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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

Halbheft 9.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.

(Fortsetzung.)

Nach einem kleinen Schweigen fügte der General mit Anstrengung hinzu: „Haben Sie auch bereits darüber nachgedacht, wie – wie Sie sich künftig nennen werden?“

Wolfgang sah ihn mit gut gespieltem Erstaunen an.

„Wie ich mich nennen werde? – Ja so, Sie glauben vielleicht, daß hier zu Lande ein akademischer Titel unerläßlich sei. Nun, ich habe mir allerdings drüben ganz ordnungsmäßig meinen Doktorhut erworben, aber da man mir sagt, daß die deutschen Gerichte einiges Vorurtheil gegen amerikanische Doktoren hätten, werde ich freiwillig darauf verzichten, ihn aufzusetzen. Am Ende kommt es doch auf die Geschicklichkeit an, nicht auf den Titel, und ich habe keine Lust, wegen des alten Zopfes in einen Zwiespalt mit der wohlweisen Obrigkeit zu gerathen.“

„Sehr richtig!“ stimmte der General mit gesteigerter Artigkeit zu. „Aber es war eigentlich nicht das, was ich meinte. Ist es denn in Amerika schon etwas Gewöhnliches, Zahnärzte von altem Adel berufsmäßig thätig zu sehen?“

„Etwas Gewöhnliches gerade nicht!“ erwiderte Wolfgang heiter. „Man findet die Schiffbrüchigen aus unseren Gesellschaftskreisen dort mehr unter den Kellnern und Lohnkutschern. Aber das Ungewöhnliche kam mir eben zu statten.“

Der alte Herr rückte etwas näher, und mit einer liebenswürdigen Vertraulichkeit, wie er sie im bisherigen Verlaufe der Unterhaltung nicht gezeigt hatte, sagte er:

„Hier liegen die Dinge natürlich anders, und ich brauche wohl nicht daran zu zweifeln, daß Sie den Rücksichten auf Ihre Familie ein wenig Rechnung tragen werden. Das Adelsprädikat wenigstens dürfte Ihnen in Ihrem neuen Beruf eher lästig als förderlich sein.“

Wolfgang nahm die unverkennbare Besorgniß des Generals noch immer von der scherzhaften Seite.

„Ich kann das nicht gerade einsehen; aber ich würde auf das kleine ‚von‘ und auf meinen angestammten Freiherrntitel vielleicht wirklich kein besonderes Gewicht legen, wenn mich nicht gerade die Rücksicht auf meine Familie veranlaßte, beides beizubehalten.“

Der General lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und das verbindliche Lächeln war plötzlich ganz und gar von seinem Gesicht verschwunden.

„Sie entschuldigen, wenn ich nicht mehr das Vergnügen habe, Sie zu verstehen.“

„Aber Sie werden mir zustimmen, lieber Onkel, sobald Sie mich verstanden haben. Ich habe eine Schwester, die seit dem Tode unserer Eltern ausschließlich auf mich als auf ihren natürlichen Beistand angewiesen ist, und deren berechtigten

In Gedanken. Nach einem Gemälde von H. Greve.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

[262] Ansprüchen an das Leben ich vor allem anderen die gebührende Berücksichtigung zutheil werden lassen muß.“

„Hum! – Ja – ganz recht! – Ein allerliebster kleiner Blondkopf! – Ich erinnere mich ihrer sehr gut! Sie muß etwa in dem Alter meiner Tochter Cäcilie sein.“

„Neunzehn Jahre – und mit siebzehn Jahren hat sie sich bereits auf die eigenen Füßchen gestellt. Sie mußte es wohl, denn ich hatte ja selbst noch um meine Stellung in der Welt zu kämpfen, und es war niemand da, der ihr für das verlorene Vaterhaus einen Ersatz geboten hätte.“

Er sprach ohne alle Anzüglichkeit; aber der General hatte doch Mühe, seine Verlegenheit zu verbergen.

„Ah – was Sie sagen, lieber Wolfgangl Ich glaubte die Kleine natürlich wohl aufgehoben und gut versorgt. Wenn es so stand, warum in aller Welt hat sie sich denn niemals an mich gewendet?“

„Gestatten Sie mir, als Erwiderung darauf ihre eigenen Worte anzuführen! Auch ich richtete gestern eine ähnliche Frage an sie, und sie antwortete mir etwa: ‚Die Verwandten sind reich und ich bin arm! Ihre Sache war es darum, mich zu suchen, nicht die meinige, mich ihnen aufzudrängen‘.“

Diese freimüthige Auskunft konnte den General nicht sehr angenehm berührt haben; aber er war eben ein Mann von ausgezeichneter Erziehung.

„Meine kleine Nichte ist, wie es scheint, eine sehr charaktervolle junge Dame. Und sie hat recht, vollkommen recht. Ich werde mich beeilen müssen, ihre Vergebung zu erlangen. Das Suchen aber, lieber Wolfgang, werden Sie mir wohl ersparen!“

„Meine Schwester ist seit zwei Jahren in Berlin! Unter der feierlichen Versicherung, daß sie keine Noth zu leiden habe, verbat sie sich stets aufs nachdrücklichste jede Geldunterstützung, die ich ihr anbot, und ich konnte mich gestern durch den Augenschein überzeugen, daß sie mich nicht belogen hat. Sie leidet wirklich keine Noth, denn sie bemalt Photographien und Ballfächer für irgend ein hiesiges Geschäft.“

Der General rückte unbehaglich auf seinem Stuhl; der junge Zahnarzt aber fuhr in seiner leichten, gelassenen Weise fort:

„Daß mir eine Fortsetzung dieser ersprießlichen Thätigkeit indessen nicht erwünscht sein kann, ist wohl begreiflich! Ihre Jugend, ihre Erziehung und ihre Herkunft geben meiner Schwester ein Recht darauf, sich in der Gesellschaft zu bewegen und die Annehmlichkeiten des Daseins zu kosten. Wenn ich sie jetzt in mein Haus aufnehme, wie es doch das Nächstliegende und Natürlichste ist, so kann ich mein Adelsprädikat nicht ablegen, ohne Marie zu gleichem Verzicht zu zwingen, und ich sehe wahrhaftig keinen ausreichenden Grund, ihr ein solches Opfer zuzumuthen. Das ist es, lieber Onkel, was ich unter den Rücksichten auf meine Familie verstehe.“

„Sehr ehrenwerth und sehr brüderlich! – Aber – aber sollte sich da nicht dennoch irgend ein annehmbarer Ausweg finden lassen?“

„Ein Ausweg – ich wüßte nicht –“

„Nun, in dem Hause eines Junggesellen – und Sie sind doch unverheirathet? – ist am Ende kaum der rechte Platz für eine junge Dame. Sie bedarf des Anschlusses an eine Familie, der mütterlichen Fürsorge und Leitung. Bei der aufrichtigen Freundschaft, die mich mit meinem wackeren Vetter verband, ist es fast selbstverständlich, daß ich mit Freuden bereit bin, ihr im Kreise der Meinen ein solches Heim zu bieten. Wenn sie selber einverstanden ist, soll sie mir als liebe Hausgenossin hoch willkommen sein, und ich glaube fast, sie wird unter unserem Schutze rascher den gebührenden Platz in der Gesellschaft erhalten als unter dem Ihrigen. Muß ich Sie versichern, daß ich mit solchem Erbieten nicht bis zu dieser Stunde gewartet haben würde, wenn ich von der Lage der Dinge auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte?“

Der blonde Vollbart verbarg dem General das feine Lächeln, das für einen Augenblick um die Lippen des jungen Mannes zuckte.

„Ich bin aufs freudigste überrascht von einem so großmüthigen Beweis Ihrer verwandtschaftlichen Gefühle, lieber Onkel, und ich zweifle nicht, daß Marie diese Empfindung theilen wird. Aber ich vermuthe fast, daß Sie geneigt sind, mir eine Bedingung zu stellen.“

„Wenn es Ihnen gefällt, meiner Bitte diesen Namen zu geben – ja! Die gesellschaftlichen Beziehungen, welche mit meinem militärischen Range nothwendig verknüpft sind, legen mir, gegen meinen Willen, gewisse Rücksichten auf, und –“

„Und es verträgt sich nicht mit diesen Rücksichten, daß jeder Hoflakai sich bei einem Ihrer Verwandten künstliche Zähne machen lassen könne, vorausgesetzt, daß er imstande sei, sie zu bezahlen. Nun, ich bemerkte bereits, daß ich nur um meiner Schwester willen der Freiherr zu bleiben wünschte. Willigt Marie ein, sich unter Ihren Schutz zu stellen, so braucht meinetwegen niemand zu erfahren, daß der Zahnarzt Brenckendorf ein Neffe Seiner Excellenz des kommandierenden Generals von Brenckendorf sei. Ich würde alsdann, wenn auch natürlich mit schwerem Herzen, sogar auf das Vergnügen verzichten, Ihrer freundlichen Einladung zu häufigem Besuch Folge zu leisten, und ich würde mir nur die Ausstattung meiner Schwester mit einem angemessenen Taschengelde vorbehalten.“

Er hatte sehr ruhig und leichthin gesprochen; es war auch nicht das geringste Anzeichen des Gekränktseins in seinem Benehmen. Bei den letzten Worten war er aufgestanden, und auch der General erhob sich, um ihm mit unverkennbarer Erleichterung die Hand zu schütteln.

„Wir armen Menschen sind eben jederzeit die Sklaven der Verhältnisse,“ sagte er, „und dem bescheidensten Bürgersmann mag es leichter fallen, sich zu ihrem Herrn zu machen als uns! – Sie werden also die Güte haben, mir die Adresse Ihrer Schwester zu geben und sie in geeigneter Weise auf meinen baldigen Besuch vorzubereiten. Alles weitere muß sich dann fügen, wie die Umstände es eben gestatten. Nur wäre es vielleicht von allseitigem Vortheil, wenn meine kleine Nichte in Ihrem so lobenswerthen Entschlusse nicht gerade das Ergebniß eines zwischen uns getroffenen Abkommens erblickte. Sie verstehen mich wohl, lieber Wolfgang?“

„Vollkommen! – Und ich bin ganz Ihrer Ansicht; denn es unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, daß sie Ihre Güte unbedenklich ablehnen würde, wenn sie von dem Inhalt unseres Gespräches Kenntniß erhielte.“

Der General mochte finden, daß das etwas grob sei; aber wenn ihm eine Erwiderung auf der Zunge gelegen hatte, so schluckte er sie doch unausgesprochen hinunter. Er machte Miene, seinen Besucher hinaus zu geleiten; aber sie hatten die Thür noch nicht erreicht, als dieselbe ziemlich ungestüm von außen geöffnet wurde, um Cillys zierliche und behende Gestalt hereinschlüpfen zu lassen. Sie hatte ein allerliebstes Plüschjäckchen von sehr lebhafter blauer Farbe, das mit dem Fell des Silberfuchses besetzt war, angelegt, und ein dazu passendes Barett saß keck auf dem dunklen, kurzlockigen Köpfchen.

„Du sollst Schiedsrichter sein, Papa! Dieser unartige Dragoner, der doch selber so blau ist wie ein wandelnder Vergißmeinnichtstrauß, behauptet, die blaue Farbe stände mir entsetzlich zu Gesicht. – Ach, Verzeihungl Ich habe nicht gesehen, daß Du Besuch hast!“

In lebhafter Verwirrung wollte sie sich zurückziehen; doch Wolfgang verhinderte sie daran, indem er lächelnd sagte:

„Wer auch immer der ungalante Dragoner sein mag, liebe Cousine – ich behaupte auf jede Gefahr hin, daß er zum Schönheitsrichter gänzlich untauglich ist.“

Die junge Dame machte große Augen; der General aber der seinen Verdruß über den kleinen Zwischenfall bei aller Selbstbeherrschung nur unvollkommen zu verbergen vermochte, sagte vorstellend:

„Wolfgang von Brenckendorf – Du erinnerst Dich wohl! – Meine Tochter haben Sie ja, wie ich sehe, bereits erkannt!“

Cilly betrachtete den Vetter, der so unerwartet ins Haus geschneit war, mit einem neugierigen Blick.

„Natürlich erinnere ich mich. Er hat mich ja einmal zwei Stunden lang in die Speisekammer eingesperrt, weil ich seine Schwester Marie gekratzt haben sollte. Als mich die Tante befreite, hatte ich aus Rache einen ganzen Topf voll eingemachter Kirschen leer gegessen und war dann zwei Tage sterbenskrank. Solche Ereignisse vergißt man niemals! Aber erkannt hätte ich ihn freilich nicht!“

Vielleicht erschien dem General die Auffrischung dieser Erinnerungen aus der Kinderzeit als eine nicht ganz angemessene Vertraulichkeit, denn noch ehe Wolfgang eine Antwort geben konnte, beeilte er sich, einzuwerfen:

„Unser junger Verwandter ist vor einigen Tagen aus Amerika zurückgekehrt, weil er die Absicht hat, sich in Berlin als Zahnarzt niederzulassen.“

[263] Er hatte die Bezeichnung des Berufs unwillkürlich noch etwas stärker betont, als es wohl seine Absicht gewesen sein mochte, und um Wolfgangs Lippen zuckte wieder das vorige leicht spöttische Lächeln.

„Als Zahnarzt?“ – Cilly lachte hell auf, so daß ihr eigenes, prächtiges Gebiß elfenbeinweiß zwischen den frischen, rothen Lippen hervorschimmerte. „Das ist ja furchtbar drollig! – So werden Sie also einen Kasten vor dem Hause haben mit der Aufschrift: ‚Keine Zahnschmerzen mehr! – Und künstliche Zähne schon von zwei Mark an!‘“

„Ganz so wohlfeil werde ich es allerdings schwerlich machen – ausgenommen für meine weiblichen Verwandten, die ich selbstverständlich mit Vergnügen umsonst behandle.“

„Ich danke für das freundliche Anerbieten, und ich werde mich desselben seiner Zeit erinnern – so nach vierzig oder fünfzig Jahren. – Aber was macht Ihre Schwester? Ist sie noch immer so blond und hat sie noch immer ein so eisernes Köpfchen wie damals?“

„Wir werden an einem der nächsten Tage das Vergnügen haben, sie als Gast bei uns zu sehen,“ fiel der General ein, „da werdet Ihr Zeit genug haben, von Euren gemeinsamen Abenteuern zu plaudern.“

„Ach, das ist reizend! – Sagen Sie ihr, Vetter, daß ich mich ausnehmend darauf freue! – Aber eigentlich ist es doch komisch, daß wir uns hier so förmlich –“

„Was haben Sie, Friedrich?“ herrschte der General den eben eintretenden Diener an, und seine Stimme war ohne jeden ersichtlichen Grund mit einem Male so laut, daß sie den Schluß von Cillys Rede völlig übertönte.

„Seine Durchlaucht der Prinz Lamoral von Waldburg wünschen Excellenz seine Aufwartung zu machen,“ stotterte der Bursche in großer Bestürzung. Cilly aber stieß einen kleinen Schrei der Ueberraschung aus und flüchtete hinter den großen Schreibtisch des Vaters.

„Laß ihn um Gotteswillen nicht hier herein, Papa!“ bat sie. „Ich muß mich doch erst umziehen! Wenn er mich bei zwölf Grad Wärme in diesem winterlichen Aufzuge sieht, glaubt er ja ohne Zweifel, ich habe den Verstand verloren.“

Sie hatte den zahnärztlichen Vetter offenbar vollständig vergessen, und Wolfgang war großmüthig genug, den General aus einer peinlichen Verlegenheit zu befreien.

„Ich habe also die Ehre, mich zu empfehlen!“ sagte er rasch und verließ mit einer kleinen, unbeachteten Verbeugung gegen Cilly noch vor dem Diener das Gemach.

In dem Empfangssaal, welchen er durchschreiten mußte, sah er den Gemeldeten in strammer dienstlicher Haltung stehen. In der glänzenden, ritterlichen Uniform, mit dem blitzenden Silberhelm unter dem Arm, machte der Gardekürassier trotz seiner etwas faden und verlebten Züge und des allzu zierlich aufgesetzten Schnurrbärtchens eine Erscheinung, die immerhin geeignet war, blendend und bestechend auf das Herz eines jungen Mädchens zu wirken. Seine ausdruckslosen, wässerig blauen Augen glitten über die Gestalt des ihm unbekannten Civilisten hinweg, als wäre statt desselben nur ein Schatten durch das Zimmer gewandelt, und Wolfgang sah sich nicht veranlaßt, den Bann dieser fürstlichen Unnahbarkeit zu durchbrechen.

Er hatte den Vorplatz bereits erreicht, als ihm raschen Schrittes der älteste Sohn des Hauses nacheilte.

„Wie, Du willst gehen, ohne mir auch nur die Hand zu drücken? – Ist das freundschaftlich, mein alter Junge?“

Mit einem freudigen Aufleuchten in den Zügen wandte sich Wolfgang nach ihm um; aber er zögerte geflissentlich, in die dargebotene Rechte einzuschlagen.

„Entschuldige, lieber Lothar, aber Du weißt wohl noch nicht, daß ich so tief gesunken bin, ein Zahnarzt zu werden?“

Verständnißlos sah ihm der Regierungsassessor ins Gesicht.

„Nun – und –? – Ist das nicht dasselbe, als wenn Du Staatssekretär der Vereinigten Staaten geworden wärest? Hat das irgend etwas mit unserer alten Freundschaft zu schaffen?“

„Na, ganz dasselbe ist es ja vielleicht nicht; aber wenn Du wirklich findest, daß das mit unserer Freundschaft nichts zu schaffen hat, so laß Dich brüderlich umarmen, mein alter, ehrlicher Lothar!“

„Und Du rauchst noch eine Cigarre bei mir, nicht wahr? Keine Abhaltung kann so dringend sein, daß Du mir diese erste halbe Stunde entziehen müßtest!“

Wolfgang sah auf die Uhr.

„Begnügen wir uns für diesmal mit zwanzig Minuten! Mein Schwesterchen erwartet mich, denn sie hat mir versprochen, mit mir zu speisen!“

Er folgte dem Regierungsassessor in sein auffallend einfach ausgestattetes, mit Büchern überfülltes Zimmer, und genau zwanzig Minuten später geleitete ihn Lothar bis zur Hausthür, um sich dort mit herzlichem Händedruck von ihm zu verabschieden.

„Auf Wiedersehen also!“

„Auf baldiges Wiedersehen!“ fügte Lothar hinzu. „Und grüße mir Deine Schwester! Sie hat mich hoffentlich nicht in gar zu schlechtem Andenken behalten!“

Als Wolfgang auf die Straße hinaustrat, stand der Wagen des Prinzen mit den beiden feurigen Graditzer Hengsten, mit dem unbeweglichen, wie in Bronze gegossenen Kutscher auf dem Bock und dem glattrasierten Diener am Wagenschlage, noch immer vor dem Gartengitter der Villa.




„Also es bleibt dabei! – Entweder ich kann Sie heute noch bei der Revierpolizei anmelden, wie es sich gehört, oder Sie verlassen bis zum Abend die Wohnung!“

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, rauschte das kleine schiefe Fräulein Engelhardt aus dem Zimmer, und man konnte das Rascheln ihres Seidenkleides vernehmen, bis sie an das Ende des finsteren Ganges gelangt war, wo ihre eigene jungfräuliche Kemenate lag.

Joseph Hudetz starrte ihr unbeweglich nach, den Kopf gegen die rechte Schulter geneigt und die Krempe seines weichen Filzhutes in den Händen zerknüllend. Die ängstliche Spannung in seinen Zügen wich allgemach einem Ausdruck müder Hoffnungslosigkeit, und er sah so verfallen und greisenhaft aus wie ein Sterbender.

„Also weiter!“ murmelte er endlich. „Weiter! – Gott weiß – wohin!“

Er fing an, das Wenige, was von seinen Habseligkeiten im Zimmer umherlag, in einen kleinen, mit grauem Segelleinen überzogenen Handkoffer zu packen. Bürsten, Kämme, ein Päckchen Leibwäsche und ein Stoß beschriebener Blätter bildeten augenscheinlich seinen ganzen Besitz, und nur auf die Unterbringung der letzteren verwendete er einige Sorgfalt. Als er fertig war, ging er zur Thür und lauschte auf den Gang hinaus. Es war ganz still, und man hörte deutlich den Schlag einer Fabrikuhr, die irgendwo in der Nähe die abgelaufene Stunde anzeigte.

„Zwölf Uhr!“ sagte Hudetz vor sich hin. „Sie wird gleich herauskommen.“

Aber er mußte fast noch eine Viertelstunde lang in seiner unbequemen Stellung verharren, das Auge dicht an den schmalen Spalt der nur wenig geöffneten Thür gedrückt, ehe Marie von Brenckendorf drüben aus ihrem Zimmer trat. Er rührte sich nicht und hielt sogar den Athem an, als fürchtete er, sich durch das Geräusch desselben zu verrathen. Von seinem Platze aber wich er nicht eher, als bis er trotz der gespanntesten Aufmerksamkeit den Klang ihres leichten, auf der Treppe verhallenden Schrittes nicht mehr vernehmen konnte.

„Zum letzten Male!“ murmelte er, das Haar zurückstreichend, welches ihm wirr über die Stirn gefallen war. „Ob sie es wohl bemerken wird, wenn ich nicht mehr da bin?“

Er steckte den keinen Kofferschlüssel ein und ging, seine Habe vorläufig zurücklassend, mit den eigenthümlich lautlosen, schleichenden Schritten, die ihm zur Gewohnheit geworden waren, von dannen.

Unentschlossen blieb er eine Weile an der nächsten Straßenecke stehen; dann stieg er auf das Verdeck eines vorüberrasselnden Omnibus, der ihn bis in den äußersten Nordwesten Berlins, den sogenannten Wedding, führte. Hier in der Nachbarschaft der großen Maschinenfabriken lebt eine fast ausschließlich aus Arbeitern und kleinen Handwerkern bestehende Bevölkerung; die Häuser sind zum größten Theil gewaltige, fünfstöckige Mietskasernen, und wenn die nach der Straße gelegenen Fassaden hier und da sogar den heuchlerischen Anstrich einer gewissen Zierde und Behaglichkeit [264] haben, so grinst dafür aus jedem von den zahllosen Fenstern der himmelhohen Hinterhäuser die nackte Armuth in ihrer abstoßendsten Gestalt.

Hudetz verließ seinen hohen Sitz und ging langsam an den Häusern des Weddingplatzes und einiger benachbarter Straßen dahin. Fast über jedem Hausthor war eine Unzahl von Zetteln befestigt, auf denen Schlafstellen für Männer oder Mädchen angeboten wurden; aber nur vereinzelt fand sich die vornehmere Ankündigung, daß in dem oder dem Stockwerk ein möblirtes Zimmer zu vermiethen sei.

Wo er eine solche Ankündigung entdeckte, blieb Hudetz zaudernd stehen, musterte das Haus und seine nächste Umgebung mit ängstlich mißtrauischen Blicken und schob sich, wenn ihn nicht aus schwer zu errathenden Gründen irgend eine seiner Wahrnehmungen abschreckte, rasch und scheu in den überall unverschlossenen Thorweg hinein. Aber mit derselben müden und niedergeschlagenen Miene, mit welcher er eingetreten war, kehrte er jedesmal nach Verlauf einer sehr kurzen Zeit auf die Straße zurück. Eine unbegreifliche, räthselhafte Ursache mußte die Schuld daran tragen, daß ihm keines der angebotenen Quartiere zusagte, obwohl ihm doch große und kleine, dürftige und behagliche, wohlfeile und kostspielige gezeigt worden waren.

Der Nachmittag war weit vorgeschritten, und der Himmel, der an den Wochentagen hier überhaupt nur durch einen feinen Schleier von Dunst und Rauch zu erblicken ist, begann sich bereits mit den Schatten der Dämmerung zu verhüllen. Noch immer schlich der Suchende von Haus zu Haus; aber es stand ihm deutlich auf das blasse Gesicht geschrieben, daß er keine Hoffnung mehr auf einen Erfolg seiner Bemühungen habe. Da, an einem der ältesten, häßlichsten Häuser, denen ursprüngliche gelbe Farbe längst unter einer dicken, seit Jahrzehnten nicht mehr entfernten Schmutzkruste verschwunden war, fesselte ein neben dem Thorweg befestigter Zettel seine Aufmerksamkeit. Es war keine von den sonst üblichen, mit großen Buchstaben bedruckten Karten, wie sie die Zimmervermiether für wenige Pfennige bei den Buchbindern erstehen können, sondern ein unregelmäßiger Fetzen schlechten grauen Papiers, auf welchen eine ungelenke, zitterige Hand geschrieben hatte:

„Drei Treppen lings ist eine möhblirte Stuhbe sovort zu fermieten.“

Es war schwer zu begreifen, was gerade an dieser unorthogräphischen Anzeige für Hudetz Verlockendes sein konnte. Er las sie, ging zaudernd ein paar Schritte weiter und kehrte wieder um, um den Zettel abermals und noch genauer als zuvor zu betrachten. Er studirte die steifen Schriftzüge, als könne er sich aus ihnen ein Bild der Person entwerfen, von welcher sie herrührten, und nachdem er wohl fünf Minuten im Anschauen des abgerissenen Fetzens zugebracht hatte, ging er mit größerer Entschlossenheit als bisher in das Haus, um auf der alten, ausgetretenen Treppe, die von den schmalen Flurfenstern nur kümmerliches Licht empfing, bis in das dritte Stockwerk emporzuklimmen.

Die Glocke, deren hölzernen Griff er in Bewegung setzte, gab nur einen heiseren, klappernden Ton, und er mußte denselben noch zweimal erklingen lassen, ehe ihm geöffnet wurde.

Ein großes, hageres, starkknochiges Weib von wenigstens siebzig Jahren stand auf der Schwelle der engen, niedrigen Küche, in welche man von der Stiege aus zuerst gelangte. Ihr weißes Haar war am Hinterkopf nachlässig in einen Knoten zusammengesteckt, aber einige widerspenstige Strähne hingen wirr um das faltenreiche, finster blickende Gesicht. Die Aermel der groben Tuchjacke waren bis weit über die Ellbogen aufgestreift und entblößten zwei rothe knochige Arme, unter deren welker Haut die Adern wie fingerdicke Stränge lagen.

„Was wünschen Sie?“ fragte sie mit rauher, fast männlich tiefer Stimme, ohne dem draußen Stehenden den Eintritt freizugeben. „Ich habe nichts zu verkaufen.“

„Darum ist es mir auch nicht zu thun; aber wenn ich nicht irre, wollen Sie ein Zimmer vermiethen.“

Die tief liegenden, dunkel umränderten Augen der Alten hefteten sich auf ihn mit einem mißtrauischen Blick.

„Ja,“ knurrte sie. „Fünf Thaler monatlich!“

„Der Preis wäre mir nicht zu hoch. Darf ich die Stube sehen?“

Ohne weiter ein Wort zu sagen, ließ sie ihn eintreten und öffnete die Thür, welche aus der Küche in das Nebengemach führte. Die Wohnung bestand augenscheinlich nur aus diesen beiden Räumen.

Obgleich das Zimmer zwei Fenster hatte, ließ sich doch bei der draußen herrschenden Dämmerung nur undeutlich erkennen, wie es mit seiner Einrichtung beschaffen war. Daß dieselbe aber derjenigen in den Gemächern des Fräulein Engelhardt noch um ein Beträchtliches nachstand, unterlag trotzdem keinem Zweifel.

„Es würde für meine Ansprüche genügen,“ sagte Hudetz, der sich vielleicht nur zum Schein umgesehen hatte. „Kann ich noch heute einziehen?“

Ein heftiger Hustenanfall hinderte die Alte, ihm sogleich zu antworten. Als sie wieder zu Athem gekommen war, meinte sie, ohne auf seine letzte Frage einzugehen:

„Die Miethe wird im voraus für den ganzen Monat bezahlt. Auf Winkelzüge und Finten lasse ich mich nicht ein. Ich bin eine arme Frau, die sich für Windbeutel und faule Zahler nicht abrackern kann.“

Er nickte mit freundlicher Zustimmung, als hätte sie ihm in der höflichsten Form ihre Bedingungen mitgetheilt.

„Das ist nur natürlich! - Sie werden sich in dieser Beziehung über mich gewiß nicht zu beklagen haben. Aber –“

„Was aber? – Ist wohl sonst etwas nicht in Ordnung?“

„Ich warte auf meine Ausweispapiere, die mir aus der Heimath zugeschickt werden sollen. Es können noch einige Tage vergehen, ehe sie eintreffen, und weil ich nicht gerne Weitläufigkeiten mit der Polizei haben möchte, wäre es mir lieb, wenn die Anmeldung bis dahin unterbliebe.“

Die Alte ließ einige Laute vernehmen, die wie ein Lachen klangen; aber es bewegte sich dabei keine Muskel in ihrem faltigen Gesicht.

„Das kenn’ ich! – Auf Ihre Papiere würd’ ich wohl bis zum dreißigsten Februar warten können. Aber das ist mir gleichgültig. Um die Polizei schere ich mich den Teufel, und wenn Sie pünktlich bezahlen, brauchen Sie sich um das andere keine grauen Haare wachsen zu lassen. – Wann wollen Sie denn Ihre Siebensachen bringen? Oder haben Sie keine?“

„Nur einen Handkoffer! – Mit Ihrer Eriaubniß stelle ich mich in einer Stunde wieder ein.“

Ehe er ging, legte er den Betrag von fünfzehn Mark in kleinen Silbermünzen auf den mit Wachsleinwand überzogenen Küchentisch. Die Frau zählte ihn nach und bestätigte mit einem stummen Kopfnicken den Empfang. Auf den Gruß aber, mit welchem Hudetz sich entfernte, hatte sie keine Erwiderung. –

Fräulein Engelhardt legte dem Auszuge ihres verdächtigen Miethers keine Schwierigkeiten in den Weg, um so weniger, als er auch hier für den ganzen Monat zahlte, obwohl er die Gastfreundschaft der kleinen schiefen Dame kaum halb so lange in Anspruch genommen hatte.

„Sie werden begreifen, daß ein alleinstehendes Mädchen sich keine Unannehmlichkeiten mit den Behörden bereiten darf,“ sagte sie wie zur Entschuldigung ihrer vorigen Schroffheit. „Es wird einer schutzlosen Dame ohnehin schwer genug gemacht, sich anständig durch die Welt zu bringen.“

Hudetz mochte dies vollkommen einsehen, denn er widersprach ihr nicht; aber es schien, als hätte er noch einen Wunsch auf dem Herzen, als wollte er ihr sehr gern irgend einen Auftrag ertheilen. Stammelnd und unsicher kamen einige Worte über seine Lippen. Als ihm Fräulein Engelhardt jedoch daraufhin mit ihren kleinen, boshaften Aeuglein neugierig ins Gesicht sah, verstummte er plötzlich und machte sich wieder an seinen Habseligkeiten zu schaffen.

Es war schon längst Abend geworden, als er abermals die klappernde Glocke seiner neuen Wohnung in Bewegung setzte. Die Wirthin mußte seinen schleichenden Schritt erkannt haben, denn sie begnügte sich diesmal, ein kurzes „Herein!“ zu rufen. Als Hudetz eintrat, saß sie vor ihrem Bett am Tische, die nackten Arme auf die Kante desselben gestützt und den grauen Kopf tief auf ein dickleibiges Buch herab geneigt, das sie jetzt hastig zuschlug, als wünschte sie nicht, den neugierigen Blick eines anderen auf die zerlesenen Blätter fallen zu sehen. Vor ihr brannte eine kleine, armselige Küchenlampe, und der Petroleumdunst derselben vereinigte sich mit dem unangenehmen Duft des schlechten Cichorienkaffees, der in einer gewaltigen Tasse dampfend neben dem Buche stand.

„Sie sollten die Thür nicht unverschlossen lassen, Frau – Frau –“

„Haberland!“ ergänzte die Alte.

[265]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Ein angenehmer Schwerenöther.
Nach einem Gemälde von M. Volkhart.

[266] „Frau Haberland – das ist in einem solchen Hause doch wohl einigermaßen bedenklich für eine schutzlose Frau.“

Sie ließ wieder jene eigenthümlichen, höhnisch kingenden Laute vernehmen, die zwischen Grunzen und Lachen die Mitte hielten.

„Bedenklich? Warum denn bedenklich? – Zu stehlen ist bei mir doch nichts! Und wenn’s etwa einem Vergnügen macht, mich todtzuschlagen – immer zu! Ich halte still, denn mit fünfundsiebzig ist man schon viel zu lange auf der Welt.“

Er wollte in sein Zimmer gehen, doch ihre rauhe Stimme hielt ihn zurück.

„Heda, wie heißen Sie denn nun eigentlich?“

„Hudetz – Joseph Hudetz.“

„Auch ein sonderbarer Name! Na, Herr Hudetz, dann setzen Sie sich mal hierher! Ich möchte noch ein paar Worte mit Ihnen reden.“

Es war etwas in ihrem Wesen, das ihm jede Möglichkeit abschnitt, ihr den Gehorsam zu verweigern. Stillschweigend stellte er seinen Koffer nieder, und da er außer dem Holzstuhl, welchen sie selbst eingenommen hatte, kein anderes geeignetes Sitzmöbel zu erspähen vermochte, kauerte er sich auf den äußersten Rand des schmalen eisernen Bettgestells.

„Sie wollen also nicht angemeldet werden?“ begann Frau Haberland. „Hm – das macht nichts! Dafür kann man mancherlei Gründe haben. Und ich melde meine Miether niemals an – niemals! Die Polizei braucht ihre Nase nicht in alles zu stecken. Und ich hasse die Polizei – ja, ich hasse sie!“

Aus ihren tiefliegenden Augen sprühte ein unheimliches Feuer, und sie schlug mit der knochigen Faust auf den Tisch, daß das Glas der Lampe erklirrte.

Hudetz verhielt sich ganz still; aber seine unscheinbare Gestalt schien immer mehr in sich zusammenzusinken.

„Na, warum reden Sie nicht?“ fuhr die Alte fort, ihn mit einem durchdringenden Blick betrachtend. „Wenn ich sage, daß ich die Polizei hasse, so habe ich darum doch noch lange keine Lust, jedes Gesindel bei mir zu beherbergen. Lassen Sie sich’s gesagt sein, Herr – wie war doch gleich Ihr Name?“

„Hudetz!“ wiederholte er zuvorkommend. „Aber, wenn ich Ihre Worte dahin verstehen soll, daß es Ihnen leid geworden ist, mir das Zimmer abgetreten zu haben –“

„Leid – warum denn? – Wen’s nicht juckt, der braucht sich nicht zu kratzen. Natürlich haben Sie schon gesessen?“

Die Frage war ganz unvermittelt und in demselben polternden Ton herausgekommen, in welchem sie alles übrige gesprochen hatte. Hudetz zuckte zusammen, als hätte man ihm hinterrücks einen Faustschlag versetzt, und seine Augen irrten scheu in alle Winkel der Küche. Aber nach einer kleinen Weile sagte er ganz leise und wie von einer unwiderstehlichen Gewalt dazu getrieben:

„Ja!“

„Hätt’s Ihnen auch nicht geglaubt, wenn Sie ‚nein‘ gesagt hätten. Ich habe einen Blick dafür. Was war’s denn – he? Fälschung wahrscheinlich oder Betrug! Denn nach was Handfestem sehen Sie doch nicht aus!“

Hudetz schüttelte den Kopf. In seinem schmalen Gesicht zuckte es und seine Hände waren in beständiger nervöser Bewegung.

„Ich wurde zu sechs Monaten Gefängniß verurtheilt wegen – wegen Diebstahls,“ stieß er hervor, an jedem Worte würgend und doch sichtlich außer stande, mit einer Lüge zu antworten.

Die Alte wiegte den Kopf hin und her. Dann wurde sie aufs neue von einem ihrer heftigen Hustenanfälle heimgesucht und sie mußte ein wenig von dem abscheulich duftenden Kaffee trinken, ehe sie wieder zu sprechen vermochte.

„Sechs Monate – hm! – Und Sie haben sie abgemacht? In Plötzensee?“

„Nein! Meine Verurtheilung erfolgte in Breslau, und dort habe ich auch die Strafe verbüßt. Ich war damals Student.“

Frau Haberland fand nichts Ueberraschendes in der letzteren Mittheilung.

„Student – ja, das kennt man, und ein armer Teufel dazu – nicht wahr? Keinen Bissen Brot im Leibe, und dabei die anderen mit den bunten Bändern schlemmen und lumpen sehen wie die – na ja –; bei mir wohnte auch ’mal so einer, vor zehn Jahren glaube ich! Er mußte im Januar mit einem dünnen Sommerröckchen laufen, weil alles beim Pfandleiher war. Kaffee und Salzkuchen und immer wieder Kaffee – und dabei bis zwei, drei Uhr nachts über den alten Schmökern. ’s war auch so ein jämmerliches Kerlchen wie Sie, und er ist natürlich in der Charité an der Auszehrung gestorben, ehe er mit seinem Studieren fertig war. Aber zu verwundern wär’s nicht gewesen, wenn er gestohlen hätte, um sich mal satt zu essen. Und übelgenommen hätt’ ich’s ihm wahrhaftig nicht.“

Es gab ein kleines Schweigen, während dessen Hudetz unruhig hin und her rückte. Dann sagte er plötzlich:

„Ich würde niemals aus Hunger gestohlen haben, Frau Haberland.“

„Nicht?“ – Sie sah ihn wieder mißtrauisch an. „Ja, warum denn sonst?“

„Ich hatte von Jugend auf eine leidenschaftliche Liebe für die bildende Kunst. Hätte ich auch nur die geringste Begabung besessen, so wäre ich ohne Zweifel ein Maler geworden. So aber wollte ich wenigstens das Studium der Kunst und ihrer Geschichte zu meiner Lebensaufgabe machen. Es ist mir schwer geworden, dahin zu gelangen – sehr schwer, denn ich war bettelarm. Aber ich konnte doch endlich die Universität beziehen, und wenn es mir da auch nicht besser erging als dem Studenten, von welchem Sie sprachen, so war ich doch sehr glücklich – wahrhaftig, es war bei Hunger und Noth die glücklichste Zeit meines Lehens. Man bemerkte meinen Eifer und war sehr gütig gegen mich. Nicht nur die öffentlichen Sammlungen durfte ich zu einer Zeit besuchen, wo sie andern verschlossen waren, sondern auf die Empfehlung des Professors hin gestattete mir auch ein reicher Privatmann die Benutzung seiner kostbaren Schätze an seltenen Radirungen und Stichen. Und ich hatte das Unglück, mich in einige dieser Blätter zu verlieben.“

Die Alte hatte seiner leisen, eintönigen Erzählung, die ihr zu weitläufig scheinen mochte, mit unverhohlenem Mißvergnügen zugehört. Nun aber fiel sie ihm schroff in die Rede.

„Schwatzen Sie doch keinen Unsinn! Ich weiß nicht, was Stiche und Radirungen sind; aber daß man sich nicht in Blätter verlieben kann, wenigstens nicht, wenn man seine gesunden fünf Sinne hat, weiß ich am Ende doch!“

„Vielleicht war ich wirklich nicht ganz bei Sinnen,“ sagte er, immer in das röthliche Flämmchen der trübe brennenden Küchenlampe starrend, „wie hätte ich sonst die Erbärmlichkeit begehen können, das Vertrauen zu täuschen, das man in mich setzte, und aus bloßer Sehnsucht nach dem Besitz nicht nur das öffentliche Kupferstichkabinett, sondern auch den edlen Mann zu bestehlen, der mich in das Allerheiligste seines Hauses eintreten ließ, weil er einen rechtschaffenen Menschen zu unterstützen gedachte.“

„Na, nun hören Sie gefälligst mit den überspannten Redensarten auf, wenn man die ganze Geschichte überhaupt verstehen soll! Also Bilder sind es gewesen, nach denen Sie lange Finger gemacht haben?“

„Ja, einige Künstlerdrucke von höchster Seltenheit. Ich weiß nicht, wie ich zuerst auf den Gedanken kam, sie zu entwenden; aber ich ging umher wie im Fieber, bis es mir gelungen war, einen nach dem anderen unter meinem Rocke unbemerkt hinaus zu schaffen. Als ich sie vor mir in der Stube hatte, tanzte ich vor Freuden herum wie ein Wahnwitziger, und es kam mir gar nicht in den Sinn, daß es ein gemeines Verbrechen sei, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Ich war nur überselig in dem Bewußtsein, die unvergleichlichen Blätter mein eigen zu nennen.“

„Na ja, so geht es immer, bis das dicke Ende nachkommt. Als Sie den Krempel an den Mann bringen wollten, nahm man Sie natürlich beim Kragen – nicht wahr?“

Hudetz sah ohne Verständniß in das harte, faltige Gesicht.

„An den Mann bringen?“ wiederholte er. „Verkaufen? – Ja, ich wollte sie doch nicht verkaufen!“

„Aber was, zum Henker, wollten Sie denn sonst? Wenn man hungert und friert, stiehlt man doch nicht zum bloßen Vergnügen.“

„Ich hatte in der That keine andere Absicht als die, mich Tag für Tag und Stunde für Stunde an dem Anblick meiner Lieblinge zu weiden. Vielleicht, ja, wahrscheinlich hätte ich sie ihren rechtmäßigen Eigenthümern freiwillig zurückgebracht, sobald mir die Tragweite meiner Handlung zum Bewußtsein gekommen wäre. Aber die Justiz war schneller als mein Gewissen. Der Diebstahl wurde schon nach wenig Tagen entdeckt, und der Verdacht konnte sich auf keinen anderen lenken als auf mich. Die [267] Polizisten kamen, um Haussuchung zu halten, und sie fanden mich in das Anschauen meines Raubes versunken. Alles weitere geschah dann, wie es eben nicht anders geschehen konnte.“

„Und statt in ein Irrenhaus, wie sich’s gehört hätte, sperrte man Sie Gefängniß! Ja, ja, das ist so die Weisheit der Herren von der Polizei und vom grünen Tisch! Uebrigens könnte ich die ganze Geschichte ja ebensogut für Schwindel halten, aber ich will sie glauben, weil – na, weil ich sie eben glauben will. Sie können also meinetwegen wohnen bleiben! Das heißt – wohlverstanden! – wenn Sie pünktlich bezahlen und wenn Sie sich nicht wieder in was verlieben, das Ihnen nicht gehört! Was vorbei ist, ist vorbei! Ein Raubmörder, der seine Strafe abgesessen hat und ein anständiger Kerl werden will, ist mir lieber als ein reicher Halsabschneider oder Leuteschinder, dem keine Polizei und kein Gericht was anthut und vor dem alle Welt auf dem Bauche liegt. Aber keine neuen Streiche, das will ich mir ausgebeten haben! Uebrigens, wovon leben Sie denn eigentlich? Mit dem Studieren ist es jetzt doch wohl Essig?“

Hudetz hatte seinen Blick wieder dem schwelenden Lampendocht zugewendet, als wäre es dieser, zu dem er spräche.

„Als ich meine Strafe verbüßt hatte, wurde ich vor einen höheren Polizeibeamten geführt, und dieser eröffnete mir, daß ich innerhalb vierundzwanzig Stunden nicht nur die Stadt Breslau, sondern das Gebiet des preußischen Staates überhaupt zu verlassen habe. Ich bin ja in einem kleinen galizischen Städtchen geboren und österreichischer Staatsangehöriger. In Deutschland aber wird, wie mir der Beamte sagte, Ausländern, die wegen eines gemeinen Verbrechens bestraft sind, der Aufenthalt grundsätzlich nicht mehr gestattet. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ich wie ein Verbrecher in meine Heimath geschafft werden würde, sobald die hiesigen Behörden von meinem Dasein Kenntniß erlangten.“

„Darum also die Angst vor der Polizei! Und weshalb gehen Sie nicht freiwillig dahin, wo Sie hergekommen sind? Haben Sie denn keine Familie?“

„Meine Mutter ist längst todt; mein Vater war ein unverbesserlicher Trinker und sitzt seit Jahren halb blödsinnig im Armenhause, meine beiden älteren Schwestern, die als Dienstmädchen nach Wien gingen, sind auf schlechte Wege gerathen und längst verschollen.“

Die Alte stützte die Arme wieder auf die Tischkante und grub die knochigen Finger in das unordentliche weiße Haar. Hudetz aber fuhr fort:

„Was könnte ich in meiner elenden Vaterstadt beginnen? Ich müßte unfehlbar verhungern, denn ich tauge nicht zum Handelsmann, und für körperliche Arbeit bin ich zu schwach. Hier sammle ich Anzeigen für die Tageszeitungen und schreibe gelegentlich kleine Lokalnachrichten, die mir von den Redaktionen bezahlt werden, ohne daß man mich viel um meine Papiere und um meine Verhältnisse befragt. Aber das ist schließlich nur Nebensache. Das Wichtigste ist, daß ich mein Werk daheim in Galizien nimmermehr vollenden könnte.“

„Ihr Werk? – Was für ein Werk?“

„Einen Versuch über altniederländische Malerei, insbesondere über die Brüder van Eyck. Er wird ohnedies unvollkommen genug bleiben, was die geschichtlichen Unterlagen anbetrifft, denn ich muß ja sehr vorsichtig sein bei meinen Studien, und viele wichtige Quellen bleiben mir deshalb verschlossen. Aber die herrlichen Werke der Brüder von Maaseyck in der königlichen Gemäldegalerie sind mir doch immer zugänglich. Es achtet da niemand mit besonderer Aufmerksamkeit auf einen von den Hunderten, die sich unaufhörlich durch die Säle bewegen.“

„So? – Und wenn nun das Werk fertig ist, werden Sie dann ein ordentliches Stück Geld dafür bekommen?“

„Geld? Wohl kaum! Ich werde es vielleicht sogar auf meine eigenen Kosten drucken lassen müssen. Aber es ist mir ja auch nicht um Geld zu thun, sondern um meine Rechtfertigung – um den Beweis, daß ich kein gemeiner Verbrecher bin – um die Reinigung meines Namens!“

Seine eintönige Stimme war nicht lauter und wärmer geworden, als er dies sprach; aber in den letzten Worten zitterte etwas wie ein mühsam unterdrücktes Schluchzen. Frau Haberland sah ihn verwundert an und schüttelte den Kopf.

„Na, dann beeilen Sie sich nur mit Ihrem Werk, damit Sie’s noch erleben, daß es fertig wird! Und jetzt gehen Sie zu Bett! Es ist nicht gut für Sie, bis Mitternacht aufzusitzen.“

Er folgte dem neuen Befehl ebenso gehorsam wie ihrer vorigen Weisung. Aber als er dann bei dem flackernden Licht einer Kerze in seiner armseligen Stube stand, blickte er verwirrt umher und griff sich mit beiden Händen an die Stirn.

Was hatte er gethan! Was war über ihn gekommen, daß er sein ängstlich gehütetes Geheimniß einer wildfremden Person in der ersten Stunde der Bekanntschaft preisgegeben – daß er sich auf Gnade oder Ungnade in die Hände eines rohen, ungebildeten Weibes geliefert hatte! Wenn sie nun morgen hinging, ihn anzuzeigen, um den vorausbezahlten Zins behalten und ihr Zimmer von neuem vermiethen zu können! Ein Zittern überlief seinen Körper, als er daran dachte. Aber bei alledem fühlte er doch etwas wie eine Erleichterung, hatte er eine unbestimmte Empfindung, als ob seine Kräfte plötzlich gewachsen seien. Und die jäh aufgestiegene tödliche Angst wich ebenso schnell und unerklärlich einem Bewußtsein fast behaglicher Sicherheit, als er durch die dünne Wand den trockenen, bellenden Husten der Alten hörte.

Er legte sich nieder und seine blassen Lippen zuckten wie zu einem Lächeln. – Zum ersten Male in seinem einsamen Leben hatte er ja eine Vertraute, eine Mitwisserin seiner geheimsten Hoffnungen und Sorgen!




Schnell und angenehm, fast wie ein schöner, lebhafter Traum vergingen Marie von Brenckendorf die Stunden ihres ersten Besuches im Hause des Generals.

Der alte Herr hatte nicht gesäumt, sein Vorhaben zur Ausführung zu bringen, und es waren kaum vierundzwanzig Stunden seit seiner Unterredung mit Wolfgang verstrichen, als er die unbequemen Treppen zu Mariens Wohnung erstieg. Seine weltmännische Liebenswürdigkeit und der herzliche Ton, in welchem er sich über ihre stolze Zurückhaltung beklagte, hatten die erste, leicht begreifliche Verlegenheit der jungen Dame rasch besiegt und ihr Zutrauen gewonnen. Unbedenklich und mit einer Freudigkeit, welche vielleicht noch deutlicher, als sie es beabsichtigt hatte, verrieth, wie ihr damit nur ein lange gehegter Herzenswunsch in Erfüllung ging, hatte sie seine Einladung angenommen. Und nun war die Aufnahme, welche man ihr in dem schönen Heim an der Viktoriastraße bereitet hatte, wahrlich ganz danach angethan gewesen, all ihre Erwartungen und Hoffnungen zu übertreffen.

Der General war trotz seiner weißen Haare artig und ritterlich wie der jüngste Kavalier, und in der schwerfälligen, wortkargen Ruhe seiner wohlbeleibten Gemahlin fand Marie viel eher eine gewisse anheimelnde Gemüthlichkeit als etwas Abstoßendes und Erkältendes. Cilly aber offenbarte die ganze übersprudelnde Lustigkeit und Frische ihres sprühenden Temperaments, und ihre fröhliche Ausgelassenheit wirkte bald so ansteckend auf Marie, daß die beiden jungen Damen vertraulich lachten und scherzten, als hätten sie niemals aufgehört, im engsten verwandtschaftlichen Verkehr miteinander zu leben.

„Eigentlich ist es nicht sehr schmeichelhaft für meine Brüder, daß Du noch gar nicht nach ihnen gefragt hast,“ sagte Cilly, als sie Marie in ihr Zimmer geführt hatte, um sie die dort in reizendem Durcheinander aufgestapelte Fülle allerliebster Nichtigkeiten bewundern zu lassen. „Du und Engelbert, Ihr waret doch seinerzeit die dicksten Freunde.“

„Wirklich? Ein wie gutes Gedächtniß Du hast, liebe Cilly!“ erwiderte Marie, sehr angelegentlich ein paar zierliche Meißner Figürchen betrachtend. „Nun, ich hoffe, Deine Herren Brüder befinden sich bei guter Gesundheit.“

„Ich bedanke mich in ihrem Namen für diesen rührenden Ausdruck Deiner Theilnahme. Ja, es geht ihnen ganz gut. Engelbert steht bei den Dragonern. Er ist ein wenig gewachsen, seitdem er Dich damals bei der kleinen Ueberschwemmung über die Straße trug.“

Marie vermied es noch immer, ihrem Bäschen das Gesicht zuzuwenden.

„Und Lothar?“ fragte sie rasch. „Mein Bruder sagte mir, daß er im Begriff sei, die richterliche Laufbahn einzuschlagen.“

„Ja – leider! Es ist unbegreiflich! Und er war schon nahe daran, Landrath zu werden. Aber er läßt nicht mit sich [268] reden, in dieser Sache so wenig wie in allem andern! Im großen und ganzen ist er da unten, wo er das Landrathsamt verwaltete, ein wenig sonderbar geworden, der gute Lothar! Nun, Du wirst ihn ja heute noch wiedersehen; aber ich wette, daß Engelbert Dir hundertmal besser gefällt als er!“

„Ist es gestattet, darin zu blättern?“ warf Marie ein, auf ein Album mit Photographien deutend, das ihr als Ablenkungsmittel für diese unaufhörlichen Hinweise auf ihren Vetter Engelbert sehr willkommen schien. Und als Cilly bereitwillig bejahte, ließ sie ihre Blicke ziemlich gleichgültig über die Bildnisse der Damen und Herren hingleiten, die ihr sammt und sonders unbekannt waren. Nur das Kabinettbildniß eines in ganzer Figur dargestellten jungen Herrn, der das kleidsame Gewand eines italienischen Edelmannes aus dem sechzehnten Jahrhundert trug, fesselte um der Schönheit und Ritterlichkeit der ganzen Erscheinung willen ihre Aufmerksamkeit.

„Ein prächtiger Kopf!“ sagte sie; „das Urbild muß sich in der Maskerade sehr gut ausgenommen haben!“

Cilly schaute ihr über die Schulter und lachte fröhlich auf.

„Das will ich meinen. – Und Du erkennst ihn nicht? – Es ist Engelbert. – Nun, er wird sich sehr geschmeichelt fühlen durch Deine Anerkennung.“

Marie blätterte rasch weiter.

„Du wirst ihm meine Aeußerung doch nicht wiederholen? Ich bitte Dich inständig, liebe Cilly, das zu unterlassen.“

„Nun ja, wenn es Dich beruhigt – meinetwegen! Uebrigens hättest Du nicht zu fürchten brauchen, daß er Dir daraufhin gleich eine Liebeserklärung machen würde. Sein Herz ist zwar entzündlich wie Sprengpulver, aber, wenn ich nicht irre, lodert es augenblicklich für ein anderes Ideal! Miß Viktoria – die Königin der Luft – hat es ihm angethan mit ihrem lang nachwehenden rothblonden Haar und ihrem Riesendoppelsaltomortale durch den halben Saal. Wie ich ihn kenne, ist er während der nächsten vier Wochen für alle anderen Pfeile aus Amors Köcher vollständig unverwundbar.“

Mit großen, verwunderten Augen sah Marie ihre Verwandte an.

„Das ist natürlich nur ein Scherz? Wenn Dein Bruder wirklich solche Neigungen hätte, würde er Dich doch wohl kaum zu seiner Vertrauten machen.“

„Und warum nicht? Wir machen uns gegenseitig kein Geheimniß aus so harmlosen Dingen.“

„Harmlos? Wenn sein Herz für eine Luftspringerin in Flammen steht?“

„Aber, liebster Schatz, wozu wäre er denn ein Lieutenant? Steckte ich in seiner Haut, ich würde es genau so machen! Man sieht’s an meinem Bruder Lothar, was für langweilige Philister aus den tugendhaften Duckmäusern werden.“

Das war in einem Tone so felsenfester Ueberzeugung gesprochen, daß Marie unwillkürlich lächeln mußte.

„Eine recht hübsche Anschauungsweise für ein junges Mädchen,“ sagte sie scherzend, „und da es wahrscheinlich nicht Deine Absicht ist, einen von den langweiligen Philistern zu heirathen, so würdest Du es also ganz natürlich finden, daß Dein Gatte mit vierwöchentlichem Wechsel Tänzerinnen und Luftkünstlerinnen seine Huldigungen dargebracht hat, ehe es ihm einfiel, sich in den Hafen der Ehe zu retten?“

Cilly schaute ein wenig nachdenklich drein; aber der alte Uebermuth lachte ihr doch rasch genug wieder aus den dunkeln Augen.

„Ich würde mich einfach gar nicht um die Vergangenheit meines Mannes kümmern,“ entschied sie mit großer Bestimmtheit.

„Da sind Deine Ansprüche allerdings bescheidener als die meinigen! Ich würde von dem Manne, dem ich mein ganzes Dasein zu eigen geben soll, nicht um ein Titelchen weniger fordern, als er von mir verlangen zu dürfen glaubt.“

„Wie lange wirst Du dann nach dem Rechten suchen müssen, arme Marie!“ meinte Cilly mit einem drolligen Ausdruck des Mitleids. „Nur im Phantasieland leben solche Männer.“

„So harre ich eben geduldig auf einen Prinzen aus diesem schönen Lande. Aber vielleicht siehst Du trotz Deiner bewundernswürdigen Weltkenntniß die Untugenden des starken Geschlechts schwärzer, als sie wirklich sind. Nanntest Du denn vorhin nicht selbst Deinen Bruder Lothar als eine rühmliche Ausnahme?“

„Ja, der!“ lachte Cilly. „Aber er ist dafür auch einer von denen, die nie eine Frau bekommen. Oder hättest Du etwa Lust, Dich seiner zu erbarmen? Es wäre wahrhaftig ein menschenfreundliches Werk!“

Diesmal wurde Marie nicht roth wie vorhin, als sie so rasch über das Bildniß ihres Vetters Engelbert hinweggegangen war, sondern sie stimmte herzlich in die lustige Neckerei ihrer Base ein. Arm in Arm verließen sie nach einer Weile das Zimmerchen, und als ihr Blick zufällig auf den Flügel traf, fragte Cilly: „Wollen wir ein wenig musiziren?“

„Ich habe seit zwei Jahren keine Taste mehr berührt, und ich müßte fürchten, mich nicht gerade mit Ruhm zu bedecken.“

„O, wir sind ja ganz unter uns! – Komm, Du begleitest mich, und ich singe einige von meinen Liedern. Du hast nicht zu besorgen, daß Dir allzu Schwieriges zugemuthet werde; denn bei Wagner bin ich noch nicht angekommen.“

Sie blätterte in ihren Musikalien und legte ein Heft von Koschats Kärntnerliedern auf den Notenständer.

„Das getraue ich mich allerdings noch vom Blatt zu spielen,“ meinte Marie nach einem kleinen Versuch, und bald tönte Cillys helle, jugendliche Stimme frisch wie Lerchengezwitscher durch den Raum.

„Es geht ja prächtig,“ sagte sie, als das erste Lied zu Ende war. „Noch eines, Mariechen?“

„Gewiß! – Es ist ein wahres Vergnügen, Dir zuzuhören.“

Sie gab ein Vorspiel und Cilly setzte ein:

„Hab di amol blos g’segen,
A Blick und ’s war aus,
Und sider der Zeit her war
Ka Ruah mehr in Haus.“

Da fiel von der offenen Thür her der kräftige Bariton einer ungeschulten, aber wohlklingenden Männerstimme ein:

„Ins Feld bin i zogen,
’s hat müassen so sein,
Denn der Kopf war für’n Kaiser,
Doch das Herz, das war dein!“

Marie hatte ihr Spiel nicht wohl mitten in der Strophe unterbrechen können; als sie jetzt aber das Köpfchen von den Noten erhob, waren ihre Wangen mit einer allerliebsten Röthe überhaucht.

„Grüß Gott, mein liebes Bäschen! – ‚Denn der Kopf war für’n Kaiser, doch das Herz, das war Dein!‘ – Könnte ich mit einer zärtlicheren Versicherung unsere alte Freundschaft erneuern?“

In liebenswürdigster Unbefangenheit war Engelbert näher getreten und streckte ihr nun die Hand entgegen, von der er rasch den weißen Handschuh abgestreift hatte. Mit einem leisen Zögern legte Marie ihre Hand hinein, und der Dragonerlieutenant fühlte das zaghafte Zurückzucken der schlanken Finger, als er sie ritterlich an seine Lippen führte. Leuchtend hingen seine Augen an ihrem lieblichen Gesicht.

„Also eine Künstlerin sind Sie geworden, Bäschen!“ fuhr er fort, da sie ihm keine Antwort gab. „Sie müssen mich gelegentlich eine Probe Ihrer Meisterschaft sehen lassen; denn ich habe wahrhaftig eine heidenmäßige Ehrfurcht vor solchen Dingen. Was malen Sie denn eigentlich? Jedenfalls doch wohl Blumen und appetitreizende Stillleben mit todten Schnepfen und angebissenen Aepfeln!“

„Ich habe überhaupt keinen Anspruch darauf, für eine Malerin zu gelten,“ erwiderte sie, ihren Blick noch immer geflissentlich auf einen der an der Wand hängenden Kupferstiche richtend, „und Wolfgang hat sehr unrecht gethan, von meinen unbedeutenden Versuchen zu sprechen.“

Zum ersten Mal hatte sie eine heiß aufsteigende Empfindung der Scham bei dem Gedanken an ihre Arbeit ums tägliche Brot. Ja, sie hatte sich für einen Augenblick versucht gefühlt, trotzig zu verleugnen, was ihr sonst eine Quelle der Genugthuung und stolzen Selbstgefühls gewesen war. Engelbert aber, den der ernste, fast herbe Ton ihrer Antwort vielleicht fürchten ließ, eine Ungeschicklichkeit begangen zu haben, glitt leicht über den peinlichen Augenblick hinweg.

„Natürlich sind Sie keine zuständige Richterin über Ihre eigenen Leistungen,“ meinte er lächelnd. „Doch muß ich freilich auf jede Gefahr hin offen bekennen, daß meine ganze Bewunderung in diesem Augenblick einer Künstlerin gilt, die größer ist als Sie [269] und als alle männlichen und weiblichen Maler von Apelles bis auf Hans Makart – der Künstlerin Natur nämlich, die aus dem kleinen, flachshaarigen Mädchen, das in meiner Erinnerung spukte, eine so wunderschöne junge Dame gemacht hat.“

Marie hätte Cilly dafür umarmen können, daß sie sie jetzt der Nothwendigkeit einer Antwort überhob.

„O, Du bist ja sehr hübsch im Zuge,“ hatte Cilly mit einem kleinen Anflug von Bosheit gerufen. „Und Miß Viktoria – die siebzehnjährige Perle aller Luftspringerinnen? Ist sie schon wieder entthront?“

Der Lieutenant zeigte nicht die mindeste Verlegenheit.

„Erinnere mich nicht an diesen Reinfall!“ sagte er heiter. „Nie wieder lasse ich mich darauf ein, das Alter einer Person zu schätzen, die sich in einer Wolke von Cigarrendampf fünfzig Fuß über meinem Haupte befindet. Die ‚Königin der Luft‘ ist seit beiläufig zwanzig Jahren die glückliche Gattin eines Virtuosen auf der freistehenden Leiter, und fünf ihrer sieben hoffnungsvollen Sprößlinge arbeiten bereits allabendlich am dreifachen Reck. Idyllisch – nicht wahr?“

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Gute Freunde.
Nach einem Gemälde von Toni Aron.


Seine Selbstverspottung klang so drollig, daß auch über Mariens Gesicht ein kleines Lächeln huschte, und Engelbert betrachtete sie noch immer viel zu aufmerksam, als daß es ihm hätte entgehen können.

„Wie ich meine Schwester kenne, hat sie ohne Zweifel bereits ihr möglichstes gethan, mich bei Ihnen anzuschwärzen,“ meinte er, „aber Sie müssen mir versprechen, ihr nur die Hälfte von allem zu glauben! Sie offenbart nämlich in der Regel in ihren Berichten über meine Schandthaten eine Phantasie, um die mancher Dichter sie beneiden könnte.“

Cilly blieb ihm die Antwort nicht schuldig, und wenn auch Marie diesmal ihre Verlegenheit viel schwerer überwand, als es dem General gegenüber der Fall gewesen war, so übte doch der heitere, neckische Plauderton, der zwischen den Geschwistern üblich war, endlich auch auf sie eine ansteckende Wirkung. Als Engelbert einige lustige Kasernengeschichten, die er mit unnachahmlichem Humor vorzutragen wußte, zum besten gab, stimmte sie ohne Zurückhaltung in Cillys munteres Lachen ein, und wenn er gelegentlich an passender oder unpassender Stelle eine Huldigung für sie mit einfließen ließ, deren kühne Vertraulichkeit sie aus jedem anderen Munde mit Entrüstung erfüllt haben würde, so war dabei in seiner liebenswürdigen Natürlichkeit so viel Einschmeichelndes und Gewinnendes, daß sie nicht die geringste Neigung fühlte, ihm zu zürnen.

„Du reitest doch auch, Marie?“ fragte Cilly mit einem ihrer unberechenbaren, plötzlichen Einfälle, als ihr Bruder eben eine ergötzliche Anekdote von der Reitbahn erzählt hatte. „Engelbert wird ohne Zweifel einen viel aufgeräumteren Kavalier abgeben, wenn er künftig bei unseren Morgenritten auch Dich an seiner Seite hat.“

Sie hatte gewiß nicht beabsichtigt, sich einer Unzartheit schuldig zu machen; aber der sorglos fröhliche Ausdruck verschwand so jäh aus Mariens Zügen, als hätte diese plötzlich wie im Lichte eines

[270] grell aufzuckenden Blitzstrahls die gähnende Tiefe des Abgrundes erkannt, der sie von diesen glücklichen, auf den sonnenbeschienenen Höhen des Lebens wandelnden Menschenkindern trennte. Sie war nahe daran gewesen, über dem behaglichen Luxus ihrer Umgebung das dürftige Stübchen im dritten Stock zu vergessen, in welches sie doch nach Verlauf weniger Stunden zurückkehren mußte. Eine wildschmerzliche Empfindung namenloser Bitterkeit, wie sie ihr gleich grausam und überwältigend kaum am Sarge des Vaters gekommen war, preßte ihr das Herz zusammen und in einem fast rauhen Ton, dessen trotzige Herbheit die ahnungslose Cilly nothwendig aufs äußerste befremden mußte, gab sie zurück:

„Nein, ich reite nicht! Man pflegt sich dergleichen in meinen Verhältnissen nicht zu gestatten!“

Das verwöhnte Töchterchen des Generals, das sich durch die unverständliche Unfreundlichkeit seines Bäschens empfindlich verletzt fühlte, verzogs schmollend die frischen Lippen und verfiel in ein hartnäckiges Schweigen. Die ausgelassene Fröhlichkeit der drei jungen Leute hatte plötzlich einen ärgerlichen Riß erhalten und Engelbert bot umsonst alle seine kleinen Künste auf, um die vorige angenehme Stimmung wiederherzustellen.

Vielleicht begrüßte darum auch er den Eintritt seines Vaters als willkommene Befreiung aus einer unbehaglichen Lage. Der General entschuldigte sich in den verbindlichsten Ausdrücken bei seiner Nichte, daß dienstliche Angelegenheiten ihn für eine Weile gehindert hätten, sich ihr zu widmen, und nach einem kurzen Geplauder von etwas gezwungenem Charakter hatte er sowohl für Engelbert als für Cilly kleine Aufträge, welche den Geschwistern keinen Zweifel lassen konnten, daß er mit Marie allein zu bleiben wünsche. Gehorsam folgten sie dem leicht verständlichen Wink.

(Fortsetzung folgt.)




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Etwas vom „Rothen Gespenst“.

Die Schriftsteller der Pariser Kommune.
Von Wilhelm Lauser.
I.

Jedermann kennt die zahlreichen Werke der Mitglieder jener niederländischen Malerfamilie Breughel, welche mit peinlicher Sorgfalt und Treue das Bauernleben ihrer Zeit, die Vorstellungen von den Martern in der Hölle, die Noth des Krieges und die Heimsuchung durch Feuersbrünste wiedergeben. Die Genauigkeit und der Fleiß, womit der einzelne alles zusammenstellte, was ihm irgend zur Beständigkeit seines Vorwurfes zu gehören schien, hat dem einen den Namen des Bauern-Breughel, dem andern denjenigen des Höllen-Breughel eingetragen und man spricht wohl auch von einem Kriegs- und Feuer-Breughel. Wäre nun die Zeit, in welcher diese Künstler lebten, so reich wie die unserige an Umwälzungen und Volksaufständen gewesen, so würden wir gewiß auch von einem Revolutions-Breughel zu reden haben und nach seinen Darstellungen etwa ermessen können, was bei solchen Erschütterungen des Staats- und Volkslebens als das stets Wiederkehrende und sich gleich Bleibende, was dagegen als Besonderheit, Ausnahme, seltsame Eigenthümlichkeit zu betrachten wäre.

Ein in solcher Art gewiß nie wiederkehrendes Beobachtungs- und Arbeitsfeld war nun vor dem Revolutions-Breughel aufgethan, der sich in den ersten Märztagen des Jahres 1871 in die soeben von der langen Belagerung erlöste französische Hauptstadt begab und etwa seine Schritte über die Boulevards nach dem Bastilleplatz lenkte. Das „heilige Paris“, dessen unbesiegbares Heldenthum Viktor Hugo vor kurzem noch so herrlich besungen hatte, bot da einen höchst unheiligen Anblick. Kaum hatten sich die Thore der Stadt geöffnet, so strömten ganze Banden hinaus, um alles bewegliche Gut in den Landhäusern an der Seine und Marne zu stehlen und fliegende Märkte mit solchen Waren der Straße entlang zu errichten: die seltsamste Beleuchtung des Märchens von der Raubsucht der deutschen Sieger.

Tausende und abertausende von Müßiggängern und Bettlern, taub für den Ruf der Geschäftsleute, welche ihre Gewölbe wieder einrichten und die Arbeit wieder aufnehmen wollten, lungerten herum, unterhielten sich mit dem bei den pariser Gassenjungen beliebten Stöpselspiel, belagerten die Schnapsbuden oder schliefen auf den Bänken, auch wohl einfach am Boden liegend, ihren Rausch aus.

Hier rückte, die Marseillaise brüllend, eine Schar der sogenannten Seinemoblots heran. Sie sollten jetzt ihre Gewehre abliefern. Das kümmerte die Tapfern freilich nicht so sehr; aber sie stießen wilde Verwünschungen gegen die Regierung des Herrn Thiers aus, welche ihnen den Tagelohn von anderthalb Franken kündigte, dem sie während der Kriegszeit ein so bequemes Nichtsthun verdankt hatten. Dort erschienen in phantastischen Aufzügen, mit Todtenkopf-Käppi, im rothen Garibaldiner Hemd, mit buntfarbigen Federbüschen, in seltsam verschnürten Röcken, die mannigfaltigsten Waffen schleppend, jene hundertnamigen Freischärler. Sie waren vom Lande, das sie während des Krieges unsicher machten, hereingekommen, um nun mit den Nationalgardisten von Montmartre und Belleville, die man während der Belagerung von Paris nie hatte vor den Feind bringen können, über die Feiglinge und Verräther zu schimpfen, die Frankreich durch die Uebergabe entehrt hätten und jetzt einer monarchischen Reaktion ausliefern wollten. Dazwischen bewegten sich Abtheilungen meist betrunkener Soldaten aller Waffengattungen, die mit dem Volk aus den Vorstädten Brüderschaft machten; feierliche Züge von Nationalgardisten, die, Trommler, Hornisten und kecke Marketenderinnen voran, zu der seit dem 24. Februar, dem Jahrestage der „Februarrevolution“, mit Immortellenkränzen und rothen Fahnen geschmückten Bastillesäule wallfahrteten, um neue Kränze daselbst niederzulegen, zu tanzen, Musik zu machen und die Redner anzuhören, die das Volk vor den Anschlägen der Verschwörer gegen die Republik in Versailles warnten und dasselbe aufforderten, die Steuern zu verweigern und die Gewehre bereit zu halten.

Noch sah man zwar hier und dort rothe Maueranschläge, welche die „Fortsetzung des Krieges“ und den „Widerstand aufs äußerste“ verlangten. Aber jetzt blieb es schon mehr den vornehmen Boulevardblättern und den Theatern überlassen, den Haß gegen die Deutschen weiter zu unterhalten. Die von den Helden von Belleville und Montmartre angeblich vor den Deutschen auf ihre Höhen hinaufgeretteten Kanonen drohten jetzt schon auf die Stadt selbst herab. Ein Maueranschlag der sogenannten „Internationalen“ erklärte, jeder Angriff gegen die Preußen würde das Volk den Monarchisten ausliefern. Und über Nacht war die allgemeine Losung verändert, sie hieß jetzt: „Es lebe die Republik.“ Eine Losung unter den obwaltenden Umständen von um so gefährlicherer Kraft, als außer dem arbeitsscheuen Gesindel und den berufsmäßigen Revolutionären, welche die Straßen beherrschten, auch viele Bessergesinnte von Mißtrauen gegen die Regierung und Kammer, die den Sitz in Versailles demjenigen in Paris vorzogen, erfüllt waren. Man mißbilligte das Weiterregieren der Herren E. Picard, J. Simon, J. Favre, die das ganze Volk durch ihre Versprechungen so schwer getäuscht hatten, und sah viel mehr bösen Willen als bloß Schwäche und Unverstand darin, daß man den volksaufwühlenden Fasching auf den Straßen und Plätzen unbehelligt ließ, aber dafür alle radikalen Blätter unterdrückte und durch die Verfügung, es sollten jetzt mit einem Male die sämmtlichen seit dem Beginne der Belagerung von Paris fälligen Miethzinse und Wechsel bezahlt werden, Hunderttausende ins Lager der Unzufriedenen trieb.

Jeder Mißgriff, jede Schwäche der Regierung aber, die Verstimmung und Entmuthigung der ruhigen Bürger, die Noth der Geschäftsleute, das Mißtrauen der überzeugten Republikaner, das beleidigte Ehrgefühl der Pariser, das Zusammenströmen von Heeren verwöhnter Müßiggänger, fremder und einheimischer Abenteurer und zuchtloser Soldaten, der Untergang jedes Ansehens der Machthaber und die Ermattung des ganzen Volkes nach dem Kriege, alles dies mochte den aufmerksamen Beobachter wohl den Sieg vorausahnen lassen, welcher der Kommune in Paris am 18. März in den Schoß fiel.

Wirkten alle Umstände zusammen, das Gelingen der grauenhaftesten und wahnwitzigsten Revolution, welche die Welt jemals [271] gesehen, erklärlich zu machen, so hatten auch zielbewußt und geschickt jene Umsturzmänner sich vorbereitet, welche nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs am 4. September beim Wettbewerb um die Regierungsmacht zu kurz gekommen waren. Wie die Republikaner das Unglück von Sedan sich zunutze gemacht und für ihre Parteizwecke verwerthet hatten, so hatten sie mit der Uebergabe von Metz gethan: sie zogen am 31. Oktober vor das Stadthaus und verlangten die Einsetzung der revolütionären Kommune. Sie hatten nach der Niederlage von Buzenval am 22. Januar einen blutigen Putsch angezettelt und endlich nach der Uebergabe der Hauptstadt den „Centralausschuß der republikanischen Verbrüderung der Nationalgarde“ gebildet, um vor aller Augen sämmtliche ordnungsfeindlichen Kräfte um sich zu sammeln.

Aber wenn der Revolutions-Breughel auch alle diese Züge in seinem Gemälde vereinigt hätte, so würde ihm doch ein wesentlicher fehlen – über dem Beginne, der Dauer und dem jammervollen Ende dieses Aufstandes, über seiner Planlosigkeit, seinen Verirrungen, Ausschreitungen und Greuelthaten würde manches ungelöste Räthsel schweben, wenn nicht neben allen andern bestimmenden und bewegenden Kräften vorzugsweise auch die Schriftsteller der Kommune ins Auge gefaßt und nach ihrem eigenthümlichen Wirken gekennzeichnet würden.

Zwar die Erwartung erwies sich sehr bald als trügerisch, daß von dieser Seite die Kommune, die sich mit einem Male im Besitze der Gewalt sah, eine bestimmte Losung, eine sichere Richtung, geistigen und sittlichen Gehalt empfangen werde. Denn die nämliche Verwirrung und Gedankenarmuth, welche die neuen Gewalthaber im Stadthause von einer Begriffsbestimmung der Kommune zur andern taumeln ließ, herrschte auch unter den Schriftstellern, die damals die Stimmführer der öffentlichen Meinung sein sollten. Und außerdem war die Zahl derjenigen Schriftsteller äußerst gering, welche es überhaupt ehrlich mit der Kommune meinten und mit vollem Herzen zu derselben standen. Der ehrlichsten einer war jedenfalls jener G. Flourens, dessen Name seit Jahresfrist bei jedem Aufstande genannt worden war und der als das Urbild jener unter den Studenten des Lateinerviertels aufgewachsenen Volksbeglücker gelten kann, die alle Völker ohne weiteres als unterdrückte Brüder, alle Fürsten als Tyrannen, die ganze Politik lediglich als eine Sache des Pulvers und der Barrikaden betrachten. Flourens hatte die tollsten Abenteuer in Polen und bei dem Aufstande der Kreter gegen die Türken mitgemacht, von den dankbaren Athenern einen Ehrenrevolver zurückgebracht, und genoß jetzt unter dem vorstädtischen Volke von Paris das Ansehen eines Heilandes und Helden. Seine politische Zurechnungsfähigkeit aber konnte man nach einem soeben von ihm veröffentlichten Werk „Das freie Paris“ ermessen, wo er ganz unbefangen erzählte, er habe nach dem Beginne des deutsch-französischen Krieges den Plan gehabt, nach Griechenland zu reisen, Athen aufzuwiegeln, den dortigen König zu verjagen, die Kreter zu befreien, mit ihnen nach Marseille zu schiffen, Marseille gleichfalls aufzuwiegeln, mit dem ganzen Süden Frankreichs zum Entsatz von Paris zu eilen, die Arbeiter von Berlin, Wien und London zum Barrikadenbau, die Spanier zur Vertreibung Prims, Garibaldi zur Besetzung Roms aufzufordern, die Preußen über den Rhein hinüber der Revolution im eigenen Land in den Rachen zu jagen und in Paris endlich die Verräther Trochu, Bazaine und Ducrot abzusetzen! So unsinnig dies ist, Flourens war der Mann, daran zu glauben. Und was kümmerte er sich jetzt darum, daß man sich im Stadthause den Kopf über unmögliche Aufgaben zerbrach? „Rache“ war die einfache Losung, die er ausgab, „Rache an den Verräthern, die das Volk an einen neuen Monarchen verkaufen wollen“! Damit zog er am 3. April zum Kampfe gegen Versailles aus und fiel, tapfer fechtend, an der Spitze seiner Legion.

In demselben Gefechte wurde von den Versaillern ein Mann gefangen genommen, der ein ebenso begeisterter Volksfreund wie Flourens, aber in allem übrigen dessen ausgesprochenes Widerspiel war: Elisée Reclus, damals schon bekannt durch treffliche Reisebücher, heute anerkannt als der bedeutendste Geograph Frankreichs. Eine Natur von idealer Reinheit, hatte er aus lauterster Menschenliebe schon in der Mitte der sechziger Jahre sich ganz der sittlichen und geistigen Hebung des Arbeiterstandes und insbesondere der Einführung des Genossenschaftswesens gewidmet, von dem man damals alles Heil erwartete; und ich hatte ihn wie seinen gleichgesinnten Bruder Elie, der erst kürzlich wieder ein sehr lehrreiches Werk über „Die Urmenschen“ herausgegeben, in so mancher Arbeiterversammlung unter dem Kaiserreiche getroffen und schätzen gelernt. Enttäuschungen mancherlei Art, namentlich auch die Wahrnehmung, daß frühere politische Freunde wie Picard und Simon ihren schönsten Worten niemals Thaten folgen ließen, hatten diese beiden edlen Schwärmer den Umsturzmännern immer näher gerückt. Beiden schien nun mit dem 10. März das Morgenroth einer neuen Weltordnung zu leuchten; und als das Zeichen zu jenem unglücklichen Ausfalle nach Versailles gegeben wurde, hielt es der schwächliche und kurzsichtige Elisée, der nie ein Gewehr getragen hatte, wie sein Bruder Elie für Pflicht, mitzumarschiren. Wie durch ein Wunder dem Tod entronnen, aber durch die grausame Behandlung während der Ueberbringung nach den Gefängnißschiffen in Brest dem Wahnsinn nahe gebracht, hatte er sich kaum wieder etwas erholt, als er sich neuerdings ganz und gar der Aufrichtung und Belehrung seiner Mitgefangenen widmete. Das Anerbieten der Gnade seitens der Regierung, wenn er verspreche, nicht mehr die Waffen gegen dieselbe zu tragen, wies er stolz zurück; und es blieb der französischen Akademie vorbehalten, später dem berühmten Schriftsteller und Gelehrten die Erlaubniß zur Rückkehr in die Heimath zu erwirken. Vielleicht fühlte sich Elie durch das Schicksal dieses seines Bruders nun doppelt verpflichtet, bei der Kommune auszuharren.

Im übrigen wollte er es, nachdem diese schon anderthalb Monate geherrscht hatte, mir gegenüber nicht Wort haben, daß nicht alles ganz gut gehe. Er billigte es sogar vollständig, daß er selbst und seine Freunde aus dem Bürgerstande von allen höheren Aemtern ausgeschlossen seien, und er fand auch die Verwaltung unter den unerfahrenen Neulingen gar nicht so übel. Meinem Einwand aber, daß die Kommune ja keine einzige der von ihr angekündigten sozialen Reformen ernstlich ausführe, begegnete er mit dem Hinweis auf die Nothwendigkeit, alle Kraft jetzt nur dem Kampfe zuzuwenden.

Das letzte Mal sah ich ihn bei der Zerstörung der Vendômesäule. Ich konnte mich nicht enthalten, ihn zu fragen, ob er als Mann der Wissenschaft und Freund der Geschichte und der Künste auch eine solche Zerstörungswuth gegen vaterländische Denkmäler billigen könne. „Allerdings,“ erwiderte mir der unverbesserliche Schwärmer, „denn das schönste Denkmal für unser Volk bleibt doch die Erklärung des Amtsblattes der Kommune, ‚daß wir fortan geschieden sind vom Militarismus, dieser blutigen Verleugnung aller Menschenrechte, und daß es eine Pflicht gewesen ist, dieses Sinnbild des Despotismus zu vernichten.‘“ Uebrigens konnte Elie Reclus der Wissenschaft noch unschätzbare Dienste leisten, da er, zum Vorstand der weltberühmten Nationalbibliothek ernannt, den unverschämten Diebstählen, die mit dem Beginne der Kommune dort begangen wurden, ein Ende machte und schließlich die ihm anvertrauten Schätze mit Lebensgefahr vor den Brandstiftern der Kommune rettete. So erfüllte es mich denn mit großer Freude, als mir noch während des Brandes von Paris die Gewißheit wurde, daß es einigen Freunden gelungen sei, Elie Reclus an einem sicheren Orte vor der Erschießung oder Gefangenschaft zu bewahren.

Ein wahrhaft tragisches Geschick vollzog sich dagegen an dem Schriftsteller August Vermorel, dem einzigen sozialistischen Denker, den die Kommune unter den Ihrigen zählte. Vermorel war wie die beiden Reclus immerdar ein echter Freund der Freiheit und unerschrockener Anwalt des Volksrechtes, aber zum Unterschiede von jenen beiden sanften Gelehrtennaturen stets ein Mann rücksichtslosen Kampfes gewesen. Nachdem er bis zur zweiten Hälfte der sechziger Jahre als Mitarbeiter der „Presse“, „Liberté“ und des „Courrier Français“ in den ersten Reihen der Gegner des Kaiserreichs gekämpft und sich zahlreiche Gefängnißstrafen und den Verlust seines Vermögens zugezogen hatte, wurde er von Rochefort einmal in offener Sitzung des Gesetzgebenden Körpers als „Spion des Kaiserreichs“ verleumdet, bloß weil er in mehreren Flugschriften dessen damalige Parteigenossen Picard, Simon und Favre als falsche Volksfreunde zu entlarven versucht hatte. Am 4. September vom Volk aus dem Gefängniß befreit, besann sich Vermorel keinen Augenblick, diese Herren, die er jetzt als Regierende vorfinden mußte, mit erneuter Heftigkeit anzugreifen, und dieselben wußten sich seiner nicht anders zu entledigen, als indem sie ihn

[272]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Tanzstunde im Grafenschloß.
Nach einem Gemälde von C. Schweninger.

[273] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [274] nach dem Aufstande vom 31. Oktober bis zum Ende der Belagerung von Paris in Untersuchungshaft steckten. In dieser unfreiwilligen Muße verfaßte er sein Buch „Die sozialistische Partei“. Aus diesem Werke nun tritt deutlich seine Ueberzeugung hervor, daß es unmöglich sei, das soziale Ideal durch eine plötzliche Volkserhebung zu verwirklichen. Auch sah Vermorel so klar als irgend ein anderer ein, daß, als ihn die Urheber des Aufstandes vom 18. März in die Kommune heranzogen, dies nur geschah, um dieser den sich zunächst darbietenden Deckmantel des Sozialismus umzuhängen. Wie mochte er aber damals seinen Berufsgenossen Arthur Ranc beneiden, der sich gleich wieder zurückziehen konnte, als er erkannt hatte, welches Gelichter jetzt im Stadthause seinen Sitz aufgeschlagen hatte!

Das Urtheil A. Rancs, „die ganze Kommune zähle nicht mehr als zwei oder drei Sozialisten, verständige, ehrbare, unterrichtete Männer mit einem Schimmer von Staatsvernunft, die übrigen gehören sämmtlich der Hefe des Volkes an, sie seien unwissend, unerfahren, ungezogen, ohne politisches Denkvermögen und sie klammern sich als geckenhafte Emporkömmlinge an die Macht an“: dieses Urtheil war auch dasjenige Vermorels. Aber auf ihm lastete eben noch Rocheforts schnöde Verdächtigung, die jetzt sein Gegner Felix Pyat in der Kommune zu wiederholen wagte; und so glaubte er, von der Kommune, so aussichtslos sie ihm von Anbeginn schien, sich nicht lossagen zu dürfen. Er bewies seine Hingebung, indem er in den ersten Kämpfen gegen die Versailler mitfocht, gegenüber der Kommune selbst aber seine Unerschrockenheit, indem er öffentlich fort und fort eine friedliche Lösung befürwortete, in den Sitzungen auf dem Stadthaus alle Ungesetzlichkeiten und insbesondere die von dem blutdürstigen Pyat vorgeschlagenen Schreckensmaßregeln und die Verfolgungen andersdenkender Schriftsteller bekämpfte. In den letzten Tagen der Kommune wurde Vermorel bald hier bald dort unter den Vertheidigern der am meisten bedrohten Barrikaden gesehen; es war, als ob er den Tod herausfordern wollte. Immer enger schloß sich der eiserne Ring um die Kämpfer. Zuletzt blieb ihnen nur noch der hochgelegene Friedhof Père-Lachaise. Hier hatte denn Vermorel noch ein letztes Mal inmitten der verzweifeltesten Kommunarden Stand gefaßt. Nochmals entsandten ihre Kanonen Zerstörung auf die von allen Seiten brennende Stadt hinab. Die Granaten der Versailler rissen fort und fort klaffende Lücken in die auf dem Leichenfelde dicht zusammengedrängten Scharen und zerschmetterten die Grabdenkmäler, hinter denen sie sich bergen wollten. Immer näher rückte von unten Gewehrfeuer und Kampfgeschrei. Da brachte man vor Vermorel die Leiche seines Freundes, des Polen Dombrowski, des früheren Befehlshabers der Kommune. Und nun ergriff er an der Bahre dieses Mannes nochmals das Wort, um mit von Zorn und Schmerz erstickter, vom Donner der Geschütze übertönter Stimme die Kommune als eine Bande von Trunkenbolden und Feiglingen, die diesen ihren Führer zuerst des Verraths beschuldigt und ihn dann im Angesicht des Feindes verlassen hätten, anzuklagen und das Andenken dieses Fremden zu preisen, der begeisterungsvoll und treu der Sache eines undankbaren Volkes gedient. Auf den Tod verwundet, wurde Vermorel wenige Augenblicke darauf gefangen genommen.

Es wäre ungerecht, mit völligem Stillschweigen den Schriftleiter des Amtsblattes der Kommune zu übergehen, Ch. Longuet, ein bemoostes Haupt von zwanzig Semestern aus dem Lateinerviertel. Derselbe galt wie Vermorel als guter Kenner der sozialen Fragen, insbesondere auch der Proudhonschen Philosophie, und er bekämpfte bis zuletzt an Vermorels Seite die besonders unsinnigen Maßnahmen der Kommune. Leider war seine Willenskraft und Arbeitslust nicht auf der Höhe seines Wissens und der Begabung, die er früher als Mitarbeiter verschiedener Blätter an den Tag gelegt hatte. Mußte er doch gelegentlich selber eingestehen, daß er das von ihm geleitete Blatt nicht einmal gelesen habe. Und wie waren gleich in den ersten Tagen der Kommune die Leser überrascht, als sie an hervorragender Stelle des Amtsblattes statt Enthüllungen über die neueste Politik der Machthaber eine Abhandlung über – Schweden und Norwegen fanden, die der bequeme Longuet einfach aus dem stehen gebliebenen Satze des Amtsblattes der frühern Regierung herüber genommen hatte!

Wahrscheinlich mehr aus Bequemlichkeit als mit Ueberlegung hatte er gleich in den ersten Tagen seinem Studienfreund Vaillant gestattet, eine lange Abhandlung im Amtsblatte zu veröffentlichen, in welcher dargethan werden sollte, die menschliche Gesellschaft habe gegen die Fürsten nur eine Pflicht, den Mord. Da dies denn doch manchen Lesern damals noch etwas zu stark erschien, so ergab sich für Longuet die verdrießliche Nothwendigkeit, selbst zur Feder zu greifen und nachträglich zu erklären, jener Aufsatz habe nur die Meinung eines einzelnen wiedergegeben, die übrigens sehr wohl aufrecht zu erhalten sei und im ganzen Alterthum, aber auch bei neueren Staatsphilosophen Geltung gehabt habe.

Was aber jenen Vaillant betrifft, so blieb zwar sein Aufsatz über den Fürstenmord die einzige schriftstellerische Leistung seines ganzen Lebens, der Mann ist jedoch nebst seinem unzertrennlichen Begleiter Aristide Rey, mit welchem er außer Paris auch die Hochschulen Heidelberg, Tübingen und Wien besucht hatte, eine für unsern Revolutions-Breughel unbedingt ins Auge zu fassende Erscheinung. Die beiden hatten sich aus den wilden nihilistischen Gedanken des Russen Bakunin, aus mißverstandenen Proudhonschen Lehren und aus Erinnerungen der ersten Revolution eine Art Weltanschauung zusammen gebraut, die im wesentlichen darauf hinaus lief, alles, was als Staat, Kirche, Gesellschaft, Ehe und Eigenthum bestehe, sei krank und unnatürlich, und die Menschheit müsse dadurch, daß man alles zerstöre, was an die Vergangenheit erinnere, Throne, Kirchen, Denkmäler, Kunstwerke und Bücher, kurz dadurch erlöst werden, daß man ein allgemeines Chaos herstelle, aus dem sich neue, gesunde Einrichtungen herausbilden würden. So war denn Rey auch keineswegs mit der Losung zufrieden, die Kommune müsse siegen, oder Paris aufhören zu bestehen; er meinte im Gegentheile, wenn die Kommune siege, dann gerade müsse Paris zerstört werden.

Bei beiden Aposteln der Zerstörung war übrigens der eigene Wille zum Leben hinreichend ausgebildet. Vaillant entfloh daher im rechten Augenblicke noch durch die deutschen Linien, während sich diejenigen, die seinen Lehren gehorcht hatten, niederschießen ließen. Von Rey werden wir noch später hören.

Der nämliche Geist der Zerstörung wie in diesen beiden verbummelten Studenten wohnte auch in dem Schriftsteller Jules Vallès, dem Verfasser des merkwürdigen Buches „Die Stellungs-Flüchtlinge“. Hier werden in ergreifendster Weise die Enttäuschungen und das Elend der vielen Unbekannten geschildert, die aus den Hörsälen in das Leben treten und nun erkennen müssen, daß ihre Begabung nicht ausreiche, ihnen Brot, geschweige denn Ruhm zu erwerben, und die sich nun, mit sich selbst und der Welt zerfallen, in unfruchtbaren Anklagen gegen die Menschen, die Gesellschaft und den Staat erschöpfen. Es ist der tiefste Brustton der Ueberzeugung, den man hier vernimmt, und man fühlt unwillkürlich, der Verfasser habe hier die Beichte seines eigenen Lebens niedergelegt. Lange Jahre hatte Vallès gejammert, unter dem Drucke des Kaiserreichs könne der Geist seine Schwingen nicht entfalten; nun war dieser aber flügellahm geblieben, auch nachdem die Freiheit gekommen war; und die Pariser Leser zogen immer noch einen angenehmen Plauderer wie Albert Wolff dem mürrischen J. Vallès vor. Das Gefühl dieser seiner Ohnmacht und des Neides auf seine glucklicheren Genossen verwandelte sich jetzt mehr und mehr in Haß gegen alles, was die Menschen sonst achteten, gegen die großen Geister der Vergangenheit, einen Homer, Dante und Molière, denen er zuruft: „Schweigt, ihr alten Pedanten! Nieder mit den Todten!“; gegen die Kunst: „Schlagt allen Standbildern die Nasen ab, zerschneidet alle Gemälde in den Museen!“; und gegen Religion und Wissenschaft. Schließlich entdeckte Vallès, 1869, sein sozialistisches Herz und er bewarb sich, allerdings wieder erfolglos, bei den Arbeitern der Vorstadt St. Antoine um einen Abgeordnetensitz. Seine wüthenden Aufruhrpredigten im „Cri du peuple“ ließen ihn endlich der Aufnahme in die Kommune würdig erscheinen, und seine Verachtung gegen Kunst und Wissenschaft empfahl ihn von selbst zur Uebernahme der – Unterrichts-Angelegenheiten. Uebrigens muß ihm zur Ehre nachgesagt werden, daß er es stets mit der verhältnißmäßig zurechnungsfähigeren Minderheit hielt und gelegentlich gegen allzu grelle Gesetzesverletzungen, gegen das Lügensystem, durch welches man das Volk täuschte, und gegen die Liederlichkeit Einspruch erhob, zu deren Sitz man die öffentlichen Gefängnisse gemacht hatte.

In letzterer Beziehung hatte sein Schüler und früherer Mitarbeiter, Gustav Maroteau, schon ein weiteres Herz. Auch er verlangte in seiner Schrift „Männer und Drahtpuppen“, mit Vallès übereinstimmend, man müsse das Unterrichtswesen umstürzen [275] und mit einem Strich alle Erinnerungen des Alterthums auslöschen: „Kommt alle, Dichter oder Maler, Gelehrte oder Schriftsteller; schlagt drein, beißt, zertrümmert, seid grausam oder ungerecht . . . was liegt daran, wenn nur der Zweck erreicht wird.“ Aber im Unterschiede von Vallès erhebt er die Liederlichkeit geradeswegs auf die Höhe eines Staatsgrundsatzes, indem er ausruft: „Ein Volk, das liederlich wird, ist in Wahrheit seiner Rettung sehr nahe. Es wird sich nach und nach von allen Vorurtheilen befreien, die man ihm auferlegt hat, und es wird durch die Verderbtheit zur Einsicht gelangen. Das Knallen der Champagnerpfröpfe gewöhnt das Ohr an das Knallen der Pistolenschüsse. Man köpft die Flaschen den Philistern unter der Nase. Eine betrunkene Dirne wird plötzlich mit ihrem Fuße dem Jahrhundert seine Schlafmütze herabstoßen.“ Politik war eigentlich nie die Sache Maroteaus gewesen, ja er sagte noch später freimüthig, dieselbe sei ihm im Grunde langweilig und verhaßt. Allein da seine Romane und Gedichte nicht einschlagen wollten, so gründete auch er, um schneller ans Ziel seines Ehrgeizes zu gelangen, ein eigenes Blatt: „La Montagne“, in welchem er durch unerhörte Rohheit seinen Lehrer Vallés und selbst den Marat der großen Revolution zu übertrumpfen suchte.




II.

Es hatte wieder jenes Treiben platzgegriffen, das Camille Desmoulins schon in seinem „Vieux Cordelier“, seinem „alten Schuster“, geschildert hat: „wenn ein Blatt leidenschaftlich ist, so sucht ein anderes wahnsinnig zu sein; man hält es für eine Schande, sich in Uebertreibung und Ueberhetzung von einem andern einholen zu lassen.“ So hatte man denn auch die Leiche des berüchtigten „Père Duchêne“ aus der großen Revolution wieder zu künstlichem Leben erweckt. Täglich wurden die Pariser aus ihrem Morgenschlafe durch das Geschrei der Ausrufer geweckt: „Der große Zorn des ‚Père Duchêne‘; er hat heute wieder einen furchtbaren Zorn, der ‚Père Duchêne‘.“ Im Tone eines Mannes aus dem niedersten Volke wurde hier unter entsetzlichen Flüchen, Schimpfworten und Zoten täglich das Blut der Feinde der Kommune gefordert und über die Noth des Volkes und die Liederlichkeit der Reichen geschimpft. Der namenlose Mann aber, der solches schrieb, bei den Weibern der Vorstädte ein blindes Vertrauen genoß und mit seinem Fluchhandwerk Tag für Tag nachweisbar seine fünfzehnhundert Franken verdiente, wurde endlich als jener Eugen Vermersch enthüllt, der sich früher als Verfasser unsauberer Romane, als Biograph und Freund von Geschöpfen der Halbwelt und als Dichter sybaritischen Lebensgenusses einen gewissen Ruf gemacht hatte.

Diesem Vermersch stand, was Feigheit und sinnlose Grausamkeit betrifft, wohl am nächsten das Kommunemitglied Felix Pyat.

Pyat, der voriges Jahr in Paris starb, ist das Urbild jener Abart von Revolutionspriestern, welche zunächst den überlieferten Sprachschatz der großen Revolution in ihren Schriften verwerthen und, wenn ein gläubiges Volk sie beim Worte nimmt, sich als alles andere eher entpuppen, denn als Männer der That oder Märtyrer einer festen Ueberzeugung.

Nachdem der früher den Orleans ergebene Zeitungsschreiber sein Glück mit etlichen Volks- und Schauerstücken gemacht hatte, in welchen die Schreckensmänner der Revolution verherrlicht, alle Tugenden den Proletariern zugeschrieben, alle Laster den Besitzenden und Adeligen aufgehalst wurden, konnte es nicht fehlen, daß ihn die Volksgunst bei der Februarrevolution in die Gesetzgebende Versammlung berief. Aber schon damals stand die Ueberzeugung seines ganzen Lebens fest, Vorsicht sei das bessere Theil der Tapferkeit; und in dem Augenblicke, da er seinen Mann stellen sollte, floh er als Weib verkleidet ins Ausland. Auch später erwachte immer in der Stunde, da es Ernst wurde, nur der alte Dramaturg in ihm, und er trug blutdürstige Monologe aus noch ungedruckten Stücken vor, wenn man eine rettende That von ihm erwartete, oder er verschwand in einer der vielen von ihm stets bereit gehaltenen Verkleidungen als Priester, Mönch oder altes Weib, sobald er angekündigt hatte, er werde für die Freiheit sterben.

Es war in der Mitte der sechziger Jahre, da erhielt ich eines Tages wie viele andere, die damals in Paris lebten, aus London unter Kreuzband einen Abdruck von Fénelons „Telemach“ zugeschickt. Als ich verwundert das Ding betrachtete, nahm ich mit einem Male wahr, daß der harmlose Text in ein schwülstiges Gebet auslief, das Pyat an „das heilige Kügelchen“ richtete, welches Ludwig Napoleon durchbohren und die Welt von diesem Tyrannen befreien werde. Der grimmige Tyrannenhasser glaubte vielleicht, mit dem Absenden dieser Schrift eine Großthat zu vollbringen; daß das Empfangen derselben irgendwem gefährlich werden könnte, kümmerte ihn weniger. So recht in seinem Fahrwasser befand sich Pyat, als er während der Belagerung von Paris aus dem sicheren Verstecke bei den Männern oder vielmehr bei den Weibern von Belleville in seinen Blättern „Combat“ und „Vengeur“ („Kampf“ und „Rächer“) gegen die Regierung hetzen und die Aufstände vom 31. Oktober und vom 22. Januar mit fachkundiger Hand veranstalten konnte. In den ersten Märztagen predigte er sodann auf den Höhen von Belleville, der Vertrag zwischen Thiers und Bismarck habe nur die Wiederherstellung des Königthums zum Zwecke und sobald die Kommune gebildet und er zum Mitgliede derselben ernannt war, erschöpfte er sich in den wahnwitzigsten Anträgen und Vorschlägen. So vertheidigte er unter anderm das Recht, Mitglieder der Kommune selbst dann zu verhaften, wenn diese die Verhaftung nicht gut heiße. Am unversöhnlichsten tobte er freilich gegen die gemäßigten Blätter, die zwar vor einigen Monaten noch gegen die Unterdrückung seines „Vengeur“ Einsprache erhoben hatten, mit denen er aber, trotzdem er allen niedrigen Leidenschaften der Menge schmeichelte, den Wettbewerb nicht auszuhalten vermochte. Als auch, zufolge echt revolutionärer Ueberlieferung, ein „Wohlfahrtsausschuß“ eingesetzt wurde, nahm er zwar anfangs seine Ernennung in denselben mit Vergnügen an, allein die Freude wurde ihm verdorben, da man gerade in dem Augenblick, als es mit der Kommune sichtlich dem Ende zuging, die Verhandlungen desselben zu veröffentlichen anfing. Bei den bedenklicheren Abstimmungen blieb er unter irgend einem Vorwand abwesend, und er mußte es sich gefallen lassen, daß ihm Vermorel in offener Sitzung vorwarf: „Seitdem gegen Ihren Willen und auf mein Andringen unsere Sitzungsberichte öffentlich geworden sind, haben Sie sich durch ein fast vollständiges Schweigen bemerklich gemacht und sich ausschließlich für die geheimen Ausschüsse aufbewahrt, wo Sie stets die unduldsamsten, gewaltthätigsten, schärfsten Maßregeln befürworteten. Zugleich zeigen Sie sich in Ihrem Blatt jetzt als Vertheidiger der Mäßigung und Versöhnung. Ihr Spiel ist leicht zu durchschauen. Sie waren einerseits auf Ihre Beliebtheit bedacht, für den Fall, daß das Volk siegrrich bliebe, und anderseits hielten Sie sich eine Hinterthür offen, um im Falle des Sieges von Versailles den Verfolgungen zu entgehen.“

Diese Vorwürfe machten denn doch auf Felix Pyat einen solchen Eindruck, daß er die erste Gelegenheit benützte, um sich durch besonders heftige Redensarten weißzuwaschen. Es that auch seinem dramaturgischen Herzen äußerst wohl, als am 30. April die Freimaurer von Paris, etwa 3000 an der Zahl, mit Ordensabzeichen, Schürzen, Schärpen, Bändern und Kreuzen unter Musikbegleitung vor dem Stadthause erschienen, auf der Ehrentreppe desselben ein weißes Banner mit der Aufschrift „Liebet Euch untereinander!“ neben den roten Fahnen der Kommune aufpflanzten und gelobten, durch ihr Erscheinen vor der Front der Versailler Truppen Versöhnung und Frieden zu erwirken. In schwungvoller Rede belobte Pyat dieselben ob ihrer edlen Absicht und feuerte sie an, wenn ihre friedlichen Versöhnungsversuche scheitern sollten, den Worten Thaten folgen zu lassen.

Noch mehr aber als die Nichtbeachtung dieses seines Mahnwortes seitens der Freimaurer, betrübte es ihn sodann, daß bei der von ihm besonders stürmisch begehrten Zerstörung der Vendômesäule auf allen jenen Theaterapparat verzichtet wurde, den er ausgesonnen hatte. Umsonst hatte er empfohlen, einen ungeheuern Misthaufen herzurichten, auf den die Säule gestürzt werden sollte. Und der alte Dramaturg klagte bitterlich, daß unser Geschlecht sich nicht mehr auf die Symbolik von 1793 verstehe: eine Familienmutter hätte den ersten Hammerschlag thun, ein Kind die Geschichte des Kaiserreichs verbrennen, das ganze französische Volk mit Friedensgeräthen dem Schauspiele anwohnen sollen!

Die letzten Tage der Kommune waren herbeigekommen, alle Besitzer von Schwefel, Phosphor und ähnlichen Erzeugnissen durch das Amtsblatt der Kommune aufgefordert, sich zu melden; Paris sollte wie einst Moskau „rostoptschinirt“[1] werden; und F. Pyat [276] drohte im Stile seiner Schauerstücke: „Ist Herr Thiers Chemiker, so wird er uns verstehen.“ Und noch rief er in seinem Blatte den eingedrungenen Versailler Truppen zu: „Ueberall Barrikaden! Nach unseren Festungsmauern unsere Häuser, nach unseren Häusern unsere Leiber! Jedes Haus wird eine Festung sein und jeder Mann ein Mann! Ihr seid in die Höhle eingedrungen, nehmt euch vor dem Löwen in Acht! Hört die Sturmglocke, den Generalmarsch, die Kanonen! Das ist sein Brüllen!“ Sprach’s und – verschwand. Man wußte lange Zeit nicht, wo er sich aufhielt, und noch heute wird darüber gestritten, in welcher Gestalt er über die Grenze kam. Bezeichnend für diesen dramaturgischen Schreckensmann aber ist vollends, daß er, obgleich später begnadigt und sogar von den Marseillern in die Kammer gewählt, noch zuletzt auf einem Dörfchen bei Paris sich versteckte, dort einen falschen Namen und, wie das Gerücht wissen will, auch gelegentlich falsche Bärte trug. Wie es scheint, hat man ihn wenigstens gut begraben; denn bis jetzt ist er nicht wieder in neuer Gestalt aufgetaucht.

Wer hätte jemals denken sollen, in der Gesellschaft solcher Mordgesellen eines Tages auch Paschal Grousset zu begegnen, dem hübschen, harmlosen jungen Mann, der, nachdem er die Medizin an den Nagel gehängt hatte, in dem Journalistencafé „Madrid“ uns immer so liebenswürdig von seinem Glück bei den Frauen vorschwadronierte und so ganz zufrieden war, wenn er wieder einmal in irgend einem republikanischen, bonapartistischen oder auch legitimistischen Blatt gegen halbwegs anständige Entlohnung ein Aufsätzchen untergebracht oder von einem Buchhändler Auftrag zur Verfertigung eines schlüpfrigen Romans erhalten hatte? Grousset erlebte zunächst seine Bekehrung zum Republikanismus, als ihn Rochefort zur Mitarbeiterschaft an seinem Blatte „La Marseillaise“ einlud. Die Lorbeeren des letzteren ließen ihn von nun an nicht mehr zur Ruhe kommen. Er ahmte den Meister nach, wie er sich räusperte und wie er spuckte. Denn warum sollte nicht auch er wie dieser reich, mächtig und berühmt werden dürfen? Das Glück begünstigte ihn auch im Anfang ganz außerordeutlich, indem es ihm den berühmten Skandal mit Peter Bonaparte und die Gelegenheit verschaffte, einen leibhaftigen Vetter des Kaisers herauszufordern und damit seinen Namen unter die Massen der Vorstädte zu bringen. Von jetzt ab hielt er sich vollends zu großen Dingen berufen. Als Rochefort die Leitung der „Marseillaise“ niederlegte, übernahm er dieselbe in kühnem Selbstvertrauen. Allein Rochefort, der als Mitglied der Septemberregierung zeigte, wie konservativ auch er sein konnte, wenn er im Besitze der Macht war, wies ihn wegen seiner Angriffe gegen die Regierung eines Tages so demüthigend zurecht, daß er es vorzog, sein Blatt aufzugeben und seine Thätigkeit während der Belagerung ganz in die aufrührerischen Klubs zu verlegen. Nach dem Krieg vergönnte er sich aber den Spaß, Rochefort zur Mitarbeiterschaft an seinem neuen Blatte „L’Affranchi“, „Der Befreite“, einzuladen. Er konnte jetzt auch den Regierungsmann spielen, und er fühlte sich auf der gesellschaftlichen Höhe eines Metternich oder Nigra, als ihm die Kommune die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten übertrug. Zu diesem hohen Amte hatte ihn freilich zunächst bloß der Umstand empfohlen, daß er stets wohlgekämmte Haare, ein zierliches Schnurrbärtchen, Handschuhe, neumodische Kleider und insbesondere eine viel bewunderte Hose, ein unübertroffenes Meisterstück des Schneiderkönigs Dusantoy, trug. Grousset selbst aber konnte seine Befugnisse nicht ernst genug nehmen. Gleich am Tage seiner Ernennung richtete er eine Note an die auswärtigen Vertreter, des Inhaltes: „Der Unterzeichnete, Mitglied der Kommune von Paris, Abgesandter für die auswärtigen Angelegenheiten, hat die Ehre, Ihnen amtlich die Bildung der kommunalen Regierung von Paris anzuzeigen. Er bittet Sie, Ihrer Regierung hiervon Kenntniß zu geben, und ergreift diese Gelegenheit, um Ihnen den Wunsch der Kommune auszudrücken, die brüderlichen Bande enger zu knüpfen, welche das Volk von Paris mit dem Volke etc. etc. verbinden. Genehmigen Sie . . .“ Zum Leidwesen Groussets blieb aber der Verkehr mit den auswärtigen Mächten ein recht bescheidener; nur einmal konnte ein Mitglied der Kommune berichten, er habe einen Gedankenaustausch mit einem Vertreter der Republik Ecuador gehabt. Immerhin hat Grousset darauf gesehen, daß seitens der Kommune nicht der diplomatische Verkehr überhaupt unmöglich gemacht werde; und als einige Tage nach seinem Amtsantritte Nationalgarden in das belgische Konsulat eingebrochen waren, um zu plündern und einen Ball zu veranstalten, setzte er es durch, daß „ein strenger Tadel im Amtsblatte gegen die Schuldigen ausgesprochen wurde“. Im übrigen wüthete Grousset in seinem Blatt unaufhörlich gegen die Klöster in Paris, die, wie er behauptete, geheime Verbindungen mit Versailles und den Sendlingen des Papstes unterhielten; und unheimlich genug lautete die amtliche Erklärung, die er gegen den Schluß der Kommune abgab, die Genfer Konvention spreche sich über die Anwendung der furchtbaren Kräfte nicht aus, welche die Wissenschaft in den Dienst der Revolution stelle.

Auch Paschal Grousset ist wie die ihm zunächst stehenden schriftstellerischen Berufsgenossen beim Untergange der Kommune mit dem Leben davongekommen. Er ist heute bei seinem dritten Namen und seiner dritten Entwicklungsstufe angelangt. Als unschuldiger Plauderer hatte er sich „Doktor Blasius“ unterzeichnet; als Kommunarde „Grousset“; jetzt schreibt er unter einem neuen Namen, wenigen bekannt, sehr gemäßigte Aufsätze in eine konservativ-republikanische Zeitung von Paris.

Diesen schriftstellerischen Größen der Kommune gegenüber befand sich ihr einstiges Vorbild, der Laternenmann Henri Rochefort, in der unbehaglichsten Lage von der Welt. Der ehemalige Spaßmacher des „Figaro“ und „Tintamarre“, der mit seiner „Lanterne“ einen unerhörten Erfolg gehabt hatte, indem er in der frechen Sprache des Pariser Gassenjungen die Tuileriengesellschaft als eine Bande von Abenteurern, Dieben und Spielern behandelte, hatte sich in der Septemberregierung und dann in der Nationalversammlung von Bordeaux als eine völlige politische Null erwiesen. Und nun mußte er vollends sehen, daß ein Grousset, ein Maroteau, ein Vermersch, ein Vallès, die er als mittelmäßige Köpfe verachtete, ihm seine Kunst, auf die Massen zu wirken, mit größtem Erfolg abgelernt hatten, so daß er mit seinem Blatte „Le Mot d’Ordre“ nicht gegen ihre Blätter aufzukommen vermochte. Der Ton, welchen er dem Bonaparte gegenüber angeschlagen hatte, paßte überdies nicht recht gegenüber seinen frühern Freunden Favre und Picard; und was wollte es besagen, wenn er gelegentlich Thiers einen Trunkenbold nannte, da der „Père Duchêne“ für denselben noch ganz andere Titel bereit hatte? Die Schlagworte der Sozialisten aber waren ihm gänzlich fremd; und so blieb ihm, wenn er sich auf der Oberfläche behaupten wollte, nichts übrig, als eben auch mit immer neuen Verhetzungen und Lügen in den Wettbewerb der Kommune-Schriftsteller einzutreten. Und wahrlich, sauer genug hat er es sich hiermit Tag für Tag werden lassen. Seine Freunde klagten bald, man könne über nichts mehr mit ihm sprechen als über die Höhe „seiner Auflage“, und mehr als einmal sah ich ihn des Abends, wenn er auf den Boulevards von Kiosk zu Kiosk ging und ängstlich bei den Zeitungsverkäuferinnen nachfragte, wie viel sie von seinem „Mot d’Ordre“ absetzten. Um seine Auflage zu heben, war ihm kein Mittel zu schlecht und abgeschmackt. Er erfand und schilderte die abscheulichsten Greuelthaten der Versailler Truppen, um die Versuche zu einer Versöhnung zu vereiteln. Von ihm ging die Anregung aus, Thiers’ bewegliche Habe einzuziehen und sein Haus dem Erdboden gleich zu machen. Seine Aufforderung, die Kirchen zu plündern, begründete er mit dem Satze, Christus sei in einem Stalle geboren, daher dürfe der einzige Schatz in Notredame bloß ein Strohbündel sein.

Das Unerhörteste aber hat er in jenen Aufsätzen geliefert, in welchen er unter dem Titel „Geheimnisse des Klosters von Picpus“ die schauderhaftesten Einzelheiten von langjähriger Einschließung von Nonnen in Käfigen, von Folterwerkzeugen, von einem Geheimgange zu einem Mönchskloster und von verscharrten menschlichen Gebeinen erzählte. Am 21. Mai endlich brachte der „Mot d’Ordre“ folgenden Abschiedsgruß an die Kommune: „Angesichts der der Presse bereiteten Lage hält es der ‚Mot d’Ordre‘ für anständig, sein Erscheinen einzustellen. Mit brüderlichem Gruße Henri Rochefort.“

Nun hatte sich in der Lage der Presse gar nichts verändert; die Kommune hatte ja längst alle unabhängigen Blätter unterdrückt. Es war also klar, daß Rochefort lediglich den Aufenthalt in Paris nicht mehr geheuer fand. Bekanntlich wurde er aber auf seiner Flucht ergriffen und vor das Kriegsgericht in Versailles gestellt; und wir wissen jetzt aus dem jüngsten Untersuchungsprozesse, der gegen ihn als Helfershelfer Boulangers geführt wurde, daß er damals auf die Frage des Richters, warum er so abscheuliche Dinge veröffentlicht habe, die er doch selber nicht [277] glauben konnte, die unumwundene Antwort gab: „Bloß, weil ich es für meine Leser brauchte!“

Erscheinungen wie die eben geschilderten eines Rochefort, Pyat, Maroteau, Vermersch und der übrigen, denen die Verführung des Volkes lediglich ein Geschäft oder Zeitvertreib ist, kehren ohne Zweifel bei allen Umwälzungen und Aufständen, wenn auch vielleicht nicht in so abstoßender Gestalt, wieder. Aber noch nie zuvor war der Revolutions-Breughel wie bei der Pariser Kommune in die Nothwendigkeit versetzt, zur Hauptgestalt seines Bildes gerade den Mann zu machen, der selber den Ursprung, die Hauptpersönlichkeiten und die Ziele des Aufstandes, sofern man von solchen sprechen kann, aufs entschiedenste mißbilligte und aufs bitterste haßte und, nachdem er zuletzt als eigentliche Seele des Aufstandes hatte gelten können, mit einem Fluch auf denselben in den freiwilligen Tod ging. Es gab nie einen abgesagteren Feind der Sozialisten, einen hochmüthigeren Verächter der Massen, einen entschiedeneren Gegner des Gedankens, den Staat in unabhängige Kommunen zu zertheilen, als den Schriftleiter des „Reveil“, Ch. Delescluze, der es vielmehr immerdar als seine Lebensaufgabe betrachtet hatte, die wahre centralistische Republik nach den Gedanken seines Abgottes, des Jakobiners Robespierre, zu gründen. In seinem Blatte hatte er nur immer Frankreich zu überzeugen gesucht, er allein sei berufen, Robespierres Werk zu krönen; für die Sozialisten aber hatte er, so leidenschaftlich er sonst die Massen zum Umsturze des Kaiserreichs und dann der ihm nicht minder verhaßten Septemberregierung aufwiegelte, nie ein gutes Wort gehabt. Im Gegentheile hatte er noch wenige Tage vor Errichtung der Kommune im Freundeskreise gegen die Sozialisten gedonnert und erklärt, man könne dieselben nur durch Flintenschüsse zur Vernunft bringen.

Nun war aber nicht bloß der 4. September, sondern auch der 10. März hingegangen und hatte ihm nicht die Macht zur Ausführung seiner Lebensaufgabe gebracht. So glaubte denn der eigensinnige alte Mann, nicht länger der verhaßten Bundesgenossenschaft von Sozialisten und Föderalisten entrathen zu sollen. Er überwand seine alte Abneigung vor den schwieligen Händen und rußigen Hemden der Arbeiter, die Verachtung gegen die Unwissenheit und Plumpheit der neuen Machthaber und schmeichelte sich bei denselben zunächst mit einer allgemeinen Zustimmungserklärung ein. Endlich in die Kommune zugelassen, ließ er es sein erstes sein, als rechtgläubiger Robespierrist alle militärischen Titelauszeichnungen, an denen doch die Kommunarden eine so kindliche Freude hatten, zu bekämpfen und insbesondere den berüchtigten General Cluseret zu stürzen. Sowohl sein Verlangen, die militärische Gewalt müsse nur die blinde Vollstreckerin des Willens der Volksvertreter sein, wie seine fortwährende Klage, daß die geistige Unzurechnungsfähigkeit der meisten Kommunemitglieder nicht die Abhaltung öffentlicher Sitzungen gestatte, brachte ihn mehrmals in Gefahr, verhaftet zu werden. Uebrigens bewies er, um seine Genossen wieder zu versöhnen, die Unerschrockenheit des echten Jakobiners dadurch, daß er jeden, der etwa noch zweifelte, es blühe jetzt die wahre Freiheit in Paris, kurzweg als Verräther verurtheilte, alle mißliebigen Blätter unterdrückte und den hauptsächlich auf sein Betreiben eingesetzten Wohlfahrtsausschuß zu immer rücksichtsloserem Auftreten ermunterte.

Endlich, es waren allerdings nur noch zwei Wochen bis zum Untergange der ganzen Herrlichkeit, wurde der schönste Traum seines Lebens erfüllt: Delescluze, ein einfacher Schriftsteller und Bürger, ward an die Spitze der ganzen Kriegsverwaltung gestellt. Muthig, sicher aber gegen sein besseres Wissen und Gewissen, weissagte er der Nationalgarde in einer Ansprache den Sieg, der das Heil aller Völker sein werde. Um diesen unmöglichen Sieg an die Fahne der Kommune zu fesseln, ließ er dann durch ganz Paris von Haus zu Haus nach Widerspenstigen fahnden und die Unglücklichen, die sich durch Flucht entziehen wollten, vor das Kriegsgericht stellen und täglich neue erlogene Siegesnachrichten der Kommune verbreiten. Ja, er forderte, als die Versailler schon in Paris standen, die Nationalgarde noch auf, sich bis auf den letzten Mann zu vertheidigen und im Nothfalle sogar, um den Feind aufzuhalten, dieses und jenes Haus mit Feuer zu zerstören.

Man weiß, wie die Kommunarden diesen Wink befolgten. Als Delescluze aber erfuhr, daß man auch Feuer an die Tuilerien, das Palais Royal und das Stadthaus gelegt hatte, rief er verzweiflungsvoll den um ihn noch versammelten Mitgliedern der Kommune zu: „Ihr seid ein Haufe Ruchloser, Ihr habt mich entehrt, mich, einen alten Republikaner; ich habe jetzt nichts mehr zu thun als zu sterben.“ Keiner hielt den zürnenden Greis auf; er ging nach seiner Wohnung, legte frische Wäsche und Kleider an und schritt waffenlos auf die vom Heere beschossene Barrikade am Boulevard Voltaire, wo er alsbald den gesuchten Tod fand.

Noch rauchten die Trümmer des Stadthauses und so vieler andern öffentlichen Gebäude; noch hörte man aus der Kaserne Loban das Knattern der Gewehre, welche die Gefangenen der Kommune hundertweis hinstreckten; Mac Mahon war, von der Bevölkerung ehrerbietig begrüßt, mit seinem Generalstabe daher geritten, und eben sah ich Thiers, von seinen Ministern umgeben und von 80 berittenen Gendarmen begleitet, durch die Stadt fahren. Da redet mich auf der Straße eine bekannte Stimme an. Es ist ein nach der neuesten Mode gekleideter Stutzer, mit einem zierlichen Kürbishütchen auf dem Kopfe, ein geckenhaftes Monocle im Auge. Lächelnd flüstert mir der Mann seinen Namen zu. Aristide Rey steht vor mir; er hat Schlapphut und Vollbart entfernt und sich so zugerichtet, daß ihn kein Späherblick zu erkennen vermag. Sonst ist er unverändert, unbekehrt durch die grauenhaften Ereignisse der jüngsten Zeit. Gleichmüthig berichtet er mir das Ende der hervorragenderen Kommunemitglieder; die Brandstiftungen und Mordthaten beirren ihn nicht in der Ueberzeugung, moralisch habe die Kommune gesiegt und dieser Sieg werde eine Bewegung über ganz Europa bringen, die nicht früher ruhen werde, als bis die ganze gegenwärtige gesellschaftliche und staatliche Ordnung aufgelöst sei.

Nun hat bekanntlich auch Thiers in seinem Vermächtniß an die Franzosen mit einem bestimmten Seitenblick über die Vogesen hinüber geweissagt, die Krankheit der Kommune werde ihre Wanderung noch durch andere europäische Länder antreten. Allein ich halte an der Ueberzeugung fest, die ich einst im Vorworte zu meinem „Tagebuch unter der Pariser Kommune“ ausgedrückt habe, daß das erst im rechten Aufstreben begriffene deutsche Bürgerthum und ein an Mannszucht unübertroffenes Heer unüberwindliche Hindernisse für eine Nachahmung der Kommune sein würden. Jedenfalls würde diese aber nicht auf Schriftsteller rechnen können, wie sie ihr in Paris zur Verfügung gestanden haben.




Flammenzeichen.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Adelheid von Wallmoden richtete sich empor, ihr Antlitz zeigte noch immer Todtenblässe, als sie in leisem, aber nervendurchzitterndem Tone zu Rojanow weiter sprach:

„Lassen Sie ab von der Verfolgung, die ich nun schon seit Wochen fühle. Mir graut vor Ihnen, vor Ihren Augen, Ihren Worten, ich fühle, daß es Verderben ist, was von Ihnen ausgeht, und das Verderben liebt man nicht!“

„Ada!“ Es lag ein leidenschaftliches Flehen in dem Worte, aber die bebende Stimme Adelheids gewann zusehends an Festigkeit, als sie fortfuhr:

„Und Sie lieben mich auch nicht. Es ist mir oft gewesen, als sei es Ihr Haß, der mich verfolge. Sie und Ihresgleichen können überhaupt nicht lieben.“

Rojanow schwieg betroffen. Wer lehrte diese junge, mit dem Leben noch so unbekannte Frau so tief in sein Inneres blicken? Er hatte es sich selbst noch nicht klar gemacht, wie untrennbar sich Haß und Liebe in dieser Leidenschaft einten.

„Und das sagen Sie dem Dichter der ‚Arivana‘?“ stieß er mit Bitterkeit hervor. „Man hat mein Werk das Hohelied der Liebe genannt – –“

[278] „Dann hat man sich täuschen lassen durch den Schleier der orientalischen Sage, in den Sie Ihre Gestalten hüllten, man hat nur den indischen Priester gesehen, der mit seiner Geliebten einem eisernen, unmenschlichen Gesetze erliegt. Sie sind vielleicht ein großer Dichter, und vielleicht überschüttet Sie die Welt mit Ruhm, aber mir sagt sie etwas anderes, die Gluth- und Flammensprache Ihrer ‚Arivana‘, mich hat sie ihren Schöpfer kennen gelehrt: einen Mann, der an nichts mehr glaubt und dem nichts mehr heilig ist in der Welt, keine Pflicht und kein Gelübde, keine Mannesehre und keine Frauentugend, der sich nicht bedenken würde, das Höchste in den Staub zu reißen, zum Spiel seiner Leidenschaft. Ich glaube noch an Pflicht und Ehre, glaube noch an mich selbst, und mit diesem Glauben biete ich dem Verhängniß Trotz, das Sie mir so siegesgewiß entgegenhalten. Es kann mich in den Tod treiben – in Ihre Arme nicht!“

Sie stand ihm gegenüber, nicht wie vorhin in bebender Angst, in dem qualvollen Ringen eines geheimen Kampfes, es war, als ob mit jedem dieser vernichtenden Worte sich ein Ring der Kette löste, die sie so geheimnißvoll umspann. Ihr Auge begegnete voll und frei dem dunklen Blick, der sie so lange in Bann gehalten hatte – jetzt war der Bann gebrochen, sie fühlte es und athmete tief auf wie eine Erlöste.

Wieder blitzte es in der Ferne auf, lautlos, ohne Donnergrollen, aber es war, als thue sich der Himmel auf in all seinen Tiefen. In dem zuckenden Lichte sah man phantastische Wolkengebilde, Gestalten, die miteinander zu ringen und zu kämpfen schienen, wie vom Sturme getragen, und doch stand jene Gewitterwand unbeweglich am Horizont, und ebenso unbeweglich stand der Mann, dessen dunkles Antlitz jetzt eine fahle Blässe zeigte im Scheine des Wetterleuchtens. Seine Augen waren unverwandt auf die junge Frau gerichtet, aber die wilde Gluth darin war erloschen, und seine Stimme hatte einen fremden Klang, als er sagte:

Das also ist das Urtheil, das ich mir erbat! Ich bin in Ihren Augen nichts anderes als ein – Verworfener?“

„Ein Verlorener vielleicht! – Sie haben mich zu dem Geständniß gezwungen.“

Hartmut trat langsam einige Schritte zurück.

„Verloren!“ wiederholte er herb. „In Ihrem Sinne wahrscheinlich. Sie können ruhig sein. gnädige Frau, ich werde Ihnen nicht wieder nahen, man verlangt nicht zum zweiten Male solche Worte zu hören. Sie stehen so hoch und stolz auf Ihrer Tugendwarte und richten so streng. Sie haben freilich keine Ahnung davon, was ein heißes, wildes Leben aus einem Menschen machen kann, der unstet, ohne Heimath und Familie durch die Welt zieht. Sie haben recht, ich glaube an nichts mehr dort oben in der Höhe und glaubte an nichts auf Erden – bis zu dieser Stunde.“

Es lag etwas in seinem Tone und seiner ganzen Haltung, was Adelheid entwaffnete. Sie fühlte, daß sie keinen Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu fürchten hatte, und ihre Stimme milderte sich unwillkürlich bei der Antwort:

„Ich richte niemand, aber ich gehöre mit meinem ganzen Sein und Wesen einer andern Welt an, die andere Gesetze hat als die Ihrige. Ich bin die Tochter eines über alles geliebten Vaters, der sein ganzes Leben lang nur einen Weg gekannt hat, den der ernsten, strengen Pflicht. Auf diesem Wege hat er sich emporgerungen aus Armuth und Entbehrung zu Reichthum und Ehre, diesen Weg hat er seine Kinder geführt, und sein Andenken ist der Schild, der mich deckt in jeder schweren Stunde. Ich könnte es nicht ertragen, müßte ich die Augen niederschlagen vor diesem Erinnerungsbilde. – Sie haben wohl keinen Vater mehr?“

Es folgte eine lange, schwere Pause; Hartmut antwortete nicht, aber sein Haupt senkte sich unter diesen Worten, von deren zermalmendem Gewicht die junge Frau keine Ahnung hatte, und sein Blick bohrte sich in den Boden.

„Nein!“ sagte er endlich dumpf.

„Aber Sie haben die Erinnerung an ihn und an Ihre Mutter?“

„Meine Mutter?“ fuhr Rojanow jäh und heftig auf. „Sprechen Sie nicht von ihr, in dieser Stunde nicht – sprechen Sie mir nicht von meiner Mutter!“

Es war ein erschreckender Ausbruch, ein Gemisch von grenzenloser Bitterkeit, von Anklage und Verzweiflung. Die Mutter wurde gerichtet von ihrem Sohne in diesem Ausruf, er wies ihr Andenken von sich als eine Entweihung dieser Stunde.

Adelheid verstand ihn nicht, sie sah nur, daß sie einen Punkt berührt hatte, der keine Erörterung vertrug, aber sie sah auch daß der Mann, der jetzt vor ihr stand mit diesem düsteren Blick, mit diesem Ton der Verzweiflung, ein anderer war als jener, der vor einer Viertelstunde vor sie hingetreten war. Es war eine dunkle, räthselhafte Tiefe, in die sie blickte, aber sie flößte ihr keine Furcht mehr ein.

„Lassen Sie uns diese Unterredung endigen,“ sagte sie tiefernst. „Sie werden keine zweite suchen, ich glaube es Ihnen; aber ein Wort noch, ehe wir scheiden. Sie sind ein Dichter, ich habe es trotzalledem gefühlt, als ich Ihr Werk kennen lernte, und Dichter sind Lehrer der Menschheit, sie können zum Heil und zum Verderben führen. Die wilden Flammen Ihrer ‚Arivana‘ schlagen aus der Tiefe eines Lebens auf, das Sie selbst zu hassen scheinen. Sehen Sie dorthin!“ sie deutete in die Ferne, wo es eben wieder aufleuchtete in lodernder Gluth. „Das sind auch Flammenzeichen, aber sie stammen aus der Höhe und sie weisen einen anderen Weg – leben Sie wohl!“ –

Sie war längst verschwunden und Hartmut stand noch immer wie an den Boden gefesselt. Er hatte kein Wort erwidert, keine Bewegung gemacht, er blickte nur mit heißen, starren Augen dort hin, wo jetzt Blitz auf Blitz die Wolken zerriß und die ganze Landschaft in einen feurigen Mantel hüllte, und dann nieder zu dem kleinen dunklen Waldsee, der so seltsam dem Burgsdorfer Weiher glich, mit seinem wehenden Schilf und der trügerischen, nebelathmenden Wiese, die sich auch hier so dicht an das Gewässer schmiegte.

Unter solchem flüsternden Schilf hatte der Knabe einst davon geträumt, emporzusteigen wie die Falken, von denen sein Geschlecht den Namen führte, in schrankenloser Freiheit, immer höher, der Sonne entgegen, und an demselben Orte war die Entscheidung über sein Schicksal gefallen, in jener dunklen Herbstnacht, da die Irrlichter ihren Gespensterreigen führten. Aber der Flüchtling war nicht zur Sonne gestiegen, die Erde hatte ihn festgehalten, die üppig grüne Wiese, und ihn tief, tief hinabgezogen. Er hatte es wohl bisweilen gefühlt, daß der berauschende Trank der Freiheit und des Lebens, den die Hand der Mutter ihm reichte, vergiftet war, aber ihn schützte kein theures Erinnerungsbild – er durfte es nicht wagen, an seinen Vater zu denken.

Immer dunkler zog es sich zusammen dort in der wetterumlagerten Ferne, immer wilder kämpften und rangen die Wolkengestalten miteinander, und mitten in diesem Kampfe und diesem Dunkel leuchteten sie immer wieder siegreich auf – die mächtigen Flammenzeichen aus der Höhe!




In der Haupt- und Residenzstadt des Landes hatte bereits das winterliche Gesellschaftsleben begonnen, in dem das künstlerische Element eine hervorragende Rolle spielte. Der Herzog, der die Kunst liebte und förderte, setzte seinen Stolz darein, bedeutende Vertreter derselben in seine Nähe zu ziehen und möglichst an seine Hauptstadt zu fesseln, und die Gesellschaft huldigte größtentheils derselben Richtung. Der junge Dichter, der von dem Hofe so sehr begünstigt wurde, und dessen erstes größeres Werk jetzt auf der Hofbühne aufgeführt werden sollte, war daher von vornherein eine interessante Persönlichkeit für alle Welt, und was man sonst über ihn vernahm, diente nur dazu, dies Interesse zu steigern.

Es war schon ungewöhnlich, daß dieser Rojanow als Rumäne ein Werk in deutscher Sprache dichtete, wenn man auch erfuhr, daß er seine Erziehung in Deutschland empfangen habe. Außerdem war er der Busenfreund und auch hier in der Stadt der Gast des Fürsten Adelsberg, und man erzählte sich allerlei rührende und wundersame Geschichten über diese Freundschaft. Vor allem aber schuf Hartmuts Persönlichkeit ihm eine bevorzugte Stellung in allen Kreisen, wo er verkehrte. Der junge, schöne und geniale Fremde, den ein halb romantischer, halb geheimnißvoller Hauch umgab, brauchte auch hier nur aufzutreten, um aller Augen auf sich zu ziehen.

Die Proben zu „Arivana“ hatten unmittelbar nach der Rückkehr des Hofes in die Stadt begonnen, unter persönlicher Theilnahme des Dichters und des Fürsten Adelsberg, der sich in seiner Begeisterung für das Werk seines Freundes zu einer Art von Regisseur umwandelte und dem Intendanten das Leben schwer machte mit allen nur möglichen Anforderungen hinsichtlich der Besetzung der Rollen und der Ausstattung des Dramas. Er wußte [279] seinen Willen auch durchzusetzen, die äußere Zurüstung war eine glänzende, die Rollen wurden durchweg mit den ersten Kräften des Hoftheaters besetzt, und sogar das Opernpersonal wurde herangezogen, da eine der Rollen eine ziemlich bedeutende Gesangspartie enthielt. Einer Schauspielerin konnte man das nicht zumuthen, so wurde denn eine junge Sängerin, Marietta Volkmar, damit betraut. Die Aufführung, die ursprünglich weit später stattfinden sollte. wurde jetzt so viel als möglich beschleunigt, weil man bei Hofe fürstlichen Besuch erwartete und das neue Drama, das sich so poetisch und märchenhaft auf dem Hintergrunde der indischen Sagenwelt abspielte, den hohen Gästen vorführen wollte. Man versprach sich einen ungewöhnlichen Erfolg davon.

Das war die Lage der Dinge, als Herbert von Wallmoden zurückkehrte, der natürlich dadurch aufs peinlichste überrascht wurde. Er hatte allerdings auf eine kurze, wie beiläufig hingeworfene Frage von seiner Frau erfahren, daß Rojanow noch in Fürstenstein verkehre, aber er hatte auch nicht auf ein plötzliches Verschwinden desselben gerechnet, das nothwendig hätte auffallen müssen. Dagegen war er der festen Ueberzeugung, Hartmut werde, trotz seiner hochmüthigen Erklärung, bleiben zu wollen, sich eines Besseren besinnen und, sobald Fürst Adelsberg Rodeck verließ, seinen Rückzug antreten. Jedenfalls durfte er es nicht wagen, an der Seite des Fürsten in der Stadt zu erscheinen, wo man ihm mit den angedrohten „Aufklärungen“ das Auftreten unmöglich machen konnte.

Aber der Gesandte hatte nicht mit dem unbeugsamen Trotze des Mannes gerechnet, der in der That auch hier ein hohes Spiel wagte. Jetzt, nach wenigen Wochen, fand er ihn bereits in einer nach allen Seiten hin bevorzugten Stellung, im engsten Verkehr mit dem Hofe und der Gesellschaft. Wenn man jetzt, unmittelbar vor der Aufführung eines Werkes, das der Herzog so auffallend begünstigte, von dem bereits die ganze Stadt sprach, Enthüllungen über das Vorleben des Dichters brachte, so mußte das in allen Kreisen ebenso peinlich berühren als gehässig erscheinen. Der erfahrene Diplomat verhehlte sich nicht, daß die tiefe Mißstimmung, die dann zweifellos bei dem Herzog eintrat, auf ihn selbst zurückfallen würde, weil er nicht rechtzeitig, bei dem ersten Erscheinen Rojanows, gesprochen hatte. Es blieb nichts übrig, als einstweilen noch abzuwarten und zu schweigen.

Wallmoden war weit entfernt, zu ahnen, daß gerade ihm von jener Seite eine schwere Gefahr gedroht hatte, denn er nahm an, seine Frau kenne Hartmut höchstens als Begleiter des Fürsten Adelsberg. Sie hatte den Namen nicht wieder ausgesprochen, seit sie damals bei ihrer Ankunft in Berlin auf eine anscheinend flüchtige Frage eine ebenso flüchtige Antwort gab, und er hatte das gleichfalls nicht gethan. Sie sollte und durfte nicht von jenen alten Beziehungen erfahren, die er ihr von Anfang an verschwiegen hatte.

Aber seinem Neffen Willibald gegenüber durfte er nicht schweigen, wenn er nicht eine ähnliche Erkennungsscene erleben wollte wie damals auf dem Hochberg. Der junge Majoratsherr hatte seine Verwandten nach Süddeutschland begleitet, sollte aber nur einige Tage in der Residenzstadt bleiben und sich dann nach Fürstenstein zu seiner Braut begeben, denn der Oberforstmeister forderte nachdrücklichst, daß der im September so plötzlich abgebrochene Besuch nunmehr nachgeholt werde.

„Ihr seid kaum acht Tage hier gewesen,“ schrieb er seiner Schwägerin, „und jetzt bitte ich mir meinen Herrn Schwiegersohn doch auf etwas länger aus. In Eurem vielgeliebten Burgsdorf ist ja nun glücklich alles wieder in Ordnung gebracht und zu thun giebt es auch nicht viel im November. Also schicke uns wenigstens den Willy, wenn Du nicht abkommen kannst. Ein Nein wird nicht angenommen, Toni erwartet ihren Bräutigam – Punktum!“

Frau von Eschenhagen sah ein, daß er recht hatte, und war auch geneigt, ihren Willy zu schicken, denn sie bestimmte natürlich allein über seine Reise. Er hatte keinen Versuch mehr gemacht, sich gegen die mütterliche Herrschaft aufzulehnen, und schien überhaupt vollständig wieder zu Vernunft gekommen zu sein. Er war wohl stiller als sonst und stürzte sich nach der Rückkehr mit ganz ungewohntem Eifer in seine landwirthschaftliche Thätigkeit, benahm sich aber sonst musterhaft. Nur in einem Punkte blieb er hartnäckig: er wollte seiner Mutter durchaus nicht Rede stehen über jene „Dummheit“, welche damals die plötzliche Abreise veranlaßt hatte, und vermied jede Erörterung darüber. Er schämte sich offenbar jener flüchtig auflodernden Regung, die wohl überhaupt nie bedenklich gewesen war, und wollte nicht daran erinnert sein. Uebrigens schrieb er regelmäßig an seine Braut und erhielt ebenso pünktlich Antwort. Der Briefwechsel war allerdings mehr praktischer als zärtlicher Natur und drehte sich hauptsächlich um Wohnungs- und Wirthschaftseinrichtungen, aber man ersah doch daraus, daß der junge Majoratsherr seine Heirath, für welche der Zeitpunkt bereits festgesetzt war, als selbstverständlich betrachtete, und Frau Regine, die es als ihr unbestreitbares Recht ansah, die Briefe des Brautpaares zu lesen, erklärte sich zufrieden mit denselben.

Willibald erhielt also die allerhöchste Erlaubniß, seine Braut besuchen zu dürfen, was um so weniger bedenklich war, als die gefährliche kleine Person, diese Marietta Volkmar, jetzt in der Stadt weilte, wo ihre Stellung sie festhielt. Um aber ganz sicher zu gehen, stellte Frau von Eschenhagen ihren Sohn unter den Schutz ihres Bruders, der auf der Rückreise von den Stahlbergschen Werken mit seiner Frau einen kurzen Besuch in Burgsdorf abgestattet hatte. Wenn Willibald während der zwei oder drei Tage seines Aufenthaltes in der Stadt im Wallmodenschen Hause wohnte und ausschließlich dort verkehrte, war nichts zu besorgen.

Der Gesandte sah nun freilich sofort nach der Ankunft ein, daß er genöthigt sein werde, seinen Neffen aufzuklären, denn der Name Hartmut Rojanow wurde schon am ersten Tage von verschiedenen Seiten genannt. Willy, der seinerzeit der Vertraute der geheimen Zusammenkünfte Hartmuts mit seiner Mutter gewesen war und deren Namen und Abstammung kannte, horchte auf dabei, und die Bemerkung, daß es sich um einen jungen Rumänen handele, machte ihn vollends stutzig. Er sah in äußerster Betroffenheit seinen Onkel an, der ihm noch rechtzeitig einen Wink gab, nicht weiter zu fragen, und dann das erste Alleinsein benutzte, um ihm die Wahrheit zu enthüllen.

Er that das selbstverständlich in der rücksichtslosesten Weise und stellte Hartmut als einen Abenteurer der schlimmsten Art dar, den er schon in der nächsten Zeit zwingen werde, die Rolle aufzugeben, die er hier so unberechtigterweise spiele.

Dem armen Willibald wirbelte der Kopf bei diesen Nachrichten. Sein Jugendfreund, an dem er stets mit herzlicher Zuneigung gehangen hatte und noch immer hing trotz des Verdammungsurtheils, das man daheim über ihn fällte, war hier, in seiner unmittelbaren Nähe, und er durfte ihn nicht wiedersehen, nicht einmal kennen, wenn der Zufall eine Begegnung herbeiführte! Das letztere schärfte Wallmoden seinem Neffen besonders ein, und dieser, ganz betäubt, versprach auch Gehorsam und Schweigen sowohl Adelheid als seiner Braut und dem Oberforstmeister gegenüber, aber begreifen konnte er die Sache noch lange nicht. Er brauchte Zeit dazu, wie überhaupt zu allen Dingen.

Der Tag, an welchem „Arivana“ auf der Bühne erscheinen sollte, war herangekommen. Es war das erste Werk eines jungen, als Dichter noch ganz unbekannten Verfassers, aber die Umstände machten es zu einem künstlerischen Ereigniß, dem man mit allseitiger Spannung entgegensah. Das Hoftheater war beim Beginn der Vorstellung bis auf den letzten Platz gefüllt, und jetzt erschien auch das fürstliche Paar mit seinen Gästen und nahm in der großen Hofloge Platz. Die Aufführung hatte, obgleich das nicht förmlich angekündigt war, doch den Charakter einer Festvorstellung, und das in all seinen Räumen blendend erhellte Haus und der reiche Schmuck der Damen trugen dem Rechnung.

Fürst Adelsberg, der gleichfalls in der Hofloge erschien, war so aufgeregt, als habe er selbst das Drama geschrieben. Uebrigens befand er sich heute in einer ebenso seltenen als erfreulichen Uebereinstimmung mit seiner allergnädigsten Tante, die ihn zu sich gerufen hatte und gerade jetzt mit ihm über die Dichtung sprach, die sie mit ihrer höchsten Aufmerksamkeit beehrte.

„Unser junger Dichter scheint Launen zu haben wie alle Poeten,“ bemerkte sie. „Welch ein Einfall, noch in letzter Stunde den Namen der Heldin zu ändern!“

„In letzter Stunde geschah das gerade nicht,“ entgegnete Egon, „die Aenderung wurde schon in Rodeck vorgenommen. Hartmut hatte es sich auf einmal in den Kopf gesetzt, der Name ‚Ada‘ sei zu kühl und rein für die Gluthgestalt seiner Heldin, und sie wurde ohne weiteres umgetauft!“

„Aber der Name Ada steht doch hier auf dem Theaterzettel,“ warf die Prinzessin ein.

„Gewiß, aber er ist auf eine ganz andere Person des Dramas übergegangen, die überhaupt nur in einer einzigen Scene auftritt.“

[280] „Dann hat Rojanow also Aenderungen vorgenommen seit jener Vorlesung in Fürstenstein?“

„Nur wenige, das Stück selbst ist ganz unverändert geblieben bis auf den Namenstausch und jenes kurze Auftreten Adas, aber ich versichere Sie, Hoheit, diese Scene, die Hartmut da hinzugedichtet hat, ist das Schönste, was er je geschrieben hat.“

„Ja, Sie finden natürlich alles schön, was aus der Feder Ihres Freundes stammt,“ sagte die Prinzessin, aber das gnädige Lächeln, mit dem sie den jungen Fürsten entließ, zeigte, daß sie so ziemlich derselben Meinung war.

In einer der Prosceniumslogen des ersten Ranges erblickte man auch den preußischen Gesandten mit seiner Gemahlin, der erst vorgestern von seinem Urlaub zurückgekehrt war. Sein heutiges Erscheinen im Hoftheater war allerdings kein freiwilliges, sonst wäre er dieser Aufführung wohl fern geblieben, sondern eine Rücksicht, die er seiner Stellung schuldete. Der Herzog hatte über einen Theil der Logen verfügt und auch die fremden Diplomaten mit ihren Damen eingeladen; da gab es keine Möglichkeit, zurückzubleiben, um so weniger, als Herr und Frau von Wallmoden noch vor wenigen Stunden an der Festtafel im Schlosse theilgenommen hatten.

Im Parkett saß Willibald, der aus der Anwesenheit seines Onkels auch für sich das Recht herleitete, wenigstens das Werk seines Jugendfreundes kennen zu lernen. Wallmoden war zwar nicht einverstanden damit, konnte ihm aber doch füglich nicht verbieten, was er selbst that. Willy, der sich mit vieler Mühe noch einen Platz beschafft hatte, dachte natürlich nicht daran, daß in einem Drama auch ein Mitglied der Oper beschäftigt sein könnte: erst jetzt, als er den Theaterzettel entfaltete und urplötzlich auf den Namen „Marietta Volkmar“ stieß, wurde ihm klar, wen er heute abend wiedersehen werde. Mit einer hastigen Bewegung faltete er den Zettel zusammen und barg ihn in seiner Tasche; er bereute es in diesem Augenblicke doch, in das Theater gegangen zu sein.

Jetzt begann die Vorstellung, der Vorhang hob sich und die Eingangsscenen gingen rasch vorüber. Es war eine Art Vorspiel, welches die Zuschauer erst mit der seltsam phantastischen Welt vertraut machen sollte, in die sie eingeführt wurden. Arivana, die uralte, geheiligte Opferstätte, zeigte sich in einer pracht- und stimmungsvollen Ausstattung; die Hauptgestalt des Werkes, der junge Priester, der im Fanatismus seines Glaubens alles Irdische und Unheilige weit von sich weist, erschien, und in mächtigen, schwungvollen Versen erklang das Gelübde, das ihn für Zeit und Ewigkeit diesem Irdischen entrückte und mit Leib und Seele der Gottheit verband. Der Schwur war geleistet, die heilige Flamme loderte hoch empor und der Vorhang sank.

Von allen Seiten ertönte Beifall, zu dem der Herzog das erste Zeichen gab. Es stand ja allerdings fest, daß ein Werk, das so von allen Seiten gestützt und getragen wurde, einen gewissen Erfolg haben mußte, wenigstens an dem heutigen Abend. Aber es mischte sich doch noch etwas anderes in diesen Beifall. Die Zuschauer fühlten es bereits, daß ein Dichter zu ihnen sprach; seine Schöpfung hatte vielleicht der Hofgunst bedurft, um vor die Oeffentlichkeit treten zu können, jetzt, wo sie dastand, trug sie sich allein. Man war gefesselt von dieser Sprache, diesen Gestalten, von dem Inhalt des Dramas, der sich bereits in den Hauptzügen verrieth, und als der Vorhang sich von neuem hob, lag gespanntes, erwartungsvolles Schweigen über dem ganzen Zuschauerraume.

Und nun entrollte sich das Drama, auf einem Hintergrunde, der ebenso glühend und farbenreich war wie seine Sprache und seine Gestalten. Die mächtige Natur Indiens, die märchenhafte Pracht seiner Tempel und Paläste, die Menschen mit ihrem wilden Hoffen und Lieben und den starren, eisernen Gesetzen ihres Glaubens, das alles war phantastisch, fremdartig; aber wie diese Menschen fühlten und handelten, das war jedem vertraut. Standen sie doch im Banne einer Macht, die schon vor Jahrhunderten dieselbe war wie heute, die unter dem heißen Tropenhimmel die gleichen Wurzeln schlägt wie in der kalten nordischen Zone – der Leidenschaft im Menschenherzen.

Es war in der That eine „Gluth- und Flammenlehre“, und sie predigte ohne Rückhalt das Recht der Leidenschaft, gegen alle Schranken anzustürmen, hinweg über Gesetz und Sitte, über Gelübde und Schwur bis zu ihrem Ziele; ein Recht, wie es Hartmut Rojanow verstand und übte, mit seinem ungezügelten Wollen. das kein Gesetz und keine Pflicht anerkannte, dem das eigene Ich allein das Höchste war.

Das Erwachen dieser Leidenschaft, ihr übermächtiges Wachsen, ihr endlicher Triumph, das alles wurde in hinreißender Sprache, in Worten und Bildern geschildert, die bald aus der reinen Höhe des Ideals und bald aus der Tiefe des Abgrundes zu stammen schienen. Der Dichter hatte seine Gestalten nicht umsonst in den Schleier der orientalischen Sage gehüllt; unter diesem Schleier durfte er sagen und vertreten, was man ihm sonst schwerlich verziehen hätte, und er that es mit einer Kühnheit, die zündende Funken in die Seelen der Zuhörer warf und sie dämonisch fesselte. Schon nach dem zweiten Akte war der Erfolg „Arivanas“ entschieden.

Allerdings wurde das Werk von einer Darstellung getragen, die zu dem Besten gehörte, was die Bühne je geleistet hatte. Vor allem spielten die Vertreter der beiden Hauptrollen mit einem Feuer und einer Vollendung, wie sie nur wirkliche Begeisterung geben konnte. Die Heldin hieß freilich nicht mehr Ada, den Namen trug jetzt eine andere Gestalt, die seltsam fremd in diesem erregten Bilde der Leidenschaften stand, eines jener halb märchenhaften Wesen, mit denen die indischen Sagen die „Schneewohnung“, die eisigen Höhen des Himalaya bevölkern, kühl und rein wie der ewige Schnee, der dort oben leuchtet.

Nur in einem einzigen Auftritt, in der Entscheidungsscene, schwebte sie wie mit Geisterfittigen durch die stürmisch bewegte Handlung, mahnend, warnend, und Egon hatte recht: die Worte, die der Dichter ihr auf die Lippen legte, waren wohl die schönsten der ganzen Dichtung. Mitten in die lodernde Gluth eines Kraters brach es plötzlich wie reines Himmelslicht, aber so schön die Scene war, so kurz war sie auch. Flüchtig wie ein Hauch entwich die Gestalt wieder zu den Schneewohnungen ihrer Heimath, und dort unten, an dem mondbeglänzten Ufer des Flusses, erklang das Lied des Hindumädchens – Mariettas weiche quellende Stimme – und unter diesen lockenden, schmeichelnden Tönen verwehte jener Warnungsruf aus der Höhe.

Der letzte Akt brachte den tragischen Schluß: das Hereinbrechen des Verhängnisses über das schuldige Paar, den Tod in den Flammen. Aber dieser Tod war keine Sühne, sondern ein Triumph, ein „leuchtendes, göttliches Sterben“, und mit den Flammen loderte auch jene dämonische Lehre von dem unbedingten Recht der Leidenschaft zum Himmel empor.

Zum letzten Male sank der Vorhang, und der Beifall, der sich von Akt zu Akt gesteigert hatte, wuchs jetzt zu einem förmlichen Sturme an. Sonst pflegten bei solchen Festvorstellungen Beifall und Begeisterung in gemessenen Grenzen zu bleiben. Heute flutheten sie über alle Schranken hinaus. Die Flammen Arivanas hatten gezündet, das sah und fühlte man an dem Jubel, mit dem das ganze Haus einstimmig das Erscheinen des Dichters verlangte.

Endlich trat Hartmut vor. Ohne Scheu und Befangenheit, strahlend vor Stolz und Freude neigte er sich dankend vor dem Publikum, das ihm heute einen Trank kredenzte, den er in seinem wildbewegten Leben doch noch nicht gekostet hatte. Sie waren berauschend, diese ersten Züge aus dem Becher des Ruhmes, und mit diesem berauschenden Siegesbewußtsein blickte der Gefeierte jetzt zu der Prosceniumsloge empor, deren Insassen er längst erkannt hatte. Er fand freilich nicht, was er suchte; Adelheid hatte sich zurückgelehnt und ihr Antlitz verschwand hinter dem ausgebreiteten Fächer, er sah nur das kalte, unbewegte Gesicht des Mannes, der ihn so tief beleidigt hatte, und der nun Zeuge seines Triumphes war. Wallmoden verstand es nur zu gut, was das Aufblitzen dieser dunklen Augen ihm sagte.

„Jetzt wage es noch, mich zu verachten!“

Es war am andern Morgen zu noch ziemlich früher Stunde, als Willibald von Eschenhagen durch die Anlagen des städtischen Parkes schritt, die er sich „besehen“ wollte, wie er seinem Onkel beim Fortgehen erklärt hatte. Der ausgedehnte waldartige Park, der unmittelbar vor den Thoren der Stadt lag, war allerdings sehenswerth, aber Willy achtete nicht auf die Anlagen, die zudem heute, an dem trüben Novembertage, wenig einladend erschienen. Ohne rechts oder links zu blicken, schritt er hastig vorwärts, schlug planlos bald diesen, bald jenen Weg ein und merkte es nicht, daß er dabei mehrmals an dieselbe Stelle zurückkehrte. Es schien beinahe, als wollte er mit diesem Sturmschritt eine innere Unruhe

[281] 

Schloß Prunn.
Zeichnung von R. Püttner.

[282] betäuben, und er war ja auch nur ausgegangen, um im Freien und allein zu sein.

Der junge Majoratsherr redete sich allerdings ein, es sei nur das Wiedersehen des Jugendfreundes, das ihn so aus der Fassung brachte. Zehn volle Jahre hatte er nichts von Hartmut gehört, durfte er ihn nicht einmal nennen daheim, und nun sah er den Verschollenen plötzlich wieder, im Glanze eines aufsteigenden Dichterruhms, wohl tief und mächtig verändert in Erscheinung und Auftreten, aber trotz alledem doch der Hartmut, mit dem er so oft die Knabenspiele getrieben. Er hätte ihn auch unvorbereitet im ersten Augenblick wiedererkannt.

Wallmoden freilich schien durch den gestrigen Erfolg sehr peinlich berührt zu sein. Er hatte kaum gesprochen auf der Rückfahrt, so wenig wie seine Frau, die schon im Wagen erklärte, die Hitze im Theater habe ihr einen heftigen Kopfschmerz verursacht, und sich sofort nach der Nachhausekunft zurückzog. Der Gesandte folgte ihrem Beispiel, und als er seinem Neffen, der ihm gute Nacht wünschte, die Hand reichte, sagte er kurz:

„Es bleibt bei unserer Abrede, Willibald, Du schweigst gegen jeden, wer es auch sei! Sieh zu, daß Du Dich nicht verräthst, denn der Name Rojanow wird in den nächsten Tagen wohl in aller Mund sein! Er hat auch diesmal Glück gehabt, wie alle Abenteurer.“

Willibald hatte die Bemerkung schweigend hingenommen, aber er fühlte doch, daß es noch etwas anderes war, was dem Dichter der „Arivana“ diesen Erfolg schuf. Unter anderen Umständen hätte er dies Werk als etwas Unerhörtes, Unbegreifliches angestaunt, ohne es zu verstehen, aber gestern war ihm merkwürdigerweise das Verständniß dafür aufgegangen.

Man konnte sich verlieben auch ohne die feierliche Zustimmung der geehrten Eltern, Vormünder und Verwandten, das kam nicht bloß in Indien vor, das geschah bisweilen auch hier zu Lande. Man konnte sich auch unvorsichtigerweise mit einem Gelübde übereilen und es brechen, aber was dann? Ja, dann kam das Verhängniß, das Hartmut so grausig und doch so schön geschildert hatte! Willy war im vollen Ernste dabei, den hochromantischen Inhalt von „Arivana“ in Burgsdorfer Verhältnisse zu versetzen, und das Verhängniß nahm dabei unverkennbar die Züge der Frau von Eschenhagen an, die in ihrem Zorne jedenfalls noch grimmiger war als eine wüthende Priesterkaste.

Der junge Majoratsherr seufzte tief auf. Er dachte an den zweiten Akt des Dramas, wo aus dem Kreise der Hindumädchen, die zur Opferstätte zogen, eine zarte Gestalt hervorgetreten war, unendlich reizend in den weißen Schleiergewändern und mit dem Blumenkranz in den Locken. Seine Augen hatten wie gebannt an ihr gehangen, die nur zwei- oder dreimal flüchtig auf der Bühne erschien; aber dann erklang ihr Lied am Ufer des mondschimmernden Flusses, dann erklang die helle, süße Stimme, die schon damals in Waldhofen den Zuhörer so bestrickt hatte, und nun war das alte Unheil, das er niedergekämpft und vergessen wähnte, auf einmal wieder da. Es stand riesengroß vor ihm, und das Schlimmste war, daß er es gar nicht mehr als ein Unheil ansah.

Der unermüdliche Spaziergänger kam nun schon zum dritten Male an einem kleinen Tempel vorbei, der an der Vorderseite offen war und in dessen Mitte eine Büste stand, während im Hintergrunde eine Bank zum Sitzen einlud. Willibald trat diesmal ein und ließ sich nieder, weniger aus Ruhebedürfniß, als um noch ungestörter seinen Gedanken nachzuhängen.

Es mochte zehn Uhr morgens sein und die Anlagen waren um diese Stunde fast ganz leer und einsam. Nur ein einzelner Spaziergänger, ein junger Mann in vornehmer Kleidung, schlenderte langsam und scheinbar absichtslos in den Wegen umher. Er mußte aber doch wohl jemand erwarten, denn er blickte mit offenbarer Ungeduld bald nach der Stadt und bald nach der Parkstraße, die in ziemlicher Entfernung die Anlagen begrenzte. Plötzlich aber schritt er rasch auf den Tempel zu und faßte an der Hinterwand desselben Posten, wo er nicht gesehen werden konnte, während er selbst den vorüberführenden Pfad im Auge behielt.

Nach etwa fünf Minuten kam eine junge Dame von der Stadt her, eine leichte, zierliche Gestalt, in dunklem Mantel und Pelzkragen, ein Pelzmützchen auf die krausen Locken gedrückt und einen Muff in der Hand, aus dem eine Notenrolle hervorblickte. Sie wollte rasch vorübergehen, ließ aber plötzlich einen Ausruf der Ueberraschung hören, der freilich nichts weniger als freudig klang:

„Ah – Graf Westerburg!“

Der junge Mann war hervorgetreten und verneigte sich.

„Welch ein glücklicher Zufall! Wie konnte ich ahnen, daß Fräulein Marietta Volkmar so früh schon in den Anlagen lustwandeln würde!“

Marietta war stehengeblieben und sah den Sprechenden von oben bis unten an, aber ihre Stimme hatte einen halb gereizten, halb verächtlichen Ton, als sie antwortete:

„Ich glaube nicht an diesen Zufall, Herr Graf, dazu kreuzen Sie zu oft und zu beharrlich meinen Weg, obgleich ich Ihnen doch hinreichend gezeigt habe, wie lästig mir Ihre Aufmerksamkeiten sind.“

„Ja, Sie sind unendlich grausam gegen mich!“ sagte der Graf vorwurfsvoll, aber doch mit unverkennbarer Dreistigkeit. „Sie nehmen meine Besuche nicht an, verschmähen meine Blumengaben, erwidern nicht einmal meinen Gruß mehr bei einer Begegnung. Was habe ich Ihnen denn gethan? Ich habe es gewagt, Ihnen eine Huldigung zu Füßen zu legen in Gestalt eines Schmuckes, den Sie leider zurücksandten –“

„Mit der Erklärung, daß ich mir solche Unverschämtheiten ein für allemal verbitte,“ unterbrach ihn das junge Mädchen heftig. „Ich verbitte mir überhaupt Ihre fortwährenden Dreistigkeiten. Sie haben mir ja hier förmlich aufgelauert, wie es scheint.“

„Mein Gott, ich wollte ja nur um Verzeihung bitten wegen jener Kühnheit,“ versicherte Graf Westerburg, anscheinend unterwürfig, aber dabei trat er zugleich mitten in den schmalen Weg, so daß es nicht möglich war, an ihm vorbeizukommen. „Ich hätte es freilich wissen können, daß Sie unnahbar sind für jeden, und daß keine ihren Ruf so eifersüchtig hütet wie Sie, schöne Marietta!“

„Ich heiße Fräulein Volkmar!“ rief Marietta zornig. „Sparen Sie solche vertrauliche Anreden für diejenigen, die sich dergleichen gefallen lassen. Ich thue es nicht, und wenn Ihre Zudringlichkeiten nicht aufhören, so werde ich anderweitigen Schutz in Anspruch nehmen.“

„Welchen Schutz?“ spottete der Graf. „Vielleicht den der alten Dame, bei der Sie leben, und die sonst immer und überall an Ihrer Seite ist, wo Sie auch erscheinen? Nur bei Ihrem Gange zu dem Professor Marani bleibt sie zurück; die Gesangsstudien bei dem alten Herrn sind allerdings nicht gefährlich, das ist aber auch der einzige Weg, den Sie allein machen.“

„Sie wußten es also, daß ich um diese Zeit nach der Parkstraße gehe? Das ist ja ein vollständiger Ueberfall! Gehen Sie mir aus dem Wege, ich will fort!“

Sie versuchte an ihm vorbeizukommen, aber der junge Mann breitete beide Arme aus, so daß er den Weg völlig versperrte.

„Sie werden mir doch erlauben, Sie zu begleiten, mein Fräulein? Sehen Sie nur, die Anlagen sind ganz einsam und verlassen; es ist kein Mensch in der Nähe, da muß ich Ihnen wirklich meinen Schutz anbieten.“

Der Park schien in der That völlig menschenleer zu sein und eine andere wäre durch diesen Hinweis auf ihre Schutzlosigkeit wohl eingeschüchtert worden; die kleine, tapfere Marietta aber richtete sich unerschrocken auf.

„Unterstehen Sie sich nicht, mir auch nur einen Schritt zu folgen!“ rief sie in voller Empörung. „Ihre Begleitung ist mir ebenso unerträglich wie Ihre Persönlichkeit – wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?“

„Ei, so zornig?“ fragte der Graf, mit einem boshaften Lächeln. „Nun, ganz umsonst will ich diesen ‚Ueberfall‘ doch nicht gewagt haben, wenigstens soll er mir einen Kuß eintragen von diesen reizenden, feindlichen Lippen.“

Er machte wirklich Miene, seinen Vorsatz auszuführen, und näherte sich dem hastig zurückweichenden Mädchen, aber in dem selben Augenblick flog er auch, von einem furchtbaren Stoße getroffen, seitwärts und stürzte dann der Länge nach auf den feuchten Boden hin, wo er in einer sehr kläglichen Stellung liegen blieb.

Marietta hatte sich erschrocken umgewendet bei diesem ebenso unerwarteten als stürmischen Beistande, und ihr von Zorn und Kränkung heißgeröthetes Gesicht nahm den Ausdruck einer grenzenlosen Ueberraschung an, als sie den Helfer erkannte, der an ihrer Seite stand und so grimmig auf den Daliegenden blickte, als habe er die größte Lust, ihm den Garaus zu machen.

[283] „Herr von Eschenhagen – Sie?“

Graf Westerburg hatte sich inzwischen mit einiger Mühe wieder aufgerafft und trat jetzt wüthend seinem Angreifer entgegen.

„Mein Herr, was unterstehen Sie sich? Wer giebt Ihnen das Recht –“

„Bleiben Sie mir und dem Fräulein zehn Schritt vom Leibe, ich rathe es Ihnen!“ unterbrach ihn Willibald, indem er sich vor das junge Mädchen stellte. „Sonst fliegen Sie noch einmal gegen die Bäume, und der zweite Stoß möchte nicht so gelind ausfallen wie der erste.“

Der Graf, eine schmächtige und nichts weniger als kraftvolle Gestalt, maß den vor ihm stehenden Hünen, desen Faust er bereits gespürt hatte, einen Augenblick lang, aber das war genug, ihn zu überzeugen, daß er hier unbedingt den kürzeren ziehen müßte.

„Sie werden mir Genugthuung geben – wenn Sie überhaupt satisfaktionsfähig sind!“ stieß er mit halberstickter Stimme hervor. „Sie wissen vermuthlich nicht, wen Sie vor sich haben –“

„Einen frechen Burschen, den man mit Vergnügen züchtigt,“ sagte Willy mit großer Gemüthsruhe. „Bleiben Sie gefälligst da stehen, sonst thue ich es gleich auf der Stelle. Uebrigens heiße ich Willibald von Eschenhagen, Majoratsherr auf Burgsdorf, und bin in der Wohnung des preußischen Gesandten zu finden, wenn Sie mir noch mehr zu sagen haben. – Bitte, mein Fräulein, meinem Schutze können Sie sich unbesorgt anvertrauen, ich stehe Ihnen dafür, daß Sie nicht mehr belästigt werden.“

Und nun geschah etwas Unerhörtes, Unglaubliches. Herr von Eschenhagen bot, ohne zu stottern oder irgendwie in Verlegenheit zu gerathen, mit einer echt ritterlichen Bewegung der jungen Dame den Arm und führte sie fort, ohne sich um den zurückbleibenden Grafen weiter zu kümmern.

Marietta hatte den dargebotenen Arm angenommen, aber sie sprach kein Wort; erst als sie längst außer Hörweite waren, begann sie mit einer Schüchternheit, die sonst gar nicht in ihrem Wesen lag: „Herr von Eschenhagen –“

„Mein Fräulein?“

„Ich – ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Schutz, aber der Graf – Sie haben ihn beleidigt, thätlich sogar – er wird Sie fordern und Sie werden das annehmen müssen.“

„Natürlich, mit dem größten Vergnügen,“ sagte Willy, und dabei strahlte sein ganzes Gesicht, als ob diese Aussicht ihm wirklich das allergrößte Vergnügen machte. Sein blödes, linkisches Wesen war auf einmal verschwunden, er fühlte sich als Held und Retter und gefiel sich außerordentlich in dieser neuen Stellung. Marietta blickte ihn in sprachloser Verwunderung an.

„Aber es ist furchtbar, daß das um meinetwillen geschehen soll,“ hob sie wieder an. „Und daß gerade Sie es sein müssen!“

„Das ist Ihnen wohl gar nicht einmal recht?“ fragte der junge Majoratsherr, der in seiner jetzigen gehobenen Stimmung die letzte Bemerkung übelnahm. „Ja, mein Fräulein, in solcher Lage hat man aber keine Wahl, Sie mußten mich nothgedrungen zum Beschützer annehmen, wenn ich auch nicht gerade sehr hoch in Ihrer Achtung stehe.“

Ueber Mariettas Gesicht floß eine glühende Röthe bei der Erinnerung an jene Stunde, wo sie ihre ganze Verachtung über den Mann ausgeschüttet hatte, der jetzt so tapfer für sie eintrat.

„Ich dachte nur an Toni und ihren Vater,“ versetzte sie leise. „Ich bin ja schuldlos an der Sache, aber wenn ich die Ursache sein sollte, daß Sie Ihrer Braut entrissen würden –“

„Dann muß Toni das eben als eine Schickung hinnehmen,“ sagte Willibald, auf den die Erwähnung seiner Braut sehr wenig Eindruck machte. „Man kann sein Leben überall verlieren und man muß nicht immer gleich den schlimmsten Fall voraussetzen. – Wohin soll ich Sie führen, mein Fräulein? Nach der Parkstraße? Ich glaube gehört zu haben, daß Sie dahin wollten.“

Sie schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, nein! Ich wollte allerdings zu dem Professor Marani, der mir eine neue Rolle einstudirt, aber jetzt kann ich nicht singen, das ist unmöglich. Lassen Sie uns einen Wagen suchen, dort drüben werden wir einen finden, ich möchte nach Hause.“

Willibald lenkte sofort seine Schritte nach der angedeuteten Richtung, und sie gingen schweigend weiter bis zum Rande der Anlagen, wo wirklich einige Miethwagen hielten. Hier blieb das junge Mädchen stehen und blickte bittend und angstvoll zu ihrem Begleiter empor.

„Herr von Eschenhagen, muß es denn sein? Läßt sich die Sache nicht ausgleichen?“

„Schwerlich, ich habe dem Grafen einen sehr ausgiebigen Faustschlag versetzt und ihn einen frechen Burschen genannt und werde natürlich dabei stehen bleiben, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt. Aber ängstigen Sie sich nicht darüber, die Geschichte wird morgen oder übermorgen hoffentlich mit ein paar Schrammen abgemacht werden.“

„Und ich soll zwei oder drei Tage lang in dieser Angst und Ungewißheit bleiben? Wollen Sie mir denn nicht wenigstens Nachricht senden?“

Willy sah in die dunklen, thränenerfüllten Augen, und dabei trat in die seinigen wieder jenes Leuchten wie damals, als er zum ersten Male die Stimme des kleinen „Singvögelchens“ hörte.

„Wenn alles glücklich vorüber ist, komme ich selbst und bringe Ihnen Nachricht,“ erwiderte er. „Darf ich das?“

„O gewiß, gewiß! Aber wenn es nun ein Unglück giebt, wenn Sie fallen?“

„Dann bewahren Sie mir ein besseres Andenken als bisher, mein Fräulein,“ sagte Willibald ernst und herzlich. „Sie haben mich wohl für einen rechten Feigling gehalten. – O, sagen Sie nichts, Sie hatten ja recht; ich habe das selbst bitter genug gefühlt, aber es war meine Mutter, der ich gewohnt bin zu gehorchen, und die mich sehr lieb hat. Jetzt aber sollen Sie sehen, daß ich auch weiß, wie ein Mann sich zu benehmen hat, wenn ein schutzloses Mädchen in seiner Gegenwart beleidigt wird, jetzt will ich jene schlimme Stunde bei Ihnen auslöschen – wenn es sein muß, mit meinem Blute!“

Ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, rief er einen der harrenden Wagen herbei, öffnete den Schlag und wiederholte dem Kutscher Straße und Hausnummer, die Marietta ihm nannte. Sie stieg ein und streckte ihm noch einmal die kleine Hand entgegen, die er einen Augenblick lang in der seinigen hielt, dann warf sich das junge Mädchen mit einem lauten Aufschluchzen in die Polster zurück und der Wagen rollte davon. Willy blickte ihm nach, so lange, bis nichts mehr davon zu sehen war, dann richtete er sich auf und sagte mit einer Art von grimmigem Wohlbehagen:

„Nun nehmen Sie sich in acht, Herr Graf! Mir ist es jetzt eine wahre Wonne, drauf loszuknallen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht!“




Die Dämmerung brach früh herein an diesem trüben Novembertage, und das Adelsbergsche Palais war bereits erleuchtet, als der Fürst, der von einer kurzen Ausfahrt heimkehrte, an der Rampe vorfuhr.

„Ist Herr Rojanow in seinen Zimmern?“ fragte er beim Eintreten einen herbeieilenden Diener.

„Zu Befehl, Durchlaucht!“ erwiderte dieser mit einer Verbeugung.

„So bestellen Sie den Wagen auf neun Uhr, wir fahren nach dem Schlosse.“

Damit stieg Egon rasch die Treppe hinauf und begab sich in die Wohnung seines Freundes, die neben der seinigen im ersten Stock lag und wie die sämmtlichen Räume des fürstlichen Hauses mit alterthümlicher Pracht eingerichtet war. Auf dem Tische des Wohnzimmers brannte eine Lampe, Hartmut aber lag ausgestreckt auf dem Ruhebett in einer Stellung, die Ermüdung und Abspannung verrieth.

„Du ruhst wohl auf Deinen Lorbeeren?“ fragte der junge Fürst lachend, indem er näher trat. „Verdenken kann ich Dir das nicht, denn Du hast heute keine Minute lang Ruhe gehabt. Es ist doch ein etwas anstrengendes Geschäft, ein neu aufgehender Stern am Dichterhimmel zu sein, es gehören wirklich Nerven dazu. Die Leute reißen sich ja beinahe um die Ehre, Dir Schmeicheleien sagen zu dürfen. Du hast heut einen förmlichen Empfang abgehalten.“

„Ja, und nun müssen wir noch zu Hofe!“ sagte Hartmut in einem matten, gleichgültigen Tone. Die Aussicht schien ihm nichts weniger als angenehm zu sein.

„Das müssen wir allerdings. Die hohen und höchsten Herrschaften wollen dem Sänger gleichfalls ihre Huldigung darbringen, meine allergnädigste Tante an der Spitze. Du weißt ja, sie ist

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so eine Art Schöngeist und glaubt in Dir eine verwandte Seele gefunden zu haben. Gott sei Dank! Dann befiehlt sie mich wenigstens nicht fortwährend an ihre Seite und vielleicht vergißt sie darüber auch die unglückseligen Heirathspläne. Aber Du scheinst mir sehr unempfindlich zu sein gegen die fürstlichen Liebenswürdigkeiten, die schon gestern von allen Seiten auf Dich einregneten. Du antwortest ja kaum, bist Du nicht wohl?“

„Ich bin müde! Ich wollte, ich könnte all diesem Lärm entrinnen und mich nach dem stillen Rodeck flüchten.“

„Nach Rodeck? Nun, da muß es jetzt lieblich sein, im Novembernebel und in den nassen entblätterten Wäldern. Brrr – ein wahrer Gespensteraufenthalt!“

„Gleichviel, ich habe eine förmliche Sehnsucht nach dieser düsteren Einsamkeit und ich gehe auch nächstens auf einige Tage dorthin. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?“

„Sehr viel habe ich dagegen!“ rief Egon entrüstet. „Ich bitte Dich um Gotteswillen, was ist das für ein Einfall! Jetzt, wo die ganze Stadt den Dichter der ‚Arivana‘ auf den Schild hebt, willst Du ihr Deine hohe Gegenwart entziehen und all den Triumphen und Huldigungen entfliehen, um Dich bei lebendigem Leibe in ein spukhaftes kleines Waldnest zu vergraben, das höchstens bei Sonnenschein erträglich ist. Man wird das unerhört finden.“

„Meinetwegen! Ich brauche jetzt Einsamkeit und Ruhe – Ich gehe nach Rodeck!“

Der junge Fürst schüttelte den Kopf. Er war es zwar gewohnt, daß sein Freund in dieser herrischen rücksichtslosen Weise verfügte, wenn ihn gerade die Laune anwandelte, und hatte ihn selbst nach Kräften darin verwöhnt; dieser Einfall aber erschien ihm doch gar zu sonderbar.

„Ich glaube, unsere Allergnädigste hat recht,“ sagte er, halb scherzend, halb vorwurfsvoll. „Sie meinte gestern im Theater: ‚Unser junger Dichter hat Launen, wie alle Poeten!‘ Ich finde das auch. Was hast Du denn eigentlich, Hartmut? Gestern und heute den ganzen Tag strahltest Du nur Triumph und Freude, und jetzt, wo ich Dich kaum eine Stunde allein gelassen habe, finde ich Dich in einem förmlichen Schwermuthsanfall. Haben Dich etwa die Zeitungen geärgert? Vielleicht irgend eine boshafte, neidische Kritik?“

Er deutete nach dem Schreibtische, wo die Abendzeitungen entfaltet lagen.

„Nein, nein!“ entgegnete Rojanow hastig, aber er wandte dabei den Kopf seitwärts, so daß sein Gesicht im Schatten blieb.„Die Blätter bringen ja erst vorläufige Besprechungen und die sind sämmtlich schmeichelhaft. Du weißt ja, ich bin bisweilen solchen Stimmungen unterworfen, die mich oft ohne jede Ursache überfallen.“

„Ja, das weiß ich, aber jetzt, wo das Glück Dich von allen Seiten überströmt, sollten sie Dir doch fern bleiben. Du siehst wirklich angegriffen aus, das kommt von der Aufregung, die wir beide in den letzten Wochen durchgemacht haben.“

Er beugte sich besorgt über den Freund, der ihm, wie in aufwallender Reue über sein schroffes Wesen, die Hand hinstreckte.

„Verzeih, Egon! Du mußt Geduld mit mir haben – es wird vorübergehen.“

„Das hoffe ich, denn ich will doch heut abend Ehre einlegen mit meinem Dichter. Jetzt aber werde ich gehen, damit Du Dich ausruhen kannst. Laß Dich heut von niemand mehr stören, wir haben noch drei volle Stunden bis zur Abfahrt.“

Der junge Fürst ging. Er hatte es nicht gesehen, wie bitter es um Hartmuts Lippen zuckte, als er von dem „überströmenden Glück“ sprach, und doch hatte er die Wahrheit gesprochen. Ruhm war ja Glück, vielleicht das höchste im Leben, und der heutige Tag hatte den Triumph des gestrigen nur fortgesetzt bis plötzlich, vor einer Stunde, ein greller Mißton in diese schmeichelnden Klänge gefallen war.

Der junge Dichter hatte, als er in sein Zimmer zurückkehrte, die Zeitungen durchflogen, die er auf denm Schreibtische fand. Sie brachten zwar noch keine ausführlichen Besprechungen der „Arivana“, erkannten aber einstimmig den großen Erfolg und den mächtigen Eindruck des Werkes an und verhießen eingehende Kritiken für morgen; überall war von Hartmut Rojanow die Rede. Da stieß dieser, als er das letzte Blatt umwandte, auf einen anderen Namen, bei dem es ihn mit jäher, schreckensvoller Ueberraschung durchzuckte. Im nächsten Augenblick erkannte er freilich, daß er nicht damit gemeint war. Die betreffende Notiz berichtete, die jüngste Reise des preußischen Gesandten nach Berlin scheine doch bedeutungsvoller gewesen zu sein, als man annehme. Herr von Walmoden habe in der Audienz, die er gleich nach seiner Ankunft bei dem Herzog gehabt, offenbar wichtige Dinge zur Sprache gebracht, und jetzt werde ein höherer preußischer Offizier erwartet, der Träger einer besonderen Sendung bei Seiner Hoheit sei. Es handele sich zweifellos um militärische Angelegenheiten, und Oberst Hartmut von Falkenried werde schon in den nächsten Tagen eintreffen.

Hartmut hatte das Blatt fallen lassen, als sei es plötzlich glühendes Eisen geworden. Sein Vater kam hierher und erfuhr dann sicher durch Walmoden alles, musste alles erfahren; die Möglichkeit eines Zusammentreffens war ja dann unendlich nahe gerückt!

„Wenn Du Dir eine große, stolze Zukunft errungen hast, dann tritt wieder vor ihn hin und frage, ob er es noch wagt, Dich zu verachten!“ hatte Zalika ihrem Sohne zugeflüstert, als er sich gegen die Flucht, gegen den Bruch seines Ehrenwortes sträubte. Jetzt war der Anfang zu dieser Zukunft gemacht. Der Name Rojanow trug bereits den Lorbeer des Dichters, und damit war die ganze Vergangenheit ausgelöscht; sie sollte und mußte es sein, diese Ueberzeugung stand in dem Blick, den Hartmut gestern so triumphierend zu der Loge des Gesandten emporgeschickt hatte. Aber jetzt, wo es sich darum handelte, dem Auge des Vaters zu begegnen, erbebte der Trotzige doch, dies Auge war das einzige, was er fürchtete auf der Welt.

Er war halb und halb entschlossen, nach Rodeck zu gehen und erst zurückzukehren, wenn er durch die Zeitungen erführe, daß jener „hohe Offizier“ wieder abgereist sei. Und doch hielt ihn etwas, eine geheime, aber brennende Sehnsucht. Vielleicht war gerade jetzt, wo sein Dichterruhm so glänzend aufstieg, die Stunde der Versöhnung gekommen, vielleicht sah Falkenried ein, daß eine solche Kraft Freiheit und Leben brauchte, um sich zu enthalten, und verzieh den unseligen Knabenstreich, der ihn bei seinen Anschauungen sicher tief und schwer getroffen hatte. Es war ja doch sein Kind, sein einziger Sohn, den er damals an jenem letzten Abende in Burgsdorf mit so leidenschaftlicher Zärtlichkeit in die Arme geschlossen hatte. In der Seele Hartmuts wuchs bei dieser Erinnerung übermächtig die Sehnsucht nach diesen Armen, nach der Heimath, die ihm ja dann auch nicht mehr verloren war, nach der ganzen, trotz des äußeren Zwanges doch so glücklichen, so reinen und schuldlosen Knabenzeit.

Da öffnete sich die Thür, und der Diener trat ein mit einer Karte auf dem Teller, die er überreichen wollte. Rojanow machte eine ungeduldig zurückweisende Bewegung.

„Ich sagte Ihnen doch, daß ich heute niemand mehr spreche, ich will ungestört sein.“

„Ich habe den Herrn auch abgewiesen,“ berichtete der Diener, „aber er bat mich, in diesem Falle Herrn Rojanow wenigstens seinen Namen zu nennen – Willibald von Eschenhagen.“

Hartmut fuhr plötzlich aus seiner liegenden Stellung empor, er glaubte nicht recht gehört zu haben.

„Wie nennt sich der Herr?“

„Von Eschenhagen, hier ist seine Karte.“

„Ah – lassen Sie ihn eintreten! Sofort!“

Der Diener ging, und in der nächsten Minute trat Willibald ein, blieb aber ungewiß und zögernd an der Thür stehen. Hartmut war aufgesprungen und blickte ihm entgegen: ja, das waren noch die alten Züge, das liebe vertraute Gesicht, die ehrlichen blauen Augen seines Jugendfreundes, und mit dem leidenschaftlichen Ausrufe: „Willy! Mein alter lieber Willy, Du bist es! Du kommst zu mir!“ warf er sich stürmisch an seine Brust.

Der junge Majoratsherr, der nicht ahnte, wie seltsam sein Erscheinen gerade in diesem Augenblick mit alten Erinnerungsträumen seines Jugendfreundes zusammenfiel, war fast bestürzt über diesen Empfang. Er erinnerte sich, wie Hartmut sich immer herrisch gegen ihn gezeigt und ihn seine geistige Ueberlegenheit bei jeder Gelegenheit hatte fühlen lassen; er hatte gemeint, der gestern so hoch gefeierte Dichter der „Arivana“ müsse noch viel herrischer und hochmüthiger sein, und nun fand er eine überströmende Zärtlichkeit.

(Fortsetzung folgt.)




[285]

Bilder aus dem Landsknechtsleben.

Von H. Bauer. 0Mit Zeichnungen von Peter Schnorr.
II.
Blüthe und Verfall. – Karl v. Bourbon und Georg von Frundsberg.


 Karl v. Bourbon.   Sebastian Schertlin v. Burtenbach.  
Georg v. Frundsberg.

Länger als ein Jahrhundert lag die Entscheidung fast aller Kriege Europas in den Händen der deutschen Landsknechte. Nicht nur auf dem blutgetränkten, Heere verschlingenden Boden Italiens fochten sie für des römischen Reiches deutscher Nation Ehre und Macht, mitunter auch gegen beide; nein: das damals schon sich innerlich mehr und mehr lockernde Staatengefüge verschwendete seine unerschöpflich scheinende kriegerische Kraft, welche Maximilian lebendig gemacht hatte, an fremde Interessen und Strebungen, wenn diese Kraft nicht gar von Soldgier verleitet, gegen ihr Vaterland sich kehrte. Wenn deutsche Landsknechte Ungarn eroberten und gegen die Türken vertheidigten, so setzten sie, freilich ohne sich dessen immer bewußt zu sein, ihr Leben für die europäische Civilisation, für des Reiches Ostmarken ein. Aber schon gegen das Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts finden wir im Lager Frankreichs vor dem tapfer durch deutsche Landsknechte vertheidigten Neapel deutsche Handwerksgenossen derselben, welche unter dem Lilienbanner ihr Blut wider den deutschen Kaiser vergossen. Deutsche Landsknechte waren es, welche dem Moskowiter Iwan IV. oder dem Schrecklichen es ermöglichten, gegen die Polen das Feld zu halten, welche Schweden der Union unterwarfen, in England gegen die Sache der Yorks mit seltsamem Feuereifer kämpften, welche endlich der französischen Krone lange die Bretagne streitig machten und unter Frankreichs Königen ebenso tapfer als ruhmlos die Waffen führten; ruhmlos, da die Fremde geflissentlich ihre braven Thaten todtschwieg, Verräther am Vaterland, aber treu bis zur Aufopferung dem fremden Soldherrn. Wohl suchten Frankreichs Könige die deutschen Söldner überflüssig zu machen, indem sie unternehmende französische Ritter veranlaßten, aus französischem Volke ähnliche Scharen zu bilden, ein Versuch, bei welchem namentlich jener von Schiller in der Ballade „Der Handschuh“ besungene Ritter M. Delorges eifrig mitwirkte. Es blieb indessen bei dem Versuche. Die „unerschöpfliche Mutter der Soldaten“ hieß den Völkern Europas damals unser Vaterland.

Leicht wäre es nun, wollten wir ein verschönerndes Bild deutschen Kriegswesens im 16. Jahrhundert entwerfen, dem Stande der frommen Landsknechte einen Ruhmeskranz strahlenden Heldenthums zu flechten. Denn der Raum dieser gedrängten Skizze würde nicht ausreichen, um nur in größter Kürze alle diejenigen Kriegsthaten zu schildern, durch welche die Soldläufer, über sich selbst sich erhebend, des Lobes echten Ritterthums sich werth gemacht haben. Wollten wir das Landsknechtsthum in seiner schönsten, idealsten Entwicklung zeigen, wir brauchten bloß jenen „königlichen“ Krieg um Pavia zu schildern, so genannt, weil Franz I. von Frankreich mit dem Könige von Navarra und anderen königlichen Helden in der dortigen Entscheidungsschlacht kämpfte.

Die Schlacht von Pavia an dem denkwürdigen 24. Februar 1525 würde ja auch sonst für die Kennzeichnung des damaligen Kriegswesens sich besonders eignen, weil in ihr das alte, romantische Ritterthum noch einmal in unmittelbaren Wettstreit seiner persönlichen Tapferkeit mit den Massen namenloser Fußknechte trat, in einen Wettstreit, welcher in beiderlei Hinsicht, ob nun die Landsknechte als Gegner oder als die Mitstreiter jener Harnischreiter auftraten, zum Nachtheile der letzteren ausfiel. Es möge hier nur ein Begebniß angeführt sein.

Als die Kaiserlichen in den ummauerten Thiergarten von Pavia eindrangen, geriethen zuerst ihre deutschen und spanischen Ritter mit den französischen aneinander. Die französischen Ritter, die sich in der Uebermacht befanden, brachten ihre Gegner in hartes Gedränge. Der kaiserliche Feldherr Marchese di Pescara merkte die Noth. Schon sein Aufzug kennzeichnet ihn im Gegensatze zu der in bunt gestickten Sammetröcken, vergoldeten Stahlrüstungen auf gepanzerten, wunderlich geputzten, schweren Hengsten streitenden Ritterschaft als Vertreter des neuen Kriegswesens. Auf leichtem Pferde, in Landsknechtstracht, den Spieß in der Hand, fliegt er zu den spanischen „Arcabuceros“, den ständigen Gefährten der im kaiserlichen Dienste südlich der Alpen streitenden Landsknechte, und giebt einem Hauptmann einen kurzen Befehl. Auf dessen Wink springen einige hundert mit langen Luntenflinten bewaffnete Pyrenäenschützen aus dem Haufen hervor, umgehen im Laufe von hinten die französischen Ritter und senden, mit besonderer Kunst rasch feuernd, einen Stahl und Eisen durchschmetternden Kugelregen auf Mann und Roß. Bestürzt sehen die Eisenreiter einen der Kampfgefährten nach dem andern von unsichtbarer Gewalt dahingerafft. Sie stutzen, wenden sich, vertheilen sich in kleinere Gruppen und werfen sich auf die kecken Schützen. Aber diese Gebirgskinder sind behender als die schwergepanzerten Hengste; wie leichtes Gewölk theilen sie sich vor den Ansprengenden, fassen sie wieder in Flanke und Rücken, die Wuthschäumenden zur Verzweiflung bringend. Da sank der Adel Frankreichs vor den Kugeln gering geachteter Fußknechte von den hohen Rossen sieglos in den Staub, und die unter dem Schutze des verheerenden Schnellfeuers (nach damaligen Begriffen) wieder gesammelten kaiserlichen Ritter vollendeten dann die Niederlage. Den entscheidenden Schlag aber führten die deutschen Landsknechte unter Georg von Frundsbergs Führung, indem sie die „Schwarze Schar“ erschlugen und die Schweizer in den Tessin sprengten, dessen Wasser von deren Blute sich röthete.

[286] Mehr noch als diese Thaten verdiente die Ausdauer der von Franz in Pavia eingeschlossenen deutschen Landsknechte gerühmt zu werden, welche weder durch die äußerste Hungersnoth, noch durch des Feindes Lockungen, obgleich sie fast gänzlich ohne Sold blieben, von ihrem Eide abgebracht werden konnten, die Stadt bis zum Entsatze zu halten.

Wir könnten ausführlicher noch die kindliche Frömmigkeit der Landsknechte schildern, die nicht ganz umsonst die „frommen“ genannt wurden; es genügt der Hinweis auf ihren Brauch, vor jedem Sturm oder zu bestehenden Angriffe auf die Kniee zu fallen und ein geistlich Lied zu singen. Auch vor dem Aufstehen vom Gebet drei handvoll Erde nach uralter Sitte rückwärts über das Haupt zu werfen, versäumte keiner der Todgeweihten. Die Welschen begriffen solches Thun nicht, und selbst Paul Jovius meint einmal, die Deutschen hätten sich wohl aus Furcht vor den Kanonenkugeln niedergeworfen!

Wir könnten endlich eine Reihe von Winkelriedsthaten erwähnen, denn solche Aufopferung des einzelnen findet sich in der Zeit der enggeschlossenen, mit langen Spießen bewehrten Schlachthaufen wiederholt, wenn des Vaterlandes Noth oder die kriegerisch-nationale Eifersucht die Gemüther mehr als gewöhnlich erregte. In der Schlacht bei Ravenna, 1512, opferte sich so, um in den „Igel“ der Spanier Bresche zu legen, der starke Hauptmann Fabian von Schlaberndorf, ein Sachse.

Lassen wir uns hieran genügen! Ein der durchschnittlichen Wirklichkeit näher kommendes Bild bietet ein anderer Feldzug: der des kaiserlichen Heeres in den Jahren 1526 und 1527 gegen Rom; er zeigt uns das Landsknechtswesen in jener Entwicklung, die es nehmen mußte; war es doch, aus dem Verfalle der mittelalterlichen Auffassung des Kriegsdienstes als einer an Lehen geknüpften Ehrenpflicht entstanden, eine gegen Sold geübte handwerksmäßige Waffenleistung geworden. Zugleich aber wirkten gerade in dem eben erwähnten Feldzuge doch auch Antriebe höherer, mehr idealer Art auf die rauhen Gesellen ein, die unser Interesse für sie doch immer wieder beleben, wenn wir uns eben vielleicht, empört über barbarische Ausschreitungen, von ihnen wenden wollen. Und endlich finden der volksthümlichste aller Landsknechtsführer, der wackere, ehrenfeste Georg von Frundsberg, und der glänzendste derselben, der durch seine fürstliche Herkunft wie durch sein schweres Geschick und seine Schuld dreifach anziehende Karl von Boürbon, während desselben ihr tragisches Ende.

Franz I. von Frankreich, 1525, bei Pavia gefangen genommen, hatte, im Frühjahr wieder freigelassen, dem Kaiser Karl V. alsbald Eid und Vertrag gebrochen; zwei Monate nach seiner Freilassung brachte er mit dem Papste Clemens VII., mit des Reiches Lehensmann Francesco Sforza von Mailand, mit der Republik Venedig etc. die „Heilige Liga“ zum Abschluß.

Der kaiserliche Generalkapitän in Italien war Karl von Bourbon; er ward bald eng umlagert in dem durch die endlosen Kriege verödeten Mailand, dessen Einwohnerrest nur durch die grausamste Strenge in Gehorsam gehalten werden konnte.

Karl von Bourbon, der Geburt nach der erste Prinz von Geblüt in Frankreich, ragte noch vielmehr als durch Geburt durch südländische Mannesschönheit und ritterliche Erscheinung über seine Umgebung empor; sein Unglück war, daß er mit diesen Eigenschaften und mit seinem Reichthum sogar den König überragte, und daß er sich dessen bewußt war. Geflissentlich entwickelte er oft einen übertriebenen Glanz, und wenn er dem Könige in Liebeshändeln den Rang abgelaufen hatte, wies er dessen eifersüchtige Wallungen mit beißenden Bemerkungen zurück. So wurden Verhältnisse und Eigenschaften, welche ihn zu besonders glücklichem Lebensgenusse vorherbestimmt erscheinen ließen, die Quelle seines Unglücks.

Die Wendung in seinem Leben trat ein, als seine glänzenden Eigenschaften gerade den scheinbar stolzesten Triumph errangen, als des Königs Mutter, die verwitwete Herzogin von Angoulême, die allerdings schon im vierzigsten Lebensjahre stand, sich sterblich in den dreizehn Jahre jüngeren Mann verliebte und ihm geradezu ihre Hand anbot. Bourbon, damals bereits Connetable, das heißt erster Kronfeldherr, wies das liebeskranke Weib, das ihm gegenüber bisher als fördernder Schutzgeist gewirkt hatte, kalt ab und verschärfte die Kränkung noch, indem er sich gleich darauf mit der schwächlichen, unschönen, verwachsenen Susanna von Bourbon-Beaujeu, einer Enkelin Ludwigs XI., vermählte. Nur der Wunsch, das gesammte Erbe des Hauses Bourbon in seiner Hand zu vereinigen, konnte ihn hierzu bewogen haben. Der Connetable hatte in manchen Kränkungen bald die Rache der Verschmähten zu spüren, aber in den bösen Dämon seines Lebens verwandelte sie sich erst, als er sechs Jahre später, 1522, nachdem ihm Kind und Gattin gestorben waren, abermals, und zwar mit unverhohlenem Widerwillen, die Hand der in Sehnsucht nach seinem Besitze sich Verzehrenden ausschlug; und diesmal hatte, wie behauptet wird, der König selbst den Freiwerber für sie gemacht.

Nun folgte Kränkung auf Kränkung, seine Einkünfte wurden gekürzt, und schließlich wurde ihm die Gesammterbfolge des Hauses Bourbon streitig gemacht; es drohte ihm der Verlust fast aller seiner Güter, denn seine hohen Feinde fanden willige Richter. In den finsteren Stunden, welche solche Verhältnisse mit sich brachten, war es nun, daß fremde Einflüsterungen Eingang in seinem Herzen fanden, daß er, Ehre und Pflicht vergessend, sich dem Kaiser Karl V. und dem König Heinrich VIII. von England zuschwor zu einem Anschlage auf Frankreich, während Franz I. auf einem damals geplanten Kriegszuge nach Italien abwesend wäre. Was ihm der Kaiser bot, war nichts Geringeres als die Hand seiner Schwester Eleonore, der verwitweten Königin von Portugal, nebst 200 000 Thalern Mitgift außer ihrem großen Vermögen. Aber die Verschwörung kam an den Tag, und dem Connetable blieb nichts übrig, als sich Franz I., welcher sich großmüthig zeigte, reuevoll zu Füßen zu werfen oder ganz und für immer ins Lager der Feinde zu gehen. Er entschloß sich zum letzteren, und indem er, Krankheit heuchelnd, sich dem zu Felde ziehenden Könige fern hielt, gelang es ihm unter den größten Gefahren, über die Grenze zu entkommen. Aber er, welcher sich vermessen hatte, halb Frankreich dem Kaiser zu Füßen zu legen, kam jetzt allein, als angstentstellter Flüchtling, in der Freigrafschaft Burgund an. Franz I. gab den geplanten Feldzug auf. Bourbon aber mußte bald erfahren, daß ihm nun ein Makel anhing, den kein Heldenthum zu verwischen vermochte und den selbst die Feinde seines Königs ihn empfinden ließen. Sogar seine Triumphe wurden ihm durch seinen Verrath vergällt. Als siegreicher kaiserlicher General mitleidsvoll zu dem tödlich verwundeten, sterbend unter einem Baum an der Sesiabrücke liegenden Bayard tretend, mußte er sich von diesem mit herbem Vorwurfe und warnender Weissagung wegscheuchen lassen. Er erlebte zwar den Triumph, als Sieger mit den anderen kaiserlichen Generalen vor den bei Pavia gefangen genommenen König Franz treten zu können, aber dessen und der anderen Generale Verhalten verbitterte ihm auch diesen Augenblick befriedigter Rache. Selbst von den eigenen Truppen hatte er Kränkendes zu vernehmen. Ritt er auf dem Marsch die Reihen der spanischen Arcabuceros entlang, so sangen diese nach ihrer Sitte wohl Lieder auf ihn, in welchen sie seine Kriegsthaten mit denen eines Julius Cäsar, Hannibal und Scipio verglichen; es flochten sich aber immer auch Strophen in diese Soldatenlieder, in welchen auf seine Armuth, sein besitzloses landflüchtiges Soldritterthum in derber Weise hingedeutet wurde; er, der General, hieß es da wohl, sei so arm wie der ärmste Teufel unter seinen Soldaten, und er – mußte verbindlich dazu lächeln. Die herbste Verdammung aber ward ihm von jenem spanischen Granden zu theil, der auf Befehl Kaiser Karls ihn in seinem Palaste beherbergen mußte. Kaum war Bourbon weiter gezogen, so ließ dieser Edelmann seinen Palast in Brand stecken und die Trümmer dem Erdboden gleich machen: das Haus seiner Väter war ihm durch den Aufenthalt des landesverrätherischen Mannes für immer entweiht. Auch um die Hand Eleonorens wurde der Bourbon betrogen; der Kaiser sagte sie in seinem Friedensschluß mit Franz I., durch welchen dieser aus der Gefangenschaft erlöst wurde, dem Könige von Frankreich zu, um freilich alsbald selbst von diesem wieder betrogen zu werden.

Neben Karl von Bourbon hatte schon im „königlichen Kriege“, wie erwähnt, Georg von Frundsberg, der „Vater der Landsknechte“, mit höchster Auszeichnung gefochten und mit das Beste zur siegreichen Entscheidung gethan. Er hatte seitdem auf seinem Schlosse Mindelheim in Schwaben gesessen. Nur einmal, durch den Bauernkrieg, war diese seine Ruhe unterbrochen worden. Im Algäu und in Salzburg hatte er die aufrührerischen Bauern zum Gehorsam zu bringen. Aber voll Erbarmen mit dem unglücklichen Volke vermied er gewaltsame Entscheidung und stellte Ruhe und [287] Ordnung durch geduldige Behandlung und unblutige Kriegslist wieder her. Dem Kriegshandwerke war er herzlich gram „wegen der Verderbung und Unterdrückung der armen unschuldigen Leute, des unordentlichen und sträflichen Lebens des Kriegsvolks und der Undankbarkeit der Fürsten, bei denen die Ungetreuen hoch kommen und reich werden, und die Wohlverdienten unbelobt bleiben“ – hatte er doch nach der Schlacht von Pavia ein „Klageliedlein über der Fürsten Undank“ verfaßt, das er sich oft vor Tisch von vier Stimmen mit Instrumentalbegleitung vorsingen ließ und das noch erhalten ist.

In solcher Stimmung, mit solchen Erfahrungen war der Dreiundfünfzigjährige nicht angenehm überrascht, als im Herbste l526 Briefe von Karl von Bourbon, dem Erzherzog Ferdinand und Georgs Sohn Kaspar, der in Mailand mit Bourbon belagert wurde, auf Schloß Mindelheim eintrafen und ihn zu schleunigem Zuzug wider die Liga aufforderten, da er der Kaiserlichen einzige Hoffnung sei. Vor der in des Kaisers Namen an ihn ergangenen Aufforderung hatte der Entschluß Frundsbergs, dem Herrendienst ferne zu bleiben, keinen Bestand. Was aber ihn und andere besonders anfeuerte, diesmal dem Kaiser ihren Dienst noch weniger als sonst zu versagen, war der Umstand, daß es auch gegen den Papst ging. Frundsberg hoffte, durch dessen Niederwerfung den durch ein Bündniß altgläubiger Fürsten bedrohten Evangelischen in Deutschland Luft zu machen. War er auch noch nicht förmlich zur neuen Lehre übergetreten, hatte er, altem Brauche getreu, trotz des Spottes der Spanier und Italiener, auch noch bei Pavia über dem Harnisch eine Franziskanerkutte getragen – Luther selbst legte erst im Herbste 1524 die Augustinertracht ab – er, der Freund des Reformators, war der kirchlichen Neuerung doch von Herzen zugethan. Für solchen Zweck brachte er große Opfer; da Oesterreichs Kassen leer waren, lieh er bei reichen Augsburger Kaufherren Geld auf verschiedene seiner Besitzungen, verpfändete sein Silbergeschirr, seiner Frau Kleinodien, verkaufte seinen Antheil am Bergrecht zu Gossensaß und benutzte seinen Kredit bei Freunden.

Fünfunddreißig Fähnlein Landsknechte, über zwölftausend „reiselustige Gesellen“, brachte er in Schwaben und Tirol mit den so erhaltenen Geldmitteln zusammen, darunter manchen, der in den späteren Religionskriegen auf evangelischer Seite sich hervorgethan hat; so Sebastian Schärtlin von Burtenbach und Kurt v. Bemmelberg. Letzterer, der unter seinen Waffengefährten den Namen „der kleine Heß“ führte, war namentlich durch Witz und schnelle Zunge bekannt. Als bei einem Gelage einmal ein hochgeborener Herr äußerte, die Fürsten haben unter allen Umständen im Himmel ihre Stühle und Sessel bereitstehen, und, zu dem Obersten gewandt, „nicht wahr, Kurt?“ beifügte, erwiderte dieser alsbald: „Ja, gnädiger Herr, ich habe es auch gehört, daß die Sessel da sein sollen, aber der mehrere Theil gar bestäubt, daß der Staub höher denn spannendick darauf liegt.“

Die ganze adlige Sippschaft Frundsbergs schloß sich dem Heere an, sein Sohn Melchior, der in Wittenberg den Studien oblag, eilte thatenlustig herbei, und unter den Hauptleuten finden sich gar manche bekannte Ritternamen aus ganz Süddeutschland, das Elsaß mit eingeschlossen. Aber auch viele Namen bürgerlicher Hauptleute und Fähndriche, welche weitbekannte Kriegsleute waren, weist die Musterrolle auf, manche darunter nicht ohne humoristischen Klang, wie z. B. den des Hauptmanns Stephan Weinundbrot. Und so ging’s nun dem Süden zu.




Bismarcks Abschied von Berlin.

Mit Bild Seite 289.

Kaum stärker und überzeugender konnte sich dem aufmerksamen Beobachter die ewige Kraft alter Wahrheiten aufdrängen, als in den Tagen, wo es feststand, daß der große Kanzler die Reichsfeder aus der Hand legen werde und zu dem Entschluß gelangt sei, in ländlicher Zurückgezogenheit zu Friedrichsruh sein Leben zu beschließen. Eine ewige Wahrheit aber bleibt, daß nichts so Großartiges in dieser wechselnden Welt geschehen kann, das nicht durch den Eindruck des Neuen, und sei’s auch nur durch das, was des Tages Welle täglich unverändert an den Strand spült, in seiner Bedeutung herabgedrückt wird.

Während der Ungewißheit über den Anfang dieses großen geschichtlichen Ereignisses hatte sich allerdings der Berliner Bevölkerung eine starke Bewegung bemächtigt. Wenn es keineswegs dieselbe heftige und leidenschaftliche Regung war, welche sich zu Lebzeiten Kaiser Friedrichs bei gleichem Anlaß kundgab, so ist dies sicher auf den Umstand zurückzuführen, daß einerseits durch jene Vorgänge der Gedanke an die Möglichkeit eines Rücktrittes bereits Wurzel geschlagen hatte und dadurch der außerordentliche Eindruck abgeschwächt wurde, andererseits die Bevölkerung von der Ueberzeugung dürchdrungen war, der Kanzler wolle gehen, und der Kaiser empfinde seinen Entschluß in gleicher Stärke wie der begeistertste Anhänger des Scheidenden.

Nach der endgültigen Thatsache trat aber eine unnatürlich ruhige Ergebung in das Unvermeidliche ein, und wenn auch die Meinungen sich theilten, wenn auch das jüngere Geschlecht, insbesondere die Studentenschaft, wenn auch die Frauen, Militärpersonen und Beamten vielfach eine fast stürmische Sympathie äußerten, wenn auch in der übrigen Bevölkerung bei manchen sich eine Stimmung bemerkbar machte, die nahe daran war, in der Lebhaftigkeit des Gefühls nach den Trauerfahnen zu greifen, die so oft in kurzer Zeit das Leid der Menge über das Hinscheiden eines edlen Hohenzollern zum Ausdruck gebracht hatten, so blieb doch im allgemeinen Berlin in dem gewohnten, ruhigen Schritt, und gegen das Wort Bismarck tauschte sich lediglich der Name Caprivi.

Und dennoch wäre es falsch, wollte man glauben, daß Dankbarkeit, Verehrung und Bewunderung für den Mann, der Deutschland sein gebietendes Antlitz verliehen, aus dem Herzen der Bevölkerung gewichen sei. Bei dem Scheiden des großen Kanzlers sind ihm Huldigungen dargebracht worden, die einen überwältigenden und zugleich rührenden Charakter trugen. Des Fürsten Abreise aus Berlin wird die Geschichte in ihre Tafeln einzeichnen, und wer theilgenommen hat an diesen tief aus dem Herzen dringenden Kundgebungen, wird den Eindruck nie wieder vergessen.

Als sich am Sonnabend den 29. März die Nachricht verbreitete, daß der Reichskanzler an diesem Tage Berlin für immer verlassen werde, war schon um die Mittagsstunde das Palais in der Wilhelmstraße umlagert. Aber erst gegen 41/2 Uhr machten sich die Anzeichen der Abreise bemerkbar, indem sich die mit dem Gepäck der fürstlichen Familie beladenen Wagen in Bewegung setzten. Als die zur Abschiedsehrenwache bestimmte Schwadron der Gardekürassiere mit Standarte und Regimentsmusik an dem Palais vorüber nach dem Lehrter Bahnhof zog, begannen sich auch die Linden bis zum Brandenburger Thor mit Menschenmassen zu füllen, und als endlich kurz nach 5 Uhr die fürstliche Familie, der Kanzler mit seinem Sohn Herbert voranfahrend, erschien, schollen brausende Hochrufe ihr entgegen. Aber es blieb dabei nicht. Schon in der Wilhelmstraße hatte sich das Publikum stürmisch und begeistert an den Fürsten herangedrängt. Hände streckten sich aus, dichter zog sich der Kreis, der Schutzleute nicht achtend. Da jeder noch einmal in die Nähe des nun für immer Scheidenden gelangen wollte, ward der Wagen umringt und gehemmt und vermochte sich nur im langsamen Schritt fortzubewegen. Frauen überschütten den Fürsten mit Blumen, vielen reicht er bewegt die Hand, und erst allmählich wird die Bahn frei und erreicht der Kanzler, bis zum Ziel von den lebhaftesten Kundgebungen begrüßt, den Bahnhof.

Hier aber gestaltete sich die Feier in noch weit großartigerer Weise. Zahlreiche Damen, die schon seit fast einer Stunde des Kommenden geharrt hatten, überreichten dem Kanzler abermals Blumensträuße, und betäubende Hurrah von seiten der dicht aufgestauten Massen erfüllten die Luft. Bald nach fünf Uhr nahm die Ehrenwache der Gardekürassiere in ihren schimmernden Uniformen mit gezogenem Säbel Stellung auf dem Bahnsteig; vor dem Bismarckschen Salonwagen hatte sich ein auserwählter Kreis von der fürstlichen Familie nahestehenden Personen eingefunden, Vertreter des Kaisers, Gesandte, hohe Militärs, Minister, höhere Beamte hatten sich ihnen angeschlossen, und auch der neue Reichskanzler von Caprivi ragte unter der Menge hervor. In der Halle des Bahnhofs überreichten Abgesandte des Kaisers und der Kaiserin dem Fürsten Bismarck wundervolle Blumen, ein Veilchenkissen, in dessen Mitte sich ein prachtvoller Lorbeerkranz mit schwarz-weiß-rother Schleife befand, und einen Korb mit duftendem Flieder, der von rothen und weißen Rosen umgeben war. Bis zur Eingangspforte schritten die Versammelten dem Fürsten entgegen, eine Fanfare der Militärmusik ertönte, jubelnd fiel das Publikum draußen und drinnen ein, und ein langer Austausch von Händedrücken erfolgte zwischen dem Scheidenden und den Abschiednehmenden.

Beim Beschreiten der Treppenstufen näherte sich nun auch das übrige Publikum dem Kanzler; abermals boten Damen herrliche Blumen dar, und fast erdrückt von den Beweisen der Verehrung stand mitten in dem Knäuel der Fürst, streckte dankend die Hände aus oder nahm die Blumenspenden in Empfang. Auf seinem mächtigen Antlitz sah man die wechselnden Empfindungen, die auf ihn eindrangen, als stürmische Rufe „Auf Wiedersehen“ an sein Ohr schlugen, und in diesen Augenblicken empfing der Scheidende sicher den Eindruck, daß unverfälschtes, von keinen Nebenabsichten beeinflußtes Gefühl diejenigen leitete, die ihm hier den letzten Abschiedsgruß oder eine Abschiedsgabe entgegenbrachten. Endlich war der Augenblick gekommen; das zweite Zeichen ward gegeben, und der Fürst, begleitet von seinen Angehörigen, bestieg den Wagen, nachdem er die ihm nahestehenden Minister umarmt und nochmals vielen die Hände gereicht hatte.

Abermals betäubende, nicht enden wollende Hoch- und Hurrahrufe, ein letztes „Auf Wiedersehen“, dem das „Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“ in mächtig brausendem Gesange folgte. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und da, wie ein alles durchbrechender Strom, stürzte das Publikum nochmals an den Salonwagen und begleitete den „aus Amt und Würden scheidenden großen Kanzler“, bis die rascher rollenden Räder ihn den Blicken entzogen. Hermann Heiberg.     




[288]

Blätter und Blüthen.


Benjamin Franklin. „Er entriß dem Himmel den Blitz, den Tyrannen das Zepter“ (Eripuit coelo fulmen sceptrumque tyrannis.) Mit diesen Worten wurde einst Benjamin Frankin von den französischen Akademikern geehrt, und in dem knappen Raume eines Hexameters kann die hohe Bedeutung des großen Amerikaners treffender nicht wiedergegeben werden; denn Benjamin Franklin war gleich hervorragend als Gelehrter wie als Staatsmann. Wenn mit dem Ausdruck „er entriß dem Himmel den Blitz“ auf Prometheus, der den Göttern das Feuer entwand, angespielt wird, so liegt keine Uebertreibung darin, denn Franklin war bei allen seinen Forschungen von dem Bestreben geleitet, die erweiterte Kenntniß der Naturkräfte praktisch zu verwerthen, und er ist ja der Erfinder des Blitzableiters.

In seinem Jahrhundert war er der Vorkämpfer einer neuen Zeit, einer Kulturepoche, in der wir groß geworden sind und die zu der erfolgreichsten der Menschengeschichte zählt. Es ist das Zeitalter des Dampfes, des Eisens und der Elektricität, in welchem die Naturkräfte dem Menschen unterthan wurden und die Industrie sowie der Verkehr einen fast märchenhaften Aufschwung genommen haben, das große Zeitalter der freien Entfaltung der menschlichen Gesellschaft, in welchem durch den ungehinderten Wettbewerb die Kraft des einzelnen gestählt wurde, in welchem die Erfindungen aufblühten und in welchem die Menschenliebe in freiem Staate sich so herrlich entfaltete.

Am 17. April sind hundert Jahre verflossen, seit Benjamin Franklin seine Augen geschlossen hat, und wenn wir heute sein Leben betrachten und die errungenen Fortschritte der Menschheit im raschen Fluge durchmustern, so wird es uns klar, daß Franklin eine der Muster- und Heldengestalten unseres zur Neige gehenden Zeitalters war. Sein Name ist jedem Schulkinde bekannt, denn von Geschlecht zu Geschlecht wurde er uns als Vorbild vorgeführt, dem wir nachstreben müßten, wenn wir durch Fleiß und Sparsamkeit vorwärts kommen, durch aufopfernde Thätigkeit für andere glücklich werden wollten. Die Jugend lernt frühzeitig seinen Lebenslauf kennen, und mit Recht! Denn muß sie nicht mit frischem Lehensmuth erfüllt werden, wenn sie erfährt, zu welchen Ehren das am 17. Januar 1706 geborene sechzehnte Kind eines Seifensieders zu Boston gelangen konnte? Das Leben streute dem Kinde keine Rosen auf den Weg; aber Lust zur Arbeit, Ausdauer und Fleiß räumten alle Widerstände hinweg. Wegen Mangels an Mitteln mußte Benjamin schon im 10. Lebensjahre die Lateinschule verlassen und wurde zunächst in der Seifensiederei seines Vaters, dann aber von seinem 12. Lebensjahre an in der Buchdruckerei seines Stiefbruders beschäftigt. Hier erschien eine Zeitung, und das journalistische Treiben riß Franklin zur geistigen Thätigkeit fort. Sein Beruf wurde zunächst der eines Druckers und eines Zeitungsherausgebers. Um eine eigene Druckerei zu gründen, unternahm er schon mit 18 Jahren eine Reise nach London. In seine Heimath zurückgekehrt, fand er in Pennsylvanien den günstigsten Boden für sein Wirken. Rasch gelangte er zu Amt und Würden und wußte sich als Oberpostmeister verdient zu machen. In Pennsylvanien entfaltete er auch sein gemeinnütziges Wirken. Ihm verdankt Philadelphia die erste öffentliche Bibliothek, die erste Feuerlöschanstalt und die Universität.

Um jene Zeit beschäftigte er sich auch mit dem Studium der Gewitter; er stellte zuerst die Ansicht auf, daß jene Furcht und Schrecken erregende Naturerscheinung ein elektrischer Vorgang sei, und gab der Menschheit in dem Blitzableiter das Mittel, sich vor der Gewalt der Elemente zu schützen. Seine für die damals wenig entwickelte Elektricitätslehre so wichtigen Anschauungen legte er nieder in dem Buche „New experiments and observations on electricity“ („Neue Versuche und Beobachtungen über die Elekricität“), eine Schrift, die sich in der gelehrten Welt erst nach und nach Anerkennung verschaffte und für die er 1753 von der Königlichen Gesellschaft in London die goldene Preismedaille erhielt.

Inzwischen war der Oberpostmeister von Pennsylvanien zum Generalpostmeister der amerikanischen Kolonien vorgerückt, und nun reifte in ihm, dessen Geist mit dem politischen Leben seiner Landsleute sich stets aufs lebhafteste beschäftigte, der große Gedanke eines Zusammenschlusses aller nordamerikenischen Kolonien, mit Bundesverfassung, Kongreß und Centralregierung – ein Gedanke, für den er später auch mit der That wirken durfte, indem er an der Unabhängigkeitserklärung der „Vereinigten Staaten“ am 4. Juli 1776 theilnahm. Im Dienste des Freistaates ging er wiederholt nach Europa und der günstige Friedensabschluß, der dem nordamerikanischen Freiheitskriege am 3. September 1783 ein Ende machte, war nicht zum geringsten Theil seinem diplomatischen Geschick zu verdanken.

Franklin war aber auch ein echter Volksmann, der den Aufschwung der emporstrebenden Bürgerkreise durch Wort und That zu fördern wußte. Der Verbreitung des Willens, der echten Voksbildung widmete er seine Kraft. Er war der Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek in der Neuen Welt, er schuf Bildungsvereine für Arbeiter und Handwerker, er gab einen vortrefflichen „Volkskalender“ heraus, und in seinem Buche „Sprichwörter des alten Heinrich oder die Weisheit des guten Richard“ hinterließ er einen Schatz nützlicher und doch edler Lebensweisheit.

Benjamin Franklin war einer der hervorragenden Männer, welche den Grundstein unserer heutigen Zeit gelegt haben. Dieses Verdienst erkannten schon seine Zeitgenossen an, und als er am 17. April 1790 aus dem Leben schied, legte die nordamerikanische Union die Nationaltrauer auf einen Monat an.

Sein Grab schmückt die Inschrift, die er selbst entworfen hat: „Hier ruht der Leib Benjamin Franklins, eines Buchdruckers (gleich dem Deckel eines alten Buches, aus welchem der Inhalt herausgenommen und der seiner Inschrift und Vergoldung beraubt ist), eine Speise für die Würmer; doch wird das Werk selbst nicht verloren sein, sondern, wie er glaubt, dermaleinst erscheinen in einer neuen schöneren Ausgabe, durchgesehen und verbessert von dem Verfasser.“

Von der Höhe, die sie in dem Kampfe eines Jahrhunderts errungen hat, strebt die menschliche Gesellschaft heute neuen Zielen entgegen. Aber noch in unseren Tagen verdienen die Bürgertugenden, die Franklin pries, die höchste Werthschätzung, ja mehr noch als früher ist es in unserer gährenden Zeit nothwendig, dem Volke Männer als Vorbilder zu zeigen, die durch Selbstbildung, Sparsamkeit und eisernen Fleiß, die aus eigener Kraft nicht nur angesehen und reich, sondern auch Beglücker der Menschheit geworden sind. *     


Eine Kanone Buschiris. (Zu der untenstehenden Abbildung.) Im Garten der Marineakademie zu Kiel befinden sich seit einiger Zeit inmitten von verschiedenen Kanonenproben aus vergangenen Jahrzehnten ein paar seltsame Geschütze, die – unsere Abbildung eines derselben mag dies veranschaulichen – entschieden den Eindruck machen, als wären sie etwa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder noch früher in irgend einem Sumpfe versunken und neuerdings, von Rost und Fäulniß halb zerfressen, wieder ans Tageslicht gezogen worden. Und doch haben diese Kriegswaffen noch jüngst ihre Rolle in dem Kampfe mit den Aufständischen an der ostafrikanischen Küste gespielt. Es sind die sogenannten „Buschirikanonen“, welche durch die deutschen Kriegsschiffe „Leipzig“ und „Carola“ bei Pangam und Saadani erbeutet wurden und deren einstiger Besitzer inzwischen gefangen genommen worden und den Tod des Rebellen gestorben ist.

Wenn wir diese Ungethüme in ihrer ganzen vorsündfluthlichen Unbeholfenheit aus nächster Nähe betrachten, gewinnen wir die beruhigende Ueberzeugung, daß unseren wackeren Blaujacken das Feuer dieser „Batterie“ nicht eben große Gefahren bereitet haben würde. Keine von den vier Kanonen hat dieselbe Form wie irgend eine ihrer Genossinnen, keine hat eine Vorrichtung zum Zielen oder Richten, das Kaliber, soweit man bei der Unregelmäßigkeit dieser Geschützläufe noch von einem solchen reden kann, ist ein sehr mageres, und zwei der Rohre wären wahrscheinlich beim ersten Schuß geplatzt, so daß man also annehmen darf, daß diese Schlünde niemals Tod und Verderben gespieen, sondern immer nur gedroht haben. Kostbar ist auch der Anblick der Lafetten. Negerhände haben sie aus Holz geschnitzt, und die Räder, aus einem Stück bestehend und auch annähernd rund, werden durch lange verrostete Nägel an den Holzachsen festgehalten. Man hat sich nur noch einige Joch Ochsen vor dieses anmuthige Fahrzeug zu denken, ein paar schwarze „Fahrer“ und desgleichen Kanoniere dazu, und das Bild von Buschiris Kriegsartillerie ist fertig. =     

Eine Kanone Buschiris.


Schloß Prunn. (Zu dem Bilde S. 281.) Kühne Bauherren waren die Ritter des Mittelalters, das weiß man aus mehr als einem Beispiele. Aber so keck hat selten ein Schloß auf seinem Felsenstock gesessen wie dasjenige, welches unsere Abbildung dem Beschauer vorführt. Es ist das Schloß Prunn, drei Stunden oberhalb Kehlheim an der Altmühl, einem linken Nebenfluß der Donau, gelegen. Es ist, als wollte der riesige Felsenthurm sich vornüber neigen und sammt seiner Last zu Thal stürzen, denn wie ein von der Brandung ausgewaschenes Felsgestade zeigt er sich unterhöhlt und eine breite Kluft trennt ihn von dem Rande der Hochebene.

Jahrhunderte haben an den Gebäulichkeiten des Schlosses gearbeitet, und die ersten Erbauer fanden bequeme Bausteine in den Trümmern eines alten Römerkastells; die Ringmauer auf der Süd- und Westseite weist viele Römerreste auf. Wann die Burg erstand, das weiß man nicht genau, jedenfalls war es schon vor dem Jahr 1100, in welcher Zeit (1037) zuerst Herren von Prunn bekannt werden. Dann sah das Felsennest manche wechselnde Besitzer: die Breitenecker, Frauenberger, die Herren von Keck, später die Jesuiten und Johanniter, und alle haben ihre Gedächtnißmale in Erweiterungsbauten hinterlassen. Eine lange, auf drei gemauerten Pfeilern ruhende Holzbrücke führt über den außerordentlich tiefen und breiten Schloßgraben, ein 16 Meter tiefer Ziehbrunnen spendet einen erquickend kühlen Trunk; oben aber, von den Bodenräumen der Schloßgebäude, genießt man eine entzückende Aussicht weithin über das gesegnete Bayerland.

Ein sonderbares Gemälde fällt an der Ostseite des Schlosses dem Blicke des Beschauers auf. Es ist ein sich bäumender Schimmel in rothem Felde, und die Sage weiß hierzu eine kleine Geschichte zu erzählen. Einer der Ritter, der auf Schloß Prunn saß, war alt geworden und gedachte sein Haus zu bestellen. Er hatte aber drei Söhne, die er alle drei gleich liebte und von denen er keinem einen Vorzug einräumen wollte. Da stellte er einen Wettstreit unter ihnen an: wer am schnellsten die Strecke vom Fuße des Berges

[289]

Bismarcks Abschied von Berlin.
Zeichnung von E. Buffetti nach einer Skizze von E. Hosang.

[290] hinüber nach der benachbarten Riedenburg und wieder zurück reite und zuerst wieder auf Prunn eintreffe, der solle das Bergschloß haben. Dem zweiten war das Schloß im Thale, dem dritten eine Geldabfindung zugesichert. Der Jüngste mit seinem Schimmel gewann das Schloß, und zum Dank ließ er sein flinkes Roß auf der Wand des Herrenhauses abkonterfeien.

So die Sage. Der nüchterne Heraldiker freilich sagt uns einfach: der Schimmel im rothen Felde ist das Wappen der Frauenberger. =     

Ein armloser Künstler. (Mit Abbildungen.) Im Wintergarten des Centralhotels in Berlin trat in den letzten Monaten ein deutscher Künstler mit Namen C. H. Unthan auf, der durch seine Vorführungen gerechtes Aufsehen erregte. Der Künstler verdient schon deshalb genannt und in weiten Kreisen bekannt zu werden, weil er als leuchtendes Beispiel dasteht, wie weit es ein Mensch durch Ausdauer und Thatkraft selbst dann zu bringen vermag, wenn es die Natur unterlassen hat, ihn mit denjenigen Rüstzeugen auszustatten, welche sie dem regelrecht gebauten Menschen zur Ausübung seines Lebensberufes mitgiebt. Unthan wurde ohne Arme geboren, aber er hat sich auch ohne dieselben zu einem nützlichen Mitgliede der Menschheit ausgebildet, das sich sein Brot durch eigene Kraft und anerlernte Fähigkeiten ehrenvoll zu erwerben versteht und mit seinen Füßen vollkommen das auszuführen imstande ist, was sonst ein anderer mit den Armen leistet. „Als ich,“ so erzählt ein Mitarbeiter unseres Blattes, „mich in das Hotel begab, um die Bekanntschaft des Künstlers zu machen, traf ich ihn auf dem Flur. Er kehrte mit mir um, öffnete mit der Schulter die Thür seines Zimmers, und ein paar Minuten später saßen wir uns – er die entblößten Füße auf den Tisch legend – einander gegenüber. Die Füße bewegte er nun so wie ein anderer Mensch die Arme, vielleicht etwas lebhafter, denn die Zehen waren meistens in einer unruhigen Bewegung, und mehrmals berührte er, einen Kitzel verspürend, die Nase, oder schlug, seine Worte bekräftigend und eine erstaunliche Gelenkigkeit an den Tag legend, mit dem rechten Fuß auf das linke Bein. Als im Laufe des langdauernden und anregenden Gespräches die Rede auf Politik kam, ergriff Unthan eine auf dem Tisch liegende Zeitung, die er mit dem großen und dem Nebenzeh erfaßte, und später entkorkte er eine Fl[as]che Wein und schenkte sich ein.“ Wie eine Eiche fest auf einem Bein stehend, besorgt er mit dem andern alle Verrichtungen, und so wenig die Hände eines Menschen das Bedürfniß fühlen, sich im Hause zu bedecken, so wenig spürt Unthan Kälte oder Unbehagen an den Füßen. Wenn er umhergeht, bedeckt diese ein handschuhartiger Strumpf, über den wiederum ein Schuh gezogen ist. Wenn er beispielsweise eine Thürklingel zu ziehen hat, streift er den Schuh ab, erhebt das Bein und zieht an der Glocke wie ein anderer mit der Hand. Es sei noch hinzugefügt, daß Unthan, der einen kraftvollen Körper hat und z. B. im Schwimmen geradezu Großartiges leistet, in glücklichster Ehe lebt. Seine junge Frau, eine Böhmin, überrascht wie er selbst durch aufgeweckten Verstand. Fortwährend ist Unthan, der mehrere Sprachen vollkommen beherrscht, darauf bedacht, sich geistig anzuregen und künstlerisch weiterzubilden.

Der Fußkünstler Unthan.
Nach einer Photographie von Hofphotograph J. C. Schaarwächter in Berlin.

Bei seinen Vorführungen, zu denen die ersten medizinischen Fachleute Berlins herbeieilen, erregt namentlich sein hervorragendes Schießtalent Erstaunen; er entfernt z. B. mit einer Kugel einen in einem Glascylinder sitzenden Pfropfen und trifft mit einer Sicherheit ins Schwarze, die nur wenige gute Schützen an den Tag legen. Er musiciert auch, spielt die Geige und bläst Cornet à Piston wie ein Künstler, und seine Erholungsstunden füllt er gern mit einem Kartenspiel aus.

Im Jahre 1869 ging Unthan auf Kunstreisen, wurde 1870 aus Paris ausgewiesen, wandte sich nach England und blieb dort bis 1872, in welchem Jahr er seinen Vater verlor. Von 1872–73 rastete er bei seiner Mutter in Ostpreußen, bereiste sodann Nord- und Südamerika, wobei er die im Innern Mexikos liegenden Städte zu Pferde – Unthan reitet und fährt so ausgezeichnet, daß er wiederholt Wettsiege errungen hat – erreichte. Im Staate Colima wurde er in die Revolution hereingezogen, rettete sich aber sowohl hier wie bei dem Brande von Iquique im Herbst 1875, wo er allerdings nur mit dem nackten Leben davon kam. Aber der thatkräftige Mann fand doch Gelegenheit, seinem Impresario die Kasse aus dem Feuer zu holen, wurde dafür von diesem neu ausgerüstet und überstieg nun, mit Gerstäckers Führer, auf einem Maulthier die Anden von Valparaiso bis Mendoza in 9 Tagen. Dann gings nach Buenos-Ayres. Bis zu diesem Zeitpunkte war Unthan nur mit der Geige aufgetreten, von da aber nahm er auch anderes inzwischen Erlerntes in seine Vorstellungen auf. Vom Jahre 1877 ab, nachdem er infolge einer edelmüthigen That sich drüben noch das gelbe Fieber zugezogen hatte, bereiste Unthan Europa und siedelte endlich dauernd nach Prag über, von wo aus er nun seine Kunstreisen unternimmt.

Der Fußkünstler Unthan.
Nach einer Photographie von Hofphotograph J. C. Schaarwächter in Berlin.

Menageriekinder. (Zu dem Bilde S. 269.) Das ist ein Bild aus dem Leben, von dem Künstler in einer Menagerie, die er in Slavonien sah, gemalt. Alle sind Menageriesprößlinge: der Löwe, die Affen, das Kaninchen, das lockenköpfige Kind, und alle gute Freunde, aber auch alle noch jugendlich und deshalb selbst der gefährlich aussehende Löwe harmlos. „Veränderte der letztere,“ so erzählt der Maler, „beim ‚Modellsitzen‘ seine Stellung, so zog ich ihn bei den Ohren selbst wieder herum.“ Er war drei Monate alt und ließ geduldig sogar die Belästigungen der überaus lebhaften Affen über sich ergehen. Die große Jugend des Thieres ließ es aber auch allein möglich erscheinen, das wehrlose Kind ohne Gefahr in seine Nähe zu bringen; die bösartige Natur des jungen Löwen pflegt bald zum Durchbruch zu kommen, und hätte derselbe statt dreier Monate deren mehr als sechs gezählt, so dürfte es dem Künstler schwerlich mehr vergönnt gewesen sein, diese seltsame Gruppe von Menageriekindern nach der Natur zu malen und die heranwachsende königliche Majestät ungestraft bei den Ohren herumzuziehen. **     

Adolf Wilbrandts „Neue Gedichte“, die soeben im Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung Nachfolger zu Stuttgart erschienen sind, werden überall willkommen geheißen werden; denn unter den Charakterköpfen des neuen deutschen Parnasses nimmt derjenige Wilbrandts durch seinen geistvollen Ausdruck und seinen idealen Schwung einen hervorragenden Rang ein. Wilbrandt ist jeder Zoll ein Dichter, wenn ihm auch das eigentliche stimmungsvolle Lied ferner liegt; aber eine tiefe, in breiterem Strom einherfluthende Empfindung ist ihm eigen, ebenso sinnige Lebensanschauung, Gedankenreichthum und hinreißender Schwung. Den größeren Gedichten, in denen diese Hochfluth der Gedanken hin- und herwogt, möchten wir den Vorzug geben vor den mehr liederartigen, obschon sich auch unter diesen einzelne von sehr glücklichem Wurf befinden. So ist reizend das Gedicht: „Winterfrühling“.

„Der Winter warf den Pelz beiseit’,
Der Schnee aus seinen Locken schwand;
Er schreitet in des Frühlings Kleid
Schalmeiend durch das Land.

Es dehnt der Wald sich, träumerisch,
Verwundert lauschen Busch und Baum;
Der Vogel pfeift, der stumme Fisch
Träumt seinen Frühlingstraum.

Märzveilchen steigt aus dem Wiegengrab; –
Und du, mein Herz! was rührt dich an?
Was hebst du deinen Wanderstab?
Was strebst du himmelan?

Ein leiser Wind im letzten Laub,
Ein süßer Ton vom ersten Lied; –
Ist’s Blüthenschnee, ist’s Blumenstaub,
Was durch die Lüfte zieht?

Der alte Winter lacht von fern.
‚Kein Blüthenschnee! Doch ja, es schneit.
Begrubt ihr schon den alten Herrn?
Noch sind wir nicht so weit!‘“

Auch unter den kleinen Sprüchen finden sich einzelne recht artige und sinnvolle:

     „Die Freude.
Tod, Alter, Sorge wollen nicht
Gebeten sein.

Die Freude harrt, im Schleier dicht,
Auf dein ‚Herein!‘“


     „Resignation.
Du hast ‚gelebt, gestrebt, geliebt‘ –
Das heißt: du hast des Daseins Fluth durchschwommen,
Hast festen Muths im Schwimmen dich geübt,
Ans Ufer bist du nie gekommen.“

[291] Doch ruht der Hauptnachdruck in der Sammlung auf den größeren Gedankensymphonien, von denen einige an die Ode erinnern, „Lebenswille“, „Die Lerche“, „Wodan“ und andere. Das eigene Erlebniß spielt eine große Rolle in der Sammlung, in der es an Bekenntnissen nicht fehlt; farbenreich aufgefrischte Jugenderinnerungen, vor allem die Klage am Sarge und Grabe eines Kindes in dem Abschnitt „Tod und Trost“, der von tief ergreifender Empfindung durchweht ist. Auch Adolf Wilbrandt, der Direktor des Burgtheaters, kommt zu Worte, nicht bloß in dem schönen Epilog, in welchem er das alte Burgtheater und seine herrlichen Leistungen rühmt, nicht bloß in den warmen und begeisterten Weiheliedern, die er den hervorragenden Künstlern dieser Bühne widmet, sondern auch in den „Nachgedanken des gewesenen Direktors“, die sich durch Schlagkraft und Schärfe auszeichnen. Der „Thurm von Nervi“ ist eine Novelle in Versen mit glänzendem italienischen Kolorit. Der Dichter richtet sich nach keinem Tagesgeschmack, er folgt nur dem Gebot innerer Begeisterung; doch was ihm die Muse eingiebt, wird allen empfänglichen Gemüthern willkommen sein.†     

Deutschlands merkwürdige Bäume. Die Linde zu Bordesholm. (Zu der nebenstehenden Abbildung.) Ein Sinnbild ewiger Jugend könnte man den stolzen Baum nennen, den wir heute unsern Lesern vorführen; denn in ungebrochener Pracht und Schönheit wölbt die fünfhundertjährige Linde zu Bordesholm ihre Krone, als hätte es für sie nie Sturm und Ungewitter gegeben und als hätte das eherne Gesetz von der Vergänglichkeit alles Irdischen für sie keine Geltung. An ihrem Blüthenathem ergötzt sich heute noch allsommerlich ein Geschlecht, dessen Ahnen vor Jahrhunderten schon den köstlichen Duft einsogen, den der Windhauch ihnen zutrug.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Linde zu Bordesholm.
Nach einer Photographie von G. J. Koch, Hofphotograph in Schleswig.

Die Maße des Stammes und die Höhe des ganzen Baumes sind nicht eben bedeutend. Der erstere hat einen Umfang von fünf Metern und die Spitze der Linde liegt etwa 24 Meter über dem Erdboden. Stattlich dagegen ist der Durchmesser der breit ausladenden Krone: er beträgt beinahe 30 Meter.

Bordesholm selbst ist ein reizend am Bordesholmer See, an der Bahnlinie von Kiel nach Altona gelegenes Kirchdorf, einst ein reiches Augustinerkloster. In seiner schönen gothischen Kirche ruhen unter anderem Christian Friedrich, Herzog von Holstein-Gottorp, der Stammvater des russischen Kaiserhauses, und Herzog Georg Ludwig, der Stifter des großherzoglich oldenburgischen Hauses. Aber nicht bloß durch seine Gräber ist Bordesholm wichtig: es ist auch die Wiege einer fruchtbaren Pflanzstätte der Wissenschaft. Bald nach Einführung der Reformation, im Jahre 1565, wurde das Kloster aufgehoben und in eine lateinische Schule umgewandelt. Diese Schule wurde später nach Kiel verlegt und durch Herzog Christian Albrecht zur Universität erhoben. So ist also das Samenkorn, aus welchem die „Christina Albertina“ entsproßt ist, unter dem Schatten der Linde von Bordesholm gelegt worden.

In den Stamm der Linde ist eine einfache Holztafel eingelassen, welche folgende Inschrift trägt:

„Manches sah dein gewaltiger Dom, hochrauschende Linde,
     Freude hast du und Leid mancher Geschlechter geschaut;
Größeres hast du doch nimmer gesehn als der Holsten Erhebung,
     Deutschlands Stämme geeint, wiedergeboren zum Reich!“

Tanzstunde im Grafenschloß. (Zu dem Bilde S. 272 u. 273.) Sie hat es nicht fertig gebracht, die kleine Komtesse! Das schwere Schlußkompliment im Menuett nämlich, wo es heißt, immer tiefer, tiefer, tiefer sinken und dann auf festen Knieen, ohne Ruck wieder langsam zur Höhe emporsteigen. Als die große Fermate kam: eins, zwei, dre – e – ei! – der Klavierspieler innehaltend die Hände auf den Tasten ruhen ließ, der Tanzmeister mit hochgezogenen Augenbrauen den Fiedelbogen in einer schwungvollen Achte um seinen Kopf bewegte, und die andern anfingen zu versinken, da mußte das Komteßchen lachen, die Kniee wurden wacklig, und vor dem Umfallen rettete sie nur das rasche Zugreifen des jungen Freiherrn, ihres früheren Spielkameraden, der jetzt so sterblich in die dunklen Sammetaugen und das reizende Gesichtchen verliebt ist. Nun müssen sie das mißglückte Kompliment nochmals versuchen. Wird es jetzt besser gehen? Muth, Komteßchen – die Umstände sind günstig! Der glühende Verehrer möchte am liebsten seinen Kopf ans Gelingen setzen, die Zuschauer aber in dem gold- und farbenleuchtenden Saal sind alle mit sich selbst beschäftigt und passen nicht stark auf. Drinnen in dem Nebenzimmer, das zwischen den schweren Sammetvorhängen des reichverzierten Thürbogens mit dem Wappen und der neunzackigen Krone sichtbar wird, plaudern Mütter und Tanten mit den älteren Kavalieren, ohne sich viel um die Unterhaltung der vom Tanze ausruhenden Jugend zu kümmern.

Und doch ist diese gar nicht so harmlos: feurige Blicke fliegen hin und her zwischen der voll erblühten Schönheit, die in dem Sammetfautueil lehnt, und ihrem so angelegentlich herübergebeugten Nachbar; auch die stolze Dame in der langen Faltenschleppe blickt nur zerstreut auf die Mittelgruppe, ihre Augen wollen den beiden ausweichen, die aus so kurzer Entfernung eindringlich fragend auf ihr ruhen.

Die zierlich Schlanke auf dem Taburett aber wendet das feine Köpfchen zur Seite und blickt schmollend nach dem Philosophen der Gesellschaft, der dort im Palmenschatten steht und völlig verloren ist in den Anblick des holdseligen Menschenkindes, das so lieblich zu lächeln versteht, daß ihm sogar der pedantische Tanzmeister keine strenge Miene zeigen kann. Ein freundlich ermunterndes Wort – dann klopft er mit dem Bogen auf die Geige, der Klavierspieler beginnt aufs neue, das Paar giebt sich die Hand: En avant! … der große Augenblick naht! …

Es ist ein reizendes Bild aus dem Leben der genußfreudigen Rokokozeit, das uns hier der Künstler vorführt, wir sehen die Anmuth und Heiterkeit einer versunkenen Gesellschaft in vollem Farbenzauber wieder vor uns aufleben und meinen fast, die Flügelschläge des kleinen Gottes zu hören, den der Maler zwar nicht mit abgebildet hat, der aber nichtsdestoweniger die Hauptperson des ganzen galanten Kreises ist!



Für unsere Knaben und Mädchen empfohlen:
Deutsche Jugend.
Herausgegeben von Julius Lohmeyer.
Inhaltsverzeichniß des 7. Heftes, Band VIII (Preis des Heftes 40 Pfg.):
Eingesteigert. Eine Schwarzwaldgeschichte von H. Villinger. Mit Illustr. von J. Kleinmichel. – Wie Ben Porter zu einer Uhr kam. Eine Bärengeschichte aus dem Westen Nordamerikas; erzählt von Friedrich J. Pajeken. Mit Illustr. von A. v. Rößler. – Kleines Leben. Von Eduard Rüdiger. – Goldne Worte. Von Gneisenau (an seine Tochter). – Die Bärenjagd. Von Georg Lang. Zu dem Bilde von A. Zick. – Friedrich Wilhelm, der erste Kronprinz in Preußen. Von Werner Hahn. Mit Illustr. von Richard Knötel. – Knackmandeln, Räthsel etc.




[292]

Allerlei Kurzweil.


Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht und gewinnt.

Hieroglyphenräthsel.

Scherzräthsel.

Bin ich als Erstes drin zu finden,
Ist es des Krokodiles Feind;
Doch stetig zu bestimmter Stunde
Am Himmelszelte es erscheint,
Wenn ich dem Worte ferne steh’,
Und angefügt ihm wird ein d.

Emil Noot.
Räthsel.
(Zweisilbig.)
Gut auf Papier gebracht, auf Tafeln oder

auf Oefen,
0 Zeug’ ich von Kunst und Geschmack, daß
mich der Kenner belobt;
Aendre ein Zeichen, so bin ich der Schrecken,
welcher vor Alters
0 Aus der Gesellschaft verwies, durch die

Gesetze sogar.
J. G. Fischer.
Dechiffriraufgabe.

Laku-Hidelakukudehekuda kuhede lohe kekikadohidihiku,
Dolahi ladu Dolakuli hilaku dohibuhahike Dibubilele,
Kaholehi lilakila! Kuhede libike kahila-kelole Buhidihiku,
Dohikuku lihilaku Kahihele hilaku Duludedahiku kabile.

Hi, dahiladihibu.
Logogryph.

Mit e siehst du voll Andacht wallen
Zu mir die frommen Moslemin,
Wird mir statt e ein o verlieh’n,
Bin ich als Trank geschätzt von allen.

Oscar Leede.
Skataufgabe Nr. 3.
Von. K. Buhle.
Citatenräthsel.
Jeder der Theilnehmer hat 40 Augen in seiner Karte. Hinterhand spielt
Roth (c.)-Solo. Die ersten 4 Stiche fallen so:


der 6. und 7. Stich aber so:


Der Spieler verliert durch eine Finte des Gegners in Mittelhand
und bekommt nur 49 Augen, während er ohne dieselbe 63 Augen
bekommen hätte.
Wie war die Vertheilung der Karten und der Gang des Spiels und
wie läßt sich die Spielführung des Spielers rechtfertigen?
Aus jedem der folgenden Citate ist ein Wort zu wählen. Die
erhaltenen Wörter ergeben ein anderes Citat, das an die Kaiserin Augusta
erinnert.

1. Dem Verdienste seine Kronen,
     Untergang der Lügenbrut. (Schiller).
2. Nach der Feldschlacht ist mein feurig Sehnen,
     Diese Arme schützen Pergamus. (Schiller).
3. Was man nicht aufgiebt, hat man nie verloren. (Schiller).
4. Der kluge Mann baut vor. (Schiller).
5. Auch ich war in Arkadien geboren,
     Doch Thränen gab der kurze Lenz mir nur. (Schiller).
6. Hoffnung auf Hoffnung geht zu Scheiter,
     Aber das Herz hofft immer weiter. (Rückert).
7. Ach, unsre Thaten selbst, so gut als unsre Leiden,
     Sie hemmen unsres Lebens Gang. (Goethe).
8. Was hab’ ich denn so Sträfliches gethan,
     Um mich gleich einem Mörder zu verbergen? (Schiller.)
9. O nimm der Stunde wahr, eh’ sie entschlüpft. (Schiller).


Anagramm.

Aus je zwei Wörtern ist durch Umstellen der Buchstaben ein neues Wort zu bilden. So wird aus:

1. Heu + Stein – eine Gartenpflanze,
2. Sonde + Themse – ein griechischer Redner,
3. Lech + Rinde – ein berühmter Botaniker,
4. Ein + Schlitten – ein Werk von W. Hauff,
5. Geier + Schwan - ein russischer Maler,
6. Breda + Wesel – eine Stadt in der Provinz Brandenburg,
7. Gattin + Sold – eine Stadt in Bayern,
8. Ischl + Niger – eine Giftpflanze,
9. Ares + Metrik – ein österreichisches Land.


     Sind alle Wörter richtig gefunden, so nennen ihre Anfangsbuchstaben
eine gesuchte Gebirgspflanze.


Aufgabe.
Arithmetische Aufgabe.

Die Buchstaben dieser Figur sind so
zu ordnen, daß sich in den wagerechten
und senkrechten Reihen Wörter von
folgender Bedeutung ergeben: 1) eine
Bezeichnung eines jungen Mädchens,
2) eine Festung in Frankreich, 3) etwas,
das große Macht hat, 4) ein Sammelname.
– Werden hierauf die Sternchen
durch gewisse Buchstaben ersetzt,
so entstehen Wörter von folgender Bedeutung:
1) eine europäische Residenzstadt,
2) ein österreichischer Feldmarschall
des vorigen Jahrhunderts, 3) der größte
Ueberwinder der Leiden, 4) ein
deutscher Dichter.
Vor mir liegen dreißig Blättchen, von welchen elf die Zahl 99, zehn
die Zahl 94 und neun die Zahl 88 tragen. Von diesen dreißig Blättchen
soll ich in der Weise zwanzig wählen, daß die Summe der zwanzig
Zahlen 1890 beträgt. Wie ist das zu machen?
Verwandlungsräthsel.

In jedem der unten angegebenen Wörter ist ein Buchstabe zu streichen
und in der Weise durch einen andern Laut zu ersetzen, daß andere bekannte
Wörter entstehen. Die gestrichenen Buchstaben von links nach rechts und
die hinzugefügten von rechts nach links gelesen ergeben je ein Drama
eines deutschen Dichters.
Wonne, Eile, Zoll, Zahn, Hase, Maler, Helm, Wette,
Heer, All, Sichel
. St.      


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Graf Rostoptschin hat als Gouverneur von Moskau 1812 die Niederbrennung der Stadt angeordnet.