwidern, schlich sich Hudetz in eine Ecke des kleinen, überheizten und von Cigarrendampf erfüllten Raumes. Er war entschlossen, nicht eher von der Stelle zu gehen, als bis er seinen Zweck erreicht hatte. Die rückständigen Steuern seiner Wirthin mußten ja bezahlt werden um jeden Preis.
Die Unterhaltung, welche der Patriarch mit seinen Kunden führte, war von schier unendlicher Dauer, und als dieselben schließlich gegangen waren, hatte der Alte den stillen Besucher in der Ecke beim Ofen augenscheinlich vergessen. Er rechnete und schrieb, und das Kritzeln seiner Feder war lange Zeit das einzige Geräusch, welches die Stille der kleinen Arbeitsstube unterbrach.
Aber es war nicht nur Bescheidenheit, daß Hudetz noch immer schweigend und regungslos auf seinem Stuhle hockte. Seine Gedanken hatten sich längst weltenweit von dem Zwecke seines Hierseins entfernt, und auf der schmucklosen, mit einer unsäglich häßlichen Tapete beklebten Zimmerwand, die er unausgesetzt anstarrte, hob sich längst von dem tiefgrünen Hintergrunde blüthenbedeckter Rosenhecken die holdselige Gestalt der jungfräulichen Gottesmutter im lang niederfallenden, weißen Gewande ab, diese süßeste aller Madonnen, die er nie – nie mehr wiedersehen sollte!
Es war nicht gerade wunderbar, daß ihm das Bild mit fast all seinen Einzelheiten im Gedächtniß haften geblieben war; aber es war merkwürdig, daß ihn gerade in Bezug auf das Antlitz der Maria seine Erinnerung vollständig im Stiche ließ. Und je mehr er sein Gehirn zermarterte, um den verwischten Eindruck wieder herauf zu beschwören, desto hartnäckiger schob sich ein anderes, lichtblondes Köpfchen in den Rahmen des Phantasiegebildes ein, desto deutlicher trug die lichtumflossene Madonna im Rosenhag die lieblichen Züge jener vornehmen Flurnachbarin, deren entflohenes Vögelchen er einst mit Gefahr des eigenen Lebens vor den mordgierigen Krähen errettet hatte. Und er fühlte sich plötzlich ergriffen von einer Empfindung namenlosen, heißen, inbrünstigen Sehnens, von einem unklaren und doch allgewaltigen Verlangen, das jede Fiber seines Wesens erfaßte. Es drängte ihm die Thränen in die Augen und ließ ihn doch zugleich in der dunklen Vorahnung einer Glückseligkeit erschauern, der er keinen Namen zu geben wußte, obgleich es ihn unwiderstehlich trieb, sie mit dem Einsatz seines ganzen Daseins zu erringen.
[299] Er hörte und sah es nicht, daß der Weinhändler aus dem Inhalt des Geldschrankes Geld auf die Platte seines Pultes zählte. Der verführerisch helle Klang des Goldes erreichte sein Ohr so wenig wie das lockende Knistern der Kassenscheine – und es riß ihn erst aus seinen Träumereien auf, als eine jugendliche Frauenstimme aus dem Nebenraume rief:
„Ach, Papa, komm doch herein – nur für einen Augenblick! Unser Hugo hat eben gelächelt – wahrhaftig gelächelt; die Wärterin sagt, sie habe das noch nie erlebt bei einem Kinde von kaum vier Wochen!“
In den Zügen des Patriarchen leuchtete es auf wie heller Sonnenschein. Als gälte es, ein Geschäft mit hundert Prozent Gewinn zu machen, eilte er zu der Thür des Nebengemaches. Und was hätte er wohl sechs Wochen früher demjenigen geantwortet, der ihm prophezeit hätte, daß er jemals ein paar tausend Mark unbeaufsichtigt bei unverschlossener Thür auf seinem Pulte liegen lassen würde, nur um das vermeintliche Lächeln eines Kindes von vier Wochen zu sehen? Er würde den Propheten für verrückt erklärt haben, – aber er war eben damals noch nicht Großvater gewesen wie heute.
Minute auf Minute verrann – eine lange Viertelstunde, – und Joseph Hudetz war noch immer allein mit dem blinkenden Golde und den verführerisch bunten Kassenscheinen. Doch nicht für die Dauer eines Herzschlages wandelte ihn die Versuchung an, seine Hand auszustrecken nach dem fremden Gute. Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu; seit dem frühen Morgen hatte er weder Speise nach Trank zu sich genommen, und es war wenig Aussicht vorhanden, daß er die Mittel erlangen würde, das Versäumte später nachzuholen. Aber er dachte nichtsdestoweniger keinen Augenblick an die Möglichkeit, eine dieser glänzenden Münzen, eines dieser bunten Papiere an sich zu nehmen und mit unhörbaren Schritten das Weite zu suchen.
Er würde niemals aus Hunger gestohlen haben – niemals!
Der Weinhändler trat wieder auf die Schwelle. Sein erster Blick streifte die zusammengekauerte Gestalt in der Ecke bei dem Ofen – der zweite flog blitzschnell nach dem Pulte hinüber.
„Sie sind noch immer da?“ fragte er, und aus dem Klang seiner Stimme war es zu hören, wie schwer ihm sein beispielloser Leichtsinn noch nachträglich auf die Seele fiel. „Sind Sie die ganze Zeit hindurch dagewesen?“
„Ja,“ erwiderte Hudetz bescheiden, „Sie forderten mich ja auf, zu warten, bis Sie Zeit für mich haben würden.“
Der Patriarch brummte etwas vor sich hin und begann von neuem sein Geld zu zählen. Es fehlte nichts davon, und als er es bis auf den letzten Thaler in den diebessicheren Eisenschrank eingeschlossen hatte, wandte er sich wieder gegen seinen Besucher.
„Eine Anzeige soll ich Ihnen geben für die ‚Morgenpost‘ und für die ‚Abendglocken‘, nicht wahr? Nun, ich habe nicht gesehen, ob es mir in meinem Geschäft genützt hat, aber es hat mir auch nicht geschadet, denn mein Geschäft geht gut. Also sollen Sie sie haben, die Anzeige.“
Er kritzelte einige Worte auf ein Blatt Papier, drückte seinen Firmenstempel darunter und reichte es dem erleichtert aufathmenden Hudetz.
„Ich danke Ihnen,“ erwiderte dieser, indem er hastig nach seinem Hute griff und Miene machte, sich zu entfernen. Wohlgefällig streichelte der Patriarch seinen langen grauen Bart.
„Nun, warum haben Sie es mit einem Male so eilig, da Sie doch Zeit hatten, eine Stunde oder darüber zu warten? – Es ist Ihr Geschäft, herumzulaufen und sich Inseratenaufträge von diesem und jenem geben zu lassen. Nun ja – warum nicht? – Mancher wird sie geben und mancher wird sie nicht geben. Es ist ein Geschäft wie jedes andere. Aber ich glaube nicht, daß es ein gutes Geschäft ist – das heißt: ein einträgliches Geschäft – ich glaube es nicht.“
„Freilich, man kann nicht reich davon werden,“ sagte Hudetz, dem der Boden unter den Füßen brannte.
Mit einem tiefsinnigen Lächeln wiegte der Patriarch das ehrwürdige Haupt.
„Reich?“ wiederholte er. „Wovon kann man reich werden in diesen schweren Zeiten? Wer Gottes Segen nicht auf seinem Geschäft hat, der bleibt ein armer Teufel sein Leben lang. Soll ich Ihnen etwas sagen, junger Mann? Als ich in Ihren Jahren war oder darunter, bin ich hierher gekommen mit fünf Groschen in der Tasche und hab’ nicht gewußt, wo ich mein Haupt hinlegen sollte in der Nacht. Und da, an der nämlichen Stelle, wo Sie stehen, habe ich gestanden und um eine Zehrung gebeten für meinen Weg. Aber der, der damals der Herr war in diesem Haus, war übel gelaunt und hieß mich mit einem unfreundlichen Wort von dannen gehen. Ich sage nicht, daß es recht von ihm war, denn wer da hat, der soll seinem Bruder geben, daß er auch habe. Aber wir sind alle nur Menschen und haben unsere Fehler wie Menschen. Also ging ich still hinaus und kaute auf einem Strohhalm, weil mich hungerte, wie einen gesunden Menschen von zwanzig Jahren hungert, der in fünfzehn Stunden nichts Warmes und nichts Kaltes zwischen den Zähnen gespürt hat. Und wie ich im Finstern die Treppe hinabgehe, da stößt mein Fuß an was Hartes, und wie ich es aufhebe, ist es ein Geldbeutel mit elf harten Thalern. Elf Thaler sind nicht viel für einen, der im Ueberflusse sitzt; aber es ist sehr viel für einen, der seit fünfzehn Stunden hungert und nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Nun, was meinen Sie, daß ich gethan habe? Umgekehrt bin ich, den Geldbeutel hab’ ich auf den Tisch gelegt und gesagt: ‚Zählen Sie’s nach, ob etwas fehlt von dem, was darin gewesen ist!‘ Und von Stund’ an bin ich als Gehilfe hier im Hause geblieben, und sechs Jahre später hab’ ich die Tochter desselben Mannes geheirathet, der mich hinausgeschickt hatte. Und dann bin ich Herr geworden im Haus, und Gottes Segen ist auf meinem Geschäft gewesen. Nun, was meinen Sie, warum ich Ihnen die ganze alte Geschichte erzählt habe?“
Hudetz hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, denn die Ungeduld verzehrte ihn, und er empfand nicht die geringste Theilnahme für die Erinnerungen des Patriarchen.
„Ich weiß in der That nicht,“ stammelte er, „es war gewiß ein sehr merkwürdiger Zufall – aber –“
„Zufall – warum Zufall? – Und ich will es Ihnen gerade heraus sagen! Ihr Geschäft ist kein gutes Geschäft, denn Sie kommen dabei niemals auf einen grünen Zweig. Ich aber kann ganz gut noch einen ehrlichen, zuverlässigen Menschen brauchen für die Schreibstube und für das Lager. Da melden sich so viele mit den rechtschaffensten Gesichtern und den schönsten Redensarten, und hinterher kann man froh sein, wenn sie nicht vielleicht gar schon im Gefängniß gesessen haben. – Nun, was ist denn, warum haben Sie’s mit einem Male so eilig, junger Mann?“
Hudetz stand schon in der geöffneten Thür. Das Blatt, das er noch immer in der Hand hielt, war nicht viel weißer als sein Gesicht.
„Sie sind sehr gütig,“ stieß er hervor, „aber ich kann wirklich nicht – es geht nicht – und – und ich darf mich nicht länger aufhalten – guten Abend!“
Er rannte davon, als hätte er statt des menschenfreundlichen Anerbietens Stockschläge von dem Patriarchen erhalten. Seine Geschäfte in den Expeditionen der „Morgenpost“ und der „Abendglocken“ waren rasch erledigt, und er erreichte die Steuerkasse eben noch unmittelbar vor Thoresschluß. Als er wieder heraustrat, war sein Besitz an barem Gelde geringer als die Barschaft, mit welcher einst der Weinhändler nach Berlin gekommen war, um sein Glück zu machen. Er kaufte sich etwas Gebäck bei einer alten Frau, die trotz der schneidenden Kälte mit ihren Kuchenkörben im Lustgarten saß, und während er essend vor der großen Freitreppe des Museums auf und nieder ging, kehrten seine Gedanken zu dem einzigen Gegenstand zurück, der jetzt noch Werth und Bedeutung für ihn hatte.
Die Dunkelheit, welche ihn umgab, übte einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus. Wie weit er auch von einer Empfindung der Sicherheit und des Geborgenseins entfernt war, er wagte doch endlich, ganz schüchtern der Vorstellung Raum zu geben, daß seine Befürchtungen vom Mittag grundlos gewesen sein könnten, und er rang sich endlich nach vielem Zaudern und Verwerfen zu der Entschließung durch, morgen noch einmal auf jede Gefahr hin den Besuch der Galerie zu wiederholen. Er wollte die äußerste Vorsicht aufwenden und sich von dem eigentlichen Ziele seiner Sehnsucht so lange fernhalten, bis er die Gewißheit erlangt hatte, daß man ihn nicht beobachte. Wenn er die Augen offen hielt, mußte ihm ja unter allen Umständen noch Zeit genug zum Rückzuge bleiben, sobald sich irgend etwas Besorgnißerregendes zeigte.
[300] Gestärkt und mit einem Gefühl der Spannung, wie es ihm in seinem aufreibenden Kampfe ums Dasein seit langem fremd geworden war, kehrte er nach langem Umherwandern in seine Wohnung zurück. Die Alte lag hustend und nach Athem ringend auf ihrem Bette. Seine Mittheilung, daß die bedrohliche Angelegenheit geordnet sei, schien sehr geringen Eindruck auf sie zu machen. Sie brummte nur etwas, das Hudetz nicht verstand, und auf seine besorgte Frage, ob sie sich vielleicht ernstlich unwohl fühle, fuhr sie ihn fast zornig an:
„Wenn’s schon so wäre, könnten Sie mir etwa helfen? Gehen Sie nur und legen Sie sich schlafen! Hat man dreißig Jahre allein gelebt, kann man am Ende auch allein verenden!“
Er wagte es nicht, ihr zu widersprechen; aber seine Besorgniß, daß ihr etwas zustoßen könnte, veranlaßte ihn doch, sich in den Kleidern auf das Bett zu legen. Sein Schlaf war infolge dessen unruhig und vielfach durch Träume unterbrochen, die fast den Charakter von Fieberphantasien hatten. Erst gegen Morgen, als auch der bellende Husten der Alten minder häufig und beängstigend durch die dünne Scheidewand tönte, fiel er in tieferen, halbwegs erquickenden Schlummer.
Und er träumte, daß sich van Eycks Madonna im Rosenhag nicht mehr im Besitz der Berliner Galerie, sondern in seinem eigenen engen Stübchen befand. Das Bild schwebte frei in der Luft mitten im Gemache, und es ging ein wunderbares Leuchten von ihm aus, ein überirdischer Glanz, der ihm zuletzt eine schmerzliche Empfindung in den Augen verursachte. Und diesen stechenden, bohrenden Schmerz fühlte er auch noch beim Erwachen. Der Kopf war ihm so schwer, daß er ihn nur nach minutenlangem Kampfe und mit dem Aufgebot seiner ganzen Willenskraft von dem Kissen zu erheben vermochte. Eine furchtbare Mattigkeit machte ihm selbst die geringfügigste Bewegung der Glieder zu peinvoller Anstrengung.
Sicherlich wäre er in seinem heutigen Zustande ganz unfähig gewesen, irgend einen Entschluß zu fassen, welcher moralischen Muth oder Spannkraft des Geistes zur Voraussetzung gehabt hätte. Aber der Vorsatz vom gestrigen Abend wirkte seltsamerweise in ihm nach wie der Befehl einer höheren Macht, vor der es kein Entrinnen und gegen die es kein Widerstreben gab.
Er hatte sich nie so schwach, so hinfällig und so zaghaft gefühlt als gerade heute, und trotzdem stand es ihm unumstößlich fest, daß er auf jede Gefahr hin in das Museum gehen werde.
Schon während er sich ankleidete, dachte er an nichts anderes als daran. Er zauderte, den weiten grauen Mantel anzulegen, den ein betrügerischer Kleiderhändler ihm aufgeschwatzt hatte, und der in den Tagen seines Glanzes wohl für zwiefach breitere Schultern reichlich bequem gewesen war. Das auffällige Kleidungsstück mußte es ja dem Beamten leicht machen, ihn wiederzuerkennen. Aber mit einem Male ging es ihm durch den Sinn, wie mühelos man einen Gegenstand, der etwa die Größe des van Eyckschen Madonnenbildes hätte, unter den Falten dieses Mantels würde verbergen können. Zwar vermochte sein schmerzendes Gehirn diesen sonderbaren Gedanken ebensowenig festzuhalten wie irgend eine andere von den tausend abenteuerlichen Vorstellungen, die sich unablässig hinter der fiebernden Stirn jagten; aber er hüllte seine hagere Gestalt nun doch ohne weiteres Zögern in das gefährliche Kleidungsstück ein und machte sich auf den Weg.
In einem fast ausschließlich von Arbeitern besuchten Kaffeekeller der Chausseestraße versuchte er ein einfaches Frühstück zu sich zu nehmen. Aber der erste Bissen schon quoll ihm im Munde, und die verpestete Luft des niederen Raumes, dessen Fenster nicht geöffnet worden waren, obwohl mehr als ein Dutzend Menschen sich rauchend und schnapstrinkend bis zum Morgengrauen darin aufgehalten hatten, verursachte ihm unerträgliche Uebelkeit. Er war wirklich nahe daran, ohnmächtig zu werden, und das mochte sich ziemlich deutlich auf seinem Antlitz ankündigen, denn ein älterer Mann in der gestrickten Wolljacke eines Maurers, der sich neben ihn auf die hölzerne Bank geschoben hatte, redete ihn plötzlich an: „Ihnen ist nicht ganz wohl – was? – Lassen Sie doch die Cichorienbrühe stehen – davon wird es nicht besser! Nehmen Sie lieber einen Nordhäuser, der bringt Sie schon wieder auf die Beine!“
Er schob Hudetz das gefüllte Schnapsglas zu, das der Wirth soeben vor ihn niedergesetzt hatte, und der ehemalige Student hob es mit zitternden Fingern an die Lippen, als müßte er heute willenlos jede Weisung befolgen, die ihm von irgend einer Seite her zutheil wurde. Seit den Tagen seiner frühesten Kindheit hatte er stets einen unbezwinglichen Ekel gegen alle geistigen Getränke empfunden. Der bloße Geruch des Branntweins erweckte ihm mit Naturnothwendigkeit die Erinnerung an jene wüsten und grauenhaften Auftritte, deren Zeuge er in seinem Elternhause, dem Hause des unverbesserlichen Schnapstrinkers, gewesen war. Und auch jetzt schüttelte ihn der Widerwillen, als er den ersten brennenden, abscheulich schmeckenden Tropfen auf seiner Zunge fühlte. Ein Erdarbeiter, der ihm gegenüber saß und ihn beobachtete, brach in rohes Gelächter aus; der Maurer aber ermunterte ihn gutmüthig:
„Nur hinunter damit! – Die Wirkung kommt erst, wenn man ihn im Magen hat.“
Und sie ließ in der That nicht lange auf sich warten, diese Wirkung, die so wunderbar war und so unbeschreiblich wohlthätig. Wie ein Strom flüssigen Feuers rann es durch seinen Körper, als er mit furchtbarer Anstrengung den ganzen Inhalt des Glases hinabgeschüttet hatte; der bohrende Schmerz in den Schläfen und den Augen verwandelte sich in einen dumpfen, um vieles leichter zu ertragenden Druck, und ein Kraftgefühl, wie er es kaum je gekannt hatte, war urplötzlich an die Stelle der bisherigen Mattigkeit getreten.
Er besaß nicht mehr als zehn Pfennig, als er die steile Kellertreppe wieder emporklomm. Aber diese Mittellosigkeit machte ihm keine Sorge. Er hatte überhaupt keine Sorgen in diesen glücklichen Augenblicken. Der Anblick eines eiligen Zeitungsjungen, der ihn mit seiner großen Mappe unsanft in die Seite gestoßen hatte, erinnerte ihn an sein Erlebniß vom gestrigen Abend, an den Patriarchen und an das menschenfreundliche Anerbieten desselben. Er lachte still in sich hinein bei der Vorstellung, wie sich das ehrwürdige Antlitz des Weinhändlers wohl verwandelt haben würde, wenn er ihm geantwortet hätte, daß er auch einer von denen sei, die bereits im Gefängniß gesessen haben ... Als wenn es etwas so Außerordentliches wäre, dies Bestraftsein! ... Waren nicht zu allen Zeiten große Männer eingekerkert worden? Und gab es nicht unter den lebenden Berühmtheiten einige, die in den Sturmjahren der Revolution sogar zum Tode verurtheilt worden waren? ... Am Ende kam es doch nur darauf an, sich nicht erwischen zu lassen! ... Was hatte es denn für die Allgemeinheit zu bedeuten, ob ein paar seltene Kupferstiche die Freude eines armen Studenten ausmachten, oder ob sie in den Mappen eines reichen Liebhabers verschlossen blieben! ... Nicht einmal das Behagen und das Wohlbefinden dieses Liebhabers hatte es länger als für eine flüchtige Stunde zu stören vermocht, daß er die wenigen Blätter genommen, und er – er sollte es trotzdem büßen mit der Zerstörung seines ganzen Daseins? – Nein, das war keine Gerechtigkeit – das konnte nicht der Wille desjenigen gewesen sein, welcher dem Weltenlauf seine ewigen Gesetze vorgeschrieben! Man hatte ein Recht, sich dagegen aufzulehnen ... und er wollte sich auflehnen – gewiß, es war sein fester Entschluß, das zu thun! Wenn man nicht die Kraft besaß, diese unsinnige soziale Ordnung mit einem Ruck übern Haufen zu werfen, so mußte man sie verhöhnen, man mußte sich über sie lustig machen, wie die schwärmenden Mücken sich vielleicht über den starken, alles beherrschenden Menschen lustig machen, den sie ungescheut reizen und peinigen, obwohl ein einziger Druck seines Fingers hinreichen würde, sie zu tödten, wenn er sie nur in seiner Gewalt hätte! ... Ja, wenn er sie hätte – das war eben der Humor davon!
Der Vergleich gefiel Hudetz außerordentlich, er dünkte ihm so treffend, daß er mit dem Behagen eines Dichters, der einen glücklichen Gedanken gefunden zu haben meint, dabei verweilte. Was war er denn auch anderes als eine solche arme, harmlose Mücke? Ein einziges Mal nur hatte er sich seines Daseins freuen wollen, und um des winzigen, kaum fühlbaren Stiches willen, den dabei ein anderer empfangen hatte, wollte man ihn nun erbarmungslos zerdrücken und vernichten! Er war eben so thöricht gewesen, sich erwischen zu lassen – er hatte gar keinen Versuch gemacht, dem Verhängniß zu entrinnen, weil ihm irgend jemand in seiner Kindheit eine thörichte Ehrfurcht eingeprägt hatte vor dieser verrückten Weltordnung, in welcher die Gesellschaft mit dem rohen Rechte des Stärkeren durch Keulenschläge jeden Nadelstich [301] erwidern darf. Er hatte seinen Nacken unter die Keulenschläge gebeugt, ohne sich zu fragen, ob dies in Wahrheit ein gerechtes Abwägen sei zwischen seiner Schuld und ihrer Sühne. Jetzt aber war ihm diese Frage gekommen; die belebenden, wunderthätigen Geister des Branntweins hatten sie in irgend einem Winkel seiner Seele geweckt, und diese nämlichen Geister raunten ihm nun auch die Antwort zu mit einem tausendmal wiederholten Nein! Er wollte sich auflehnen, sich rächen; aber er wollte sich nicht erwischen lassen – das war der letzte Schluß, in welchem alle diese sprunghaften und verworrenen Gedanken unfehlbar immer wieder endeten.
Daß seine Rache nur in der Entwendung von van Eycks Madonnenbilde bestehen konnte, war ihm in all den wirren Gedankenwirbeln seines berauschten Gehirns nicht einen Augenblick zweifelhaft gewesen. Nicht allmählich und mit Widerstreben war der Entschluß dazu in ihm gereift, sondern er war plötzlich fest und unverrückbar dagewesen wie etwas Selbstverständliches, das schon seit langem all sein Sinnen und Trachten beherrscht hatte. In Wirklichkeit hatte er gestern durchaus nicht daran gedacht; jetzt aber galt es ihm als gewiß, daß er das Bild schon gestern fortgenommen haben würde, wenn nicht die beständige Anwesenheit des Museumsdieners ein solches Beginnen unmöglich gemacht hätte. Und die Furcht, daß sich die Gelegenheit auch heute nicht günstiger erweisen möchte, war die einzige Sorge, welche sich zuweilen für die Dauer einer Sekunde lähmend auf seine beinahe freudige und von einer brennenden Ungeduld gestachelte Entschlossenheit legte.
Vor der Eingangsthür des Museums hatte sich ein kleines Häuflein Harrender angesammelt, die sich verdrießlich und durchfroren in die warmen Räume stürzten, als ihnen endlich geöffnet wurde. Hudetz beeilte sich gar nicht, ihnen zu folgen. Er befand sich in der heiteren und behaglichen Stimmung eines Menschen, der zur Erhöhung des Sinnenkitzels den Augenblick eines höchsten Genusses hinausschiebt, weil er sicher ist, daß dieser Genuß ihm nicht mehr geraubt werden kann. Und es war merkwürdig, ein wie lebhaftes Vergnügen ihm heute selbst die gleichgültigsten und geringfügigsten Dinge zu bereiten vermochten. Die Amazone und der Löwentödter auf den Treppenwangen – die mächtige Granitschale auf dem freien Platze mit ihrem plumpen hölzernen Deckel – ja, selbst das alte, verhutzelte Weiblein, das immer mit dem nämlichen Tonfall der dünnen, quiekenden Stimme ihr: „Katalog gefällig?“ und „Führer durch die königlichen Museen?“ herplapperte – er sah sie alle nur wie durch einen feinen Schleier und in eigenthümlich verschwimmenden Umrissen, aber sie erschienen ihm nichtsdestoweniger so hübsch und so vergnüglich anzuschauen, daß er gar nicht zu begreifen vermochte, wie ihm das Dasein bei so viel reizvoller Abwechslung jemals hatte leer und unerträglich dünken können.
Mit dem überlegenen Lächeln eines Weisen, der soeben die Lösung einer weltbewegenden Frage gefunden hat, trat er endlich in das Haus. Einer von den Museumsdienern, die im ersten Saale des Erdgeschosses standen, blickte ihn scharf an, aber das hatte heute durchaus nichts Verwirrendes für den ehemaligen Studenten. Vielmehr ergötzte er sich innerlich über die Dummheit dieses Menschen, der trotz allen Anstarrens nicht aus seinen Mienen heraus lesen konnte, was er vorhatte. Er mußte an sich halten, um ihm nicht im Vorbeigehen gerade ins Gesicht zu lachen. Wozu standen diese Aufpasser nun da in ihren schönen Uniformen, wenn sie doch genöthigt waren, die Spitzbuben ungehindert eintreten zu lassen gleich den ehrlichen Leuten!
Es waren erst wenige Besucher in dem westlichen Flügel der Gemäldegalerie, aber vor den Madonnenbildern van Eycks stand ein junges Paar, dem die Abgelegenheit des kleinen Kabinetts gerade recht schien für den Austausch geheimnißvoller Mittheilungen, welche sie sich mit sehr verliebten Gesichtern in die Ohren flüsterten. Es wäre gewiß ein Leichtes gewesen, sie zu verscheuchen, aber Hudetz war zu rücksichtsvoll, etwas derartiges zu versuchen. Mochten sie immerhin erst zu Ende kommen – er hatte ja keine Eile!
Ein einziger Umstand war da, der ihm leichtes Unbehagen machte. Vor Peter Paul Rubens’ „Auferweckung des Lazarus“, die dem Eingang des Kabinetts gerade gegenüber hing, war eine Malerin mit dem Kopiren der gewaltigen Tafel beschäftigt. Sie stand auf einem Tische vor ihrer Staffelei, und wenn sie den Kopf ein wenig wandte, mußte sie jeden Winkel des Kabinetts mit einem einzigen Blick überschauen können. Aber sie war sehr vertieft in ihre Arbeit. Hudetz sah, daß sie mit dem Antlitz des Andreas nicht fertig werden konnte, und in ihrem Bemühen, zu ändern und zu bessern, würde sie gewiß keine besondere Aufmerksamkeit haben für das, was in ihrer Umgebung geschah. Jedenfalls war es nothwendig, sie im Auge zu behalten, und das war eine Unbequemlichkeit, mit welcher er bisher nicht gerechnet hatte.
Doch es gab nichts, das ihn in seiner gegenwärtigen rosigen und zuversichtlichen Stimmung ganz und gar hätte entmuthigen können. Er war von dem Gelingen seines Vorhabens so fest überzeugt, als wären da nicht die geringsten Schwierigkeiten zu überwinden gewesen. Nur den rechten Zeitpunkt mußte er abwarten – weiter nichts, und wo ein solcher Preis zu gewinnen war, da fiel das Opfer einer Viertelstunde doch wahrlich nicht ins Gewicht!
Das Jubiläum einer Weltreisenden.
Es ist eine kleine Dame in unscheinbarem, dünnem Gewande. Vor fünfzig Jahren ist sie aufgebrochen aus ihrer Heimath England, und seither hat sie Länder und Völker besucht, deren wir uns kaum aus dem Geographieunterricht entsinnen, so fernab sind sie gelegen. Immer noch ist sie unterwegs und sucht nach neuen Gebieten, die ihr noch fremd geblieben sind, sie strebt ihnen zu mit dem Trieb eines Welteroberers, und vielleicht wenn wir in fünfzig Jahren wieder nach ihr fragen, hat sie ihr letztes Ziel, den letzten Erdenwinkel erreicht, und überall kennt man die kleine Dame in ihrem unscheinbaren dünnen Gewande, die große Weltreisende, die – Postmarke.
Welche gewaltige Wandlungen hat das Postwesen im Verlaufe des letzten halben Jahrhunderts erfahren! War ein geregeltes Postwesen vordem eine Art Sonderrecht der von der Kultur besonders bevorzugten Völker, so giebt es in unseren Tagen kaum noch einen Strich Landes auf der großen weiten Welt, der nicht die Segnungen dieser Einrichtung sich anzueignen bestrebt gewesen wäre.
Für unsere Begriffe recht kindlich waren die Postverhältnisse noch zu Anfang dieses Jahrhunderts. Schwerfällige Verbindungen nicht nur von Staat zu Staat, sondern oft sogar von Stadt zu Stadt, dazu umständliche Portoberechuungen und hohe Portokosten[1]. Mit dem Ende der Befreiungskriege, als alle Völker danach trachteten, die geschlagenen Wunden zu schleuniger Vernarbung zu bringen, da brach eine andere Zeit heran, ein schwaches Morgenroth unserer derzeitigen preiswürdigen Verkehrszustände! Dieser „neuen Zeit“ entgegenzukommen, war die Post bereit, sie vermochte dies aber nur im Rahmen ihrer verhältnißmäßig noch schwachen Macht. An Stelle schwerer, unförmlicher Postkutschen traten schnellbeweglichere Eilpostwagen, die Zahl der Posthaltestellen wurde vermehrt und damit auch die der Postanstalten. Hiermit erlangte die briefschreibende Menschheit bereits Vortheile, welche den größten Anklang finden mußten. Dann kam die Zeit der Dampfkraft und des Telegraphen. Die Dampfschiffahrt in Amerika (1807) und der erste Dampfer, welcher 1838 den Ocean sozusagen überbrückte, weiterhin die Eisenbahn, deren erste Linie in England 1825, auf europäischem Festland, bezw. auf deutschem Boden 1835 eröffnet wurde, endlich in den Jahren 1833 bis 1837 die Einführung der elektrischen Telegraphie – sie gaben zu Hoffnungen auf einen gänzlich veränderten Weltverkehr den gerechtesten Anlaß. Das Bahn- und Telegraphennetz, welches sich in einer ungeahnt schnellen Weise ausbreitete, ließ den berittenen Postkurier und die Eilpostkalesche bald nur im Dienste solcher Gegenden bestehen, die den neuzeitlichen Verkehrsmitteln noch fern lagen.
Einer der ersten Erfolge der Fortschritte auf dem Gebiete der Beförderungsmittel war eine wesentliche Ermäßigung des Briefportos. Noch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts behauptete sich dasselbe auf einer Höhe, daß der kleine Geschäftsmann eher zu jeder noch so langsamen Privatgelegenheit seine Zuflucht nahm, ehe er das theure Geld für die öffentliche Post aufwendete. Gewiß war es nun schon ein bedeutsamer Fortschritt, daß man Briefe von Berlin nach Potsdam für 30 Pfennig, von ebenda nach Marseille für 1 Mark 35 Pfg., nach Kopenhagen für 1 Mark 45 Pfg., nach London für 2 Mark 75 Pfg. zu versenden in die Lage kam und noch dazu auf eine viel raschere [302] Beförderung rechnen durfte. Indessen sollte dieser erlangte Vortheil nur wenig Jahrzehnte befriedigen, eine neue Postreform bereitete sich vor, die ihren Ausgang von England nahm.
Wohl waren auch hier infolge der neuen Errungenschaften die Porti zeitgemäß herabgesetzt worden, aber nicht nur die Portoberechnung nach Zonen und nach der Zahl der Bogen, sondern die ganze Versendungsweise war keine dem riesigen Postverkehr entsprechende mehr. Dies in vollem Umfang zuerst mit erkannt und mit Mühe und Fleiß auf eine feste Grundlage gebracht zu haben, so daß die reformatorischen Ideen nicht nur in England zur vollständigen Besserung, sondern auch in der gesammten kultivirten Welt zur Nachahmung führten, ist das Verdienst Sir Rowland Hills, geboren 1795 in Kidderminster, gestorben 1879, eines Mannes, der als Neuschöpfer des Postwesens für alle Zeit in Ehren genannt werden muß. Seine berühmte „Penny-Porto-Reform“, die für ganz England ein einheitliches Porto von 1 Penny (= 10 Pfennig) für den einfachen Brief bestimmte, trat nach vielen Kämpfen im Unterhause am 10. Januar 1840 ins Leben, mit diesem Gesetze ging aber auch Hand in Hand die Einführung von Postwerthzeichen, von Postmarken und gestempelten Postumschlägen! Am 10. Mai 1840 wurde das erste Postwerthzeichen an das Londoner Publikum ausgegeben – die kleine Dame war reisefertig. – Sie war kein Kind mehr, wie wir bald sehen werden, und sie hatte auch ihre Ahnen, deren Schicksale wir durch einige Jahrhunderte verfolgen können.
Des Postwerthzeichens Urahn ist das Stempelpapier! Schon zu Ausgang des 16. Jahrhunderts soll in Spanien für fiskalische Zwecke Stempelpapier in Verwendung gewesen sein. Im 17. Jahrhundert war es in Holland, Frankreich, Brandenburg, Kursachsen etc. nachweislich eingeführt. Die Verwendung desselben für Zwecke der Post, zum „Freimachen“ der Briefe, geschah zuerst in Frankreich, woselbst, und zwar in Paris, ein Herr de Velayer laut Dekret vom 8. August 1653 eine Stadtpost einrichtete und eine Art gestempelter Bänder ausgab. das Stück zu 1 Sou (5 Centimes oder 4 Pfennig), die einfach um den Brief geschlungen und durch Ausfüllung des Datumvordruckes entwerthet wurden. Dieses Ereigniß war für die Pariser ein derart wichtiges, daß es sogar dichterisch verherrlicht wurde. Trotzdem Velayer seine Stadtpost höchst zweckmäßig eingerichtet, Portoeinheit, Frankaturzwang, Briefkastenanlage mit regelmäßiger Abholung, regelmäßige Austragung u. s. f. durchgeführt hatte, war sein Unternehmen nicht von Bestand, und bald waren die Savoyarden wieder in ihre einstige Stellung als Briefbeförderer getreten.
Ein zweiter Versuch, Stempelpapier für Briefbeförderung zu verwenden, wurde in den Jahren 1818 und 1820 von dem damaligen Königreich Sardinien unternommen. Dort verausgabte man eine besondere Art von mit Wasserzeichen versehenen und gestempelten Bogen zur Versendung von solchen Briefen, welche auf anderem Wege als mittels der Staatspost befördert wurden. Die Stempel, welche unsere Abbildungen (Fig. 1 und 2, Seite 301) veranschaulichen, enthalten einen Postkurier zu Pferde und die betreffende Werthangabe.
Im Gebrauch waren diese Vorläufer unserer heutigen Postbriefumschläge, welche die Form des gefalteten Bogens hatten, bis zum Jahre 1837. Obwohl Sardiniens Briefumschläge nachweislich wenig benutzt wurden, so gab ihr Dasein doch den Anlaß, daß man auch in anderen Staaten Versuche ähnlicher Art wagte. So schlug in Schweden 1823 der Lieutenant v. Treffenberg der zuständigen Behörde die Einführung von Frankozeichen für die Briefbeförderung vor, so brachten ferner die beiden Engländer Charles Whiting 1830 und Charles Knight 1834 eine Art Briefumschläge zu öffentlicher Besprechung, und in eben dieser den üblichen Stempelbogen ähnlichen Form glaubte auch Rowland Hill das Postwerthzeichen der Zukunft gefunden zu haben. Er machte in seiner Reformschrift, durch welche er dem Pennyporto Bahn brach, gleichzeitig auf die Einführung von Briefumschlägen mit aufmerksam. Die Erfahrungen der Gegenwart haben bewiesen, daß die Einführung von Umschlägen allein nur der halbe Weg zur Vereinfachung des Briefverkehrs gewesen wäre.
Da tritt denn mit dem englischen Buchhändler und Buchdrucker James Chalmers (geb. 1782 in Arbroath, gest. 1853 in Dundee) die Persönlichkeit auf den Schauplatz, die bei Gelegenheit des jetzigen Jubiläums als Erfinder der aufklebbaren Postmarke in den Vordergrund gehört. Chalmers, der als Geschäftsmann einen großen Briefwechsel zu führen hatte, beschäftigte sich in seinen Mußestunden längst mit Plänen eines vereinfachten, weniger zeitraubenden Verfahrens im Freimachen der Briefe. Zuletzt kam er auch auf die rückseitig gummirte Freimarke; er fertigte alsbald Proben derselben an und ließ sie bereits im Februar 1834 in Bekanntenkreisen zur Prüfung herumgehen.
Der erste Versuch (Fig. 4) scheint ihn aber, obwohl er das Wesen der heutigen Postmarke schon vollständig verkörpert, selbst nur halb befriedigt zu haben. Denn zugleich mit einer wichtigen Denkschrift über Förderung des Postwesens legte er am 8. Februar 1838 neue, wesentlich zweckentsprechendere Markenproben vor (Fig. 5), die beifällige Aufnahme fanden, dem Wesen nach die schließlich eingeführte Postmarke darstellen, ja als unmittelbare Vorbilder der nachmaligen Postwerthzeichen von Britisch-Guyana und den Sandwich-Inseln und einzelner nord- und südamerikanischen Lokalpostmarken betrachtet werden können.
Calmers’ und seiner Freunde Bemühungen gelang es, daß mit Annahme des Hillschen „Pennyportos“ und des Postbriefumschlags auch die Postmarke als Mittel zum Freimachen angenommen wurde, wenn auch schließlich eine andere Zeichnung den Sieg davontrug. Die öffentliche Ausschreibung zu Lieferung von Marken- und Briefumschlagentwürfen brachte an 50 solcher für Marken, gegen 2000 solcher für Umschläge zur Wahl. Von letzteren erhielt der Maler Mulready für seine Englands Weltbriefverkehr darstellende Vignette (Fig. 3) den ersten Preis. Die Markenproben aber gefielen durchweg nicht, und erst eine bei dem Kupferstecher Bacon bestellte Probe, sein „Kopf der Königin“, gelangte zur Annahme (Fig. 6 und 7). Das „Mulready-Couvert“ und die mit dem Kopf der Königin Viktoria gezierten Marken sind es also, welche vor nun fünfzig Jahren den Reigen der ersten wirklichen Postwerthzeichen der Welt eröffneten, indem sie zugleich rücksichtlich der Postmarke den Gedanken ihres Erfinders James Chalmers zur Verwirklichung brachten. Wir sehen, es hat viele Mühe gekostet, das Kostüm unserer Weltreisenden festzustellen. Seither hat sie auch darin weibliche Sitte nicht verleugnet, daß sie oft und gern die Mode wechselte, ein neues und möglichst hübsches Gewand sich aussuchte und manchmal sogar recht absonderlichen Geschmacksrichtungen huldigte. Aber ihrem eigentlichen Daseinszwecke ist sie infolge dieser kleinen Schwächen doch nicht untreu geworden.
Wie Sir Rowland Hill mit seiner „Postreform“ im wahren Sinne des Wortes die Welt eroberte und noch die Krönung des von ihm begonnenen Werkes durch die unter hochverdienstlicher Mitwirkung des deutschen Generalpostmeisters Dr. v. Stephan 1879 erfolgende Schöpfung des „Weltpostvereins“ erleben konnte, sah auch Chalmers noch die von [303] ihm erfundene, aufklebbare Postmarke den Siegeslauf durch die ganze Welt antreten. Denn auf England folgten mit Einführung von Postmarken 1843 Brasilien (Fig. 8) und Zürich, 1844 Genf und Basel, 1845 Finnland, 1848 Belgien, Spanien und Rußland, 1849 Bayern (Fig. 9) und Frankreich, 1850 Preußen, Oesterreich, Sachsen (Fig. 10) Hannover etc., so daß bis zum Jahre 1855 32, bis 1864 110 Staaten dem neuen Systeme huldigten, während diese Zahl gegenwärtig auf 220 sich beläuft. Chalmers hat aber außerdem noch über Mulready gesiegt, denn seine Form des Postwerthzeichens ist nicht nur die meist benutzte geworden, sondern auch in Verwendung gekommen zum Aufdruck auf Umschläge, Postanweisungen, Streifbänder und Postkarten.
Annähernd gleich großen Erfolg wie die Postmarke hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Postkarte zu verzeichnen. Von Stephan auf dem 5. deutschen Postkongreß zu Karlsruhe im Jahre 1865 erstmalig als neues Verkehrsmittel vorgeschlagen, von Oesterreich am 1. Oktober 1869 eingeführt, betrug ihre Verwendung im Weltverkehr im Jahre 1886 bereits über eine Milliarde. Ganz riesige Ziffern ergiebt der jährliche Verbrauch an Postwerthzeichen überhaupt. Nur einige Beispiele: England, das vor Hills Reform jährlich nur 75 Millionen Briefe verzeichnete, hatte deren in runder Zahl: 1845 270 Millionen, 1882 einschließlich 150 Millionen Postkarten 11/4 Milliarde; das Deutsche Reich, welches 1872 307 Millionen Briefe und 8 Millionen Postkarten in der Poststatistik vermeldet, brachte es 1878 schon auf zusammen 553 Millionen, 1887 aber auf fast 11/2 Milliarde. Darf es dann wundernehmen, wenn die kaiserliche Reichsdruckerei zu Berlin zur Herstellung deutscher Postmarken täglich allein einen Centner Klebgummi und zur Postkartenerzeugung täglich 45 Centner Kartonpapier verarbeitet?
Die Zahl der seit Einführung verausgabten Postwerthzeichen ist, die außer Kurs gesetzten inbegriffen, auf rund 10000 nach Form, Zeichnung, Herstellungsart und Farbe verschiedene Muster zu veranschlagen. Seit dem Jahre 1858 gewann alt und jung, vornehm und gering Gefallen am Sammeln der Postwerthzeichen. Diese Liebhaberei („Philatelie“) rief eine umfängliche Litteratur hervor und wird gegenwärtig von einer großen Zahl von Vereinen in aller Welt nach festen Regeln gepflegt. Gegen 50 Zeitschriften in allen Weltsprachen widmen sich der Briefmarkenkunde, von denen beispielsweise Heitmanns „Illustrirte Briefmarken-Zeitung“ zugleich als Organ von 24 Vereinen dient. Wie die Handbücher von Lindenberg, Meyer und Moschkau und der Katalog der Sammlung des Reichspostmuseums sorgfältige Ausstellungen und Beschreibungen aller erschienenen Postwerthzeichen der Erde geben, so dienen die Sammelbücher von Schwaneberger, Köppe, Schaubek, Zschiesche etc. zur Aufnahme der gesammelten Stücke. Einen Namen weit über Sammlerkreise hinaus genießen die Sammlungen im Reichspostmuseum zu Berlin, die des Herrn Philipp von Ferrary in Paris und die des „Internationalen Postwerthzeichen-Museums“ zu Wien-Unterdöbling.
Ein übersichtliches Bild des Postmarkenwesens, von Chalmers’ Proben bis zur Entwicklung in unseren Tagen, werden die anläßlich des Jubiläums unserer Weltreisenden veranstalteten öffentlichen Postwerthzeichen-Ausstellungen zu London, Wien, Magdeburg und anderwärts geben.
Ohnedies werden aber alle briefschreibenden Völker an dem Jubiläumstage der Postmarke gern und freudig sich vergegenwärtigen, wie bedeutsam sie den Weltpostverkehr gehoben und vereinfacht hat, und daß ihr an der hochentwickelten Blüthe desselben ein namhafter Antheil gebührt.
Deutsche Städtebilder.
Ein schlauer Gesell ist er, der Mainstrom. Weil ihm die bösen Menschen, welche die Landkarten zeichnen, einen so gar kurzen Spielraum gelassen haben von seinen Quellen am Fichtelgebirge bis zum Altvater Rhein, macht er, um sich sein Dasein künstlich zu verlängern, die allerverwegensten Windungen, bis er endlich doch einsieht, daß er bei Mainz in den Rhein gehört. Am Mainstrome nun liegt das altehrwürdige Würzburg. Der Fluß ist hier schon recht stattlich; trägt er doch von Mainz bis Bamberg aufwärts Schiffe mit zweitausend Centnern Ladung. So kann man denn von der alten Würzburger Mainbrücke aus eine kleine Flotte bemasteter Schiffe betrachten, die hier vor Anker liegt; ab und zu gleitet auch ein Fahrzeug unter den altersgrauen Bogen der Brücke durch. Der Fluß ist zu seinen mächtigen Krümmungen genöthigt durch seinen Lauf, welcher das mitteldeutsche Berg- und Hügelland durchbricht. Die waldigen Höhen des Rhöngebirgs, des Spessarts und des Steigerwaldes senden ihre Ausläufer sich entgegen; durch dieselben mußte der Strom den Weg sich bahnen.
Landschaftlich gehört Würzburg zu den schönsten deutschen Städten. Man kann auf der alten Mainbrücke stehen und stromauf oder stromab schauen; die Festung Marienberg oben auf ihrem Felshügel, die graue Stadt mit ihrem prächtigen Dome, die rebenbewachsenen Stromufer und die fernen blauduftigen Höhenzüge: alles ist anmuthig und Gedanken weckend, ein reiches altes Städtebild.
Würzburg ist die Hauptstadt des alten Franken, der Punkt, wo fränkische Bevölkerung und fränkisches Leben am erkennbarsten dem Beschauer entgegentreten. Wer die Umgebung der Stadt durchwandert, gewinnt bald seine Anschauung vom fränkischen Volk. Die Leute sind von mittlerer Körpergröße, eher schlank als gedrungen, die Gesichter nicht überwältigend schön, aber klug und verständig. Die Mädchen sind hübsch; man sieht hier viele „Mariengesichtchen“, deren eigenthümliche fromme Schönheit ein älterer Beobachter der fleißigen Anschauung der Marienbilder in den Kirchen zuschrieb. Darum sagt auch ein alter Würzburger Spruch:
„Maria, Dich liebt Würzburg sehr,
Wo thut eine Stadt dergleichen mehr?
In Würzburg an so manchem Haus
Sieht ein Marienbild heraus.“
[305] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [306] Ohne Zweifel ist es dieser lebhafte Marienkultus, der unsern Künstler veranlaßte, unter den Heiligenbildern, welche die alte Mainbrücke zieren, gerade das Standbild der Gottesmutter auf derselben noch zu einer besonderen Darstellung zu wählen.
Der Würzburger ist wie alle Unterfranken – mit Ausnahme der armen und verkümmerten Bewohner des Spessarts und der Rhön – heiter und lebensfroh, ein richtiger Weinländer. Würzburg geht ihm über alles. Er schaut herab auf den etwas schwerfälligeren Südbayern; aber auch auf den Rheinfranken, von dem er sagt:
„Wir guten Franken,
Wir loben und danken,
Daß wir nicht sein
Wie die Groben am Rhein!“
Dabei sind die Würzburger, da die Stadt und ihre Umgebung Jahrhunderte lang unter bischöflicher Herrschaft stand, streng katholisch. Seit dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts freilich ist der ausgleichende Zug, welcher in allen deutschen Städten an die Stelle früherer konfessioneller Einseitigkeit getreten ist, auch über Würzburg gekommen. Der jetzige bayerische Regierungsbezirk Unterfranken, dessen Hauptstadt Würzburg ist, enthält ja auch einzelne ganz protestantische Bezirke; so konnte die Provinzialhauptstadt mit ihren 55000 Einwohnern nicht ausschließlich katholisch bleiben. Der gewerbtreibende Bürgerstand von Würzburg scheint immer fleißig und thätig gemesen zu sein, aber neben seinem städtischen Gewerb nicht ungern etwas Weinbau in der Nachbarschaft getrieben zu haben. Eine eigentliche Industrie aber entwickelte sich erst im Laufe dieses Jahrhunderts; denn so lange die Stadt unter fürstbischöflicher Herrschaft stand, wurde das ersparte Kapital mehr zur Gründung und Bereicherung geistlicher Orden, Stiftungen und Pfründen als zur Gründung und Erweiterung wirthschaftlicher Unternehmungen verwendet.
Das meiste hat zur Beseitigung provinzieller Beschränktheit jedenfalls die blühende Universität Würzburg beigetragen. Schon lange, ehe die Eisenbahnlinien und die Niederlegung der Festungswerke nach dem 1866er Kriege der Stadt betriebsames Handels- und Gewerbsleben aus allen Theilen Deutschlands zuführten, war es die Universität, die einen regen Erguß von geistigem Leben in die städtische Bevölkerung vermittelte.
Sehen wir uns aber die Stadt etwas näher an: sie liegt, wie erwähnt, zu beiden Seiten des Mainstroms, da wo derselbe, nachdem er von der „Schweinfurth“ bis zu der „Ochsenfurth“ eine beträchtliche Strecke von Norden nach Süden geflossen ist, sich wiederum nordwärts gewandt hat. Der größere und wichtigere Theil der Stadt, flacher gelegen, befindet sich auf dem rechten, östlichen Stromufer; der kleinere Stadtteil steigt die höheren westlichen Ufer hinan, zur Feste Marienberg. Den anschaulichsten Ueberblick über die ganze Lage und die Umgebnug der Stadt gewinnt man theils von der alten Mainbrücke aus, theils von den nördlich der Stadt, hart am Main gelegenen Steinbergen. Diese Berghöhen, an deren Gehängen der köstliche Steinwein wächst, gewähren einen entzückenden Ausblick über das Mainthal, über die ganze Stadt Würzburg und die fernen Höhenzüge des Maingaues. Unser Künstler hat diesen Ausblick in höchst stimmungsvoller Zeichnung (S. 303) wiedergegeben. Ebenso großartig aber ist der Ueberblick von dem südlich an den Festungsberg sich anschließenden Nikolausberge. Dort erhebt sich das „Käppele“, eine Wallfahrtskirch, zu welcher breite Steintreppen hinanführen. Auch diesen Aussichtspunkt findet der Leser unter unseren Zeichnungen, oben auf dem Doppelbilde. Am Abhange des Festungsberges, welcher mit seinem gethürmten Schlosse den eigentlichen Mittelpunkt der Stadt bildet, wächst der berühmte Leistenwein. Die alte Feste selbst ist jetzt Kaserne.
Und nun wenden wir uns von diesen Aussichtspunkten herab in das Stromthal! Die eigentliche Stadt, auf dem der Festung gegenüberliegenden Mainufer, ist im ununterbrochenen Halbkreise von reizenden neuen Parkanlagen umgeben. Sie hat einige schöne neue Straßen mit prächtigen Privatbauten und öffentlichen Anstalten: die Ringstraßen, die Ludwigstraße, den Kaiserplatz. Charakteristischer aber für Würzburg sind die alten Straßen, in deren Bauten sich die verflossenen Jahrhunderte spiegeln. So namentlich die Domstraße, deren malerische Durchsicht (S. 307) unserem Zeichner Gelegenheit bot, zu zeigen, wie es im alten bischöflichen Würzburg aussieht.
Ein gründlicher Kenner Würzburgs behauptet, daß – wie sich solches ja für eine geistliche Stadt schickt – schon die Bauwerke, das bischöfliche Schloß sowohl, als die alten Domherrenhöfe, deutlich zeigen, daß die großen Herren hier im Cölibat lebten. Es wohnt trotz freier sonniger Lage in diesen Bauten eine gewisse kalte, einsame, klösterliche Pracht, in ihrer äußeren Erscheinung wie in den weiten öden Innenräumen; man merkt es, daß diese Häuser nicht für Frauen, nicht für Familien gebaut sind. Noch mehr offenbart sich freilich diese dunkle massive Pracht in den hochgethürmten mächtigen Kirchenbauten, die alten priesterlichen Residenzstädten so scharf ausgeprägte Profile verleihen. – Würzburg hat schöne Kirchen aus der Zeit des romanischen Stils. Großartig ist namentlich die dreischiffige Domkirche mit ihren vier schlanken Thürmen; sie ward um die Mitte des elften Jahrhunderts begonnen, hundert Jahre später vollendet, später in gotischem und dann in zopfigem Sinne umgestaltet. Aehnlich erscheint die hart nebenanstehende Neumünster-Kirche, in späterer Zeit sehr verunstaltet. In einem kleinen grasbewachsenen Friedhofe neben dieser Kirche ist das Grab des edelsten deutschen Minnesängers, Walthers von der Vogelweide. Statt des unscheinbaren Steines, der einst die Ruhestätte des Dichters bezeichnete, hat ihm die Nachwelt nunmehr ein schönes, mit bildnerischem Schmucke versehenes Grabmal gewidmet. Unsere Leser finden dasselbe an der unteren Seite des Doppelbildes. Auf letzterem zeigt sich auch der mächtige Kuppelbau der Stifthauger-Kirche. Uralt ist die Kirche von St. Burkard und die durch seltsame Thiergestalten an den Säulenkapitälen ausgezeichnete Schottenkirche. In ersterer befinden sich prachtvolle Holzschmitzereien (Chorstühle) aus spätgothischer Zeit, in letzterer nennenswerthe Wandmalereien. Ein berühmtes Bauwerk ist auch die gothische Marienkirche, deren Bau 1377 an Stelle einer bei Gelegenheit einer Judenverfolgung zu Grunde gegangenen Synagoge in Angriff genommen ward. Ein ganzes Jahrhundert aber währte es, bis der prachtvolle Bau vollendet werden konnte, zu dessen Kosten die Frauen ihre Schleier und Prachtgewänder, die Ritter Sporen und Rosse opferten. Damals galt die Würzburger Bauhütte als eine der besten Schulen der Steinmetzenkunst.
Zwischen diesen altehrwürdigen Kirchen, die von der Frömmigkeit und Kunst des Mittelalters Zeugniß geben, finden wir dann wieder jene Prachtbauten der Renaissance, welche der kunstsinnige Bischof Julius Echter von Mespelbrunn ins Leben rief. Ihre vollendete Zierde ist das 1584 vollendete Universitätsgebäude, großartig und edel in seiner aus antikem und gothischem Stile gemischten Erscheinung. Ihm ist die Neubaukirche angefügt, ein durchaus eigenartiges, in seinem Inneren als mächtiger Hallenbau imponirendes Bauwerk. Auch die Klöster der Karmeliter, der Minoriten und der Kapuziner rühren von demselben fürstlichen Erbauer her. Von seinem bedeutendsten Bauwerke, dem großartigen Juliusspital, sind nur das Portal und einige Galerien in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten geblieben; das übrige gehört einer viel späteren Zeit an. In der Allee vor dem Juliusspitale, welches auf unserem Doppelbilde oben erscheint, steht auch die Statue des Bischofs selbst, welche unser Künstler auch noch auf dem Bilde der Seite 308 als Wahrzeichen Würzburgs neben der alten Mainbrücke und der Feste Marienberg angebracht hat.
Fast in allen Straßen finden sich auch noch Bauten aus der Rokokozeit. So die prachtreiche Schönbornkapelle am Dome; das Stukkaturgewand des Domes selbst; dann vor allem die Würzburger Residenz, die neben einer Menge von Sälen und Zimmern (angeblich 300) nicht weniger als 24 Küchen enthält. Der schöne Hofgarten hinter der Residenz, von welchem unser Zeichner auf dem Doppelbilde eine kleine Ansicht giebt, enthält als wertvollste Merkwürdigkeit Thorgitter von unübertroffener Schmiedearbeit.
Dem Rokokostile gehören auch die Karmeliterkirche und das Jesuitenkollegium sammt Kirche an, ferner der Bischofshof, der Petershof, das deutsche Haus und manche andere Paläste der Dom- und Stiftsherren.
Endlich müssen wir aber auch noch die alte Mainbrücke betrachten. Auch sie ist ein altehrwürdiges Bauwerk; im Jahre 1474 begonnen, hat sie eine Länge von 603 Fuß alten Maßes – jetzt nicht ganz 200 Metern. Auf ihre Pfeiler hat ein späteres Jahrhundert vierzehn kolossale Steinbilder fränkischer Landesheiliger gesetzt. Schon im Jahre 1133 hatte Würzburg durch Meister Enzelin eine steinerne Mainbrücke erhalten; diese aber ward durch [307] das wüthende Gewässer des Stromes bei einer Hochfluth im Jahre 1342 zerrissen, und über ein Jahrhundert währte es, bis man an den Bau der jetzigen Brücke schreiten konnte. Jetzt ist die alte Mainbrücke – eine zweite steinerne Brücke kam 1887 dazu – so recht der Platz, um Würzburger Landschaft und Volk vom Standpunkte des Spaziergängers aus zu betrachten.
Wie die Stadt selbst bietet auch die Umgebung manchen anmuthigen Blick. Vor allem beliebt aber ist der Ausflug nach dem zwei Bahnstationen entfernten Lustschlosse Veitshöchheim am Main, aus dessen reizendem barocken Parke unsere Leser eine Ansicht in der Mitte des Doppelbildes finden. Näher bei Würzbürg liegt das ehemalige Cistercienserkoster Oberzell, unmittelbar am Stromufer. In den ausgedehnten Räumen dieser Abtei arbeitet jetzt die weltberühmte Buchdruckmaschinenfabrik von König und Bauer. Unser Künstler hat auch sie auf einem reizenden kleinen Landschaftsbilde (Seite 309) wiedergegeben.
Dieses moderne Musteranwesen, so wohnlich in den alten Klosterhallen eingerichtet, ist ein bezeichnendes Bild der neuen Zeit. Aber noch ist die Erinnerung an die alte nicht verwischt. Am wenigsten in unserer schönen Mainstadt.
In Würzburg spukt es überall. Wie die modernen großen Weltstädte von Telegraphen- und Telephondrähten übersponnen sind, so Würzburg von den Goldfäden der Sage.
Schon an die Gründung Würzburgs knüpft sich eine höchst merkwürdige Geschichte, die den Ursprung der Stadt auf kein geringeres Ereigniß als auf den trojanischen Krieg zurückführt. Freilich sind die alten Chronisten darin recht uneinig, daß einige von ihnen sich erlauben, geflüchtete Abkömmlinge des Trojanervolks ins Würzburgische einwandern zu lassen, während Konrad Celtes berichtet, der kluge Odysseus sei mit seinen Genossen bei seinen Irrfahrten auch in Würzburg gelandet und habe dort eine Niederlassung gegründet. Der alte Homer weiß leider nichts davon; und so bleibt denn die Würzburger Reise des listigen Odysseus eine gänzlich unverbürgte Geschichte.
Eine andere eigenartige Sage haftet an einem ehernen Kreuzbild in der Neumünsterkirche. Ein schwedischer Soldat, heißt es, wollte das Kreuzbild stehlen, ward aber von der ehernen Gestalt des Gekreuzigten so fest in die Arme geschlossen, daß er nicht mehr von der Stelle konnte und erst am nächsten Morgen durch das Gebet eines Priesters wieder aus der schrecklichen Umarmung befreit ward. Schlimmer erging es dem Baumeister des Würzburger Domes, welcher sein stolzes Werk nur mit Hilfe des Teufels fertig brachte, dafür aber auch von diesem vom Gerüst weg geholt ward. Der Baumeister der Burkardskirche dagegen wollte seine Thürme anfänglich mit Schiefer decken; als ihm aber eine herabfallende Schieferplatte sein geliebtes Töchterlein erschlagen hatte, führte er die Thurmspitzen aus Hausteinen auf.
Von dem Würzburger Ortsheiligen, dem Schotten St. Kilian, erzählt die Legende, daß er mit zwei Schülern, Kolman und Dietman (auch Colonat und Totnan genannt), im Fränkischen das Christenthum verbreitet und auch den zu Würzburg hausenden Frankenherzog Geswert bekehrt habe. Weil Geswert aber mit der Witwe seines Bruders vermählt war, forderte der Heilige die Trennung dieser Ehe. Die Herzogin ließ dafür den Heiligen sammt seinen Genossen durch gedungene Mörder erschlagen und heimlicherweise die Leichen verscharren. Fluch und Jammer war der Lohn dieser bösen That; die Herzogin ward wahnsinnig, der Herzog von seinen eigenen Dienern erstochen.
So die christliche Legende. An Erinnerungen aus uralter Heidenzeit mahnt uns die Sage vom Grabenreiter, der in Sturm und Nacht, den abgeschlagenen Kopf auf dem Arme tragend, durch den alten Wallgraben hinter dem Juliusspital reitet. Dem Teufel können wir in Würzburg leicht begegnen; wir brauchen nur um Mitternacht durch die „lange Gasse“ zu gehen; dann kann es uns wohl blühen, daß er auf unsere Schultern springt und uns bis an die Straßenecke reitet. Auch im geistlichen Seminar zu Würzburg pflegte sich ehedem der Teufel jenen jungen Priestern auf den Rücken zu hocken, die ihr Brevier nicht ordentlich gebetet hatten.
Nirgends im Deutschen Reiche war der Hexen– und Teufelsglaube thätiger als in Würzburg. Er ist es, der die finstersten Schatten in die Geschichte der Stadt zeichnet, finsterer als die Greuel des Bauernkrieges und der Schwedenzeit. Die Hexenprozesse stiegen ins Maßlose unter der Herrschaft des Bischofs Philipp Adolf, in den Jahren 1622 bis 1631. Bis zum letztgenannten Jahre waren im Bisthum Würzburg neunhundert Menschen wegen Zauberei hingerichtet worden; die meisten starben eines qualvollen Todes auf dem Scheiterhaufen. Und wenn auch der Hexenglaube später etwas in Abnahme kam: noch über ein Jahrhundert lang forderte er seine unschuldigen Opfer; denn erst im Jahre 1749 wurde zu Würzburg die letzte Hexe verbrannt. Es war die unglückliche Maria Renata Singer von Mossau, Nonne im Kloster zu Unterzell. Die Sage läßt sie noch in den ehemaligen Klosterräumen geistern. Aber auch im Zwinger an der Stadtmauer zu Würzburg steht ein „Hexenthurm“, in welchem Hexen eingekerkert und gefoltert wurden und heute noch nächtlicher Weile geisterhaftes Aechzen und Stöhnen vernehmen lassen. Jene Mauer mit ihren alten Thürmen ist auf unserem Doppelbilde zu finden.
So geistert die Sage durch Würzburgs Gassen. Und selbst die vom Lichte der Wissenschaft durchflammten Hallen der Universität läßt sie nicht im Frieden; denn an der östlichen Mauer des Universitätsgebäudes wandelt um Mitternacht der „ewige Student“ spazieren. Zu Lebzeiten war er der tollste Zecher, Nachtschwärmer und Raufbold der Hochschule und ward dafür von seinem eigenen Vater verwünscht, bis zum jüngsten Tage den Carcer zu hüten. So lange er aber geistert, so lange, heißt es, solle die Hochschule blühen und gedeihen.
Nun – im Würzburger Hofkeller liegen Weine, die so alt und so edel sind, daß, wer von ihnen einen reichlichen Trunk thut, unbeschadet um Mitternacht durch alle Gassen Würzburgs [308] wandern und mit all den alten Gespenstern anbinden kann, ohne daß ihm Leides geschieht.
Aber wenden wir uns von diesen spukhaften Gestalten wieder der beglaubigten Wirklichkeit zu!
Der Name unserer guten Stadt kommt geschichtlich nachweisbar zuerst im Jahre 704 vor; damals hieß er „Wirziaburg“, wie auch die Geschichtsforschung heutzutage noch „Wirzburg“ schreibt. Damals saßen auf der Höhe des jetzigen Marienberges in ihrer Burg die fränkischen Herzöge. Der heilige Kilian war es, welcher gegen das Ende des 7. Jahrhunderts in den ostfränkischen Landen zuerst das Christenthum verkündete und in Würzburg den Märtyrertod fand. Nach seinem Tode fielen die Ostfranken wieder in ihr altes Heidenthum zurück, und erst um die Mitte des 8. Jahrhnnderts gelang es dem heiligen Bonifacius, das Volk gründlicher zu christianisiren. Bischofssitze wurden alsbald in Franken gegründet, unter ihnen Würzburg, wo an der sagenhaften Todesstätte des heiligen Kilian die Salvatorkirche erbaut ward, um, nachdem sie 854 vom Blitzstrahl zerstört worden war, als die jetzige Neumünsterkirche wieder zu erstehen. Die jugendliche Bischofsstadt, die sich rasch an beiden Ufern des Mainstroms ausdehnte, hatte wiederholt in ihrer Nachbarschaft das Brandroth aufflammen sehen, das von den räuberischen Zügen der Ungarn herrührte; bis hart an die Thore der Stadt drangen die übermüthigen Zerstörer. Das veranlaßte die Bischöfe, ihre Stadt stark zu befestigen. Im Schutze ihrer Mauern wuchs dieselbe nun rasch. Im 11. Jahrhundert zeichnete sie sich durch die edle Treue aus, mit welcher sie gegen Papst und Bischof zu dem unglücklichen Kaiser Heinrich IV. stand. Wiederholt kämpften damals der Kaiser und seine Gegner um die Stadt. In der Hohenstaufenzeit sah Würzburg hochwichtige Staatsaktionen in seinen Mauern sich vollziehen; hier hielten König Konrad und Friedrich Barbarossa ihre Reichstage ab; hier feierte letzterer seine Vermählung mit Beatrix von Burgund; hier wurden Konzilien abgehalten, Päpste gewählt und bestätigt. Bei einem jener Reichstage (1168) wurde von Friedrich Barbarossa dem Bischofe Herold der Besitz der fränkischen Herzogswürde bestätigt. Zu Würzburg auch war’s, wo Heinrich der Löwe vom Kaiser seiner Herrschermacht und seines Landes entsetzt ward.
Im folgenden Jahrhundert ward es wieder stiller in der Stadt. Bald aber, um die Mitte des 13. Jahrhunderts, brachen böse Wirren aus. Die Würzburger Bürgerschaft empörte sich gegen die Gewalt ihrer Bischöfe, und anderthalb Jahrhunderte hindurch gab es nun Aufstände, Fehden, Schlachten und Friedensschlüsse zwischen dem Bürgerthum einerseits, den mit der Ritterschaft verbündeten Bischöfen andererseits. Schwer litt das städtische Leben unter diesen Reibungen und Kämpfen, welche erst ein Ende fanden, als im Jahre 1400 in der Schlacht bei Bergtheim die Widerstandskraft der Stadtbürger für immer gebrochen war. Kirchenbann und Reichsacht lagen während dieser trüben Zeit manchmal auf der Stadt, deren Leiden in einzelnen Jahren noch durch verheerende Hochfluthen des Mainstroms vermehrt wurden.
Noch andere Wirren traten hinzu. Denn in dem Zeitraume von 1261 bis 1391 erlebte Würzburg fünf große Judenverfolgungen. Dergleichen kam auch später noch vor. Einer kürzen Zeit der Ruhe folgten im 16. Jahrhundert neue Bedrängnisse. Die Bürgerschaft verband sich mit den aufständischen Bauern gegen den Bischof und dieser mußte fliehen. Aber die Bauern wurden durch das Heer des Schwäbischen Bundes geschlagen; daraufhin mußte auch die Stadt Würzburg sich an den Feldhauptmann Georg Truchseß ergeben.
Die Blüthezeit Würzburgs begann, als der gelehrte und staatskluge Domdechant Julius Echter von Mespelbrunn, noch nicht dreißig Jahre alt, den Würzburger Bischofssitz bestieg (1573). Dieser Fürst, welchen die Geschichte der deutschen Wissenschaft und der von ihm geleiteten Stadt mit gleichem Stolze nennen, ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was ein einzelner Mann vermag, wenn ihm Weisheit und Stärke des Charakters gegeben sind. Daß er mit eiserner Hand die Reformation im Bannkreise seiner Herrschaft unterdrückte, begreift sich aus seiner Stellung als katholischer Reichsfürst. Daß er aber die verworrenen Finanzen des Hochstifts ordnete, den Volksunterricht durch Gründung zahlreicher Schulen in Würzburg und auf dem Lande hob, daß er die heute so blühende Würzburger Universität ins Leben rief und der leidenden Menschheit eine der segensreichsten Anstalten, sein großes Juliusspital, widmete, das verleiht seinem Andenken unvergänglichen Ruhm. Das Juliusspital, welches nicht [309] bloß für Kranke, sondern auch für Arme, für Waisen und für Obdachlose eine Zufluchtsstätte zu werden bestimmt war, erscheint für die damalige Zeit als das glänzendste Vorbild einer lediglich den menschlichen Leiden gewidmeten Hilfs- und Rettungsanstalt.
Schwere Zeiten kamen mit dem Dreißigjährigen Kriege. Im Jahre 1631 nahm Gustav Adolf die Stadt nach geringem Widerstande. Die Feste Marienberg ward erstürmt, unermeßliche Beute von den Schweden gemacht. Heute noch stehen in der Bibliothek zu Stockholm die Bücher aus der großartigen Würzburger Bibliothek. Drei Jahre lang ward hierauf das Bisthum ausgepreßt und gebrandschatzt. Dann blieb es verschont, bis im Jahre 1647 die Schweden zum zweiten Male erschienen, eine harte Kriegssteuer zu fordern.
Lange litten die Stadt und das ganze Bisthum unter den Nachwehen des schweren Krieges. Zwar blieb die Stadt wenigstens fortan von Kriegslasten frei; aber eine Blüthezeit wie unter Bischof Julius erlebte sie erst wieder unter Bischof Franz Ludwig von Erthal (1779 bis 1795), welcher zu den edelsten Wohlthätern, zu den rechtlichsten und weisesten Fürsten gehört, die jemals einen deutschen Herrschersitz innehatten. Mit ihm endet eigentlich die bischöfliche Zeit Würzburgs. Es folgten noch einige wilde Jahre, während welcher französische und österreichische Waffen durch Würzburg erklirrten; das Herzogthum kam erst vorübergehend, endlich 1814 durch den Wiener Kongreß dauernd an das Königreich Bayern. – Nun ist Würzburg bayerische Provinzial- Hauptstadt, Die Zeiten der bischöflichen Herrschaft sind vergangen, wenn auch nicht vergessen. Die Sonne des 19. Jahrhunderts scheint in die alten Gassen, in die stillen Höfe der Domherrenpaläste, tanzt glitzernd auf den Wellen des Mainstroms und wärmt an den Gehängen des Stroms die edlen Trauben, aus welchen Steinwein und Leistenwein gekeltert wird. Und in dieser Sonne rührt sich ein junges Geschlecht. Ein gewerbfleißiges Bürgerthum arbeitet in den Werkstätten und Kaufläden, elegante Damen spazieren zwischen den neuen Prachtbauten der Ludwigstraße; flotte Lieutenants tummeln ihre Rosse auf den Exerzierplätzen, und vor dem ehrwürdigen Universitätsbau wimmelt’s von Studenten. Denn die Universität, die Alma Julia, erfreut sich großen Ansehens, ganz besonders die medizinische Fakultät, der zwei Fünftheile von den 1000 Musensöhnen angehören. Bei allen ernsten Geschicken, welche die Stadt durchlebte, ist heute der Zug des Anmuthigen der vorherrschende; und man braucht nicht gerade ein geborener Würzburger zu sein, um Würzburg neidlos eine der schönsten und liebenswerthesten Städte des deutschen Vaterlandes zu nennen.
Alle Rechte vorbehalten.
Flammenzeichen.
„Freust Du Dich denn über mein Kommen, Hartmut?“ fragte
Willibald, noch etwas zaghaft. „Ich fürchtete beinahe, es
würde Dir gar nicht recht sein.“
„Nicht recht, wenn ich Dich wiedersehe nach zehn langen Jahren?“ rief Hartmut vorwurfsvoll, und nun zog er den Freund neben sich nieder und begann zu fragen und zu erzählen und überschüttete ihn mit Herzlichkeit, so daß Willy jede Scheu verlor und auch zu der alten Vertraulichkeit zurückkehrte. Er berichtete, daß er erst seit drei Tagen in der Stadt sei und sich auf dem Wege nach Fürstenstein befinde.
„Richtig, Du bist ja Bräutigam!“ fiel Rojanow ein. „Ich hörte es schon in Rodeck, wer der künftige Schwiegersohn des Oberforstmeisters ist, und habe auch Fräulein von Schönau einmal gesehen. Laß Dir herzlich Glück wünschen!“
Willibald nahm den Glückwnnsch mit einem ganz eigenthümlichen Gesichte auf und sah zu Boden, als er halblaut entgegnete:
„Ja – eigentlich hat mich die Mama verlobt.“
„Das konnte ich mir denken,“ sagte Hartmut lachend. „Aber Du hast doch wenigstens aus freien Stücken ‚ja‘ gesagt?“
Willy antwortete nicht, er besah sich noch immer angelegentlich den Teppich, der den Boden bedeckte, und plötzlich fragte er ganz unvermittelt:
„Hartmut – wie machst Du es eigentlich, wenn Du dichtest?“
„Wie ich das mache?“ Der Gefragte unterdrückte mühsam das Lachen. „Das ist wirklich nicht leicht zu erklären, ich glaube kaum, daß ich es Dir genügend auseinandersetzen kann.“
„Ja, es ist ein schnurriger Zustand, das Dichten,“ stimmte der junge Majoratsherr mit traurigem Kopfschütteln bei. „Ich habe es auch durchgemacht, gestern abend, als ich aus dem Theater kam.“
„Was? Du hast gedichtet?“
„Und wie!“ sagte Willy mit hohem Selbstgefühl, fügte dann aber etwas kleinlaut hinzu: „Ich kann nur die Reime nicht finden, und es klingt auch ganz anders als Deine Verse. Eigentlich ist es doch nicht so recht gegangen, und da möchte ich Dich fragen, wie Du die Geschichte eigentlich anfängst. Weißt Du, es sollte nichts Großartiges und Romantisches werden wie Deine ‚Arivana‘, nur ein ganz kleines Gedicht.“
„Natürlich an ‚sie‘,“ ergänzte Hartmut.
„Ja, an ‚sie‘,“ bestätigte der junge Gutsherr mit einem tiefen Seufzer; jetzt aber lachte sein Zuhörer hell auf.
„Du bist ein Mustersohn, Willy, das muß man zugestehen! Es kommt ja vor, daß man sich auf väterlichen oder mütterlichen Befehl verlobt, aber Du verliebst Dich auch noch pflichtschuldigst in die Braut, die Dir von allerhöchster Seite zuertheilt ist, und dichtest sie sogar an.“
„Es ist ja aber nicht die Rechte!“ rief Willibald plötzlich mit einem so jammervollen Ausdruck, daß Rojanow ihn betroffen ansah. Er glaubte wirklich, es sei nicht recht richtig mit seinem Freunde, und dieser mochte selbst fühlen, daß er einen etwas sonderbaren Eindruck mache. Er begann daher eine Erklärung, aber so überstürzt und sprunghaft, daß die Sache dadurch nur noch verwickelter erschien.
„Ich habe nämlich heute morgen einen Streit gehabt mit einem unverschämten Menschen, der sich unterstand, eine junge Dame zu beleidigen, Fräulein Marietta Volkmar vom hiesigen Hoftheater, und das leide ich natürlich nicht. Ich schlug ihn gleich auf der Stelle zu Boden, und das würde ich noch einmal thun, wenn es darauf ankäme, und das thue ich überhaupt mit jedem, der Fräulein Volkmar zu nahe kommt!“
Er holte so drohend aus, daß Hartmut ihn schleunigst am Arme ergriff und festhielt.
[310] „Nun, ich beabsichtige das nicht zu thun, mich kannst Du vorläufig noch verschonen. Aber was hast Du denn mit Marietta Volkmar, dem kleinen Tugendspiegel unserer Oper, der bisher für unnahbar galt?“
„Hartmut, ich bitte mir aus, daß Du achtungsvoller von dieser Dame sprichst! Kurz und gut, dieser Graf Westerburg hat mich gefordert, ich schieße mich mit ihm und werde ihm hoffentlich einen tüchtigen Denkzettel geben.“
„Nun, Du machst ja recht hübsche Fortschritte in der Romantik,“ sagte Hartmut, der mit wachsendem Erstaunen zuhörte. „Seit zwei Tagen bist Du hier und fängst bereits einen Streit an, der mit einer Herausforderung endigt, bist der Ritter und Beschützer einer jungen Sängerin, hast ein Duell ihretwegen – Willy, um Gotteswillen, was wird Deine Mutter dazu sagen!“
„Es handelt sich um eine Ehrensache, da hat meine Mutter gar nichts dreinzureden!“ erklärte Willy mit einem wahrhaft heldenmäßigen Aufschwunge. „Aber nun soll ich einen Sekundanten schaffen, hier, wo ich ganz fremd bin und keinen Menschen kenne. Onkel Herbert darf natürlich nichts ahnen von der Sache, sonst kommt er uns mit der Polizei dazwischen, da habe ich mich denn entschlossen, zu Dir zu gehen und zu fragen, ob Du mir den Dienst leisten willst?“
„Also deshalb kamst Du?“ sagte Rojanow in einem Tone, dem man die schmerzliche Enttäuschung anhörte. „Ich glaubte wirklich, die alte Freundschaft hätte Dich hergeführt. Doch gleichviel, ich stehe Dir selbstverständlich zu Diensten. Auf welche Waffe lautet die Forderung?“
„Auf Pistolen!“
„Nun, damit verstehst Du umzugehen, wir haben in Burgsdorf ja oft genug nach der Scheibe geschossen, und Du warst ein guter Schütze. Ich werde also morgen früh den Sekundanten Deines Gegners aufsuchen und Dir dann Nachricht zukommen lassen; aber ich muß das schriftlich thun, denn das Haus des Herrn von Wallmoden betrete ich nicht.“
Willibald nickte nur. Er hatte es sich gedacht, daß die Feindschaft Wallmodens von der anderen Seite erwidert werde, aber er hielt es für besser, diesen Punkt nicht weiter zu erörtern.
„Gut, so schreibe mir!“ entgegnete er. „Im übrigen mache ab, was Dir gut dünkt, ich bin mit allem einverstanden, ich habe ja keine Erfahrung in solchen Dingen! Hier ist die Adresse des Sekundanten, und jetzt muß ich gehen, ich habe doch noch einiges zu ordnen – für den äußersten Fall.“
Er stand auf und wollte dem Freunde die Hand zum Abschiede reichen; aber dieser bemerkte es nicht, sein Auge haftete am Boden, während er leise und stockend sagte:
„Noch eins, Willy – Burgsdorf liegt ja so nahe bei Berlin – da siehst Du wohl oft –“
„Wen?“ fragte Willy, als er innehielt.
„Meinen – meinen Vater!“
Der junge Majoratsherr gerieth sichtlich in Verlegenheit bei dieser Frage; er hatte es während des ganzen Gespräches vermieden, den Namen Falkenrieds zu nennen, von dessen bevorstehender Ankunft er noch nichts zu wissen schien.
„Nein,“ erwiderte er endlich. „Wir sehen den Oberst fast gar nicht.“
„Aber er kommt doch wie sonst nach Burgsdorf?“
„Nein – er ist sehr ungesellig geworden, aber ich sah ihn zufällig in Berlin, als ich den Onkel Herbert abholte.“
„Und wie sieht er aus? Hat er gealtert in den letzten Jahren?“
Willibald zuckte die Achseln. „Alt geworden ist er freilich, Du würdest ihn kaum wiedererkennen mit seinen weißen Haaren.“
„Weiße Haare?“ fuhr Hartmut auf. „Er ist kaum zweiundfünfzig Jahre – ist er krank gewesen?“
„So viel ich weiß, nicht. Das kam ganz plötzlich, in einigen Monaten – damals, als er seinen Abschied forderte.“
Hartmut erbleichte und seine Augen richteten sich mit starrem, angstvollem Ausdruck auf den Sprechenden.
„Mein Vater hat den Abschied gefordert? Er, der mit Leib und Seele Soldat war, dem sein Beruf – in welchem Jahre geschah das?“
„Es kam ja nicht dazu,“ beschwichtigte Willy. „Man ließ ihn nicht gehen, sondern versetzte ihn nur in eine entfernte Garnison, und seit drei Jahren ist er im Kriegsministerium.“
„Aber er wollte gehen in welchem Jahre?“ wiederholte Rojanow mit völlig erloschener Stimme.
„Nun, damals nach Deinem Verschwinden. Er glaubte, seine Ehre erfordere es und – Hartmut, das hättest Du Deinem Vater doch nicht anthun sollen, das nicht, er ist beinahe daran gestorben.“
Hartmut gab keine Antwort und vertheidigte sich auch nicht, nur seine Brust hob sich in einzelnen, schweren Athemzügen.
„Wir wollen lieber nicht davon reden,“ sagte Willibald abbrechend. „Zu ändern ist es ja doch nicht mehr. – Also ich erwarte morgen Deinen Brief und Du bringst alles in Ordnung. Gute Nacht!“
Hartmut schien den Gruß nicht zu hören, das Fortgehen Willibalds nicht zu bemerken, er stand noch immer da und starrte zu Boden. Erst nach Minuten, als der junge Majoratsherr längst fort war, richtete er sich langsam auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.
„Er wollte gehen?“ murmelte er. „Gehen, weil er glaubte, seine Ehre fordere – nein, nein, jetzt kann ich ihn nicht sehen, jetzt noch nicht – ich gehe nach Rodeck!“
Der gefeierte Dichter, dem der Ruhm den ersten Lorbeerkranz auf die Stirn drückte, der gestern noch in diesem Siegesschmuck die ganze Welt herausgefordert hatte, er wagte es nicht, dem Auge seines Vaters zu begegnen – er floh in die Einsamkeit.
In einer der stilleren Straßen, deren bescheidene, aber freundliche
Häuser meist kleine Gärten hatten, wohnte Marietta Volkmar
mit einer alten Dame, einer entfernten Verwandten ihres Großvaters,
die allein stand und gern bereit war, der jungen Sängerin
Schutz und Gesellschafterin zu sein. Die beiden Frauen führten
ein Leben, an dem selbst die allezeit geschäftige Klatschsucht nichts
auszusetzen fand, und waren sehr beliebt bei ihren Hausgenossen,
besonders Fräulein Marietta, die jedem ein freundliches Gesicht
zeigte und deren helle Stimme oft durch das Haus schmetterte,
daß alles lauschte.
Seit zwei Tagen aber war das „Singvögelchen“ verstummt, und wenn man es zu Gesicht bekam, so zeigte es blasse Wangen und verweinte Augen. Die Hausbewohner konnten sich das nicht erklären und schüttelten die Köpfe darüber, bis sie von dem alten Fräulein Berger hörten, Doktor Volkmar sei krank und seine Enkelin ängstige sich um ihn, könne aber ohne zwingenden Grund keinen Urlaub erhalten. Das war nun allerdings keine Unwahrheit, denn der Doktor litt in der That seit einigen Tagen an einer starken Erkältung; aber diese gab keinen Grund zu ernsten Besorgnissen, sondern lieferte nur einen glaublichen Vorwand für Mariettas verändertes Wesen, das sogar ihren Genossinnen im Theater auffiel.
In dem einfach, aber behaglich eingerichteten Wohnzimmer stand die junge Sängerin, die eben aus der Probe zurückgekehrt war, am Fenster und blickte unverwandt hinaus, während Fräulein Berger mit einer Handarbeit an einem Tischchen saß und kopfschüttelnd auf ihre Pflegebefohlene blickte.
„Aber Kind, so nimm die Sache doch nicht so schwer!“ ermahnte sie. „Du reibst Dich ja förmlich auf mit dieser Angst und Aufregung. Wer wird denn gleich an das Schlimmste denken!“
Marietta wandte sich um; sie war erschreckend bleich und in ihrer Stimme klang ein unterdrücktes Schluchzen, als sie antwortete:
„Das ist nun der dritte Tag, und noch immer kann ich nichts erfahren. O, es ist furchtbar, so Stunde für Stunde auf eine Unglücksnachricht warten zu müssen!“
„Warum muß es denn gerade ein Unglück sein?“ tröstete die alte Dame. „Gestern nachmittag war Herr von Eschenhagen noch wohl und munter, ich habe auf Deinen Wunsch ja selbst die Erkundigung eingezogen. Er war mit Herrn und Frau von Wallmoden ausgefahren. Vielleicht ist die Sache gütlich beigelegt worden.“
„Dann hätte ich längst schon Nachricht,“ sagte das junge Mädchen trostlos. „Er versprach es mir und er hätte Wort gehalten, ich weiß es. Wenn es wirklich ein Unglück gegeben hätte, wenn er gefallen wäre – ich glaube, das überlebte ich nicht!“
Die letzten Worte klangen so leidenschaftlich, daß Fräulein Berger die Sprecherin erschreckt anblickte.
„Aber Marietta, so sei doch vernünftig!“ bat sie. „Was kannst Du denn dafür, wenn ein Unverschämter Dich beleidigt und der Verlobte Deiner Freundin zu Deinem Schutze eintritt? Du könntest Dich wirklich nicht verzweifelter anstellen, wenn es Drin eigener Bräutigam wäre, der vor der Pistole stände.“
Ueber die eben noch so blassen Wangen der jungen Sängerin [311] floß eine glühende Röthe, und mit einer hastigen Bewegung wandte sie sich wieder dem Fenster zu.
„Das verstehst Du nicht, Tante,“ versetzte sie leise. „Du weißt nicht, wie viel Liebes und Gutes ich im Hause des Oberforstmeisters genossen habe, wie herzlich mich Toni um Verzeihung bat, als sie erfuhr, daß ihre künftige Schwiegermutter mich so tief gekränkt hatte. Was wird sie von mir denken, wenn sie hört, daß ihr Bräutigam sich duellirt hat um meinetwillen! Was wird Frau von Eschenhagen sagen!“
„Nun, sie werden doch wohl zu überzeugen sein, daß Du ganz unschuldig bist an der Sache, und wenn sie ein gutes Ende nimmt, erfahren sie überhaupt nichts davon. Ich erkenne Dich gar nicht wieder, Kind! Sonst pflegtest Du jede Sorge und Angst wegzulachen und diesmal übertreibst Du sie in einer geradezu beängstigenden Weise. Seit zwei Tagen ißt und trinkst Du kaum vor Aufregung, aber heut darfst Du mir nicht wieder so am Tische sitzen wie gestern und vorgestern, das sage ich Dir. Ich werde jetzt einmal nach dem Mittagsessen sehen.“
Damit stand die alte Dame auf und ging nach der Küche. Sie hatte recht, die lustige, übermüthige Marietta war gar nicht wiederzuerkennen. Es war ja ohne Zweifel ein peinliches, niederdrückendes Gefühl, durch jenen Vorfall in den Anlagen bei den Bewohnern von Fürstenstein vielleicht in ein falsches Licht gestellt zu werden, und selbst hier in der Stadt konnte der bisher so sorgfältig gehütete Ruf der jungen Sängerin leiden, wenn etwas davon verlautete; aber merkwürdigerweise traten diese Möglichkeiten bei ihr vollständig in den Hintergrund vor einer anderen Angst, die mit jeder Stunde wuchs und kaum mehr zu ertragen war.
„Wenn es sein muß, mit meinem Blute!“ flüsterte sie, unbewußt die letzten Worte Willibalds wiederholend, und preßte die heiße Stirn gegen die Scheiben. „O mein Gott, nur das nicht!“
Da tauchte plötzlich an der Straßenecke eine Gestalt auf, die schon von weitem auffiel durch ihre ungewöhnliche Größe. Sie kam raschen Schrittes näher und blickte suchend nach den Hausnummern, und mit einem halb unterdrückten Aufschrei der Freude flog Marietta vom Fenster zurück – sie hatte Herrn von Eschenhagen erkannt.
Sie wartete nicht, bis er die Klingel zog, sondern eilte selbst hinaus, um zu öffnen. In ihren Augen schimmerten noch die Thränen, aber ihre Stimme klang im hellen Jubel, als sie rief:
„Endlich kommen Sie – Gott sei Dank!“
„Ja, da bin ich, heil und gesund!“ bestätigte Willibald, dessen ganzes Gesicht aufleuchtete bei diesem Empfange. Sie wußten beide nicht recht, wie sie eigentlich in das Zimmer gekommen waren; dem jungen Manne war es gewesen, als hätte sich eine kleine, weiche Hand auf seinen Arm gelegt und ihn fortgezogen, wogegen er sich nicht im mindesten sträubte. Als sie sich nun aber gegenüberstanden, bemerkte Marietta, daß sich eine breite schwarze Binde um seine Rechte schlang.
„Mein Gott, Sie sind doch verletzt?“ fragte sie angstvoll.
„Eine leichte Schramme, gar nicht der Rede werth!“ versicherte Willibald seelenvergnügt, indem er die verwundete Hand schwenkte. „Dem Herrn Grafen habe ich einen etwas ernsteren Denkzettel gegeben, aber es ist auch nur ein Streifschuß an der Schulter und nicht die mindeste Gefahr für sein theures Leben vorhanden. Nicht einmal ordentlich schießen kann der Mensch!“
„Sie haben sich also doch geschossen? Ich wußte es!“
„Heut morgen um acht Uhr. Aber Sie brauchen sich nicht mehr zu ängstigen, mein Fräulein! Sie sehen ja, es ist alles glücklich vorübergegangen.“
Die junge Sängerin athmete auf, als sei ihr eine Bergeslast von der Brust genommen.
„Ich danke Ihnen, Herr von Eschenhagen! Nein, weisen Sie das nicht zurück! Sie haben ja das Leben eingesetzt um meinetwillen. Ich danke Ihnen tausendmal!“
„Keine Ursache, mein Fräulein, ist gern geschehen,“ sagte Willibald treuherzig; „aber da ich doch nun einmal Ihretwegen vor der Pistole gestanden habe, so müssen Sie mir schon erlauben, Ihnen ein kleines Erinnerungszeichen zu bringen. Nicht wahr, jetzt werfen Sie es mir nicht mehr vor die Füße?“
Er zog ein weißes Seidenpapier hervor – etwas ungeschickt, da er nur die Linke gebrauchen konnte – und schlug es auseinander. Eine voll blühende Rose und zwei halb erschlossene Knospen lagen darin.
Marietta senkte tiefbeschämt die Augen, stumm nahm sie die Blumen in Empfang und befestigte eine derselben an ihrer Brust, dann reichte sie ebenso wortlos dem Geber die Hand, und er verstand vollkommen die Abbitte.
„Sie werden freilich an ganz andere Blumengaben gewöhnt sein,“ sagte er wie entschuldigend. „Ich höre ja hier genug davon, wie man Ihnen von allen Seiten huldigt.“
Das junge Mädchen lächelte, aber mit einem mehr trüben als freudigen Ausdruck.
„Sie haben es ja mit angesehen, welcher Art diese Huldigungen bisweilen sind, und es ist nicht das erste Mal gewesen, daß mir dergleichen entgegentritt. Die Herren glauben sich ja alles erlauben zu dürfen, wenn man bei der Bühne ist, und nun vollends die Kollegen – glauben Sie mir, Herr von Eschenhagen, es ist oft recht schwer zu tragen, dies Los, um das ich von so vielen beneidet werde.“
Willibald horchte hoch auf bei den Worten.
„Schwer zu tragen? Ich glaubte, Sie liebten Ihren Beruf über alles und würden ihm um keinen Preis entsagen.“
„O gewiß, ich liebe ihn, aber ich habe doch nicht gedacht, daß ihm so viel Schlimmes und Bitteres anhaftet. Mein Lehrer, Professor Marani, sagt freilich: ‚Man muß emporsteigen wie mit Adlerschwingen, dann bleibt all das Niedrige und Gemeine tief unten zurück!‘ Er mag wohl recht haben, aber dazu muß man eben ein Adler sein, und ich bin nur ein ‚Singvögelchen‘, wie mein Großvater mich immer nennt, das nichts hat als seine Stimme und nicht so hoch emporsteigen kann. Die Kritiker werfen es mir oft genug vor, daß meinem Vortrage Feuer und Kraft fehle, und ich fühle ja selbst, daß ich kein eigentlich dramatisches Talent habe. Ich kann nur singen, und das thäte ich viel lieber daheim in unseren grünen Wäldern als hier in dem goldenen Käfig.“
Die Stimme des sonst so neckischen Mädchens klang in mühsam verhaltener Erregung. Der jüngste Vorfall hatte ihr doch die Schutzlosigkeit ihrer Stellung wieder deutlich vor Augen geführt, und nun ging ihr das Herz auf dem Manne gegenüber, der so tapfer für sie eingetreten war. Er hörte mit athemloser Spannung zu und schien ihr die Worte förmlich von den Lippen zu lesen, aber bei dem im Grunde doch traurigen Berichte strahlte sein ganzes Gesicht, als ob man ihm etwas sehr Freudiges verkündige, und jetzt fiel er stürmisch ein:
„Sie sehnen sich also fort von hier? Sie denken daran, die Bühne zu verlassen?“
Marietta lachte trotz ihres Kummers hell auf bei der Frage.
„Nein, daran denke ich wahrhaftig nicht, was sollte ich alsdann beginnen? Mein lieber Großvater hat jahrelang gespart und sich eingeschränkt, um meine Ausbildung als Sängerin zu ermöglichen, und es wäre ein schlechter Dank, wollte ich ihm dafür in seinen letzten Lebensjahren zur Last fallen. Er darf nicht ahnen, daß sein kleiner Singvogel sich so oft nach dem heimischen Neste sehnt und daß man ihm hier bisweilen das Lehen schwer macht. Ich bin ja auch sonst nicht so muthlos, ich halte aus und wehre mich tüchtig, wo es sein muß. Lassen Sie in Fürstenstein ja nichts von meinen Klagen verlauten! Sie gehen doch dahin?“
Ueber das eben noch so strahlende Gesicht des jungen Majoratsherrn flog ein Schatten, und jetzt war er es, der die Augen senkte.
„Ich reise allerdings heute nachmittag nach Fürstenstein,“ entgegnete er in einem seltsam gedrückten Tone.
„O, dann nach eine Bitte! Sie müssen Ihrer Braut alles sagen – hören Sie, alles! – Wir sind ihr das beide schuldig. Ich schreibe ihr heute noch ausführlich über das Vorgefallene, und Sie werden meinen Brief mit Ihrem Worte bestätigen, nicht wahr?“
Willibald hob langsam das Auge vom Boden und sah die Sprechende an.
„Sie haben recht, mein Fräulein, Toni muß alles erfahren, die volle Wahrheit, dazu hatte ich mich entschlossen, schon ehe ich hierher kam – aber es wird eine schwere Stunde für mich werden!“
„O, gewiß nicht!“ tröstete Marietta. „Toni ist gut und vertrauensvoll, sie glaubt es Ihnen und mir aufs Wort, daß wir beide ganz schuldlos sind an der Sache.“
„Ich bin aber nicht schuldlos, wenigstens meiner Braut gegenüber nicht,“ sagte Willy ernst. „Sehen Sie mich nicht so erschrocken an, Sie werden es ja später doch erfahren, und da [312] ist es vielleicht besser, ich sage es Ihnen selbst. Ich gehe nur nach Fürstenstein, um Toni zu bitten –“ er hielt inne und that einen tiefen Athemzug – „mir mein Wort zurückzugeben!“
„Um Gotteswillen! Warum denn?“ rief das junge Mädchen, förmlich entsetzt über diese Erklärung.
„Warum? Weil es ein Unrecht wäre, wollte ich so, wie es mir jetzt ums Herz ist, Toni meine Hand bieten und mit ihr vor den Altar treten. Weil ich jetzt erst einsehe, was bei dem Verloben und Heirathen die Hauptsache ist, weil –“ er vollendete nicht, aber seine Augen sprachen so deutlich, daß Marietta den Schluß vollkommen errieth. Ihr Gesicht tauchte sich plötzlich in eine wahre Purpurgluth; aber sie wich zurück und machte eine heftig abwehrende Bewegung.
„Herr von Eschenhagen, schweigen Sie! Kein Wort weiter!“
„Ich kann ja nicht dafür!“ fuhr Willibald trotzdem fort. „Ich habe ja ehrlich gekämpft und ehrlich versucht, mein Wort zu halten, die ganze Zeit über, die ich in Burgsdorf war. Ich glaubte auch, es würde möglich sein, aber da kam ich hierher, da sah ich Sie wieder – an jenem Abende in der ‚Arivana‘ – und da wußte ich es auf einmal, daß all das Sträuben umsonst gewesen war. Ich hatte Sie nicht vergessen, Fräulein Marietta, nicht eine Stunde, so oft ich es mir auch einredete, und werde Sie nicht vergessen mein Lebelang! – Das will ich Toni offen bekennen, und das werde ich auch meiner Mutter sagen, wenn ich zurückkehre.“
Das Geständniß war heraus. Der junge Majoratsherr, der mit jenem ersten Antrage in Fürstenstein nicht allein zustande gekommen war und sich von seiner Frau Mutter hatte einhelfen lassen müssen, sprach jetzt so warm und herzlich, so offen und ehrlich, wie ein Mann sprechen muß in solcher Stunde. Er hatte es auf einmal gelernt, und mit der Bevormundung, die er so entschlossen abschüttelte, schien auch alles Linkische und Lächerliche von ihm abzufallen.
Er trat rasch zu Marietta, die an das Fenster geflüchtet war, aber seine eben noch so feste Stimme wurde unsicher, als er fortfuhr: „Und nun noch eine Frage! Sie sahen so blaß aus, als Sie mir vorhin die Thür öffneten, und hatten so verweinte Augen. Die Sache mag Ihnen ja wohl peinlich und unangenehm gewesen sein, ich begreife es, aber – haben Sie sich auch ein wenig geängstigt – um meinetwillen?“
Er erhielt keine Antwort, nur ein leises Schluchzen wurde hörbar.
„Haben Sie sich geängstigt um mich? Nur ein einziges kleines ‚Ja‘, Marietta! Sie ahnen nicht, wie glücklich es mich machen würde!“
Er beugte sich tief nieder zu dem jungen Mädchen, das jetzt langsam das gesenkte Köpfchen hob. In den dunklen Augen leuchtete es wie ein Strahl heimlichen Glückes, und fast unhörbar erklang die Antwort: „Ich? Ach, ich bin in den letzten beiden Tagen fast gestorben vor Angst!“
Da jubelte Willibald laut auf und zog sie an seine Brust, freilich nur einen Augenblick lang, dann entwand sie sich rasch seinen Armen.
„Nein, jetzt nicht! Gehen Sie – ich bitte!“
Er ließ sie sofort los und trat zurück.
„Sie haben recht, Marietta! Jetzt noch nicht; aber wenn ich mich freigemacht habe, dann komme ich wieder und hole mir ein anderes ‚Ja‘ – leben Sie wohl!“
Er eilte stürmisch fort, ehe Marietta noch recht zur Besinnung gekommen war; aber jetzt ertönte die Stimme ihrer alten Verwandten, die, unbemerkt von den beiden, schon während der letzten Minuten auf der Schwelle des Nebenzimmers gestanden hatte und nun ganz entsetzt näher trat.
„Kind, um Gotteswillen, was war das, was soll das heißen? Bedenkst Du denn gar nicht –“
Das junge Mädchen ließ sie nicht ausreden, sondern schlang beide Arme um ihren Hals und rief leidenschaftlich:
„Ach, jetzt weiß ich es, warum ich so zornig war, damals, als er es zuließ, daß seine Mutter mich kränkte. Es that mir so namenlos weh, ihn für schwach und feig halten zu müssen – ich habe ihn ja lieb gehabt vom ersten Augenblicke an!“
Im Hause des preußischen Gesandten rüstete man sich für
die bevorstehenden Winterfestlichkeiten. Als Wallmoden im Frühjahr
seine jetzige Stellung antrat, zerstreute der nahende Sommer
die Gesellschaft bereits nach allen Richtungen, und gleich darauf
trat die Familientrauer ein, die vollends keine Geselligkeit
erlaubte. Diese Gründe fielen nunmehr weg. Die zahlreichen
Räume, die im Gesandtschaftspalaste zur Verfügung standen, waren
mit einer Pracht eingerichtet worden, wie sie Herberts durch seine
Heirath so glänzend gewordenen Verhältnisse erlaubten, und es
lag auch durchaus in seinen Wünschen und Absichten, ein möglichst
glänzendes Haus zu machen. In der nächsten Woche sollte der
erste große Empfang stattfinden, und inzwischen wurden zahlreiche
Besuche gemacht und angenommen.
Der Gesandte war auch amtlich sehr stark beschäftigt, und überdies gab es noch etwas, was ihm die Laune gründlich verdarb – der Erfolg der „Arivana“. Wenn er schon früher Bedenken getragen hatte, Rojanow offen entgegenzutreten, so war dies jetzt beinahe unmöglich geworden. Man hatte den „Abenteurer“ ja förmlich auf den Schild gehoben und feierte überall seinen Dichtergeist. Jetzt gerade durften der Hof und die Gesellschaft nicht gezwungen werden, ihn fallen zu lassen, wollte man nicht sie selbst einer förmlichen Beschämung aussetzen, und es war noch die Frage, ob sie ihn überhaupt fallen lassen würden, da es sich doch nur um Winke und Andeutungen handeln konnte. Jener Erfolg hatte Hartmut in der That fast unangreifbar gemacht.
Um die Lage des Gesandten vollends peinlich zu machen, stand nun auch noch die Ankunft Falkenrieds bevor, dem man die Wahrheit doch nicht verhehlen konnte und durfte, wenn er sie nicht von anderer Seite erfahren sollte. Der Oberst, von dessen Reise noch nicht das Geringste verlautete, als Wallmoden ihn kürzlich in Berlin gesehen hatte, wurde in diesen Tagen erwartet und sollte in der Gesandtschaft selbst absteigen, da er auch für Adelheid kein Fremder war; sie und ihr Bruder waren ja gewissermaßen unter seinen Augen aufgewachsen.
Als vor zehn Jahren der damalige Major Falkenried in die Provinz versetzt wurde, hatte er ein Kommando in der kleinen Stadt erhalten, die in unmittelbarer Nähe der großen Stahlbergschen Industriewerke lag und in ihrem Handel und Wandel gänzlich von denselben abhängig war. Der neue Major galt zwar für einen tüchtigen Soldaten, aber auch für einen ausgemachten Menschenfeind, der sich nur im Dienste allein wohl fühlte, seine ganze übrige Zeit mit militärischen Studien ausfüllte und alles haßte, was Gesellschaft und Geselligkeit hieß. Da er allein stand, so fiel für ihn die Nothwendigkeit weg, ein Haus zu machen, und im übrigen verkehrte er nur da, wo die Rücksicht auf seine Stellung es unabweisbar verlangte.
Dem großen Industriellen gegenüber, der die ganze Umgegend beherrschte und die ersten Persönlichkeiten als seine Gäste empfing, mußte eine solche Rücksicht nun allerdings genommen werden, und Stahlberg war denn auch der einzige gewesen, dem der vereinsamte Mann nähergetreten war. Wenn die starre, finstere Unzugänglichkeit des Majors auch eine eigentliche Freundschaft ausschloß, so hegten die beiden Männer doch die unbedingteste Hochachtung vor einander, und das Stahlbergsche Haus war der einzige Ort, wo Falkenried öfter und freiwillig erschien. Er hatte jahrelang dort verkehrt, hatte die beiden Kinder heranwachsen sehen, und deshalb nahm es ihm Wallmoden auch ernstlich übel, daß er nicht zu der Vermählungsfeier kam, sondern sich mit dienstlicher Verhinderung entschuldigte, als sein Jugendfreund eine Tochter dieses Hauses heimführte. Adelheid selbst wußte wenig oder nichts von den Lebensschicksalen des Obersten. Sie hielt ihn für kinderlos und hatte nur von ihrem Gatten erfahren, daß er früh geheirathet, sich aber nach einigen Jahren von seiner Frau getrennt habe und jetzt bereits Witwer sei. –
Es war etwa acht Tage nach der Rückkehr des Wallmodenschen Ehepaares, um die Mittagsstunde, als der jungen Frau, die in ihrem Zimmer am Schreibtisch saß, die Ankunft Falkenrieds gemeldet wurde. Sie erhob sich rasch, warf die Feder hin und eilte dem Eintretenden entgegen.
„Herzlich willkommen, Herr Oberst! Wir haben Ihre Depesche rechtzeitig erhalten, und Herbert beabsichtigte auch, Sie auf dem Bahnhofe zu empfangen, er hat aber gerade in dieser Stunde eine Audienz bei dem Herzog und ist noch im Schlosse; so konnten wir Ihnen nur den Wagen schicken.“
Ihre Begrüßung hatte die Vertraulichkeit, die ein alter Freund ihres Vaterhauses wohl beanspruchen durfte, der Gruß Falkenrieds dagegen war zwar nicht fremd, aber es lag doch keine Herzlichkeit darin. Kalt und ernst nahm er die dargebotene Hand und folgte der Aufforderung, Platz zu nehmen, während er
[313][314] gleichgültig sagte: „Nun, wir werden uns ja sehen, wenn Wallmoden zurückkommt.“
Der Oberst hatte sich allerdings sehr verändert, so sehr, daß er kaum wiederzuerkennen war. Wäre nicht die hohe, markige Gestalt, die kraftvolle Haltung gewesen, so hätte man ihn für einen Greis halten können. Das Haar des kaum zweiundfünfzigjährigen Mannes war schneeweiß, die Stirn tief durchfurcht, und tiefe, scharfe Linien gruben sich in das Antlitz und ließen es um zehn Jahre älter erscheinen. Die einst so ausdrucksvollen Züge hatten etwas Starres, Unbewegliches angenommen, und Haltung und Auftreten zeigten eine finstere, undurchdringliche Verschlossenheit. Regines Ausspruch: „Der Mann ist wie zu Stein geworden!“ war nur zu richtig. Man empfing unwillkürlich den Eindruck, als sei er der Welt und den Menschen völlig fremd geworden, abgestorben für alles, was sie bewegt, die Pflichten seines Berufes ausgenommen.
„Ich habe Sie wohl gestört, Ada?“ fragte er, den alten Namen des Vaterhauses gebrauchend, an den er gewöhnt war, und dabei warf er einen Blick nach dem Schreibtische, wo ein halb vollendeter Brief lag.
„O, das hat Zeit,“ sagte die junge Frau abwehrend. „Ich schrieb nur an Eugen.“
„Ach so! Ich bringe Ihnen einen Gruß von dem Bruder mit, er war vorgestern bei mir.“
„Ich weiß, er wollte nach Berlin und beabsichtigte, Sie dort aufzusuchen. Er hat Sie ja beinahe zwei Jahre lang nicht gesehen, und auch ich sah Sie nur flüchtig bei unserer Durchreise. Wir hofften, Sie würden nach Burgsdorf kommen, wo wir einige Tage verweilten, und ich glaube, es hat Regine sehr gekränkt, daß Sie auch diesmal nicht ihrer Einladung folgten.“
Der Oberst sah finster vor sich nieder, er wußte am besten, weshalb er Burgsdorf mit seinen Erinnerungen mied. Er hatte es seit seiner Rückkehr in die Hauptstadt kaum zweimal betreten.
„Regine weiß es ja, wie sehr ich mit meiner Zeit geizen muß,“ versetzte er ausweichend. „Aber um auf Ihren Bruder zurückzukommen, Ada – ich möchte da etwas mit Ihnen besprechen, und deshalb ist es mir lieb, daß ich Sie allein finde. Was liegt eigentlich zwischen Eugen und seinem Schwager? Ist da etwas vorgefallen?“
In dem Gesichte Adelheids zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei der Frage, aber sie sagte leichthin: „Nichts Besonderes, die beiden stehen überhaupt nicht gut miteinander“
„Stehen nicht gut? Wallmoden ist beinahe vierzig Jahre älter und überdies der Vormund Ihres Bruders, der erst in ein paar Jahren mündig wird. Da hat der Jüngere unbedingt nachzugeben.“
„Gewiß, aber Eugen ist, wenn auch herzensgut, doch nur zu oft leidenschaftlich und unbesonnen, wie er das schon als Knabe gewesen ist.“
„Leider! Er wird sich noch sehr ändern müssen, wenn er die bedeutende und verantwortungsreiche Stellung, die seiner wartet, nur annähernd so ausfüllen will, wie sein Vater es that. Doch hier scheint es sich um etwas anderes zu handeln. Ich machte eine ganz einfache Bemerkung über Ihre Heirath, Ada – die mich, wie ich offen gestehe, ein wenig überrascht hat, so sehr ich auch mit Ihrem Gatten befreundet bin – und äußerte, ich hätte Ihnen nicht so viel Ehrgeiz zugetraut. Da fuhr Eugen auf und vertheidigte Sie in der leidenschaftlichsten Weise, sprach von einem Opfer, das seine Schwester ihm gebracht habe, und ließ sich überhaupt zu Worten und Andeutungen hinreißen, die mich im höchsten Grade befremdeten.“
„Sie hätten nicht darauf achten sollen,“ sagte Adelheid mit sichtbarer Unruhe. „Solch ein junger Hitzkopf pflegt alles gleich tragisch zu nehmen. Was hat er Ihnen denn eigentlich gesagt?“
„Im Grunde nichts. Er behauptet, Ihnen sein Wort gegeben zu haben, zu schweigen, und nicht ohne Ihre Erlaubniß sprechen zu dürfen, aber er scheint seinen Schwager förmlich zu hassen. Was soll das alles heißen?“
Die junge Frau schwieg, diese Erörterung schien ihr im höchsten Grade peinlich zu sein. Falkenried sah sie forschend an, während er fortfuhr:
Sie wissen, es ist nicht meine Art, mich in fremde Geheimnisse zu drängen, ich nehme überhaupt wenig Antheil mehr an dem Thun und Treiben anderer, aber hier kommt die Ehre meines Jugendfreundes in Betracht, gegen die jene Andeutung eine Verdächtigung enthielt. Ich duldete das natürlich nicht, aber als ich es Ihrem Bruder vorhielt und mit Wallmoden selbst zu sprechen drohte, gab er mir zur Antwort: ‚Dann wird mein Herr Schwager Ihnen die Sache ‚diplomatisch‘ erklären, er hat sich ja dabei als ein so großer Diplomat gezeigt. Fragen Sie Ada, wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen!‘ So frage ich Sie denn zuerst; wenn Sie mir nicht antworten können oder wollen, dann allerdings muß ich mit Ihrem Manne reden, dem ich eine derartige Aeußerung nicht verschweigen darf.“
Er sprach kalt und gemessen, ohne jede Aufregung, die Angelegenheit selbst flößte ihm offenbar gar keine Theilnahme ein, er hielt es nur für nothwendig, sie zu erörtern, weil ein Ehrenpunkt dabei in Frage kam.
„Schweigen Sie gegen Herbert, ich bitte Sie!“ fiel Adelheid hastig ein. „Ich muß Ihnen wohl Auskunft geben, da Eugen sich einmal so weit hat fortreißen lassen, aber er hat die Sache von Anfang an viel zu schwer genommen, es ist ja nichts Unehrenhaftes dabei.“
„Das hoffe ich, da es sich um Wallmoden handelt,“ sagte der Oberst mit Nachdruck.
Die junge Frau dämpfte die Stimme, aber sie vermied es, den Blicken ihres Zuhörers zu begegnen, als sie begann:
„Sie wissen ja, daß meine Verlobung vor einem Jahre in Florenz erfolgte. Mein Vater war damals schon sehr leidend und die Aerzte verlangten, daß er den Winter in Italien zubringe. Wir gingen vorläufig auf zwei Monate nach Florenz, die weiteren Entschlüsse sollten von dem Befinden des Kranken abhängen; mein Bruder hatte uns begleitet, sollte aber im Beginn des Winters wieder nach Hause zurückkehren. Wir bewohnten eine Villa außerhalb der Stadt und lebten selbstverständlich sehr zurückgezogen. Eugen sah Italien zum ersten Male und es war so traurig für ihn, Tag für Tag in dem einsamen Krankenzimmer zu sitzen, sodaß ich seinen Wunsch, auf kurze Zeit nach Rom zu gehen, unterstützte und das auch durchsetzte. Hätte ich es doch nie gethan! Ich konnte ja nicht ahnen, wie tief ihn seine Unerfahrenheit dort verstricken würde.“
„Das heißt, er ging leichtsinnigen Abenteuern nach, während sein Vater bereits dem Tode ins Auge sah?“
„Urtheilen Sie nicht so hart! Mein Bruder war damals kaum zwanzig Jahre alt und hatte stets unter den Augen eines liebevollen, aber trotzdem strengen Vaters gelebt, die kurze Freiheit wurde ihm verhängnißvoll. Man lockte den jungen Deutschen, der noch so gar keine Welterfahrung hatte in einen Kreis, wo hoch und, wie sich später ergab, auch falsch gespielt wurde, wo eine Anzahl schlimmer Elemente sich unter äußerlich bestechenden Formen zusammenfand. Eugen, in seiner Unkenntniß, durchschaute das nicht und verlor bedeutende Summen, bis die Gesellschaft plötzlich von der Polizei aufgehoben wurde. Die Italiener widersetzten sich, es kam zu einem förmlichen Kampfe, in den auch Eugen hineingerissen wurde. Er vertheidigte sich nur, aber er hatte das Unglück, einen der Polizisten schwer zu verwunden, und wurde mit den anderen verhaftet.“
Der Oberst hatte schweigend zugehört, aber sein Gesicht blieb unbeweglich und sein Ton war ebenso hart wie vorhin, als er sagte: „Und das mußte Stahlberg an seinem Sohne erleben, der bis dahin ein Muster von Wohlerzogenheit gewesen war!“
„Er hat es nie erfahren! Es war ja nur eine augenblickliche Verirrung, mehr Verführung als Schuld, und sie wird sich nicht wiederholen, Eugen hat mir sein Ehrenwort darauf gegeben.“
Falkenried lachte plötzlich auf, so grell und höhnisch, daß die junge Frau ihn erschreckt anblickte.
„Sein Ehrenwort! Ja, warum denn nicht? Das ist ja ebenso leicht gegeben als gebrochen! Sind Sie wirklich noch so gläubig, daß Sie dem Worte eines solchen jungen Burschen vertrauen?“
„Ja, das bin ich!“ erklärte Adelheid verletzt, während ihr Auge ernst und vorwurfsvoll dem Blick des Mannes begegnete, dessen furchtbare Bitterkeit sie sich nicht erklären konnte. „Ich kenne meinen Bruder, er ist trotzalledem der Sohn seines Vaters und er wird mir und sich selber Wort halten, ich weiß es.“
„Wohl Ihnen, daß Sie noch glauben und vertrauen können – ich habe es längst verlernt!“ sagte Falkenried dumpf, aber doch in milderem Tone. „Und was geschah weiter?“
„Mein Bruder hatte es wenigstens erreicht, daß man ihm [315] gestattete, mir sofort Nachricht zu senden. ‚Verschweige es dem Vater, es würde ihm den Tod geben!‘ schrieb er mir. Ich wußte es besser als er, daß der Schwerkranke eine solche Nachricht nicht ertragen konnte, aber wir waren allein im fremden Lande, ohne Freunde und Beistand, und es mußte augenblicklich gehandelt werden. In dieser Angst dachte ich an Herbert, der sich damals bei der Gesandtschaft in Florenz befand. Wir kannten ihn flüchtig von früher her, und er hatte uns gleich nach unserer Ankunft aufgesucht und sich zur Verfügung gestellt, wenn wir irgendwie der Vermittlung unseres Gesandten bedürften. Seitdem kam er öfter in unser Haus und kam auch jetzt unverzüglich auf meine Bitte. Ich vertraute mich ihm an, ich sagte ihm alles, erflehte Rath und Hilfe von ihm – und erhielt sie auch.“
„Um welchen Preis?“ fragte der Oberst mit finster zusammengezogenen Brauen.
Abelheid schüttelte abwehrend das Haupt.
„Nein, nein, es ist nicht so, wie Sie denken, wie Eugen es noch immer glaubt – ich bin nicht gezwungen worden, Herbert ließ mir freie Wahl. Er verhehlte mir allerdings nicht, daß der Vorfall noch viel schlimmer war, als ich fürchtete, daß jene im Spiel verlorenen Summen trotzalledem bezahlt werden müßten, wenn man die Sache der Oeffentlichkeit entziehen wolle, daß es vielleicht dennoch zu einer Gerichtsverhandlung kommen werde wegen der Verwundung des Polizisten. Er erklärte mir, daß man es gerade ihm in seiner Stellung sehr verübeln würde, wenn er sich persönlich in solche Angelegenheiten mischte. ‚Sie verlangen, daß ich Ihren Bruder rette,‘ sagte er. ‚Vielleicht kann ich das, aber ich setze meine Stellung, meine ganze Zukunft dabei aufs Spiel, und ein solches Opfer bringt man doch höchstens seinem eigenen Bruder oder – seinem Schwager!‘“
Falkenried stand plötzlich auf und machte einen Gang durch das Zimmer, dann blieb er vor der jungen Frau stehen und sagte in grollendem Tone:
„Und das haben Sie natürlich geglaubt in Ihrer Todesangst?“
„Meinen Sie, daß es nicht so war?“ fragte Adelheid betroffen.
Er zuckte mit einem halb verächtlichen Ausdruck die Achseln.
„Möglich! Ich kenne diese diplomatischen Rücksichten nicht, ich weiß nur eins, Wallmoden hat sich in der That als ein ‚großer Diplomat‘ gezeigt in der ganzen Sache. Was antworteten Sie ihm?“
„Ich erbat mir Bedenkzeit, es stürmte alles so plötzlich auf mich ein. Aber ich wußte ja, daß keine Stunde zu verlieren war, und noch am Abend desselben Tages gab ich Herbert das Recht – für seinen Schwager einzutreten.“
„Natürlich!“ murmelte der Oberst mit tiefer Bitterkeit. „Der kluge Herbert!“
„Er nahm sofort Urlaub und reiste selbst nach Rom,“ fuhr die junge Frau fort. „Nach acht Tagen kehrte er in Begleitung meines Bruders zurück. Es war ihm gelungen, Eugen frei zu machen und ihn überhaupt der ganzen Angelegenheit zu entziehen, nicht einmal die Zeitungen brachten den Namen des jungen Deutschen, der darin verwickelt war. Durch welche Mittel das geschah, weiß ich nicht. Wenn man mächtige Verbindungen hat und das Geld nicht schont, ist vieles möglich. Herbert hatte es mit vollen Händen nach allen Seiten hin gespendet und alles benutzt, was seine langjährige diplomatische Thätigkeit ihm an Verbindungen öffnete. Auch für jene Spielschulden hatte er bereits Deckung geschafft, allerdings nur durch seine persönliche Bürgschaft. Er sagte mir später, daß er damals mit der Hälfte seines Vermögens für alle jene Summen eingetreten sei.“
„Sehr großmüthig, wenn man mit solchem Opfer eine Million gewinnt! Und was sagte Eugen zu diesem – Handel?“
„Er ahnte nichts davon und kehrte gleich darauf nach Deutschland zurück, wie es längst beschlossen war. Von nun an kam Herbert täglich in unser Haus und wußte meinen kranken Vater so für sich einzunehmen, daß dieser schließlich selbst den Wunsch einer Verbindung hegte; dann erst trat er mit seiner Werbung hervor. Ich war ihm dankbar, daß er der Sache diese Wendung gab, nur Eugen ließ sich nicht täuschen, er errieth alles und rang mir die Wahrheit ab. Seitdem quält er sich fortwährend mit Selbstvorwürfen und trägt seinem Schwager eine förmliche Feindschaft entgegen, trotz meiner wiederholten Versicherung, daß ich nie Anlaß gehabt habe, jenen Schritt zu bereuen, daß ich in Herbert den aufmerksamsten, rücksichtsvollsten Gatten besitze.“
Falkenrieds Auge ruhte unverwandt auf dem Gesichte der jungen Frau, als wollte er ihre geheimsten Gedanken daraus lesen.
„Sind Sie glücklich?“ fragte er endlich langsam.
„Ich bin zufrieden!“
„Das ist schon viel im Leben!“ sagte der Oberst in dem alten herben Tone. „Wir sind ja auch nicht geboren, um glücklich zu sein. Ich habe Ihnen unrecht gethan, Ada, ich glaubte, der Glanz einer hohen Lebensstellung, der Wunsch, als Gemahlin des Gesandten eine erste Rolle in der Gesellschaft zu spielen, habe Sie zur Frau von Wallmoden gemacht, aber – es ist mir lieb, daß ich Ihnen unrecht that!“
Er streckte ihr die Hand hin. Es regte sich jetzt doch etwas in seinem eisigen Blicke, und in dem Händedruck lag eine stumme Abbitte.
„Nun wissen Sie alles!“ schloß Adelheid mit einem tiefen Athemzuge, „und nun werden Sie Herbert gegenüber diesen Punkt nicht berühren, ich bitte dringend darum. Sie sehen ja, es lag nichts Unehrenhaftes in seiner Handlungsweise. Ich wiederhole es Ihnen, daß er weder Zwang noch Ueberredung in Anwendung gebracht hat, mich zwang nur die Macht der Verhältnisse. Ich konnte und durfte ja nicht erwarten, daß er für einen Fremden solche Opfer bringen würde.“
„Wenn eine Frau mich in Todesangst darum angefleht hätte, so hätte ich sie gebracht – bedingungslos,“ erklärte Falkenried.
„Ja Sie! – Ihnen wäre ich auch mit leichterem Herzen gefolgt.“
Der Ausruf verrieth unbewußt, wie schwer damals der Kampf gewesen war, den die junge Frau mit keinem Worte berührt hatte, und sie sprach die Wahrheit. Sie hätte sich, wenn denn doch einmal ein Opfer gebracht werden mußte, weit lieber dem düsteren, verschlossenen Manne mit seinem herben, oft verletzenden Wesen anvertraut, als dem immer höflichen und aufmerksamen Gatten, der im Augesicht ihrer Todesangst und mit dieser Angst – gehandelt hatte.
„Da hätten Sie ein schlimmes Los gezogen, Ada,“ sagte der Oberst mit finsterem Kopfschütteln. „Ich bin einer von den Menschen, die nichts mehr geben und empfangen können im Leben, ich bin längst fertig damit. Aber Sie haben recht, es ist besser, jener Punkt bleibt unerörtert zwischen mir und Wallmoden, denn wenn ich ihm meine wahre Meinung darüber sagen wollte – er ist und bleibt eben ein Diplomat!“
Adelheid erhob sich und das Gespräch abbrechend, versuchte sie, einen unbefangenen Ton anzuschlagen.
„Und nun darf ich Sie wohl endlich nach Ihren Zimmern führen? Sie müssen ja todmüde sein von der langen Fahrt!“
„Nein, ich werde als Soldat doch nicht von einer bloßen Nachtfahrt müde sein! Da stellt der Dienst ganz andere Anforderungen an uns.“
Er richtete sich stramm und fest auf, man sah es, seine körperliche Kraft war noch ungebrochen, diese Muskeln und Sehnen schienen wie von Stahl zu sein. nur das Antlitz trug den greisenhaften Zug. Die Augen der jungen Frau weilten nachdenklich darauf, besonders auf der Stirn, die so tief und schwer durchfurcht war und sich doch so hoch und machtvoll wölbte unter dem weißen Haar. Es war ihr, als habe sie das schon anderswo gesehen, unter dunklen Locken, und es konnte doch keinen schärferen Gegensatz geben, als dieses früh gealterte, gramdurchfurchte Gesicht und jener jugendliche Kopf mit seiner fremdartig südlichen Schönheit, mit der dämonischen Gluth im Auge. Und doch war es dieselbe Stirn gewesen, über die jene Blitze hinflammten auf der einsamen Waldhöhe, dieselbe hohe machtvolle Wölbung, selbst die blauen Adern, die so deutlich an den Schläfen hervortraten – eine seltsame unbegreifliche Aehnlichkeit!
Sie schritten nach den Fremdenzimmern, die schon des Gastes harrten.
Einige Stunden darauf befanden sich die beiden Jugendfreunde allein in dem Arbeitszimmer Wallmodens. Dieser hatte soeben zur Sprache gebracht, was ihm unerläßlich erschien, so peinlich es ihm auch war. Er hatte dem Oberst gesagt, daß und unter welchen Verhältnissen Rojanow sich in der hiesigen Stadt befinde, hatte ihm rückhaltlos alles enthüllt, was er von dem Leben Hartmuts und seiner Mutter wußte, und ihm endlich den Tod der letzteren mitgetheilt. Er hatte diese Stunde gefürchtet, aber der Eindruck war ein ganz anderer, als er erwartet hatte. Falkenried lehnte stumm, mit gekreuzten Armen am Fenster und hörte der [316] langen Auseinandersetzung zu, ohne sie mit einem Worte oder einer Frage zu unterbrechen, sein Gesicht blieb starr und undurchdringlich, kein Zucken, keine Bewegung verrieth, daß er Dinge hörte, die doch sein ganzes Inneres in Aufruhr bringen mußten. Er war auch jetzt "wie von Stein“.
„Ich glaubte, Dir diese Mittheilungen schuldig zu sein,“ schloß der Gesandte endlich. „Wenn ich Dir bisher verschwieg, was ich von den Schicksalen der beiden wußte, so geschah es, um Dich nicht unnöthig mit Erinnerungen zu quälen, die Du schwer genug überwunden hast. Jetzt aber mußt Du erfahren, was geschehen ist und wie die Dinge augenblicklich liegen.“
Der Oberst verharrte in seiner Stellung, und seine Stimme verrieth keine innere Bewegung, als er erwiderte: „Ich danke Dir für Deinen guten Willen, aber Du hättest diese Erörterung sparen können – was geht mich jener Abenteurer an?“
Wallmoden blickte betroffen auf, eine solche Antwort hatte er denn doch nicht erwartet.
„Ich hielt es für nothwendig, Dich auf die Möglichkeit eines Zusammentreffens vorzubereiten,“ versetzte er. „Du hörst ja, daß Rojanow augenblicklich eine bedeutende Rolle spielt und überall gefeiert wird. Der Herzog ist im höchsten Grade von ihm eingenommen; Du könntest ihm gerade im Schlosse begegnen.“
„Und was weiter? Ich kenne niemand, der den Namen Rojanow trägt, und er wird es wohl nicht wagen, mich zu kennen. Wir würden als Fremde aneinander vorübergehen.“
Der Blick des Gesandten lag forschend auf den Zügen Falkenrieds, als wollte er ergründen, ob das wirklich Kälte oder nur eine unglaubliche Selbstbeherrschung sei.
„Ich glaubte, Du würdest die Nachricht von dem Wiederauftauchen Deines Sohnes anders aufnehmen!“ sagte er halblaut. Es geschah zum ersten Male und mit voller Absicht, daß er diese Bezeichnung brauchte, während er bisher nur von einem „Rojanow“ gesprochen hatte und jetzt zum ersten Male zeigte sich auch eine Bewegung in der regungslosen Gestalt am Fenster; aber es war eine Bewegung des Zornes.
„Ich habe keinen Sohn, merke Dir das, Wallmoden! Er starb mir an jenem Abende in Burgsdorf, und die Todten stehen nicht wieder auf.“
Wallmoden schwieg, aber der Oberst trat jetzt zu ihm und legte schwer die Hand auf seinen Arm.
„Du erwähntest vorhin, es wäre Deine Pflicht gewesen, den Herzog aufzuklären, Du hättest das nur aus Rücksicht auf mich unterlassen. Ich habe allerdings nur noch eins zu wahren auf der Welt, die Ehre meines Namens, der durch solche Aufklärungen noch einmal dem Gespött und der Schmach preisgegeben würde. Thue, was Du glaubst thun zu müssen, ich hindere Dich nicht, aber – ich thue dann auch, was ich muß!“
Seine Stimme klang kalt wie vorhin, aber trotzdem lag etwas so Furchtbares darin, daß der Gesandte erschrocken auffuhr.
„Falkenried, um Gotteswillen, was meinst Du damit? Wie soll ich diese Worte deuten?“
„Wie Du willst! Ihr Diplomaten faßt ja bisweilen den Ehrbegriff anders auf als unsereiner – ich bin sehr einseitig darin!“
„Ich werde unbedingt schweigen, ich gebe Dir mein Wort darauf,“ versicherte Wallmoden, der die letzte bittere Andeutung nicht verstand, denn er ahnte nichts von dem Geständniß Adelheids. „Es war beschlossen, ehe Du kamst. Durch mich soll der Name Falkenried nicht preisgegeben werden!“
„Gut, und nun nichts mehr davon!“
Die Maultrommel! – Was ist die Maultrommel? Was für ein Ding, was für ein Instrument? Ich höre dein Mißtrauen, verehrter Leser, aus dem Ton und Tempo deiner Frage. Und wenn du, um dir schnell Raths zu erholen, nach einem musikalischen Handbuch greifst und dort erfährst: „Die Maultrommel, auch Brummeisen genannt, Crembalum, besteht aus einem kleinen hufeisenförmigen Eisenrähmchen, in dem eine Stahlfederzunge steckt, welche, indem man das Instrument mit den Zähnen festhält, in Bewegung und Schwingung gesetzt wird unter gleichzeitigem Brummen oder Hauchen der Gesangstöne auf diese Feder“ – ich sage, wenn dir diese Auskunft zutheil wird, so nickst du vergnüglich vor dich hin, als hättest du dir etwas ähnliches von selbst zusammengereimt, und deine Geringschätzung für das Instrument kann sicher nicht abgeschwächt werden durch den Schlußsatz, den Dr. H. Riemann in seinem Musiklexikon der Maultrommel zum Geleite giebt: „Man trifft sie noch hier und da bei Bärenführern.“
Und dieses Instrument sollte einst nicht nur salon-, sondern sogar hoffähig gewesen und im Palaste der Tuilerien wie in den Königsgemächern zu London erklungen sein? Deutsche Dichter wie Justinus Kerner, Gustav Schwab, Wilhelm Hauff sollten dieses Instrument und seinen Spieler in Versen verherrlicht haben? Ja, das alles verhält sich so, nur tritt noch hinzu, daß Justinus Kerner selbst ein leidenschaftlicher „Maultrommler“ und dadurch die Veranlassung war, den Virtuosen, welchem diese Zeilen gewidmet sind, Karl Eulenstein, auf seine Laufbahn zu führen.
Es war in der alten Reichsstadt Heilbronn am Neckar, ums Jahr 1820 herum, da trat eines Tages, von dem benachbarten Weinsberg kommend, Dr. Justinus Kerner in einen Kaufladen, um sich ein paar Maultrommeln auszuwählen. Ein Lehrling stand dabei, ein kleines, blasses Bürschchen, das sah und hörte eifrig zu, als der Arzt und Dichter die Instrumente an den Mund nahm und flüchtig probirte. In diesem Augenblick entschied sich des Lehrlings Schicksal. Ein Künstler auf der Maultrommel werden – das schoß ihm durch Herz und Hirn. Schon früher hatte der kleine Karl Eulenstein davon gehört, daß man auf der Maultrommel auch Konzerte geben könne, allein da er nie jemand spielen hörte, der etwas auf diesem Instrumente leistete, so war ihm auch noch nie der Gedanke gekommen, sich demselben zu widmen. Die wenigen Töne, welche Kerner der schwingenden stählernen Feder entlockte, wirkten wie ein Zauber auf den Kaufmannslehrling; am nämlichen Tage kaufte er sich einige Maultrommeln in dem Geschäfte, und als er des Abends in sein Dachkämmerlein ging, probirte er von 10 bis 2 Uhr in der Nacht auf den Instrumenten und fand sie beim frühen Erwachen am andern Morgen im Bette neben sich liegen – sie hatten ihm im Schlafe sogar das Gesicht zerkratzt. Er spielte nun wieder eine Stunde im Bett und hatte die unaussprechliche Freude, schon in einer Nacht ein Stückchen spielen gelernt zu haben. Es war ein selbstkomponirter Walzer, den er nachher in allen seinen Konzerten unter dem Namen eines Trompetenwalzers, natürlich verbessert, vortrug.
Dem ungewöhnlichen Musiktalent des Knaben Eulenstein hatte bisher wahrlich kein Sonnenschein gelächelt, um es hell und freudig zur Entfaltung zu bringen.
Trauriger Roman einer Kindheit – die brave Mutter so arm, so bettelarm, die Verwandten wohlhabend, ja reich, aber so o [317] entsetzlich hartherzig! Die Wohnung der Witwe besteht aus einem einzigen Stübchen im Hause eines Schneiders. Im Chorinstitut zu Heilbronn lernt Eulenstein mit achteinhalb Jahren Singen und Violinspielen, er läuft überall hin, wo Musik zu hören ist; die Mutter holt eine seit Jahren weggepackte, vom Vater vererbte Geige hervor, zu welcher der Bogen fehlt, der jetzt gekauft wird. Der Lehrer erklärt, er habe noch nie einen für das Violinspiel so begabten Schüler gehabt; Karl spielt in den Winternächten fort, bis ihm die Finger erstarren, der frühere „Gassenjodel“ eilt in allen Freistunden nach Hause, um sich auf den Saiten zu üben. Der Mutter dämmert wohl die Hoffnung, daß ihr Sohn als ein tüchtiger Musiker dereinst ihre Stütze werden könne; allein der Onkel und Vormund, ein biederer, reichgewordener Färber in der Neckarstadt, der jeden Musikanten von vornherein für einen Faullenzer und Vagabunden hält, vertreibt ihr diese Grillen, und bei ihm ist es beschlossen, fest, unabänderlich: Karl soll Schneider werden!
Inzwischen geigte dieser fleißig fort; aber das Geigen kostet Saiten und das Geld wurde immer seltener in dem Hause, das kleine Vermögen schmolz erschreckend zusammen, trotz der größten Sparsamkeit. Auf welchen Ausweg verfiel da der Knabe? Er überredete die Mutter, ihm statt des Frühstückweckens einen Kreuzer zu geben, so daß er selbst auf dem Weg zur Schule sich ein Brötchen kaufen könne. Anstatt nun Brot zu kaufen, hungerte er bis mittags und ersparte sich auf diese Weise in sechs Tagen das Geld für eine Saite.
Als die Mutter das erfuhr, war sie bis zu Thränen gerührt und bestand darauf, daß er auf diese Art sich keine Saiten mehr erwerben durfte.
Eine fortgesetzte Reihe von Kümmernissen blieb gleichwohl der Mutter und dem Sohn nicht erspart. Um ihre Lage zu verbessern, nimmt die erstere einen Dienst an, wird Kindsfrau bei einer Familie, die früher viel ärmer war als sie selbst, aber es jetzt zu Wohlhabenheit gebracht hat. Der Knabe wird einstweilen bei dem Schneider in die Kost gegeben, für 50 Gulden jährlich. Und doch ist die Kost besser, als die Mutter sie ihm zu reichen imstande gewesen war! Nach der Konfirmation gab der Knabe sich alle Mühe, den Onkel zu überzeugen, daß er zu etwas anderem geboren sei, als zu einem Schneider; doch der Musiker wurde ihm rundweg versagt und auf einem ehrlichen Handwerk bestanden. So kam er zu einem Buchbinder in die Lehre. In einer Rumpelkammer, vollgepfropft mit Pappendeckeln und allerhand bunten Papieren, steht sein Bett; der zarte, schwächliche Junge erstickt fast unter der schweren Decke. Die Geige darf er nicht mit ins Haus bringen, doch wird ihm erlaubt, des Abends einige Stunden bei der Mutter zuzubringen, welche sich wieder ihr eigenes Stübchen gemiethet hat und jetzt für andere Leute Strümpfe strickt.
Das waren Lichtblicke in diesem Kinderleben – ein paar friedliche Stunden des Tags bei dem guten Mütterchen und ihr auf den Saiten hinhauchen, was die Kindesseele bewegte! Da waren sie glücklich und zufrieden, da spürten sie keine Noth. Und nun denke man sich ihren jähen Schmerz, als der Buchbinder kurzer Hand erklärte, er könne den Lehrjungen nicht brauchen, er sei zu schwach zu diesem Geschäft! Nach vielen Verhandlungen mit dem Onkel kam Karl noch ein halbes Jahr ins Gymnasium, das er schon früher besucht hatte, und dann in die Lehre zu einem Kaufmann . . . dem nämlichen, bei dem er die Bekanntschaft Justinus Kerners und der Maultrommel machen sollte. –
Sein neuer Geschäftsherr war sehr wohlwollend gegen ihn vom ersten Tag an und schenkte ihm doppelte Theilnahme, als er gehört hatte, wie musikalisch er sei; hegte er doch selbst für die edle Tonkunst eine ausgesprochene Vorliebe. Um so mehr verdarb Karl es mit der mürrischen Frau Prinzipalin, die nichts mehr haßte als Musik. Sie ließ Karls Mutter kommen und verbot ihr streng, daß ihr Sohn je eine Geige mitbringe. Man stelle sich daher das Glück des Lehrlings vor, als er ein Instrument entdeckte, das er ganz im geheimen und in jedem freien Augenblick, im Laden, im Konto, im Keller, im Holzstall, auf dem Dachboden, wo immer er allein war, spielen und üben konnte! Auch kostete eine Maultrommel nur zwei Kreuzer und brauchte keine Saiten. Bald vervollkommnete der erfinderische junge Mann das Instrument dadurch, daß er ein Stück Wachs oder Sigellack an das Ende der Zunge anklebte und es so tiefer stimmte. Durch blitzschnellen Wechsel der Maultrommeln beim Spielen vermochte er auf diese Weise in verschiedenen Tonarten zu moduliren. Aber die Sache bot noch die weiteren Vortheile, daß erstens der Ton infolge der langsameren Schwingungen bei vergrößerter Stahlzunge voller und schöner wurde und daß zweitens ihm die Maultrommeln das Gesicht nicht mehr zerkratzten.
Durch rastlose heimliche Uebung bei Tag und Nacht machte er so überraschende Fortschritte, komponirte auch viele so hübsche Stückchen, daß, als sein Geschäftsherr zufällig davon Kenntniß erhielt, er hinter dem Rücken seiner Frau einige Freunde einlud, um sie durch das Spiel des Jünglings zu erfreuen. Zunächst wollte er ihnen damit ein Räthsel aufgeben. Karl sollte im Dunkeln spielen und die Herren sollten rathen, was das für ein Instrument sei. Nur einer war eingeweiht: Dr. Justinus Kerner von Weinsberg, der den jungen Eulenstein schon zuvor einmal gehört hatte.
Die Herren lauschten verwundert, und wie groß war ihr Staunen, als Licht gebracht ward und ein halbes Dutzend Maultrommeln [318] neben dem jungen Manne auf dem Tische lag! Sie konnten es gar nicht begreifen, daß man mit einem solch unscheinbaren Instrumente solche Töne hervorzubringen vermöchte. Justinus Kerner aber überreichte, als Karl Eulenstrin ihn einige Wochen später in Weinsberg besuchte, ihm folgendes auf ihn und sein Maultrommelspiel verfaßtes Gedicht[2]:
„Kommt von Bienen, was ich höre?
Nein, die schwärmen nicht bei Nacht!
Nun erklingt’s wie Geisterchöre
Zarter Sylphen klar und sacht;
Nun wie Glöcklein, die im Berge
Rühren geisterhafte Zwerge.
Und aus diesen Tönen heben
Sich Gestalten zart und klar –
Sterne – Sterne seh ich schweben,
Zauberzeichen wunderbar;
Schaffet Licht, auf daß wir finden,
Welch ein Zauber uns will binden.
Ha! Es ist mit seinem Eisen
Der bekannte gute Geist,
Der durch überird’sche Weisen
Uns ins Land der Geister weist.
Doch er schweigt, und langsam wieder
Sinken wir zur Erde nieder.“
Das ist ganz der Sänger von Weinsberg, der romantische Arzt der Seherin von Prevorst, der Mann mit dem feinen Ohr für Geister- und Sphärenmusik! Der kluge kleine Karl aber behielt von diesem ersten, im Dunkeln geschehenen Auftreten für alle späteren Zeiten das bei, daß er, auf die Kraftübertragung der Sinne unter sich rechnend, die Zimmer womöglich dunkel oder dämmerig machen ließ, ehe er die zarten Klänge seiner eisernen Miniaturlyra anstimmte.
Des ehrwürdigen Meisters Gedicht machte solch tiefen Eindruck auf den Jungen, daß er damals auf dem Heimwege von Weinsberg nach Heilbronn den Entschluß faßte, sich zum berufsmäßigen Virtuosen auf diesem Instrumente auszubilden, ein Entschluß, der noch bestärkt wurde, als um jene Zeit der Maultrommelvirtuose Koch auf seinen Konzertreisen nach Heilbronn kam. Eulenstein hörte ihn und ruhte nicht, bis er nach einigen Monaten den ganzen Konzertzettel Kochs ebenfalls spielen konnte.
Eulenstein war am Schluß seiner Lehrzeit 19 Jahre alt und wollte nun seinen Plan, als Virtuose zu reisen, ausführen; allein da er gänzlich mittellos, ja selbst ohne die zu einem öffentlichen Auftreten nöthigen Kleider war, sein Onkel aber seinen Plan als abenteuerlich und unsinnig verlachte, durfte er dem Rufe der Musen einstweilen nicht folgen. Ein Verwandter in Lüneburg, ein Konditor, bot ihm zu jener Zeit an, auf vier Jahre ohne Lehrgeld bei ihm einzutreten, und da sich nichts anderes bot, reiste Eulenstein am 11. Oktober 1821 nach schwerem Abschiede von seiner Mutter ab und wanderte 18 Tage lang zu Fuß nach Lüneburg, wo er todmüde ankam, aber schon am andern Morgen um sechs Uhr in der Backstube antreten mußte. Da es gegen Weihnachten ging, blühte für den Konditor gerade das Geschäft . . . von sechs Uhr früh bis nachts elf, ja sehr oft bis zwölf und ein Uhr wurde streng gearbeitet, und vorläufig blieb unserem Kunstjünger nichts übrig, als Mandeln zu reiben und Zucker zu stoßen. Und doch vergaß er alle Tageslast und Backstubenhitze, wenn er die Maultrommel an seine Lippen setzen konnte – nach dem späten Feierabend spielte er noch jede Nacht in der Backstube, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen.
Und dennoch fand Eulenstein gerade in diesem Geschäfte den Weg zur Oeffentlichkeit. Mit der Konditorei war eine Wirthschaft mit Billard verbunden. Der aufgeweckte Karl schien dem Besitzer der richtige Mann zur höheren Kellnerei und Billardbedienung, in Abwechslung mit dem Sohne des Hauses. Oftmals am Tage mußte er jetzt den Teiglöffel weglegen, um den Gästen aufzuwarten; aber er that es gerne, forderten sie ihn doch mehr und mehr auf, ihnen etwas auf der Maultrommel vorzuspielen. Der Herr des Hauses lachte sich dazu ins Fäustchen . . . das lockte die Leute her; für Karl aber hatte es den großen Vorzug, daß er viel üben und seine große Schüchternheit vor zuhörendem Publikum allmählich überwinden lernen konnte.
Der Konditor in Lüneburg, ein unternehmender Mann, faßte den Gedanken, hinter seinem Hause ein Theater zu bauen. Damit kamen Schauspieler und Musiker in die Konditorei. Einige von den letzteren machten viel Aufhebens von Eulensteins Maultrommel, und als um jene Zeit der Virtuose Kunert in Lüneburg ein Konzert gab, hieß es: Eulenstein spielt ebenso gut. Wenn aber viele das glaubten, einer wußte es besser, nämlich Eulenstein selbst, der – im Gegensatz zu so vielen jugendlichen Talenten – von frühauf jenes heilsame Mißtrauen in das eigene Können besaß, welches der Sporn und Stachel wird zu immer neuem, zähem Fleiß, unermüdlichem, rastlos ausdauerndem Studium.
Am Schluß der Lehrjahre bei dem Konditor durfte Eulenstein ein „Abschiedskonzert“ in dem Theater seines Prinzipals geben – es gingen 65 Thaler ein und er fand großen Beifall, obschon er von einer namenlosen Angst gepeinigt ward und diese ihm den zum Maultrommelspiel so nöthigen ruhigen Athem benahm.
Was Wunder, daß der junge Mann nach diesem Erfolge Muth faßte zu einer Kunstreise! Und darin erschütterte ihn nicht einmal ein Brief des Onkels aus Heilbronn, der auf die Nachricht von jenem Konzerte ihm – sicher wohlmeinend und bei tausend anderen jungen Leuten berechtigt, aber gerade diesem Talente gegenüber nicht angebracht – schrieb: „Ein wahrer Musikus, welcher Klavier spielt, den Generalbaß kann und alle Blasinstrumente spielt, kannst Du doch nie werden. Weißt Du das
Sprichwort nicht: ‚viel rutschen macht böse Hosen‘ oder ein Mensch, der das zweite und dritte Handwerk ergreift, wird ein Taugenichts oder ein Bettler? Willst Du ein brauchbarer Musikantengesell (wörtlich) werden, so mußt Du Dich zu jedem Instrument gebrauchen lassen können, oder willst Du etwa ein Virtuose auf einem Instrumente werden? Wie ist das möglich und wo sind denn die reichen Musici und Virtuosen zu finden, die imstande sind, eine Mutter zu ernähren? Ich könnte Dir Dutzende von Musikanten herzählen, die ihr Leben in Jammer und Elend, Hunger und Kummer aushauchten. Musikanten, Musiker,
Virtuosen und Komödianten sind alle dem Zufall unterworfen und nehmen meistens ein trauriges Ende. Darum bitte ich Dich, bleibe bei Deinem erlernten Handwerk, das einen goldenen Boden hat. Folge mir und den sachverständigen Freunden, die ich darüber gehört und die Deinen Plan herzinnig tadeln und verachten. Traue auf Gott, bete, lerne und arbeite fleißig, so wird es Dir dereinst gelingen. Das ist die wahre Gesinnung
Deines Dich liebenden Onkels J. C. K.“
Ach, der wackere Färbermeister, dem dieser Brief im Grunde alle Ehre macht, hatte ja in manchem so recht . . . Eulenstein sollte es nur zu bald erfahren! Denn als er trotz dieser Abmahnung nun doch sich aufmachte zu seiner Kunstreise, indem er mit einem jungen Knopfmacher als Handwerksbursche die Landstraße dahinpilgerte, wollte es ihm trotz aller Anstrengungen weder in Celle, noch in Braunschweig, Göttingen, Kassel und Frankfurt gelingen, ein Konzert zustande zu bringen. Schon war er im Begriffe, sich wieder nach einer Stelle umzusehen, als ihn die Nachricht vom Tode seines Großvaters in seine Heimathstadt zurückrief. Er hatte eine Reise von 140 Stunden gemacht, ohne ein einziges Konzert! Trotzdem kam er in Heilbronn mit 11 Dukaten[3] in der Tasche an, eine für seine damaligen Verhältnisse große Summe, welche uns einen Einblick gewährt in einen hervorstechenden Zug dieses Charakterbildes: eine schier ins Unbegreifliche gehende Bedürfnißlosigkeit und damit verbundene beispiellose Sparsamkeit, vermöge deren er trotz alles zeitweisen Unglückes sich immer wieder durchkämpfte zu der Möglichkeit, den Traum seines Lebens zu verwirklichen.
Natürlich suchte er in der Heimath bald seinen alten Beschützer Dr. Justinus Kerner in Weinsberg wieder auf und erhielt von ihm einen Empfehlungsbrief nach Oehringen, der ihm der Schlüssel wurde zum Landsitz der Fürsten von Hohenlohe-Oehringen in Friedrichsruhe. Als er vormittags um 11 Uhr die Nachricht erhielt, daß er vor der Fürstin spielen dürfe, befiel ihn eine derartige Angst, daß er bis zum Abend keinen Bissen essen konnte. Am Abend ließ er beim Hereintreten in den Saal auch glücklich seinen Hut fallen, stolperte unter vielen Bücklingen nach dem Tische, wo seine Maultrommeln schon gerüstet lagen, und wie sein Spiel ausfiel, mag man daraus entnehmen, daß nach seinem eigenen Zeugniß ihm sogar einige Maultrommeln aus der Hand glitten, so groß war seine Verlegenheit.
Die Fürstin aber schien sich an dem jungen „Maultrommler“ doch weidlich ergötzt zu haben, denn nicht nur erhielt er für sein Spiel 4 Kronenthaler (etwa 181/2 Mark) nebst gnädiger Versicherung [319] des höchsten Beifalls, sondern er wurde auch noch mit einem Nachtessen bewirthet, das ihm nach dem taglangen unfreiwilligen Fasten gar herrlich mundete. Voll stolzer Hoffnungen trat er am andern Morgen ganz früh seine Reise nach Hall an, um dort ein Konzert zu versuchen; allein obschon er nach dortiger Sitte selbst mit der Einzeichnungsliste zu den ersten Familien ging und den Zweiflern an der Maultrommel gleich ein Stückchen vorspielte, kamen doch nur 50 Personen zusammen, sodaß er am andern Morgen zu Fuß die Rückreise nach Heilbronn antrat. Er war auf schwere Vorwürfe von dem Onkel vorbereitet, den er nicht zuvor um seine Meinung befragt hatte; allein zu seiner großen Ueberraschung sagte er diesmal nichts – Justinus Kerner war bei ihm gewesen und hatte ihm zugeredet, der Karl sei „ein Genie, das dürfe man nicht unterdrücken.“ Die vier mitgebrachten Kronenthaler und der fürstliche Nimbus von Friedrichsruh her thaten auch das Ihrige.
Damals traf es sich, daß ein Schwager Kerners in eigenem Wagen nach Karlsruhe reisen wollte und dem jungen Eulenstein einen Freisitz zur Mitfahrt anbot. Der Onkel willigte ein, daß mit dieser Reise der erste größere Versuch gemacht werde, ob sein Neffe mit der Musik sein Brot finde. Unterwegs machte dieser in Heidelberg die Bekanntschaft des Prinzen August von Hohenlohe-Oehringen und durch diesen die weitere eines Grafen Lean, welcher ihn einlud, ihn in Paris zu besuchen, – die erste an Eulenstein herantretende Anregung zum Besuche der französischen Weltstadt, von welcher eine flimmernde Ahnung durch seine Seele ging, er werde dort dereinst sein Glück machen!
In Karlsruhe spielte Eulenstein vor der Markgräfin Friederike in Gegenwart der Königin von Schweden mit großem Beifall, erzielte aber in seinem eigenen Konzert eine so geringe Einnahme, daß er sich nun in der großen Kunst üben mußte, von der Ehre zu leben. Auch in Pforzheim, Brüssel und Darmstadt ging es ihm schlecht, und seine Gemüthslage war tief traurig, als er endlich zu Fuß wieder durch die Thore Heilbronns einzog, statt der mitgenommenen 40 Gulden trotz äußerster Einschränkung nur noch fünf in der Tasche. Dies also war der Erfolg der ersten größeren „Kunstreise“!
Da sollte freilich Karl ernstlich die Kunst an den Nagel hängen und in die Backstube zurückkehren. Nach Stuttgart also, um eine Stelle zu suchen! Gleichwohl ging der Jüngling nicht aus seiner Vaterstadt, ohne von Dr. Kerner sich Empfehlungen an dessen Freunde nach Stuttgart verschafft zu haben. Und als das Herumsuchen bei den Konditoren nichts half, zog Eulenstein die Kernerschen Briefe hervor und spielte schon nach zwei Tagen Maultrommel in einer Gesellschaft bei dem Dichter Gustav Schwab. Ludwig Uhland und Wilhelm Hauff, sowie mehrere Musikfreunde waren dabei anwesend, und Eulenstein spielte so gut, daß aus diesem Kreise sein Name bekannt wurde und durch Freiherrn von Gemmingen eine Einladung an ihn erging, sich vor der verwitweten Königin von Württemberg in Ludwigsburg hören zu lassen. Das fiel so gut aus, daß ihm von der Königin, welche eine englische Prinzessin war, ein Empfehlungsbrief nach England in Aussicht gestellt wurde, den er später auch erhielt und benützte.
Die Versuche, vor dem König Wilhelm in Stuttgart zu spielen, wollten nicht gelingen, und da es gegen Weihnachten ging, auch der warnende Onkel sich wieder aus Heilbronn hören ließ, trat Karl bei Konditor Murschel ein, einem Manne, der ein Kunstfreund, wenn auch auf anderem Gebiete, war[4] und seinem Gehilfen gerne den Nebenverdienst mit seiner Maultrommel gestattete. Eulenstein nahm durch den doppelteu Erwerb viel Geld ein, und es ging ihm in dieser Zeit so gut, daß er hätte vollauf zufrieden sein können. Allein da machten die Poeten neue Gedichte auf seine Maultrommel, in den Zeitungen erschienen Artikel über das eigenartige Talent des jungen Mannes, und da duldete es ihn nicht länger beim Kuchenbacken. Als freier Künstler die Welt sehen, die Menschen erfreuen, entzücken durch sein Spiel, diesem Sterne wollte er folgen und sollten ihm auch noch viel tausendmal schwerere Entbehrungen und Enttäuschungen, als er sie schon erlebt, beschieden sein!
Um gefeit zu sein gegen die ärgste Noth beschloß er, wieder der äußersten Sparsamkeit treu zu bleiben, und machte gleich einen guten Anfang damit, indem er auf einer Fußwanderung nach Tübingen (34 Kilometer) im ganzen nur drei Kreuzer verzehrte. Als er aber in der Musenstadt mit seiner Schachtel gestimmter Maultrommeln den Konzertsaal betrat, da war es kein Geringerer als der bekannte Komponist der „Loreley“ und so vieler herzinniger Volkslieder, Friedrich Silcher, der ihn auf der Guitarre zu seinem Spiele begleitete.
Vom Beginn seiner Laufbahn an war es Euleusteins Klugheit, sich, wo er nur immer konnte, Empfehlungs- und Einführungsbriefe zu verschaffen und die eine Bekanntschaft aus der anderen zu entwickeln. Tübinger Studenten empfahlen ihn an Heidelberger; auch in dieser Neckarstadt fiel sein Konzert gut aus. Weniger begünstigte ihn das Glück in Mannheim und Frankfurt; dort rieth ihm Kapellmeister Strauß, nach der Schweiz zu gehen. In Basel fing er an und spielte dann in Aarau bei Zschokke. Sein Konzert in Zürich brachte ihm einen baaren Ueberschuß von zehn Louisdor. „So viel Geld für so wenig Mühe!“ rief er bei dieser Einnahme, und da leuchtete auch schon wieder der Gedanke neu in ihm auf, der ihn nicht mehr verließ: „Nach Paris!“ Der Zufall wollte es, daß er in Lausanne die Bekanntschaft eines angesehenen Pariser Musikers, des Harfenspielers Stockhausen, des Vaters von Julius Stockhausen, machte; der bestärkte ihn in seinem Plan und ward nachher in der Seinestadt sein rettender Engel.
Als Karl Eulenstein am 2. Dezember 1825 in Paris ankam – seine Baarschaft betrug 250 Franken – da pochte ihm angesichts des endlosen Häusermeers gewaltig das Herz und der Straßenlärm betäubte ihn vollständig. „Da soll man Deine Maultrammel hören?“ frug es bang in ihm, und zuletzt überkam es ihn eiskalt, er werde hier am Ende Schiffbruch leiden müssen. Zum ersten Male lernte er die riesigen Entfernungen in einer solchen Stadt, die Schwierigkeit, die Leute anzutreffen, kennen. Als er sich aufmacht mit seinen Empfehlungen, angethan mit seinen besten Kleidern, und wie er so dahingeht auf dem Boulevard, von Sorgen und Zweifeln gequält, da schlägt ein Straßenkehrer neben ihm seinen kothgefüllten Besen an einem Baume aus und die ganze Ladung trifft das jugendliche deutsche Musikantenbürschlein. Das verzweifelte schier darob, denn ein merkwürdiger Zug tritt da wiederum in diesem Lebensbilde zu Tage: kleine Widerwärtigkeiten zu ertragen, fiel ihm viel schwerer als langes Ausharren unter dem Drucke der widrigsten Umstände. Zunächst griff er zu seinem altbewährten Mittel zurück: möglichst wenig brauchen, so lange er nichts verdiente. Wohl spielte er in Familien, man bewunderte ihn; aber da es in Paris nicht Sitte war, Künstler für ihr Spiel in Gesellschaften zu bezahlen, mußte er einstweilen mit dieser Bewunderung vorliebnehmen und, um sich bekannt zu machen, weiter spielen, bis er schließlich fast vor Hunger starb. Das ist bei Eulenstein buchstäblich zu nehmen. Er aß des Mittags nur noch ein paar kleine getrocknete Fische, und erst nachdem er zwei Tage keinen Bissen mehr über die Lippen gebracht hatte, entdeckte er sich einem Freunde – eben dem braven Stockhausen, der über die Tiefe des Elends erschrak, ist das er da blickte.
Er verschaffte Eulenstein zunächst Arbeit durch Notenabschreiben; dann aber wirkte er bei seinen Schülern, meist reichen Leuten der höheren Stände, nach Kräften für ihn, und es folgte nun Einladung auf Einladung. Eine Karte wird gedruckt und das Honorar für das Spielen in Gesellschaften auf 40 Franken festgesetzt. Die Zeitungen reden von dem deutschen Maultrommelspieler, einige reißen ihre Witze über ihn, das macht aber die Leute, statt sie abzuschrecken, nur um so neugieriger. Er lernt Rossini und Paer kennen, wird von dem letzteren bei dem Herzog von Orleans, dem späteren König Louis Philipp, eingeführt, und nun kam ein großes Pariser Konzert zustande, das seinen Ruf begründete.
Von jetzt ab folgte ein gutes Konzert dem andern, eine werthvolle Bekanntschaft der andern, und endlich, nachdem er vor dem Könige der Franzosen in den Tuilerien gespielt, sollte sich das höchste Träumen des bescheidenen Jünglings erfüllen: es öffnete sich ihm auch das Schloß des Königs von England.
Nie in seinem Leben, erzählte er, war er aufgeregter als an diesem Tage – in der Verwirrung gab er dem Kutscher einen Sovereign statt eines Schillings[5], den er – glücklicher als andere [320] Englandreisende – andern Tages zurückerhielt. Um zehn Uhr fing das Hofkonzert an mit einer Ouverture von Händel. Eulenstein, schon vorher eingenommen gegen den in englischen Gesellschaften herrschenden, seinem zarten Musikinstrumente feindlichen Lärm, schaute bei dem Wettern der Blechbläser besorgt ins Nebenzimmer, wo der König weilte. Als die Reihe an ihn kam, ermunterte ihn bald der König durch ein Bravo, in das die andern einstimmten, wünschte aber, daß er sein Tischchen ganz dicht zu ihm heranrücke, und sah ihm dann genau zu bei der Behandlung der Maultrommel. Nach Beendigung des Spiels gab es ein reichliches Nachtmahl mit Weinen aus des Königs Keller, die unserem sonst so enthaltsamen Maultrommler derart mundeten, daß er – ein höchst seltener Fall in seinem Leben – am anderen Morgen nicht mehr wußte, wie er den Weg ins Bett gefunden hatte.
Als sich dann die vornehme Welt auf Reisen und in die Seebäder begab, da zog es auch unsern Freund nach Deutschland, insbesondere nach Lüneburg zurück, wo eine Maid saß, die sein Herz sich erkoren hatte und die mit stiller Treue dem Tage entgegenhoffte, da er sie zum Altare führen werde.
Nun ging es auch in die Vaterstadt Heilbronn zurück. Das dort wohnende rege Handelsvölkchen hatte auf einmal, da sein Ruhm von außen in die Heimath zurückklang, Glauben an ihn, und Hunderte strömten herbei zu seinem Konzert, während früher bei seinem dortigen Auftreten nur 20 Personen gekommen waren.
Als Eulenstein im nächsten Frühjahr abermals nach London reiste, traf ihn ein schwerer Schlag. Beim Essen brach ihm einer der Zähne aus, die er zum Maultrommelspiel brauchte, da das Instrument mit den Zähnen gehalten wird. Zwar gelang es der Kunst des berühmten Zahnarztes Cartwright, in die zurückgebliebene Wurzel einen künstlichen Zahn einzusetzen, mit dem er vorläufig noch weiter spielen konnte, doch sah Eulenstein seiner Virtuosenlaufbahn ein baldiges Ziel gesetzt, da mit falschen Zähnen kein Spiel auf diesem Instrumente möglich ist.
Es überkam ihn nun ein förmliches Fieber, die ihm noch vergönnte Zeit zu nützen und zugleich die Guitarre, die er schon in Paris neben seiner Maultrommel zu pflegen begonnen hatte, mehr zur Geltung zu bringen. Binnen kurzem wurde er auch als einer der besten Guitarrelehrer Londons bekannt und bekam so viele Schüler, daß er keine mehr annehmen konnte.
Und als nun das Unvermeidliche geschah und er den letzten Oberzahn verlor, er also der Maultrommel unwiderruflich entsagen mußte, war seine Lage hinlänglich gefestet, daß er daran denken konnte, sich dauernd in einer der englischen Städte als Lehrer niederzulassen und seinen eigenen Hausstand zu gründen. Zur Sicherheit fügte der findige Mann dem Musikunterricht noch den Sprachunterricht hinzu und schrieb eine deutsche Grammatik für Engländer, welche in der Folge sieben Auflagen erlebte und ihm von wesentlichem Nutzen ward.
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An der Seite der braven Lüneburgerin, einer einfachen, sparsamen Hausfrau, brachte es Karl Eulenstein im Verlauf von 15 Jahren zu einem sehr ansehnlichen Vermögen; am 27. August 1847 reiste er mit drei lieben Kindern in seine Vaterstadt Heilbronn zurück, wo er sich ein Haus baute, einen Garten kaufte und ein überaus glückliches Familienleben führte. Später siedelte er nach Cilli in Steiermark über und feierte dort zu Weihnachten letzten Jahres in der Villa seiner Tochter, der Frau Heinz von Roodenfels, seinen 87. Geburtstag unter festlicher Betheiligung der ganzen dortigen Einwohnerschaft. War doch der alte freundliche Herr bekannt und beliebt bei jedermann. Man wußte von ihm, daß er die schönsten Sammlungen besaß von Muscheln, Schnecken, Versteinerungen, Vogeleiern, Schmetterlingen und Käfern.
Sein reger Geist versuchte sich in vielfachen wissenschaftlichen und technischen Beschäftigungen. So verfertigte er vorzügliche große Spiegelteleskope, mikroskopirte und schrieb, über 80 Jahre alt, noch gefällige Duette für Violine und Klavier, die viel gespielt wurden. Er dachte, frisch und munter wie er in seinen alten Tagen war, wohl hundert Jahre alt zu werden; aber seine Lebensflamme nahm doch rasch ab und erlosch im Januar dieses Jahres. Wenn man ihn von den Erlebnissen seiner musikalischen Laufbahn erzählen hörte, wie er Künstler geworden war aus eigener Kraft trotz aller Noth und Entbehrungen, so klang das wie ein Märchen aus einer verschollenen Welt; und doch hatte er Sinn und Verständniß auch dafür, was das heutige Geschlecht bewegt, wie man das zumeist bei Leuten findet, die alles aus sich selbst geworden sind.
Und auch ein Schimmer von Romantik fehlt nicht in diesem Lebensbilde. Der Großvater Eulensteins war einst in Heilbronn eingewandert als ein lustiger Musikant, im Ränzlein ein Wappen auf Pergament von der aus Meißen stammenden Familie „von Eulenstein, vormals genannt von Eulenburg“. Die Stürme des Dreißigjährigen Kriegs hatten die Burg vernichtet, ein Brand die Kirchenbücher des benachbarten Dorfes zerstört, und da die Enkel nur noch wenige Steine fanden, wo einst die Burg gestanden, nannten sie sich fortan Eulenstein und legten auch den Adel ab.
Wie schön der Frühling ist?
So schön, daß, wenn er grüßt die Erde kaum,
Das Herz sein ganzes Winterleid vergißt,
Wie man vergißt wohl einen schweren Traum –
Der Hoffnung leichte Schwingen wieder hebt,
Die aus der kargen Knospe schon am Strauch
Sich lächelnd tausend reiche Kränze webt.
Wie schnell der Frühling zieht?
Schnell, wie die Jugend, wie die Liebe flieht,
Wie uns das Glück enteilt nach flücht’gem Kuß.
So schnell, daß, eh’ den trunk’nen Blick hinein
Wir tauchten in sein lichtes Blüthenmeer,
Die Nachtigall schon klagt: „Er ist nicht mehr!“
A. Nicolai.
Das Ablesen vom Munde.
Am 30. April 1790 starb in Leipzig Samuel Heinicke, der Begründer der ersten deutschen Taubstummenanstalt. Die „Gartenlaube“ hat wiederholt dieses edeln Menschenfreundes gedacht und in Wort und Bild sein Andenken geehrt. Es genüge darum hier, darauf hingewiesen zu haben[6]. Die Saat, die der wackere Heinicke ausgestreut, hat in den vergangenen hundert Jahren reiche Frucht getragen. Das Recht der Taubstummen auf Bildung und Erziehung ist allgemein anerkannt und in allen gesitteten Staaten sind Taubstummenanstalten eingerichtet worden. Voran geht Deutschland, das allein gegen hundert zählt. Wohl ist auch hier noch viel zu thun übrig; aber in einzelnen deutschen Ländern, z. B. im Königreich Sachsen, ist bereits das schöne Ziel erreicht, daß jedes taubstumme Kind in einer Taubstummenanstalt Aufnahme findet. Aehnlich ist es in Württemberg. Und in den übrigen Staaten strebt man dies Ziel zu erreichen, denn jedes Jahr weiß von neu errichteten Anstalten zu erzählen.
Welch reicher Segen ist bereits der Menschheit aus diesen Stätten erwachsen! Tausende von Unglücklichen, die sonst unwissend und roh zur Last ihrer Angehörigen oder der öffentlichen Armenpflege herangewachsen wären, sind zu ordentlichen, brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen worden. Neben einer sittlich religiösen Bildung und Erziehung sind es besonders zwei werthvolle Gaben, welche die Taubstummen in den für sie eingerichteten Schulen empfangen. Sie lernen sprechen, können also anderen hörbar und verständlich ihre Gedanken ausdrücken, und dann – was nicht minder wichtig ist – lernen sie von den Lippen anderer die gesprochenen Worte ablesen und verstehen.
Und noch für weitere Kreise wird die Arbeit der Taubstummenanstalten segensreich werden. Die an Sprachgebrechen leidenden Kinder, die Stotterer und Stammler finden an Taubstummenlehrern gute Helfer.
[321][322] Die Heilung des Stotterns wurde bisher vielfach als Geheimniß behandelt und die Wissenden ließen es sich theuer bezahlen. Durch die Schriften der Taubstummenlehrer Gutzmann in Berlin, Günther in Neuwied etc. ist das Heilverfahren allgemein bekannt geworden, und in verschiedenen Städten Deutschlands hat die Behörde nach diesem Verfahren unentgeltliche Heilkurse für stotternde Schulkinder eingerichtet, so in Potsdam, Braunschweig, Dresden, Elberfeld etc. Rudolf Denhardts Verdienste um die Heilung des Stotterns sind schon früher in der „Gartenlaube“ hervorgehoben worden, und von ihm wird auch demnächst ein Buch darüber, „Das Stottern. Eine Psychose“ (mit Illustrationen), im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger erscheinen.
Aber auch der großen Zahl jener Bedauernswerthen, die in späteren Jahren schwerhörig geworden oder ertaubt sind, wird durch die Arbeit der Taubstummenanstalten ein gutes Verständigungsmittel mit ihrer Umgebung geboten. Wie die Taubstummen, so vermögen auch sie die Kunst zu erlernen, mit den Augen von den Lippen anderer das gesprochene Wort abzulesen. Es beruht dies auf der Thatsache, daß jeder deutlich gesprochene Laut eine besondere Mundstellung erfordert. Man trete vor einen Spiegel und beobachte sich beim Sprechen. Mit derselben Mundstellung, mit der ich ein reines a ausspreche, kann ich kein reines o sprechen. Beim a ist der Mund vollständig geöffnet, beim o werden die Lippen etwas vorgeschoben, wodurch sich die Mundöffmung etwas verengert, und noch mehr ist dies der Fall, wenn ich u spreche. Beim e ist die Mundstellung breit und beim i treten die Mundwinkel noch weiter zurück. Wieder andere Mundstellungen erfordern die Konsonanten. Man spreche vor dem Spiegel b, d, f, l, s, sch, k etc, und man wird deutlich die veränderte Mundstellung bemerken können. Mitunter sind diese Unterschiede freilich ziemlich unbedeutend; aber selbst die Laute, die mehr im Innern des Mundes gebildet werden, lassen sich doch durch scharfes Beobachten erkennen, da sie äußerlich auch das Gesicht in Mitleidenschaft ziehen. Man beobachte sich z. B. beim Sprechen des n und ng. Das im Gaumen gebildete verkümmerte r ist nicht sichtbar, wohl aber das richtige mit der Zungenspitze gesprochene r, das ja auch von Sängern und Rednern angewendet wird.
Wie nun die gedruckten Buchstaben ganz bestimmte Formen haben, an denen wir jeden einzelnen sofort erkennen, so nehmen die Laute auch beim Sprechen ganz bestimmte, sichtbare Formen an, die vom Munde abgelesen werden können.
Freilich, das Ablesen vom Munde ist viel, viel mühsamer zu erlernen, als das Lesen der Buchstaben und Zusammenlesen derselben zu Wörtern und Sätzen. Die gedruckten oder geschriebenen Buchstaben stehen immer vor dem Auge sichtbar da, die Mundstellungen beim Sprechen lassen sich aber nicht festhalten; sie wechseln schnell und erschweren dadurch ein leichtes Auffassen. Daß es aber möglich ist, dafür liefert jede deutsche Taubstummenanstalt hinreichende Beweise. Fast alle Zöglinge lernen dies Ablesen vom Munde. Die Minderbegabten und die Schwachsichtigen natürlich in geringerem Grade als die befähigten und gut sehenden Schüler.
Das Sprechenlernen der Taubstummen ist mit dem Ablesen eng verbunden. Der kleine Schüler ahmt die Mundstellung, die Veränderungen der Zunge, der Lippen etc. nach, er sieht und fühlt an der Brust, am Kehlkopf des Lehrers die durch das Sprechen hervorgebrachten Bewegungen; er fühlt den Hauch bei der Aussprache des Lautes, und nach langen Mühen seitens des Lehrers wie des Schülers gelingt es ihm, den gleichen Laut zu bilden und zu sprechen. Ohne auf diese Aufgabe des Taubstummenunterrichts hier weiter einzugehen, kehren wir wieder zur Kunst des Ablesens vom Munde zurück.
In vielen der größeren Taubstummenanstalten werden die Schüler in sogenannten A- und B-Klassen unterrichtet. In den ersteren sitzen die Befähigteren, namentlich auch die, welche noch etwas hören können oder die erst später ertaubt sind; in den letzteren befinden sich die schwächer Begabten. Tritt nun eine mit dem Taubstummenunterricht unbekannte Person in eine A-Klasse ein, so meint sie in den ersten Augenblicken, fehlgegangen zu sein und sich nicht in einer Taubstummenschule, sondern in einer gewöhnlichen Volksschule zu befinden. Es wird keine Gebärdensprache angewendet; der Lehrer spricht zu den Kindern, die Schüler antworten. Obwohl aber alles laut geredet wird, so hört doch keiner der Schüler das Gesprochene. Auch die, welche noch etwas Gehör haben, vernehmen nichts Zusammenhängendes, sondern höchstens einzelne Worte; sie würden ja sonst die Taubstummenschule nicht besuchen. Alle Schüler sehen gespannt auf den Mund des Sprechenden und lesen dort die Worte ab, wie andere Kinder dieselben von der Wandtafel oder dem Buche ablesen. Die Pulte sind im Halbkreis so gestellt, daß die Schüler sich alle auf den Mund sehen können, und der Lehrer steht oder sitzt so, daß volles Licht auf sein Gesicht fällt. Wendet er sich nach der einen Seite, so wird ihn ein Theil der Schüler nicht verstehen – er mag noch so laut sprechen – denn sobald sie von seinem Munde nicht mehr absehen können, sind seine Worte für sie verloren. In einfachen, leicht verständlichen Sätzen werden die Kinder in biblischer Geschichte, Religion, in Heimath- und Vaterlandskunde, in Naturgeschichte, im Rechnen etc. unterrichtet. Es wird, mit Ausnahme des Gesanges, in der Taubstummenschule fast alles das getrieben, was in der Volksschule getrieben wird, wenn auch nicht in derselben Ausdehnung. Dort lernen die Kinder durch das Ohr und das Auge, hier nur durch das Auge. Kein Wunder, daß der Unterricht in der Taubstummenschule viel langsamer vorwärtsschreitet und daß manche Frage mehrfach wiederholt werden muß, ehe der Schüler sie richtig auffaßt.
Am leichtesten liest der Taubstumme vom Munde seines Lehrers und seiner Mitschüler ab, denn er ist an deren Sprechen gewöhnt. Da aber jeder scharf und deutlich Sprechende die Laute auf dieselbe Weise, also fast genau dieselben Mundstellungen bilden muß, so gewöhnt sich der kleine Schüler nach und nach an das Sprechen fremder Personen, und viele Taube erlangen eine Fertigkeit im Absehen vom Munde, die in Erstaunen setzt. Sie vermögen nicht nur Worte, Fragen und kurze Sätze abzulesen, sie verstehen auch Geschichten, die ihnen erzählt, Ansprachen, Vorträge, die ihnen gehalten werden. Natürlich ist immer dabei zu beachten, daß der Sprechende nahe steht, daß sein Gesicht gut beleuchtet ist, daß er deutlich und nicht zu schnell spricht, daß er den Kopf nicht zu sehr bewegt. In weiterer Entfernung, bei Dunkelheit, bei undeutlichem Sprechen hört die Kunst des Ablesens auf. Dagegen bildet der Bart kein besonderes Hinderniß, sobald er nicht die Lippen überdeckt.
Was nun der Taubstumme erlernen kann, das vermag der Schwerhörige oder der in spätem Alter Ertaubte auch, wenn nicht nur er, sondern auch die mit ihm Verkehrenden genug Geduld und Ausdauer haben. Es gehört lange, lange Uebung dazu, um es nur zu einiger Fertigkeit zu bringen. Wie der Taubstumme, so wird auch der Schwerhörige am leichtesten die verstehen lernen, mit denen er am meisten zu thun hat. Und hier lohnt schon ein kleiner Erfolg reichlich die aufgewandte Mühe, denn auch eine kleine Fertigkeit im Ablesen vom Munde erleichtert ungemein den Verkehr zwischen dem Leidenden und seiner Umgebung.
Wie diese Kunst zu erlernen ist, wurde bereits angedeutet. Befindet sich im Orte eine Taubstummenanstalt, so wird gewiß ein Taubstummenlehrer gern die Unterweisung übernehmen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben, wenn die nöthige Geduld vorhanden ist. Ist aber der Betreffende auf sich selbst und die Seinigen angewiesen, so studiere er zunächst im Spiegel, wie die einzelnen Laute sich bilden und welche Mundstellungen dabei vorkommen. Dann lasse er sich von befreundeten Personen, deren Sprechwerkzeuge, wozu auch die Zähne gehören, sich in gutem Zustande befinden, erst einzelne Laute, dann leichte Lautverbindungen vorsprechen und versuche dieselben abzulesen. Nun kommen Worte und kurze Sätze an die Reihe, es werden auch häufig vorkommende Redensarten etc. geübt. Ein bekannter Vers oder ein bekanntes kurzes Gedicht oder eine bekannte kleine Erzählung wird langsam vorgesprochen und der Inhalt dann abgefragt. Ohne inneren Zusammenhang werden bald vom Ende, bald vom Anfange daraus einzelne Worte, einzelne Sätze gesprochen. Später wird ein längeres Lesestück, dessen Inhalt aber dem Schwerhörigen schon bekannt ist, in ähnlicher Weise durchgenommen. Zuletzt werden auch vorher unbekannte Dinge besprochen.
So gewöhnt sich das Auge an scharfes Beobachten und lernt nach und nach die kleinen Unterschiede, die beim Sprechen sich am Munde, im ganzen Gesichte zeigen, festhalten. Entgeht ihm auch manchmal etwas, er wird den Zusammenhang errathen und immer sicherer in der Kunst des Ablesens vom Munde werden. H. E. Stötzner.
Blätter und Blüthen.
Die Calema an der westafrikanischen Küste. (Mit Abbildung S. 317.) An den Flachküsten erzeugt das Meer eine eigenartige Brandung, welche die englischen Seefahrer mit dem Namen „surf“ bezeichnen; man beobachtet sie an den „Landes“ von Biscaya, im Busen von Bengalen, an der Ostküste von Amerika und auch in unserer Nord- und Ostsee, am vollendetsten aber ist sie an dem westafrikanischen Gestade ausgebildet und heißt hier „Calema“. Sie umgiebt das Land mit einem abschreckenden Gürtel, macht oft die Landung völlig unmöglich, und die Handelshäuser, welche in Westafrika ihre Faktoreien besitzen, sind gewohnt, mit ihr als einem nothwendigen Uebel zu rechnen, das stets den Verlust eines gewissen Prozentsatzes an Waren verursacht.
Die Calema ist eine ganz merkwürdige Erscheinung und großartig, wenn sie mit stärkerer Macht auftritt. Von einem etwas erhöhten Standpunkt aus erscheint alsdann dem Beobachter das glänzende Meer von breitgeschwungenen regelmäßigen Drehungen durchzogen, welche, durch Licht und Schatten abgezeichnet und unabsehbar sich dehnend, annähernd gleich mit der mittleren Strandlinie laufen. In mächtiger, aber ruhiger Bewegung drängen aus der Ferne die Wogen an die Küste heran und werden in dem flacher werdenden Wasser höher und höher. Durch die Reibung am Boden in seinem Fortschreiten gehemmt, verwandelt sich zuletzt der langgestreckte Wellenzug in einen vollständigen Roller, der sich mit seinem vorauseilenden oberen Theile nach vorn wölbt und nahe am Strande in einem schönen Bogen überfällt. Während eines Augenblicks gleicht die Masse einem flüssigen, durchscheinenden Tunnel, im nächsten bricht sie in gewaltigem Sturze donnernd und prasselnd zusammen. Dabei werden, wie bei Explosionen, durch die im Innern eingepreßte Luft Springstrahlen und blendende Wassergarben emporgetrieben, dann wälzt sich die schäumende wirbelnde Fluth am glatten Strande hinauf, um alsbald wieder wuchtig zurückzurauschen, dem nächsten Roller entgegen.
Die Zeichnung vermag nicht die Schönheit eines solchen Anblicks wiederzugeben.
Einen besonderen Reiz gewinnt das Schauspiel, wenn heftige Windstöße, etwa bei einem losbrechenden Gewitter, den Rollern vom Lande entgegenwehen, ihre vordere Seite treffen, sie zu höherem Aufbäumen zwingen und ihre zerfetzten Kämme hinwegführen; jeder heranstürmende Wasserfall ist dann mit einer spühenden flatternden Mähne geschmückt. Von unvergleichlicher geheimnißvoller Schönheit ist aber der Anblick der Calema des Nachts, wenn das Wasser phosphoreszirt, von blitzähnlichem Leuchten durchzuckt wird, oder wenn das Licht des Vollmonds eine zauberische, in höheren Breiten unbekannte Helligkeit über dieselbe ergießt, und nicht minder des Abends, wenn die Farbengluth eines prächtigen Sonnenuntergangs im wechselnden Spiel von dem bewegten Elemente wiederglänzt.
Das Getöse, welches diese Art Brandung hervorbringt, erinnert in einiger Entfernung sowohl an das Rollen des Donners wie an das [323] Dröhnen und Prasseln eines verüberrasenden Schnellzuges, durch seine Gemessenheit aber auch an das ferne Feuer schwerer Geschütze; dazwischen wird bald ein dumpfes Brausen, bald ein helles Zischen und Schmettern hörbar. Zuweilen endet das Toben plötzlich mit einem einzigen übermächtigen Schlage und es folgt eine sekundenlange Stille. So ist es namentlich des Nachts von hohem Reize, der mannigfach wechselnden Stimme, dem großartigen Rhythmus der Calema zu lauschen.
Diese Schilderung entwerfen deutsche Forscher in dem schönen Werke „Die Loango-Expedition“. Ueber die Ursache dieser Erscheinung gehen die Meinungen auseinander. Der Mond soll auch in diesem Falle seine Hand mit im Spiele haben; am wahrscheinlichsten aber dürfte die Annahme sein, daß die Calema eine Folge der Stürme sei, welche im Süden jenseit des 40. Grades südlicher Breite so sehr toben, daß die Seefahrer jene Meeresgegenden die „brausenden Vierziger“ genannt haben. Die aufgeregten Wellen pflanzen sich im Oceane fort und brechen sich an der Flachküste in der Gestalt der Calema.
Während einer heftigen Calema kann eine Verbindung zwischen Land und Meer nur sehr mühsam, bei besonders schwerer überhaupt nicht unterhalten werden. Dennoch gewagte tollkühne Versuche enden trotz der bewundernswerthen Geschicklichkeit der eingeborenen Bootsleute nur zu oft unglücklich; gar mancher Europäer wie Afrikaner hat in der Brecherzone seinen Tod gefunden oder schwere Verletzungen davongetragen, während Güter meist verloren gehen. Selbst Seevögel, heißt es in dem Berichte der Loango-Expedition, besonders der häufig vorkommende große Tölpel (Sula capensis), ein ausgezeichneter Segler, lassen sich zuweilen in trügerische Sicherheit wiegen und fallen den überstürzenden Rollern zum Opfer; sie werden schwimmend oder fliegend erfaßt und betäubt an den Strand geworfen.
Die Calema hat auch einmal in den Gang kriegerischer Ereignisse eingegriffen, indem sie im Jahre 1879 während des Zulukrieges die Landung englischer Truppen unter General Wolseley vereitelte.
Gerade die Erfahrensten an der Küste fürchten am meisten die Calema. Wer jemals eine „gelinde Taufe“ empfing oder gar, aus dem sich überstürzenden Fahrzeuge hinausgeschleudert, auf Tod und Leben mit dem tosenden Wasserschwall gerungen hat, der wird bei stärkerer Calema nie ohne Beklemmung die Zone der Brecher durchschneiden, deren Tücken der besten Beobachtung, der vollendetsten Ruderkunst spotten. *
Litterarisches Freibeuterthum. Seit einigen Jahren besteht bekanntlich eine internationale Uebereinkunft zum Schutze von Werken der Litteratur und Kunst, durch welche den Schriftstellern beziehungsweise Künstlern in den vertragschließenden Ländern ein übereinstimmender, gleichmäßiger Rechtsschutz für ihre Werke gewährleistet wird. Leider haben sich an dieser internationalen Uebereinkunft nicht alle Kulturstaaten betheiligt.
Zu welchem Unwesen aber das Freibeutersystem führt, das zeigt uns ein Fall aus Holland, der eben zu unserer Kenntniß gekommen ist. Von dem gegenwärtig in der „Gartenlaube“ erscheinenden Roman „Flammenzeichen“ von E. Werner werden, noch ehe derselbe vollständig vorliegt, drei Uebersetzungen, zwei als Zeitungsfeuilletons, die dritte als Buchausgabe veröffentlicht, selbstverständlich ohne jede Ermächtigung[7] seitens der Verfasserin oder des Verlegers.
Uns liegt der erste Bogen der im Verlage von Holdert u. Komp. in Amsterdam erscheinenden Buchausgabe vor, welcher der Gewissenhaftigkeit des Uebersetzers ein merkwürdiges Zeugniß ausstellt. Der Titel „Flammenzeichen“ ist umgeändert in „Herbert von Falkenried“, offenbar weil der ursprüngliche Titel dem Uebersetzer unverständlich blieb; um aber kein Mißverständniß aufkommen zu lassen, ist das Wort „Flammenzeichen“ in Klammern beigesetzt. Wenn eine Buchausgabe schon mit solcher Pietät gegen die ursprüngliche Verfasserin verfährt, wie mögen erst die Zeitungsfeuilletons aussehen!
Leider geben die Gesetze kein Handhabe, um diesem Unwesen zu steuern, und es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre, daß das litterarische Eigenthum unserer Schriftsteller in dem alten „Raubstaat“ Tunis einen besseren Schutz genießt als in dem biederen Holland. =
Ein Nationaldenkmal für Bismarck. In dem Augenblick, da Fürst Bismarck aus seinen Aemtern und Würden als Kanzler des Deutschen Reichs und preußischer Ministerpräsident schied, hat sich auch der Gedanke geregt, dem großen Staatsmanne, der unser deutsches Vaterland zu dem gemacht hat, was es heute ist, als Ausdruck unverwelklicher Dankbarkeit ein Denkmal zu errichten. Hervorragende Männer aus allen Kreisen und allen Gegenden Deutschlands haben sich zusammengethan, diesen Gedanken zur Durchführung zu bringen, sie haben den Kaiser zum Protektor ihres Werkes gewonnen und wenden sich nunmehr mit einem warmen Aufruf an das deutsche Volk, das Seinige zum Gelingen des vaterländischen Unternehmens beizutragen. Es heißt in dem Aufruf:
„Der weltgeschichtliche Augenblick ist gekommen: Fürst Bismarck, der mit Kaiser Wilhelm dem Siegreichen als dessen Kanzler heldenkräftig das Deutsche Reich zusammenschmiedete, er, auf den die Völker des Erdkreises hinblicken als auf den größten Staatsmann seiner Zeit, er ist aus dem Amt geschieden, welches er ein Vierteljahrhundert hindurch mit der Erleuchtung des Genies, mit der unwiderstehlichen Macht eines gewaltigen Charakters geführt hat.
Lebhafter denn je durchglüht die deutschen Herzen in diesem Wendepunkte der Geschichte unseres Volkes das Gefühl dessen, was der Gewaltige uns gewesen, dessen, was er für uns geleistet, und die Begeisterung und Dankbarkeit, die Liebe und Verehrung von ganz Deutschland, sie ringen nach einem Ausdruck, um unseren großen Kanzler bei seinem Abschied würdig zu feiern.
Auf denn, Ihr Deutschen von Nord und Süd, vergessen sei in diesem Augenblick der Zwiespalt der Parteien, der Widerspruch der Meinungen; die Flamme reinster Dankbarkeit allein, sie lodere auf in unsern Herzen. Reichen wir uns die Hände, um dem Führer zur Einheit Deutschlands unsern Dank darzubringen. – Und wie könnte das würdiger geschehen, als dadurch, daß ihm ein Nationaldenkmal errichtet würde in der Reichshauptstadt, der Stätte seines Wirkens. Darum also, die Herzen auf, die Hände auf, gebt und bauet mit an dem Denkmal, das künftigen Geschlechtern erzählen soll von der Größe des ersten deutschen Reichskanzlers, von der tiefglühenden, unauslöschlichen Dankbarkeit des deutschen Volkes.“
Hirtenidylle. (Zu dem Bilde S. 313.) Ein Leben voll Glück und Unschuld, voll Seelenfrieden und heiteren Lebensgenusses, voll stiller Naturfreude und bedürfnißloser Genügsamkeit – das ist es, was wir uns unter einer Idylle vorstellen, und darin sind die Dichter zu allen Zeiten einig gewesen. Wohl gingen die Zeitalter und die Verkündiger ihrer Stimmungen, die Dichter, verschiedene Wege, wenn es galt, die Stätte zu suchen, wo solch eine reine Glückseligkeit, die Verkörperung der Idylle, zu finden wäre. Goethe fand sie in der einfach bürgerlichen Häuslichkeit seines „Hermann“, Voß im deutschen Landpfarrhause und Jean Paul im Leben des „Schulmeisterleins Wutz“. Aber es giebt einen Stand, der bei allen Kulturvölkern des Alterthums und der Neuzeit vorzugsweise in der Verklärung idyllischen Glückes strahlt, der Hirtenstand. Bei den Hirten weilt die Phantasie des alten Griechen Theokrit, des Vorbildes aller Idyllendichter, zu ihnen flüchten sich aus überreizter und überbildeter Umgebung die ruhebedürftigen Seelen aller Jahrhunderte.
In ihre Damon und Phyllis, ihre Seladon und Chlorinden legen sie all das, was sie in dem Kreise vermissen, in dem sie selbst leben, reine Natürlichkeit und holde Unschuld, und wenn der Geschmack der Gegenwart das durchsichtige Gewand der antiken Namen abgestreift hat, so geschah es nur, um andere Hirtennamen an ihre Stelle zu setzen – die Seppl und Resei und wie die Burschen und Dirndeln der Alm alle heißen mögen.
Eine Hirtenidylle ursprünglichster Form ist es, was unser Bild darstellt. An murmelnder Quelle im Feisenthale sitzt der Hirt, an einen Baumstamm gelehnt, und bläst auf der Syrinx eine kunstlose Weise. Seine jugendliche Gespielin lauscht den fluthenden Tönen selig versunken, im langen Blondhaar den Kranz, den ihr der Freund aus den Blumen des Thalhangs gewunden; im Hintergrunde weidet die vereinigte Herde im Sonnenglanze eines südlichen Himmelsstrichs – ein Stück Leben, von keinem Hauch der Sorge gestreift, von keinem Schatten der Leidenschaft getrübt – eine Idylle aus einer andern Welt, als die ist, auf der wir leben! =
Neues vom Spargel. Der Braunschweiger Spargel genießt mit vollem Recht seinen ausgezeichneten Ruf, denn er ist die Krone aller Spargelsorten, und schon seit geraumer Zeit bezieht man von Braunschweig Samen und Pflanzen dieses Spargels. Freilich, der Same und die Pflanze allein thun es nicht, es muß noch die richtige Pflege dazu kommen, wenn man auch anderwärts den Braunschweiger Spargel in seiner echten Vorzüglichkeit erzielen will. Vor einigen Jahren hat Dr. E. Brinckmeier in seinem „Braunschweiger Spargelbuch“ die nöthige Anleitung zum richtigen Spargelbau gegeben, und das Buch hat sich viele Freunde erworben. Nachträglich wurde es auf der vorjährigen „Internationalen Gartenbau-Ausstellung“ in Köln mit dem ersten Preis als das beste vorhandene Spargelbuch ausgezeichnet; die beste Empfehlung für dasselbe dürfte aber der „Vorwurf“ sein, den einige Braunschweiger Spargelzüchter dem Verfasser gemacht haben – der Vorwurf, daß er durch sein Buch das „Geheimniß“ der Braunschweiger Spargelzucht zum Gemeingut gemacht habe. Ein Schaden ist den Braunschweigern daraus nicht erwachsen und wird ihnen in absehbarer Zeit nicht erwachsen können; denn die Nachfrage nach Spargeln ist immer noch so groß, daß sie kaum mit der erzeugten Ware befriedigt werden kann. Bedenkt man aber, daß bei zweckmäßiger Spargelzucht ein Morgen Boden einen Reinertrag von 1400 bis 1500 Mark liefern kann, so muß die Verbreitung der richtigen Kenntnisse vom Spargelbau als ein Verdienst um das allgemeine Wohl angesehen werden.
Der Verfasser ist auch nicht müde, die Sache weiter zu verfolgen, und läßt soeben einen Nachtrag zu seinem „Braunschweiger Spargelbuch“ unter dem Titel „Neueste Erfahrungen in der Spargelzucht“ (Aug. Schröters Verlag in Ilmenau) erscheinen.
Unter den vielen wesentlichen Verbesserungen und beachtenswerthen Winken finden sich auch einige, welche für die weiteren, die Spargel essenden Kreise von Wichtigkeit sind.
Schon früher hat Brinckmeier darauf hingewiesen, daß man die Spargelschalen nicht wegwerfen, sondern dieselben rasch an der Sonne oder im Ofen trocknen solle. Man bewahrt sie alsdann für den Winter auf und kann mit ihnen Suppen und Saucen einen frischen Spargelgeschmack geben, der den des Büchsenspargels bei weitem übertrifft. Man bringt die Schale zu diesem Zweck in einen reinen Gazebeutel und läßt sie darin in der Bouillon mitkochen. Nach neueren Erfahrungen, welche das Zweckmäßige dieses Verfahrens durchaus bestätigten, empfiehlt Brinckmeier, auch den ganz dünnen, sogenannten „Suppenspargel“ in der gleichen Weise zu verwenden.
Außerdem tritt er auch für das Dörren des Spargels ein. Da dieses einfacher ist als das Einmachen in Büchsen, so dürfte es von unseren Hausfrauen gern versucht werden. Man hat früher den Spargel in der Regel ungeschält getrocknet, aber damit keine guten Erfolge erzielt, da die ganz trocken gewordene Schale das spätere Aufquellen verhinderte.
Weit besser ist es nun, den Spargel vor dem Trocknen zu schälen. Man nehme aber dazu nicht zu dünne Stangen. Man trockne ihn, nachdem er geschält, in der Sonne, auf der Herdplatte, in einem Trockenofen oder wo sich sonst Gelegenheit dazu bietet, und packe ihn, wenn er ganz zusammengetrocknet und dürr ist, in Kästen oder auch in Beutel, worin er zum Gebrauch für den Winter aufbewahrt wird. Will man ihn auf die Tafel bringen, so lege man ihn eine halbe Stunde in kaltes Wasser und lasse ihn dann kochen, bis er völlig gar ist. Zur Versendung eignet sich dieser Spargel in getrocknetem Zustande nicht, da er sein weißes Aeußere nicht völlig behält, er bringt aber eine wohlthuende Abwechselung [324] für den Familientisch zur Winterszeit und schmeckt ganz wie frischer, besser und kräftiger jedenfalls als der Büchsenspargel.
Merkwürdig ist endlich noch eine Verwendung der Spargelbeeren, die Brinckmeier empfiehlt. Er hat zwei Spargelzüchter veranlaßt, bei denjenigen Pflanzen, die nicht zur Samengewinnung dienen sollten, die Beeren zu entfernen, bevor dieselben reiften. Es sollten dadurch die Wurzeln der Pflanzen gekräftigt werden, und in der That ergab die Ernte der abgebeerten Beete viel schönere Stangen, als dies bei den nicht abgebeerten der Fall war. Die Beeren selbst aber ließ Brinckmeier trocknen und dann wie Kaffeebohnen behandeln, d. h. in einem Kaffeebrenner rösten, mahlen und mit heißem Wasser aufgießen oder besser noch eine Minute lang kochen. Dies ergab ein Getränk, dessen Geschmack und Wirksamkeit denen des echten Kaffees sehr nahe kommen, das aber jedenfalls viel zuträglicher als die Cichorie sein soll.
Wir schließen damit unsere Mittheilungen und verweisen alle, die genauer über die Einzelheiten unterrichtet werden möchten, auf das Büchlein von Brinckmeier. Das „Neue“ ist sicher beachtenswerth und es kann jedermann leicht nach dieser Richtung hin Versuche anstellen. Vielleicht gelingt es diesem oder jenem, das Verfahren noch zu verbessern, und er wird dann hoffentlich auch seine Erfahrungen zum Gemeingut machen. Namentlich was das Dörren des Spargels anbelangt, sollte man sich die Mühe nicht verdrießen lassen, dasselbe zu vervollkommnen; denn es dürfte mit der Zeit die zweckmäßigste und billigste Aufbewahrung der edlen Stangen für den Winter abgeben. *
Neue Vorlagen zum Porzellanmalen. Wer um drei Jahrzehnte zurück sieht in eine Zeit, wo auch die begabtesten Dilettanten sich mit elenden Malvorlagen behelfen mußten, der preist die heutige Jugend um des ungeheueren Fortschritts auf diesem Gebiete willen glücklich. Es giebt bereits eine Fülle künstlerisch werthvoller Farbenlithographien, und alljährlich kommen neue hinzu, jeden Zweig kunstgewerblicher Malerei mit guten Vorbildern zu versehen. Bisher waren diese reichlicher für Aquarell- und Holzmalerei vorhanden, während das Porzellanmalen ziemlich ungenügend bedacht war. Nun erschien aber neuerdings in der Fr. Bassermannschen Verlagshandlung in München ein Vorlagenwerk von Göppinger, eigens nur für Porzellantechnik, welches geradezu mustergültig genannt zu werden verdient und eines großen Erfolges sicher sein kann. In vorzüglicher, vollständig echter Farbennachbildung giebt hier der Künstler die schönsten Rokokoblumen der altsächsischen und französischen Fabriken; wir finden die wohlbekannten Tulpen- und Rosenbouquets für große Service nebst einer Menge der sogenannten „Streublümchen“ für Tassen und kleine Gegenstände. Nebenbei erörtert der Text in klarer und praktischer Weise die Farbenbereitung, die Malweise, die Veränderung der Töne durchs Brennen und schließt mit einer genauen Tabelle der Farbengebung, sodaß mittels dieser Anweisungen auch eine bisher ungeübte Hand bald die Geschicklichkeit erlangen kann, durch welche bei mäßiger Begabung etwas Erfreuliches für den Schmuck des Hauses entsteht. Größer als die Freude an dem prächtigsten gekauften Tafelgeschirr ist die über das selbst nach und nach gemalte, für welches ja heutzutage überall die Schüsseln und Teller in den echten alten Formen zu haben sind. Besonders für diejenigen unserer Leserinnen, die fern von den Mittelpunkten des Kunstgewerbes leben und keine Porzellanmalschule besuchen können, geben wir daher die Empfehlung des ausgezeichneten Werkes, dessen mäßiger Preis zudem jedem Dilettanten die Anschaffung erleichtert. Br.
Kleiner Briefkasten.
O. St. in Bern. Darüber giebt eine statistische Zusammenstellung des Aachener „Berg- und Hüttenmännischen Vereins“ Auskunft. Nach derselben wurden im Jahre 1888 in Deutschland 355706 kg Silber erzeugt gegen 326293 kg im vorhergehenden Jahre und 298466 kg um Jahre 1886 und fast das Doppelte der Silbererzeugung im Jahre 1881. Den größten Theil an der Vermehrung hatte im Jahre 1888 der Aachener Bezirk; dieselbe ist jedoch weniger auf die Zunahme der einheimischen Erzförderung als vielmehr auf die Verhüttung größerer Mengen ausländischer Silbererze zurückzuführen.
B. B. in F. Im allgemeinen haben nur die politischen Vereine die Pflicht der polizeilichen Anmeldung; um einem etwaigen Verstoße jedoch von vornherein vorzubeugen, werden Sie gut thun, sich bei der Polizeibehörde Ihres Wohnortes des Näheren über Ihre Angelegenheit zu erkundigen.
P. K. 100 in Zürich. Wir können Ihnen nur rathen, einen Rechtsanwalt in M. mit der Vertretung Ihrer Angelegenheit zu betrauen.
Alter Abonnent in Riga. Genaue Angabe der Behandlung von Kanarienvögeln, die mit Ungeziefer behaftet sind, finden Sie im Briefkasten der „Gartenlaube“ 1888, Halbheft 18.
F. Pk. in M. Schwindel, vor dem wir schon wiederholt gewarnt haben!
A. J. K. in N. Ihr Wörterbuch hat ganz recht. Es sind alle drei Formen richtig: „Mange“, „Mangel“ und „Mandel“. Doch ist die letzte am wenigsten gebräuchlich.
P. F. in Bunzlau. Der Fall steht nicht vereinzelt da. Edelsteinlatwerge war eines der vornehmsten Arzneimittel der Alten. Sie sollte trefflicher Tugenden so voll sein, daß sie beinahe einen Todten hätte wieder erwecken können. Da aber „köstliche Edelsteine“ ein sehr kostspieliges Material sind, so nahmen viele Apotheker einfach gepulvertes Glas. Es soll gerade so viel geholfen haben, als die gepulverten Edelsteine!
Br. in R/M. Das Uebel vermag nur der Arzt zu heilen, der Sie persönlich untersuchen und die Art der Krankheit feststellen kann.
Th. E. in Darmstadt. Die Unterrichtsbriefe von Toussaint-Langenscheidt sind durch jede gute Buchhandlung zu beziehen.
K. G. in N. Sie finden über Ihre Fragen Auskunft in dem Artikel „Das neue Passionsspielhaus in Oberammergau“ in Halbheft 22 des Jahrgangs 1889 der „Gartenlaube“. Danach nehmen die Passionsspiele um Pfingsten 1890 ihren Anfang und dauern bis Ende September. Der Weg von München nach Oberammergau führt zunächst mit der Bahn nach Oberau, Station der Bahn München-Partenkirchen, von Oberau ist es noch 2 Wegstunden nach Oberammergau. Ueber Wohnungs- und Verpflegungsverhältnisse giebt jedes neuere Reisehandbuch von Oberbayern Aufschluß.
P. St., Friedrichshafen. Ihre Befürchtung ist unseres Erachtens unbegründet. Die Eisenbahnverwaltungen sind nach dem Betriebsreglement verpflichtet, bei Ankunft der Züge den Namen der Station, die Aufenthaltsdauer und den etwaigen Wagenwechsel ausrufen zu lassen. Falls durch Zugverspätungen, Zugkreuzungen oder aus andern Gründen eine Verkürzung oder Verlängerung der fahrplanmäßigen Aufenthaltszeit nothwendig wird, so ist nicht diese, sondern die wirkliche nach Maßgabe der Umstände verkürzte oder verlängerte Aufenthaltszeit auszurufen.
Auflösung der Damespielaufgabe auf S. 292:
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1. D d 4 – c 3 | D a 3 – e 7 A) B) | A
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2. D c 3 – d 2 | D e 7 – d 8 a) b) c) | 1. … | D a 3 – f 8 |
3. D d 2 – e 1 | D d 8 – h 4 d) | 2. D c 3 – e 1 | D f 8 – a 3 a) b) |
4. D e 5 – b 8 | D h 4 – d 8 | 3. D e 5 – c 3 | D a 3 – f 8 c) |
5. D e 3 – g 5 | D d 8 – h 4 † | 4. D e 3 – c 5 | gewinnt. |
6. D b 8 – g 3 | gewinnt | ||
a) 2. … | D e 7 – h 4 | a) 2. … | D f 8 – h 6 |
3. D d 2 – e 1 | D h 4 – d 8 (e 7) | 3. D e 1 – d 2 | D h 6 – f 8 |
4. D e 3 – g 5 | etc. | 4. D c 5 – g 7 | etc. |
b) 2. … | D e 7 – f 8 | b) 2. … | D f 8 – e 7 |
3. D e 5 – g 7 | D f 8 – h 6 † | 3. D e 3 – g 5 | etc. |
4. D d 2 – c 1 | gewinnt. | ||
c) 2. … | D e 7 – a 3 | c) 3. … | D a 3 – c 1 |
3. D e 5 – b 2 | D a 3 – c 1 † | 4. D e 1 – d 2 | D c 1 – a 3 |
4. D e 3 – h 6 | gewinnt. | 5. D e 5 – b 2 | etc. |
d) 3. … | D d 8 – a 5 | B
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4. D e 5 – g 3 | D a 5 – d 8 | 1. … | D a 3 – c 1 |
5. D e 3 – g 5 | gewinnt. | 2. D c 3 – d 2 | etc. |
Auflösung der Aufgabe auf S. 292:
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1. Maid, Madrid. | ||
Auflösung der Arithmetischen Aufgabe auf S. 292:
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Man wähle acht Blättchen mit der Zahl 99, sieben mit der Zahl 94 und fünf mit der Zahl 88; denn | ||
8 X 99 = 792 |
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Auflösung des Verwandlungsräthsels auf S. 292:
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Wonne, Eile, Zoll, Zahn, Hase, Maler, Helm, Wette, Heer, All, Sichel – Tonne, Erle, Zola, Zaun, Hast, Maser, Hela, Weite, Herr, Aal, Sichem. | ||
Wilhelm Tell – Maria Stuart.
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Auflösung der Skataufgabe Nr. 3 auf S. 292:
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Vorhand: eZ, eO, e7, gD, gO, g9, g8, sZ, sO, s7 = 40 Mittelhand: g7, rD, rZ, rK, r9, r8, sD, sK, s9, s8 = 40 Hinterhand: eW, gW, rW, sW, rO, r7, gZ, gK, cD, cK = 40 | Die Karten waren so vertheilt: Skat: e9, e8.||||
und der Gang des Spiels folgender: | ||||
1. gD, g7, gK (– 15) | 5. | sW, sO, rK!! (+ 9)|||
2. gO, rD, gZ (– 24) | 6. | rW, g9, rZ!! (+ 12)|||
3. sD, rO, s7 (+ 14) | 7. | eK, eZ, sK (– 18)|||
4. eW, g8, r8 (+ 2) | 8. | eO. r9, cD (– 14)|||
Nach den ersten vier Stichen weiß der Gegner in Mittelhand, daß der Spieler alle Wenzel hat, und versucht durch die sogenannte Sparfinte, indem er dieselbe bereits im fünften Stich durch Werfen des rK einleitet, sich die Trumpf-Neun zu retten, um damit die Fehlfarbe (e) stechen zu können. Der Spieler fordert deshalb nicht weiter (wobei er allerdings gewonnen hätte), weil er fürchtet, daß darauf einer der Gegner sein e (tr.) abwerfen und dann auf eK, eZ die sZ wimmeln könnte. | ||||
Auflösung des Citatenräthsels auf S. 292:
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Kronen schützen nicht vor Thränen, aber sie verbergen sie.
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Auflösung der Dechiffriraufgabe auf S. 292:
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In Erinn’rung nur zu schweben, | ||||
Auflösung des Hieroglyphenräthsels auf S. 292:
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Der goldne Strahl der Frühlingssonne scheucht alle Grillen aus dem Herzen. | ||||
Auflösung des Räthsels auf S. 292:
Aufsatz, Aussatz.Auflösung des Logogryphs auf S. 292: Mekka – Mokka. Auflösung des Scherzräthsels auf S. 292: Ichneumon – Neumond. Auflösung des Anagramms auf S. 292: | ||||
1. Eisenhut, 2. Demosthenes, 3. Endlicher, 4. Lichtenstein, 5. Wereschagin, 6. Eberswalde, 7. Ingolstadt, 8. Schierling, 9. Steiermark. – Die Anfangsbuchstaben ergeben: Edelweiß. |
- ↑ Vergl. den Artikel „Die Weltpost“ im Halbh. 14 des vor. Jahrgangs der „Gartenlaube“.
- ↑ Die hier mitgetheilte Fassung des Gedichtes ist diejenige, welche Kerner selbst in Eulensteins Stammbuch schrieb. Der etwas abweichende Text in der Cottaschen Ausgabe von Kerners Ausgewählten poetischen Werken beruht auf späterer Ueberarbeitung durch den Dichter.
- ↑ 1 Dukaten etwa = 91/2 Mark.
- ↑ Derselbe legte sich im Laufe der Jahre die schönste Sammlung von Porzellangegenständen aus den von Herzog Karl gegründeten Porzellanfabriken, insbesondere der Ludwigsburger, an; der württembergische Staat erwarb später diese kostbare Sammlung.
- ↑ Etwa 20 Mark statt einer.
- ↑ Aus Anlaß seines hundertjährigen Todestages soll Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg, wo er von 1768 bis 1778 als Schullehrer und Organist wirkte und sein neues Heilverfahren zum ersten Male mit Glück an dem taubstummen Sohne eines Müllers erprobte, ein Denkmal errichtet werden.
- ↑ Der alleinige berechtigte holländische Verleger den Romane von E. Werner ist P. Gouda-Quint in Arnheim.