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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[533]
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Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Elmhorst war in ein Gespräch mit Veit Gronau gekommen, der ihm wie den übrigen als „Sekretär“ vorgestellt worden war und der, seinem Grundsatze getreu, daß die Anwesenheit der Damen eine Ehre, aber kein Vergnügen sei, sich möglichst von ihnen entfernt hielt. Sie sprachen natürlich auch über die Sammlungen, und Wolfgang sagte, auf den Neger und den Malayen deutend, die auf den Wink ihres Herrn bald dies und bald jenes zur näheren Betrachtung herbeiholten:

„Herr Waltenberg scheint selbst in seiner nächsten Umgebung das Fremdartige zu lieben. Er holt sich seine Dienerschaft aus allen Zonen, und auch Sie, Herr Sekretär, scheinen trotz Ihres Namens und Ihrer deutschen Aussprache ein halber Ausländer zu sein.“

„Ganz recht,“ bestätigte Gronau. „Ich bin fünfundzwanzig Jahre da draußen gewesen und glaubte überhaupt nicht, daß ich es wieder sehen würde, das alte Europa. Ich bin in Australien zu Herrn Waltenberg gestoßen; den Schwarzen da, den Said, haben wir von einer Vergnügungstour durch Afrika mitgebracht und den Djelma erst im vorletzten Jahre in Ceylon aufgefischt; deshalb ist er auch noch so dumm. Jetzt fehlt uns nur noch ein bezopfter Chinese und ein Kannibale von den Südseeinseln, dann ist die Menagerie vollständig.“

„Ueber den Geschmack läßt sich nicht streiten,“ sagte Elmhorst achselzuckend. „Ich fürchte nur, Herr Waltenberg entfremdet sich in all seien Gewohnheiten so vollständig seinem Geburtslande, daß es ihm schließlich unmöglich wird, hier zu leben.“

„Das fällt uns auch gar nicht ein,“ versicherte Veit mit derber Aufrichtigkeit. „Das fehlte noch, daß wir uns wieder einspinnen in das alte biedere Philisterleben, der Herr und ich! Wir gehen so bald als möglich wieder auf und davon.“

Wolfgangs Brust hob sich bei den letzten Worten unwillkürlich unter einem tiefen erleichternden Athemzuge.

„Sie scheinen sich nicht viel aus Ihrem Vaterlande zu machen?“ warf er hin.

„Gar nichts mache ich mir daraus! Man muß über die nationalen Vorurtheile erhaben sein, sagt Herr Waltenberg, und da hat er recht. Er hat mir eine ganze Predigt darüber gehalten, als ich auf der Rückreise mit dem amerikanischen Prahlhans zusammengerieth, der sich unterstand, auf Deutschland zu schimpfen.“

„Und da kamen Sie in Streit mit ihm?“

„Eigentlich nicht, ich schlug ihm nur die Nase entzwei,“ sagte Veit kaltblütig. „Zum Streite kam es gar nicht, denn er lag gleich am Boden. Natürlich stand er wieder auf und lief wüthend zu dem Kapitän, um Genugthuung zu fordern, worauf der Herr Kapitän unangenehm wurde. Aber da bekam er deutsche Grobheit zu hören. Schließlich mischte sich Herr Waltenberg ein und zahlte dem Manne mit der blutigen Nase ein Schmerzensgeld und ich war fortan eine ungeheure Respektsperson auf dem ganzen Schiffe. Es hat keiner wieder ein Wort gegen Deutschland gesagt – ich hätte es auch keinem rathen wollen!“ „Nun, ich hatte Mühe genug, die Sache auszugleichen“ sagte


Blumenweihe zu Mariae Himmelfahrt.
Originalzeichnung von J. R. Wehle.

[534] Waltenberg, der soeben heran trat und die letzten Worte hörte. „Wenn der Mann sich nicht mit Geld beschwichtigen ließ, so hätte er übel ablaufen können, dieser Friedensbruch auf dem Schiffe. Sie waren ja wie ein gereizter Kampfhahn, Gronau, und die Veranlassung war gar nicht der Rede werth.“

„Ich dächte doch!“ brummte Gronau „Was hätte ich denn thun sollen dieser Unverschämtheit gegenüber?“

„Die Achseln zucken und schweigen. Wer wird sich um die Meinungen Fremder kümmern! Der Mann vertrat nur seinen Standpunkt, wie Sie den Ihrigen, und das war im Grunde sein Recht.“

„Sie scheinen allerdings hoch über jedem ‚nationalen Vorurtheil‘ zu stehen, Herr Waltenberg,“ sagte Wolfgang mit herber Ironie.

„Wenigstens setze ich eine Ehre darein, so vorurtheilsfrei wie nur möglich zu sein,“ lautete die sehr bestimmte Antwort.

„Es giebt aber Verhältnisne, wo man das nicht sein kann und darf. Sie haben ohne Zweifel vollkommen recht, aber ich halte es in diesem Falle mit dem Unrecht des Herrn Gronau – ich hätte ebenso gehandelt.“

„Wirklich, Herr Elmhorst? Das überrascht mich, ich hätte es Ihnen am wenigsten zugetraut.“

„Warum mir nicht?“ Es lag ein scharfer Ton auf dem Worte.

„Weil ich nicht glaube, daß Sie fähig sind, sich irgendwie fortreißen zu lassen. Ihre ganze Persönlichkeit verräth eine so sichere Ruhe, eine so vollständige Beherrschung aller Verhältnisse, daß ich überzeugt bin, Sie wissen stets genau, was Sie thun. Bei uns Idealisten ist das leider nie der Fall – wir können von Ihnen lernen.“

Die Worte klangen artig, sogar verbindlich; aber der Stachel darin wurde doch gefühlt und verstanden und Wolfgang Elmhorst war kein Mann, der sich ungestraft reizen ließ. Er maß seinen Gegner von oben bis unten.

„Ah so – Sie glauben Idealist zu sein, Herr Waltenberg?“

„Gewiß – oder rechnen Sie sich vielleicht zu den Idealisten?“

„Nein“ sagte Wolfgang kalt. „Aber zu den Männern, die keine Beleidigung dulden, und das werde ich nöthigenfalls beweisen.“

Er hatte sich hoch aufgerichtet und stand so herausfordernd da, daß Waltenberg die Notwendigkeit begriff, einzulenken. Aber sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen, dem „Streber“ zu weichen, der ihm mit so unnahbarem Stolze gegenüberstand. Das Gespräch hätte vielleicht eine sehr bedenkliche Wendung genommen; aber zum Glück kam Doktor Gersdorf dazwischen. Er hatte keine Ahnung von dem, was hier verhandelt wurde, und wandte sich ganz unbefangen zu Wolfgang:

„Ich höre soeben, daß Sie schon morgen abreisen, Herr Elmhorst. Darf ich Sie bitten, meinem Vetter Reinsfeld einen Gruß von mir zu bringen?“

„Mit Vergnügen, Herr Doktor; ich darf ihm doch Ihre Verlobung mittheilen?“

„Gewiß, ich schreibe ihm noch ausführlich darüber und vielleicht besuche ich ihn auf der Hochzeitsreise mit meiner jungen Frau.“

Waltenberg war zurückgetreten. Es war ihm noch rechtzeitig zum Bewußtsein gekommen, daß er als Hausherr keinen Streit mit seinem Gaste provociren dürfe, und aus diesem Grunde war ihm die Unterbrechung sehr willkommen. Veit Gronau aber horchte dabei auf.

„Um Vergebung, meine Herren,“ mischte er sich ein. „Sie nannten da einen Namen, den ich aus meiner Jugendzeit her kenne. Ist vielleicht von dem Ingenieur Benno Reinsfeld die Rede, der aus Elsheim stammte?“

„Nein, aber von seinem Sohne,“ sagte Gersdorf etwas überrascht, „einem jungen Arzte, der mit Herrn Elmhorst befreundet ist.“

„Und der Vater?“

„Ist längst todt, schon seit mehr als zwanzig Jahren.“ In dem braunen Gesichte Gronaus zuckte es eigenthümlich und er fuhr rasch mit der Hand über die Augen.

„Ja freilich, ich hätte es mir denken können! Wenn man nach fünfundzwanzig Jahren einmal wieder nachfragt, dann hat der Tod aufgeräumt unter den alten Freunden und Genossen. Also Benno Reinsfeld ist gestorben! Er war der beste von uns allen und auch der talentvollste; aber Reichthümer hat er wohl nicht erworben mit all seiner Erfindungsgabe?“

„Hatte er wirklich ein derartiges Talent?“ fragte Gersdorf. „Ich habe nie davon gehört und jedenfalls ist es nicht zur Anerkennung gelangt, denn er starb als einfacher Ingenieur. Sein Sohn hat sich auch ganz auf eigene Hand durch die Welt schlagen müssen, ist aber ein tüchtiger Arzt geworden; fragen Sie nur Herrn Elmhorst.“

„Ein ausgezeichneter Arzt sogar,“ bestätigte Wolfgang, „nur zu bescheiden. Er versteht es nicht, sich und seine Leistungen geltend zu machen.“

„Das hat er von seinem Vater,“ sagte Gronau. „Der ließ sich auch überall bei Seite schieben und ausbeuten von jedem, der ihn zu benutzen verstand. Gott habe ihn selig! Er war der beste, treuste Kamerad, den ich je gehabt habe!“

Inzwischen stand Waltenberg mit Erna von Thurgau am anderen Ende des Saales. Er hatte ihr soeben eine seltene, phantastisch gestaltete Meerkoralle gezeigt und stellte diese wieder an ihren Platz, während er fragte:

„Es hat Sie also interessirt? Ich würde sehr glücklich sein, wenn meine ‚Schätze‘, wie Sie es nennen, Ihnen eine mehr als flüchtige Theilnahme abgewinnen könnten; vielleicht rechtfertigen sie mich dann einigermaßen vor diesen strengen Augen, in denen ich noch immer einen Vorwurf lese. Gestehen Sie es nur, gnädiges Fräulein, Sie können es dem Weltfahrer nicht verzeihen, daß er sich seiner Heimath so vollständig entfremdet hat?“

„Aber wenigstens kann ich ihn jetzt entschuldigen,“ erwiderte Erna lächelnd. „Diese Märchenwelt, die uns hier umgiebt, hat in der That etwas Bestrickendes; es ist schwer, ja fast unmöglich, sich ihrem Zauber zu entziehen.“

„Und es sind doch nur stumme, todte Zeugen eines Lebens, das in nie versiegender Fülle schafft,“ fiel Ernst ein. „Wenn Sie das alles beseelt erblicken, an der Stätte, der es entsprossen ist, zu der es gehört, Sie würden begreifen, daß ich nicht ausdauern kann unter diesem kalten nordischen Himmel, daß es mich gewaltsam zurückzieht zu den Ländern der Sonne und des Lichtes. Auch Sie würden unwiderstehlich dort festgehalten werden!“

„Vielleicht! Und vielleicht auch würde mich in Ihren Sonnenländern ein tiefes Heimweh erfassen nach meinen kühlen heimatlichen Bergen. Doch wir wollen nicht darüber streiten; das könnte nur eine Probe entscheiden und die werde ich schwerlich jemals machen.“

„Wenn Sie es wollen – warum nicht?“

„Weil uns Frauen eine so schrankenlose Freiheit nicht vergönnt ist. Wir können nicht so allein und fessellos durch die Welt schweifen, wie es Ihnen möglich ist.“

„Allein!“ wiederholte Ernst mit gedämpfter Stimme. „Sie könnten sich ja auch einem Schutze, einem Führer anvertrauen, der Ihnen diese Welt öffnete, dem es ein Glück wäre, Ihnen dies Reich der Gluthen und Farben zu erschließen; vielleicht betreten Sie es einst an der Seite eines – Gemahls!“

Das letzte Wort wurde leise, nur ihr allein hörbar ausgesprochen. Erna hob betroffen, wie fragend das Auge empor; sie begegnete einem Blick, der mit heißem, sengendem Strahl den ihrigen traf, mit dem vollsten Ausdrucke der Leidenschaft. Sie erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Das ist sehr unwahrscheinlich!“ sagte sie mit einem Versuche auszuweichen. „Für ein solches Leben muß man geschaffen sein und ich –“

„Sie sind dafür geschaffen!“ fiel er beinahe stürmisch ein. „Sie allein unter Hunderten von Frauen, ich weiß es!“

„Sind Sie ein so vollkommener Menschenkenner, Herr Waltenberg?“ fragte Erna kühl. „Wir sehen uns ja heute erst zum zweiten Male; da ist ein solches Urteil über einen fremden Charakter doch wohl etwas gewagt.“

Die Zurechtweisung war deutlich genug, Waltenberg biß sich auf die Lippen.

„Sie haben recht, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte er verletzt, „vollkommen recht! In dieser Welt der Formen und Rücksichten irrt man leicht in der Beurtheilung eines Charakters. Hier giebt es ja überhaupt kein leidenschaftliches Empfinden und ein heißes Wort, das sich halb unbewußt auf die Lippen drängt, wird zur Verwegenheit. Hier muß ja alles seine Zeit und Regel haben – ich bitte um Verzeihung, daß ich das vergaß.“

Er verneigte sich und trat zu den anderen Damen. Erna athmete auf, als er sich von ihr wandte; sie hatte seine unverkennbaren


[535] Huldigungen hingenommen, ohne Gewicht darauf zu legen, ohne eine Ahnung von den Plänen ihres Onkels zu haben. Aber grade deshalb hätte sie dem Manne nicht zürnen dürfen, dem jede Berechnung so fern lag! Es war wohl kühn, ihr schon bei dem zweiten Zusammensein solche Andeutungen zu machen; beleidigend war es nicht und sie liebte ja grade das Kühne, Ungewöhnliche, das nicht nach Form und Regel fragte. Warum erschrak sie denn so vor diesem halbverhüllten Geständniß, warum überfiel sie eine heiße Angst bei dem Gedanken, sie könne wirklich vor eine solche Entscheidung gestellt werden? – Sie fand keine Antwort auf die Frage.

Frau von Lasberg mahnte jetzt zum Aufbruch. Man hatte sich in der That schon ungewöhnlich lange fesseln lassen und eilte nun, sich zu verabschieden. Es wurden Danksagungen und Grüße ausgetauscht und Ernst Waltenberg gab sich alle Mühe, bis zum letzten Augenblick der liebenswürdige Hausherr zu bleiben, der er bisher gewesen war. Aber es wollte ihm nicht gelingen, der Verstimmung Herr zu werden, die der Ausgang jenes Gespräches mit Erna zurückgelassen hatte. Es lag etwas Gezwungenes in der Art, wie er seine Gäste entließ, und doch war es ihm eine Erleichterung, daß sie ihn verließen. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er dem fortrollenden Wagen nach und kehrte dann zurück in die eben verlassenen Räume.

Er war tief gereizt und erbittert über die empfangene Zurückweisung. Sie berührte den leidenschaftlichen Mann wie ein Hauch aus dem eisigen Norden, den er so sehr haßte; er flüchtete zurück in seinen geliebten Orient, der ihn hier umgab mit seiner farbenreichen Pracht und seinem goldigen Lichte. Aber es schien, als sei auch hier etwas von jenem kalten Hauche zurückgeblieben. Das alles erschien ihm auf einmal so farblos und öde; es war ja doch nur ein todtes Abbild der Wirklichkeit!

„Master Hronau, was hat der Herr?“ fragte Said, als er nach ewiger Zeit mit Djelma wieder in das Balkonzimmer trat, um den Tisch abzuräumen. „Er will sein ganz allein – er hat sehr schlimme Laune.“

„Ja – sehr schlimm!“ bestätigte Djelma, der es vorläufig erst bis zu einigen deutschen Worten gebracht hatte.

Veit Gronau hatte diese Verstimmung seines Herrn gleichfalls bemerkt, ohne sie sich erklären zu können, und war daher etwas in Verlegenheit, was er antworten solle. Er blieb aber nie eine Antwort schuldig, und diesmal traf er unbewußt den Nagel auf den Kopf, als er kurz und bündig erwiderte:

„Das kommt davon, daß er sich Damen eingeladen hat, und wenn Damen dabei sind, giebt es immer Konfusion.“

„O – immer?“ fragte Said, dem die Sache nicht recht einzuleuchten schien.

„Immer!“ bestätigte Gronau, mit vollem Nachdruck. „Ob sie weiß oder schwarz oder braun sind, darauf kommt es nicht an. Konfusion stiften sie doch an. Deshalb muß man unter sich bleiben und ihnen aus dem Wege gehen – merkt Euch das, Ihr Schlingel!“




Es war Sommer geworden, für das Gebirge freilich noch Frühsommer, denn man befand sich erst in der Mitte des Juni, aber die Wälder und Matten standen schon im frischen Grün und nur die Hochgipfel trugen noch das Schneegewand, das sie niemals ablegten. Dort oben gab es ja weder Frühling, noch Sommer und Herbst, dort herrschte der Winter in ewiger, eisiger Pracht.

Das mächtige Alpenthal, das vor drei Jahren noch so unberührt dalag in seiner ernsten, düsteren Einsamkeit, trug jetzt überall die Spuren des Menschengeistes, der damals mit einem Heer von dienstbaren Kräften seinen Einzug hielt. In den Felswänden gähnten dunkle Oeffnungen, aus der Tiefe wand sich in Schlangenlinien ein schmaler Weg empor, der eiserne Weg, dem Wälder und Felsen hatten weichen müssen, und hoch oben über der Schlucht spannte sich das Meisterwerk dieses ganzen Riesenbaues, die Wolkensteiner Brücke, die, schon zum größten Theile vollendet, dort oben in der schwindelnden Höhe zu schweben schien.

Es war keine leichte Arbeit gewesen, sich hier Bahn zu schaffen, und gerade das Wolkensteiner Gebiet hatte dem kühnen Werke die höchsten Schwierigkeiten bereitet, die hier förmlich aus dem Boden zu wachsen schienen. Berechnungen, die man mit der größten Sorgfalt angestellt hatte, erwiesen sich als trügerisch, Hilfsmittel, auf die man sicher baute, versagten ihre Wirkung, ungeahnte Katastrophen traten ein, und mehr als einmal schien die Vollendung der Bahn in Frage gestellt zu sein.

Aber an der Spitze der Wolkensteiner Sektion stand ein Mann, der all diesen Schwierigkeiten gewachsen war, den kein Hinderniß schreckte, keine Katastrophe entmuthigte. Er ging trotz alledem vorwärts mit seiner Schar, immer vorwärts und unterwarf sich, Schritt vor Schritt vordringend, die trotzige, bisher noch unbezwungene Alpennatur.

Die Gesellschaft wußte es nur zu gut, welche Kraft sie in ihrem Oberingenieur befaß, und pries jetzt die Wahl des Präsidenten, die sie anfangs so bekämpft hotte. Man legte nach und nach eine fast unbegrenzte Vollmacht in die Hände des noch so jungen Mannes und er wußte sie festzuhalten und zu gebrauchen. Der Chefingenieur gab längst nur noch den Namen her für das ganze Werk; jedes Eingreifen, jede Entscheidung kam von dem energischen und genialen Führer seines Stabes, und seit dieser sich nun vollends mit der Tochter Nordheims verlobt hatte, seit ein Vermögen von Millionen hinter ihm stand, verstummte jede Opposition, es beugte sich alles vor ihm.

Von dem Wolkensteiner Hofe war jede Spur verschwunden, er war der Erde gleich gemacht worden noch in demselben Jahre, wo sein Herr die Augen geschlossen hatte. Man brauchte ja nun keine Rücksicht mehr zu nehmen auf den wunderlichen Alten, dem das Herz darüber gebrochen war. An der Stelle, wo einst der alte Erbsitz der Thurgaus stand, erhob sich jetzt ein stattliches Haus, das künftige Stationsgebäude, das gerade am Ausgange der großen Brücke lag. Bis zur Eröffnung der Bahnlinie, die für das nächste Frühjahr in Aussicht genommen war, hatte man das technische Bureau darin untergebracht und die oberen Räume bewohnte einstweilen Oberingenieur Elmhorst. Hier war gewissermaßen das Hauptquartier der Wolkensteiner Sektion und damit der Mittelpunkt des ganzen Bahnbaues.

Wolfgang hatte sich auch hier so eingerichtet, wie es ihm zum Bedürfniß geworden war, seit er das immerhin reichliche Einkommen seiner Stellung bezog. Die hohen, hellen Räume hatten ein sehr behagliches Aussehen, besonders das Arbeitszimmer mit seinen dunkelgrünen Vorhängen und Teppichen, den eichengeschnitzten Möbeln und den reichgefüllten Bücherschränken. Das Eckfenster, an welchem der Schreibtisch stand, bot den vollen Blick auf die große Brücke – das kühne Werk stand seinem Schöpfer immer vor Augen.

Elmhorst saß am Schreibtische und sprach mit Benno Reinsfeld, der soeben gekommen war. Der junge Arzt zeigte sich ganz unverändert in seinem Aeußeren wie in seinem Wesen, nur noch etwas formloser und ungelenker war er geworden. Der jahrelange Aufenthalt in dem kleinen, abgelegenen Gebirgsorte, die anstrengende Landpraxis, die ihm wenig Zeit übrig ließ, und der ausschließliche Umgang mit Männern, bei denen es auf die Formen nicht so genau ankam, äußerten ihre Wirkung.

Augenblicklich freilich war der Herr Doktor in voller Gala; er trug einen schwarzen Anzug, sein Staatsgewand, das nur bei ganz außerordentlichen Gelegenheiten zu paradiren pflegte, aber leider hinter der herrschenden Mode um zehn Jahre zurückblieb. Vortheilhaft sah er gerade nicht darin aus, es beengte ihn augenscheinlich sehr; die graue Joppe und der Filzhut waren ihm weit bequemer. Es ließ sich nicht leugnen, Reinsfeld war etwas verbauert in seiner Erscheinung, und er mochte das wohl selbst fühlen, denn er nahm mit zerknirschter Miene die Vorwürfe seines Freundes hin, der ihn kopfschüttelnd betrachtete.

„In diesem Aufzuge soll ich Dich den Damen vorstellen?“ sagte er ärgerlich. „Warum hast Du nicht wenigstens den Frack angezogen?“

„Ich besitze ja gar keinen Frack mehr,“ entschuldigte sich Benno. „Er ist hier wirklich nicht nothwendig und da wäre es eine unnütze Ausgabe gewesen; aber ich habe mir meinen alten Hut neu aufbügeln lassen und habe mir auch in Heilborn ein Paar Handschuhe gekauft.“

Er zog ein Paar Riesenhandschuhe von schreiend gelber Farbe aus der Tasche und breitete sie mit großem Selbstgefühl vor dem Oberingenieur aus, der ganz entsetzt darauf niederblickte.

[536] „Aber Mensch, Du wirst doch nicht etwa diese Ungethüme tragen wollen!“ rief er. „Sie sind Dir ja viel zu groß.“

„Aber sie sind ganz neu und so schön gelb,“ versicherte Benno gekränkt, denn er hatte auf Anerkennung für diesen unerhörten Toilettenaufwand gerechnet, zu dem er sich erst nach langem Zögern entschlossen hatte.

„Du wirst eine schöne Figur bei Nordheims spielen,“ sagte Elmhorst achselzuckend. „Mit Dir ist wahrhaftig nichts anzufangen.“

„Wolf – muß ich denn durchaus den Besuch machen?“ fragte der Doktor mit einer jammervoll bittenden Miene.

„Ja, Du mußt, Benno! Ich wünsche, daß Du Alice während ihres Hierseins behandelst, denn ihre Kränklichkeit macht mir ernstliche Sorge. Sie hat ja in Heilborn und in der Stadt alle möglichen Aerzte gehabt, aber jeder stellte eine andere Diagnose und geholfen hat ihr keiner. Du weißt, wieviel ich von Deinem ärztlichen Scharfblick halte, und wirst mir diesen Freundschaftsdienst nicht versagen.“

„Gewiß nicht, wenn Du es verlangst, aber Du kennst ja den Grund, der es mir peinlich macht, zu dem Präsidenten in Beziehung zu treten.“

„Doch nicht etwa wegen des ehemaligen Zerwürfnisses mit Deinem Vater? Wer denkt heute nach zwanzig Jahren noch daran! Ich habe allerdings auf Deinen Wunsch bisher vermieden, Deinen Namen zu nennen, aber jetzt, wo ich Deine Hilfe für meine Braut in Anspruch nehme, muß ich Dich doch nothgedrungen vorstellen. Uebrigens wirst Du mit meinem Schwiegervater gar nicht zusammentreffen, denn er wollte heute morgen wieder abreisen. Gestehe es nur, Benno, der wahre Grund liegt ganz wo anders, Du scheust Dich, mit Damen zu verkehren, weil Du nur Deine Bauernpraxis gewohnt bist.“

Er schien mit der Voraussetzung das Richtige getroffen zu haben, denn Reinsfeld vertheidigte sich nicht dagegen, sondern stieß nur einen tiefen Seufzer aus.

„Du wirst noch ganz und gar versumpfen in diesem Leben,“ fuhr Wolfgang ungeduldig fort. „Da sitzest Du nun seit fünf Jahren in dem elenden kleinen Bergneste, reibst Dich auf in einer Praxis, die die unerhörtesten Anforderungen an Dich stellt und Dir dabei die kärglichsten Einnahmen bringt, und wirst vielleicht Dein Lebenlang hier sitzen bleiben, nur weil Du nicht den Muth hast, zuzugreifen, wenn sich irgend etwas anderes bietet. Wie hältst Du es nur aus in solchen Umgebungen?“

„Ja, bei mir schaut es allerdings etwas anders aus als in Deinen Salons,“ sagte Benno gutmüthig, während er sich in dem schönen behaglichen Arbeitszimmer umsah. „Man muß sich eben nach der Decke strecken, und die meinige ist etwas kurz gerathen; Du freilich hattest von jeher die Neigungen eines Millionärs, hast Dir ja auch schon vor Jahren vorgenommen, einer zu werden, und das kecke Zugreifen verstehst Du, das muß man Dir lassen.“

Elmhorst runzelte die Stirn und in gereiztem Tone antwortete er:

„Muß ich das auch von Dir hören? Immer und ewig diese Hindeutungen aus den Reichthum Nordheims! Es scheint wahrhaftig, als ob meine ganze Bedeutung einzig und allein in meiner Verlobung bestände. Bin ich denn gar nichts mehr?“

Reinsfeld sah ihn ganz erstaunt an.

„Was fällt Dir denn ein, Wolf? Du weißt es doch, daß ich Dir Dein Glück von ganzem Herzen gönne, aber Du bist merkwürdig empfindlich, sobald die Rede darauf kommt, und hättest doch allen Grund, stolz zu sein. Wenn irgend jemand sein Ziel schnell und glänzend erreicht hat, dann bist Du es.“

(Fortsetzung folgt.)




Vergrabene und versunkene Schätze.

Rheinische Zeitungen berichteten vor einigen Jahren über den kostbaren Inhalt einer napoleonischen Kriegskasse, welche in einem Dorfe in der Nähe von Bonn bei Gelegenheit der Ausrodung von Baumwurzeln aufgefunden wurde. Der Fund bestand in einer eisernen Kiste, welche in die Erde versenkt worden war und außer wichtigen historischen Dokumenten über eine drittel Million Franken bares Geld in Edelmetallmünzen enthielt. Ich selbst erinnere mich, gelegentlich eines Aufenthaltes in jener Gegend vor Jahren schon aus dem Munde der dortigen Bevölkerung von einer in der Franzosenzeit verloren gegangenen Kriegskasse vernommen zu haben, aber die darüber im Umlauf befindlichen Gerüchte waren so unbestimmter Natur, daß es wohl schwerlich der Mühe gelohnt haben würde, ernstliche Nachforschungen dieserhalb anzustellen. Doch hat das zufällige Auffinden des Schatzes bewiesen, wie wohl begründet jene Ueberlieferung gewesen ist und wie infolge der Eile während der Flucht der damaligen französischen Armee gegen Ende des Jahres 1813 die später für unwahrscheinlich gehaltene Versenkung der Kriegskasse wirklich stattgefunden hat. Dasselbe Gerücht, wie es im Munde des rheinischen Volkes umging, erhält sich seit dem Entscheidungstage der Leipziger Völkerschlacht auch unter den Anwohnern des Pleißethals, südwärts von Leipzig. Der Ueberlieferung gemäß soll, ganz ebenso wie sich dies bei Bonn ereignete, am Ende der napoleonischen Kriege, infolge Befehls eines hohen Kommandirenden der fliehenden französischen Armee, beim Beginn des Rückzugs im Dorfe Dölitz – dessen zerschossenes Schlößchen 1884 die „Gartenlaube“ im Bilde brachte (S.129) – oder im benachbarten Markleeberg, vielleicht auch zwischen beiden Orten im Flusse selbst, die Kriegskasse eines französischen Armeecorps mit sehr beträchtlichem Goldinhalte versenkt worden sein. Alle im Laufe der Jahre vorgenommenen Nachforschungen führten indeß zu keinem Ergebnisse, und da nach menschlicher Berechnung die beim Versenken dieser Kriegskasse betheiligt gewesenen Zeugen jetzt schwerlich mehr sich unter den Lebenden befinden dürften, so wird es künftig hierbei, gleichwie am Rhein, dem Zufall anheimgestellt bleiben, ob jene Napoleond’or – wenn sie nicht überhaupt märchenhaften Ursprungs sind – einstens im Sonnenlichte wieder glänzen oder ob sie dem dunklen Schoß der Erde für immer sollen einverleibt bleiben.

Solche Funde, wie der Eingangs erwähnte, erinnern unwillkürlich daran, welche Schätze, im Laufe der Jahrhunderte vergraben, noch unter der Erdoberfläche verborgen liegen mögen, der Erlösung und Hebung harrend; wie viele davon, bekannt oder unbekannt, schon zum Theil gehoben worden sind und welche Unsummen von solchen Werthen noch der Nutznießung der Erdenbewohner harren!

Im allgemeinen wird man bei Funden zwei Hauptarten unterscheiden müssen; Massenfunde, welche auf großen historischen und kulturgeschichtlichen Stätten aufgefunden werden, und Einzelfunde, welche der Zufall aufdeckte.

Die ungeheuren Ansiedelungen des Alterthums in Kleinasien, von Ninive und Babylon, von Troja-Hissarlik und Pergamos, die semitischen Ruinen von Palmyra und Persepolis, die Todtenfelder der alten Aegypter im Nilthal, die Ueberreste Karthagos an der Nordküste Afrikas, die gesammten Inseln des Aegäischen Meeres, das heutige Königreich Griechenland, ganz Italien und vor allem Rom sind seit Jahrhunderten unerschöpfliche Fundgruben von Schätzen der mannigfachsten Art. Es ist eine Unmöglichkeit, auf diesem Gebiete auch nur ein annähernd vollständiges Bild der wichtigsten Entdeckungen zu geben, da bloße Verzeichnisse einzelner belangreicher Fundstellen von Orten, wo Kulturvölker hausten, schon Bände füllen würden. Deshalb sollen hier nur einige näher liegende Funde von allgemeinem Interesse Erwähnung finden.

In erster Linie dürften dies die Ausgrabungen Layards in Syrien und diejenigen des Dr. Schliemann sein, die von ungewöhnlichem Erfolge gekrönt wurden. An Resultaten diesen würdig zur Seite stehen die Aufdeckungen von Olympia, ein Verdienst der preußischen

[537]

Aus altspanischer Zeit.
Motiv aus Arizona gezeichnet von R. Cronau.

[538] Regierung und des Deutschen Reiches. Die Ausgrabungen Schliemanns bei Troja an Kleinasiens Küste, woselbst der Schatz des Priamos gehoben worden sein soll, sind für die Altertumskunde und Kunstgeschichte ebenso bedeutungsvoll, wie die Auffindung des Königsgrabes von Agamemnon in Mykenä bei Argos, auf griechischem Gebiete, epochemachend wurde. Das Auffinden der weltbekannten Venus aus der griechischen Insel Milo fällt in das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts; viel später entdeckten Engländer auf der Insel Cypern ein im Felsen ausgehauenes Königsgrab, welches kostbare Insignien der Würde des darin Ruhenden enthielt. Jene aufgefundenen Attribute der Macht, wie Scepter, Krone etc., waren in prachtvoller antiker Arbeit an fünf Pfund in seinem Golde schwer.

Auch Deutschland besitzt solchen klassischen Boden, und insbesondere sind es jene Stellen, auf welchen römische Niederlassungen gegründet waren, die sich durch werthvolle Funde auszeichnen. Süddeutschland sowie die Ufer des Rheins mögen zahllose Schätze bergen; obenan dürfte in dieser Richtung die Festung Mainz stehen. In den fünfziger Jahren fanden dort Arbeiter auf der Citadelle, dem römischen Castrum beim Aufgraben des Bodens ein großes Ehrenschwert von Rom, dem siegreichen Feldherrn Drusus vom dankbaren Vaterlande gewidmet, auf. Griff und Klinge waren von hochkünstlerischer Arbeit, ersterer in Edelmetallen getrieben. Ferner sei des bekannten Silberfundes bei Hildesheim gedacht, der, wie angenommen wird, von den Tafelgeschirren eines römischen Feldherrn herrühren soll, was, lebhaft bestritten, mehrfache Kontroversen hervorrief. Auch der Fund in einem alten Patricierhause zu Regensburg verdient erwähnt zu werden. Wahrscheinlich zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges verborgen, wurde er dort vor etwa 15 Jahren gelegentlich einer Treppenreparatur in einer durch Wendung der Stiege gebildeten geheimen Nische aufgefunden. Die hierbei zu Tage gebrachten, in Edelmetall getriebenen mittelalterlichen Gefäße erregten durch die hohe Vollendung der Arbeit sowie durch die Reinheit des Stiles das ungeteilte Interesse aller Alterthumsfreunde.

Für Deutschland aber steht der reiche Goldfund von Vettersfelde in seiner Art vereinzelt und als ein Unicum da, weil man bis jetzt solche Schätze nur aus den großen Tumulis (Grabhügeln) des Orients, speciell der Krim, kannte. Genannte Ortschaft liegt eine und eine viertel Meile südöstlich von der preußischen Kreisstadt Guben und die kostbaren, in 23 karätigem Golde getriebenen Stücke wurden beim Ziehen eines Wassergrabens in einer Tiefe von nur einem drittel Meter auf einem Acker, eine Viertelstunde vom Dorfe entfernt, ganz zufällig entdeckt. Eines der Hauptstücke stellt einen aus starkem Goldblech getriebenen Fisch dar, der durch die Brustflosse in zwei Längshälften geteilt und mit verschiedenartigen Figuren verziert ist; nach dem Urtheile von Archäologen ist er Bestandtheil eines Schildes. Ferner wurden eine aus vier Medaillons gebildete Zierplatte, mit seltsamen Gestalten geschmückt, ein höchst kunstvoller Scheidenbeschlag, zu einem Säbel gehörig, Hängeziergeräthe, Ohrgehänge, Armringe, Dolche und Schwertgriffe, alles in hochfeinem Golde gearbeitet, aufgefunden. Die vortrefflichen künstlerischen Arbeiten deuten auf die Entstehung aus einer altgriechischen Werkstätte hin; der Zeitpunkt der Anfertigung des Fundes dürfte in das 6. Jahrhundert vor Christo fallen. An künstlerischem und materiellem Werthe bildet dieser Schmuck ein würdiges Seitenstück zum Hildesheimer Silberfunde. Er dürfte zu einer Prachtausrüstung für einen Skythenhäuptling bestimmt gewesen sein.

In betreff der Frage aber, auf welche Art dieser seltene Fund in die preußische Lausitz gekommen, sei daran erinnert, daß gegen Ende des 6. Jahrhunderts vorchristlicher Zeitrechnung ein mächtiger Strom pontischer Skythen sich unaufhaltsam nach Nordwesten durch Mitteleuropa wälzte. Durch das Heer des Darius von der Donau her bedroht, schickten die Völkerwanderer wahrscheinlich alle Habe, Frauen und Kinder voran, und ihnen selbst scheint es damals gelungen zu sein, die Perser bis über die Quellengebiete des Bug und Dnjepr nach Europa zu locken.

Mindestens ebenso reich, wie Deutschland an historischen und alten Fundstellen ist, dürfte Oesterreich-Ungarn sein. Die Oeffnungen von anderthalb tausend Keltengräbern am Rudolfsthurm bei Hallstadt auf dem Dürrenberge im Salzkammergute, wobei außer den üblichen Bronze- und anderen Gegenständen mehrfach Dolchklingen in Goldscheiden aufgefunden wurden; die Funde im Laibacher Moore, in den Umgebungen der Landeshauptstadt Laibach und auf den weiten Leichenfeldern von Watsch in Krain förderten zahllose und mannigfaltige Gegenstände zu Tage.

Das Zollerfeld in Kärnten sowie die Gefilde von Charnuntum an der ungarischen Grenze in der Nähe von Wien bergen die Reste großer römischer Städte, welche seit Jahrhunderten unabsehbar ausgebeutet werden.

Auch Böhmen ist in dieser Richtung mit seinem historischen Boden eine wichtige Fundgrube, in welcher der Berg „Hradischt“ mit der alten Feste Pürglitz eine hervorragende Rolle spielt. Im Jahre 1771 wurde im Dörfchen Podmokl, der unmittelbaren Nachbarschaft der Burg, ein umfänglicher Bronzekessel unter der Erdoberfläche aufgefunden, der, mit großen Goldstücken angefüllt, über 80 Pfund altösterreichischen Gewichtes wog und einen Metallwerth von etwa 58 000 Gulden repräsentirte. In demselben Behälter befand sich eine überaus werthvolle massivgoldene Armspange, die wie ein Theil jener Münzen im Museum des Fürsten zu Fürstenberg in Donaueschingen aufbewahrt wird. Der obere Theil jenes interessanten Bronzegefäßes ist im Schloßmuseum desselben Fürsten zu Nischburg in Böhmen aufgestellt. Ohne Ausnahme zeigten die bei dem Schatze gefundenen Goldmünzen keltischen Ursprung, beiläufig 300 Jahre vor- bis 400 Jahre nachchristlicher Zeitrechnung. Im Juni 1877 gruben beschäftigungslose Hüttenarbeiter auf dem Berge Hradischt nach urvorzeitlichen Ueberresten und fanden inmitten einer modrigen, nicht erkennbaren Masse in verwittertem Behältniß etwa 200 Stück Goldmünzen, im beiläufigen Werth von 2500 Gulden; sie zeigten dieselben Zeitperioden und Prägungen wie die zuerst aufgefundenen. Nach starken Regengüssen werden noch jetzt dort zuweilen Gold- und Silbermünzen zerstreut aufgefunden, und es müßte voraussichtlich für die Wissenschaft lohnen, wenn Burg Pürglitz, die um das Jahr 1200 erbaut ist, sammt ihren Umgebungen fachmännisch untersucht würde. Denn nicht nur Gold- und Silberstücke birgt der Hradischt, sondern auch Gegenstände aus Bernstein, Krystall, Bronze, Glas etc.; einen Beweis dafür liefert das k. k. Hofmuseum in Wien, welches, in abgesonderter Auswahl, mehr als 4000 Stück hier ausgegrabener Species besitzt.

Ein großartiger Silberfund römischer Denare, von denen leider nur 18 Pfund, 4277 Stück, vor dem Verschleppen gerettet werden konnten, wurde von zwei Brüdern zu Bakony-Szombathely im Weßprimer Komitat 1864 durch Auspflügen eines großen Gefäßes gethan. Schon im Jahre 1858 war in erwähnter Gegend ein bedeutender Schatz gehoben worden, durch die Unwissenheit der Finder aber in Hände gekommen, welche in den Münzen nur den Werth des Edelmetalls zu würdigen verstanden. Die Prägung dieser Silberdenare vertheilt sich auf 52 römische Regenten, doch entfallen auf Alexander Severus allein 743, auf Heliogabal 399 Stück.

Im Wiener Naturalienkabinet befindet sich der größte Opal, welcher bisher als geschliffenes Stück aufgefunden wurde, im Gewicht eines alten Wiener Pfundes und von dem denkbar schönsten, feurigsten Farbenspiel, der, wenn überhaupt von Goldwerth bei einem solchen Juwel die Rede sein kann, von Sachverständigen auf über zwei Millionen Gulden geschätzt wird. Er wurde zur Zeit Maria Theresias in Ungarn aufgefunden, und man vermuthet, daß er sich ursprünglich in römischem Besitze befand, doch sind die näheren Umstände, welche seiner Auffindung vorangingen, jetzt nicht mehr bekannt; unter Kaiser Josefs II. Regierung befand er sich bereits in dieser Sammlung, welcher er noch heute als eines der werthvollsten Stücke angehört.

Eine hochinteressante Entdeckung ward 1870 in einem bis dahin noch nicht durchforschten Winkel des Prager Doms, am Hradschin, gemacht. Dort fand man die seit mehr als 500 Jahren vergessene Grabstätte Rudolfs von Habsburg, des Sohnes Albrechts I. Die geöffnete Gruft barg zwei ganz morsche Kisten, deren eine menschliche Ueberreste und Reste zerfallener Goldbrokatgewänder enthielt, während die andere Reichsinsignien umschloß.

Das vom Roste zerfressene, in drei Stücke zerfallene Schwert repräsentirte keinerlei Werth; dagegen wurden Krone, Scepter und Reichsapfel, in hochfeinem Silber getrieben und stark vergoldet, unversehrt aufgefunden. Erstere, ein wundervolles Erzeugniß mittelalterlicher Goldschmiedekunst, zeigt über dem Kopfreifen je vier Lilien und ebenso viel Kreuze. [539] An der Stelle, wo die Kronenbügel kreuzen, sind in erhabener Arbeit die heilige Jungfrau und der Engel Gabriel dargestellt. Sämmtliche Kleinodien sind von hohem Kunstwerthe.

Und mindestens ebenso reich als Deutschland und Oesterreich dürften die Kulturländer des Westens an Funden sein. Endeckten beispielsweise doch in der französischen Stadt Dijon vor wenigen Jahren Handwerker bei Gelegenheit von Reparaturen im Wohnhause einer Bürgerfamilie bei dem Wegräumen von altem Eichenholzgetäfel über eine Viertelmillion Franken in Goldmünzen altfränkischer Prägung, welche seit der Reformation dort geruht haben mochten. Die Funde der auf diesem Gebiete reichsten Länder Europas, Italien und Griechenland, nur in einigen Hauptstücken zu verzeichnen, würde, selbst bei größter Auswahl, an dieser Stelle zu weit führen; wir müssen darauf verzichten!

Es sei nunmehr aber mit wenig Worten noch jener Schätze gedacht, welche, im feuchten Elemente ruhend, in den Ocean oder andere umfangreiche Gewässer versanken. Welche Unsummen von Werthen mögen allein nur auf dem Grunde des atlantischen Oceans, zwischen Europa und den Vereinigten Staaten Nordamerikas – der wahrscheinlich am stärksten befahrenen Schifffahrtslinie unseres Planeten – ruhen! Vielleicht könnten die amtlich geführten Navigationstabellen der englischen Admiralität am ehesten annähernd ein Größenbild dieser versunkenen Schätze bieten.

Erwähnenswerth sind jene Edelmetallschätze, die beim Untergange der spanischen „Armada“ an der Küste der Niederlande in der Nordsee versanken und welche neuere Annahmen im Harlemer Meer ruhen ließen. Inzwischen ist gedachter Binnensee trocken gelegt, aber man fand die dort sehnlichst erwarteten Schätze nicht, obschon Trümmer der gestrandeten spanischen Kriegsschiffe bloßgelegt wurden. Das fragliche Fahrzeug muß also auf hoher See gesunken sein, denn so gut man die bronzenen Schiffskanonen der Spanier auffand, ebenso gut wären wohl jene Metallschätze entdeckt worden.

Auch an den Gestaden des Bodensees erhalten sich unter den Uferbewohnern Geschichten über zur Römerzeit versunkene Schätze, welche seit Jahrtausenden auf dem Boden des Schwäbischen Meeres lagern sollen. Freilich ist zu Zeiten der römischen Weltherrschaft diese Wasserstraße ein frequenter Weg zur römischen Feste Augusta (Augsburg) gewesen, und bei der geringen Tüchtigkeit der damaligen Schiffe sowie dem wilden Wogenschwall des Bodensees im Sturm ist es wohl möglich, daß diese Sagen auf Thatsächlichem beruhen. Wahrscheinlich werden die auf dem Meeresboden ruhenden Schätze aber für alle Zeiten verloren sein, es müßten denn Wissenschaft und Technik der Zukunft die Hebung derselben aus den Tiefen, in denen sie jetzt liegen, erleichtern, oder aber der Grund des Oceans sich soviel heben, daß denselben beizukommen wäre.

R. Zander.     




Durch Arizona.
Von Rudolf Cronau.

Die schneegekrönten Berge der Sierra Nevada, das Wunderthal Yosémite und seine Riesenbäume lagen hinter uns, und in hastiger Eile trug uns das schnaubende Dampfroß neuen Zielen entgegen. Wir fuhren durch die südkalifornischen Ebenen. Aus dunklem Laube glühten die feurigen Granaten, goldgelb schimmerten am Boden die Melonen. Feigen-, Pomeranzen- und Pfefferbäume drängten sich neben hochstämmige Palmen, neben Bananen, Eukalypten und immergrüne Eichen. Auf den weiten Sandflächen sproß der Kaktus in üppiger Fülle, die Agave reckte aus ihrem schwertergleichen Blätterkorb den hohen, mit schneeweißen Blüten gezierten Schaft empor. Und nun, inmitten dieser sonnigen Herrlichkeit, von ausgedehnten Weingärten, Orangen- und Limonenhainen umkleidet und von freundlichen Höhen umschlossen, erschienen die weißleuchtenden Häuser von Los Angeles, der Stadt der Engel.

Der ganze, eines 150jährigen Alters sich rühmende Ort ist ein einziger großer Fruchtgarten; alles blüht und gedeiht dort in fröhlichster Ueppigkeit, dank dem benachbarten Los Angeles-River, dessen Wasser durch künstliche Leitungen nach der Stadt und ihrer Umgebung geführt wird. In der Nähe liegt San Gabriel mit seiner alten Mission, deren Orangenhain der älteste Kaliforniens ist und der noch von jenen Patres stammt, die, lange bevor die Pilgrimväter an der sturmgepeitschten Küste Neu-Englands landeten, die nördlich von Mexiko gelegenen Territorien durchzogen und überall an den malerischsten Punkten, an der blauen See wie im Schatten schneegekrönter Bergesgipfel ihre mit Kolonnaden und Glockenthürmen versehenen Missionskirchen errichteten. Zum Theil noch erhalten, zum Theil schon Ruinen, weisen dieselben heute in ihrer Architektur einen seltsamen halb spanischen, halb maurischen Stil auf. Die reiche Ornamentik der Thür- und Fensterbogen stammt noch von alten Meistern, und altersbraune Bilder reden von jener Zeit, wo die Conquistadoren, diese gigantischen Freibeuter, mit. Kreuz und Schwert die Wetl durchzogen und der Geschichte ihres Vaterlandes hohen Glanz verliehen.

Savannah, Monte, Puenta, Spadra, Pomona, Cucamanga sind Stationsnamen von gutem Klang, aber wenig Belang; erst das 61 Meilen von Los Angeles entfernte Städtchen San Bernardino, an dem durch den Cajou-Paß nach den Minenregionen von Nevada und Arizona gelegenen alten „Trail“, ist von einiger Bedeutung. Historisch interessant ist, daß diese Stadt eine Kolonie der Mormonen und in gleicher Weise wie Salt-Lake-City angelegt und mit Wasser versehen ist. Bei San Bernardino führt die Bahn über den 2591 Fuß über dem Meeresspiegel gelegenen San Gorgoniapaß, um nunmehr in die Sahara Amerikas, in die berüchtigte Coloradowüste einzutreten.

Oeder und öder wird die Scenerie. Die plötzlich aus dem Thal aufsteigenden Bergwände, die bisher spärlich mit dunkel scheinendem Buschwerk versehen waren, zeigen sich nunmehr gänzlich kahl und nackt und bieten trostlose, nur durch ihr Kolorit fesselnde Wände dar. Nur einzelne Cedernbüsche und Kakteen sind geblieben; kaum ein Vogel, kaum ein Nagethier ist mehr zu sehen, alles Leben scheint erstorben zu sein.

Schnell beginnt die Bahn in die Wüste hinabzusinken. Bei „Seven Palms“ ist die Erhöhung über dem Meeresspiegel nur noch 584 Fuß, dann aber erfolgt ein Gefälle bis sogar unter den Meeresspiegel. So liegen die Stationen Indio 20, Dos Palmas 254, Frink’s Springs sogar 266 Fuß unter dem Niveau des Oceans.

Weit und breit kein Baum, kein Hälmchen Gras; leer wie eine Bettlerfaust dehnt sich eine nackte sandige Fläche, die gegen ihr Südende von mächtigen Wanderdünen durchzogen ist. Gegen Westen und Osten wird sie von ebenso vegetationslosen, rothbraunen, seltsam zerhackten Klippen eingefaßt, die sich in langen Zügen koulissenartig hintereinander emporschieben und in der grellen Sonnengluth all ihre zerrissenen Linien, Schründe und Klüfte zeigen. Sengende Hitze ist hier; die Atmosphäre bebt und flimmert über der dürren Ebene und zaubert die seltsamsten Trugbilder. Drüben, wo einzelne schwarze Klippen aus dem Flugsande ragen, wallt ein langer Wasserstreifen, silbern und hell. Wie von leichtem Lusthauche gekräuselt erscheinen die blitzenden Wellen, die all die scharfen Kontouren der Klippen aufs treueste widerspiegeln. Da plötzlich hebt sich ein Berg aus dem Silbersee, eine purpurfarbene Insel mit wiegenden Palmen- und Lorbeerhainen; Wasservögel mit glänzend schönem Gefieder, weißbrüstige Schwäne, Reiher und Flamingos beleben die Küste, durchwaten das erquickende Naß und vervollständigen das traumhaft schöne Gemälde. – Es ist das Gespenst der Wüste – und morsche umherliegende Gebeine bekunden das Geschick der Unglücklichen, die den Verlockungen dieses Gespenstes, der Fata Morgana, folgten.

Im Scheine der untergehenden Sonne erglühte die ganze Landschaft in einem seltsam rosigen Licht. Fast karminroth schienen die Bergzüge, in deren Spalten blaue Schatten lagen. Bleich und kalt gegen diese Gluth dehnten sich die öden Sandflächen, aus denen nur hier und da phantastisch gestaltete Kakteen ragten. Die rosigen Tinten verblaßten mehr und mehr, der Himmel zeigte ein kaltes Grün, welches sich in stumpfes bleiernes Blau umwandelte und endlich ganz im nächtlichen Dunkel aufging.

[540] Aber wieder erglänzt Lichtschein aus diesem Dunkel, an mächtiger Fluß kommt in Sicht, über eine Brücke donnert der Zug, wir sind in Yuma, am Colorado, in Arizona. Am Bahnhofe drängen sich Mexikaner, Indianer, Chinesen, Neger und Yankees bunt durch einander; neben der englischen Sprache erschallt das Gurgeln der Yumaindianer, der Wohnklang der spanischen Laute und das Kauderwelsch des Negers.

Wie die Gebäude aller mexikanischen Städte, so sind auch die Häuser von Yuma aus „Adobe“, sonngebrannten Lehmziegeln, errichtet und nur ein Stockwerk hoch. Die Wände sind zwei bis vier Fuß dick, die Dächer aus Holz, Leder- und Weidengeflecht gebildet und mit Erde beworfen. Verandas, roh aus Pfählen und Weidengeflecht gefertigt, schieben sich nach allen Seiten zehn bis zwanzig Fuß weiter hinaus, um Schutz gegen die Sonnenstrahlen zu gewähren. Auffällig erscheinen noch die hohen Umzäunungen der Gehöfte. Eine Reihe von Pfählen wird dicht neben einander vier Fuß tief eingerammt und mittelst rohlederner Riemen fest verbunden. Manche dieser „Fenzen“ haben ein originelles Aussehen, zumal die an Länge und Dicke sehr ungleichen Pfähle nicht zu einer gleichmäßigen Höhe abgeschnitten werden.

Fata Morgana in der Coloradowüste.

Eingeborene wie Weiße tragen während der Sommerzeit so wenig Kleider wie möglich; erstere, dem Stamme der Yumas angehörig, große, behende Gestalten von dunkler Hautfarbe, beschränken sich zumeist auf einen die Lenden umgürtenden Schurz; denkt man sich hierzu, daß sie sich das Gesicht kohlschwarz bemalen und es durch einen rothen Strich in zwei gleiche Hälften theilen, den übrigen Körper aber mit weißer Erde bestreichen und mit den Fingernägeln allerlei Streifen in diesen Untergrund hineinreißen, so wird man der Versicherung christlicher Sendboten gerne Glauben beimessen, wenn sie uns erzählen, es habe ihnen geschienen, als befänden sie sich in der Nähe leibhaftiger Teufel. Selbst die Kinder tragen schon diese eigenartige Bemalung des Körpers, wie wir sie auf unserer Illustration S. 542 erblicken. Im Gegensatz zu den Männern sind die Weiber klein, untersetzt. Auch sie tragen ihren Farbenschmuck und dazu einen bis zum Knie reichenden Bastrock. Von weitem gleicht eine solche Indianerin beinahe unseren Ballettänzerinnen.

Yuma ist an der Mündung des Gila in den Coloradofluß gelegen, welch letzterer, überaus schmutzige Strom, dessen Wassermenge ungemein wechselt, von seiner Mündung in den kalifornischen Meerbusen bis etwa 800 Meilen aufwärts schiffbar ist. In seinem mittleren Laufe, da wo Nevada, Arizona und Kalifornien zusammenstoßen, ist der Strom durchweg unfahrbar; denn hier sind die fast unzugänglichen Cañons, die Schluchten des Colorado, und niemand anders ist hier Herrscher, als er.

„In uralter Zeit – vor vielen Jahrtausenden – herrschte ein mächtiger, weiser Häuptling über die Stämme von Arizona. Der Tod raubte demselben sein Lieblingsweib, und so tief und ergreifend war des Häuptlings Klage hierüber, daß Ta-vwoats, einer der indianischen Götter, sich seiner erbarmte und ihm versprach, ihn für kurze Zeit ins bessere Land zu der verlorenen Gattin zu führen, falls er nach seiner Rückkunft nicht mehr trauern wolle. Der Häuptling sicherte ihm dies zu, und nun nahm der Große Geist eine ungeheure Kugel in die Hände und rollte sie vor dem Häuptlinge über den Boden, und wo die Kugel rollte, da schnitt sie tief in die Erde ein und bildete einen viele tausend Fuß tiefen Engpaß. Durch diesen führte Ta-vwoats, den Indianer zu jenem glücklichen Lande, wo er sein Weib wiederfand. Nachdem der Gott den Häuptling zurückgeleitet, nahm er die Schneewasser der Hochgebirge, die Regenströme, die aus die Ebenen niederfielen, und leitete einen furchtbaren brausenden Strom durch den Engpaß, damit niemand im Stande sei, aufs neue durch die Schlucht nach den Ländern der Seelen vorzudringen.“

So lautet die indianische Sage über die Entstehung der mächtigen Cañons des Colorado, über welche auch an den Lagerfeuern der westlichen Jäger und Goldgräber manche wunderbare Erzählung verbreitet wurden.[1]

Von dem Vorhandensein dieser furchtbaren Engschluchten hatte man schon seit Jahrhunderten Kenntniß, aber diese war eine höchst beschränkte und mangelhafte, da die ungeheuere Dürre, die endlose Zerissenheit der ganzen Landschaft, die Unzugänglichkeit der Cañons aller Erforschung unüberwindliche Schranken entgegensetzten. Die spanischen Mönche und Conquistadoren, die im 16. und 17. Jahrhundert diesen Theil Amerikas berührten, mußten sich damit begnügen, einen Blick in die grausigen Abgründe geworfen zu haben; sie zu erforschen oder zu überschreiten, war ihnen nicht beschieden.

Auch verschiedene Expeditionen, die in den fünfziger Jahren von der Regierung der Vereinigten Staaten ausgesandt wurden, um den Colorado bezüglich seiner Schiffbarkeit zu erforschen, blieben erfolglos und erst in den Jahren 1869 bis 1872 ward das Cañonland zum ersten Male in seiner ganzen Länge von dem amerikanischen Major J. W. Powell befahren. Die unerhört kühnen und heldenmütigen Bootfahrten dieses Gelehrten bilden eines der glänzendsten, wenn nicht das glänzendste Kapitel in der Erforschungsgeschichte des amerikanischen Westens.

Der Colorado ist eines der großartigsten Naturwunder. Ist sein unterer Lauf nur wenig über dem Meeresspiegel gelegen, so ist sein Quellgebiet hingegen im Bereiche jener Gebirgsketten, deren schneegekrönte Häupter bis zu 14 000 Fuß emporragen. Hier fällt den ganzen Winter hindurch Schnee, und so weit das Auge reichen mag, sind Wälder, Klippen und Thäler in einen weißen, leuchtenden Mantel gehüllt. Bringt der Sommer mit seinen Feuergarben den Schnee zum Schmelzen, so stürzen von [541] alten Bergwänden Millionen von Kaskaden. Zehn Millionen dieser Kaskaden vereinen sich zu zehntausend schäumenden Bächen, zehntausend dieser Bäche bilden hundert tosende Flüsse voller Katarakte und Stromschnellen. Hundert dieser unbändigen Flüsse bilden den Colorado. Alle diese Wasser graben und nagen sich Klüfte in die dürren Felslande, tiefer und immer tiefer, bis die Uferwände thurmhohe, unersteigliche Klippen bilden. Diese tiefen, engen Felsengassen heißen Cañons. Jeder Strom, jeder Bach, alle jene winzigen, nur während der Regenzeit bestehenden Wässerlein haben ihre eigenen Cañons, so daß das ganze mittlere und obere Gebiet des Colorado ein ungeheures Labyrinth tiefer, in einander mündender Klüfte und Felsschluchten ist.

Riesenkakteen in Arizona.

Die Cañons des oberen Colorado sind von geringerer Tiefe; immerhin sind die Klippenwände mehr als fünfmal so hoch wie der Kölner Dom. Erst nachdem der Strom die rosenroth, weiß, grau und purpurn gefärbten Felsengassen des Marmorcañons durchjagt hat und in das große Cañon eintritt, wird die Tiefe gewaltiger. Da wogt der Fluß sechstausend – siebentausend Fuß unter der Oberfläche der Erde, unzugänglich im wahrsten Sinne des Wortes; denn die tausend Fuß hoch aus Granit bestehenden Kerkerwände sind absolut senkrecht. Dann folgen sehr steile Abhänge und wiederum himmelhohe senkrechte Klippen, eine über der andern.

Kehren wir nach Yuma zurück, so führt die Südpacificbahn tagelang durch die an Schrecken nur wenig hinter der Coloradowüste zurückstehende Gilawüste. Nur in den Flußniederungen ist strichweise guter Boden, der von den Pimaindianern ausgenutzt wird. Das Binnenland ist auch hier unfruchtbar und dürr. Durch diese Einöden unternahm im Jahre 1539 Marcos de Niça seinen berühmten Zug; durch sie drangen die verwegenen Abenteurer Coronado, Pedro de Tohar, Lopez de Cardenas und Cabeza de Vaca (Kuhkopf genannt, besser aber Löwenherz heißend) bis zum Grand Cañon des Colorado und bis über die östlichen Grenzen des heutigen Neu-Mexikos vor. Ihre Reiseschilderungen berichten von großen, seltsam angelegten Städten und von Wunderströmen, deren Gestade sich drei bis vier Stunden hoch in die Lüfte erheben. Kein Roman kommt der Beschreibung dieser Wanderungen gleich, die mit unsäglichen Entbehrungen und Gefahren verbunden waren. Vielfach waren die Abenteurer einzig auf den Genuß der Kakteen angewiesen, die in diesen Einöden fast die einzige Flora bilden, dafür aber auch in geradezu überraschender Mannigfaltigkeit vertreten sind. Welche Formen, Gestalten und Farben der Pflanzenwelt anzunehmen überhaupt möglich ist, hier bei den Kakteen Arizonas sind sie zu finden. Da klammern sich kugelrunde Mammillarien an die von der Sonne durchglühten Felswände an, von Faustgröße bis zum Umfange von mehreren Fuß wechselnd und strotzend von Saft. Dort bilden die aus lauter flachen ovalen Gliedern sich zusammensetzenden und mit flammendrothen Blüthen gezierten Opuntien mächtige undurchdringliche Gebüsche; in fingerdünnen langen Seilen hängt von den Klippen der Schlangenkaktus herab, ferner fällt der Spitzenkaktus auf, der in geringem Abstande den Eindruck erweckt, als ob er mit einem Spitzenschleier bedeckt sei. Da stehen ferner hohe Stangen von grauem Holz mit kleinen grünen Blättchen, hinter denen sich schrecklich widerhakige Dörner verstecken.

All diese Kakteen aber werden weit überragt von der Pitahaya, einer Cereusart, die eine Höhe von 40 bis 50 Fuß erreicht. Ihr Stamm ist zwei und zweieinhalb Fuß im Durchmesser und theilt sich nach oben in einige dem Stamme parallel laufende Aeste, so daß ein mit mehreren derartigen Seitenarmen versehener Riesenkaktus mitunter einem gewaltigen Kandelaber gleicht, um so mehr, da die aufwärts strebenden Zweige gewöhnlich symmetrisch am Stamme ansetzen. Große weiße Blüthen schmücken in den Monaten Mai und Juni die Spitzen der Zweige wie des Hauptstammes und die im August zur Reife gelangenden wohlschmeckenden Früchte dienen den Indianern als Speise. Ganz sonderbar ist der Anblick einer mit derartigen Riesenkakteen besetzten Hochebene, namentlich, wenn zwischen den dunkelgrünen [542] gesunden Exemplaren abgestorbene stehen, deren verwitterte Oberhaut in Fetzen herunter hängt, während das weiße, von der Sonne gebleichte Holz gleich einem Skelett von dem tiefblauen Himmel sich abhebt.

Finden sich in einem derartigen Kaktus schadhafte Stellen und Wunden, so schlägt in diesen Löchern hurtig ein Buntspecht seine Wohnung auf. Eine Eigenthümlichkeit dieses auch in Kalifornien häufigen Vogels ist, daß er, wo irgend ein mit Wurmlöchern versehener Stamm sich findet, diese Wurmlöcher mit Eicheln verschließt. In diesen Eicheln entwickeln sich mit der Zeit Maden, die nun ihrerseits wieder dem Spechte zur Beute fallen, der sich so im wahrsten Sinne des Wortes eine Vorrathskammer großartigsten Stiles bildet.

Junger Yumaindianer.

Zweihundertsiebenundvierzig Meilen östlich von Yuma ist Tucson gelegen, die zweitälteste Stadt der Vereinigten Staaten. Bereits im Jahre 1560 gründeten hier die Spanier eine Niederlassung; sie hat sich, namentlich seitdem die Eisenbahn den Ort erreichte, zu der größten und wichtigsten Stadt Arizonas emporgeschwungen. In ihrem Aussehen eine echt mexikanische Stadt, ist ihre an 10 000 Köpfe starke Bevölkerung vorwiegend aus Mexikanern und Indianern zusammengesetzt; auch eine Anzahl Deutsche ist vorhanden, die im Sommer 1881 einen eigenen Turnverein gründeten. Das Interessanteste, was die Umgebung von Tucson bietet, ist die zehn Meilen südlich gelegene Mission San Xavier del Bac, das schönste und größte jener Baudenkmäler, die von den spanischen Mönchen in diesen Landen errichtet wurden.

Weiter östlich an der Bahn liegt Benson und südlich von hier sind die berühmten Silberminendistrikte von Tombstone zu finden, wo jahraus, jahrein Tausende von Händen die Schatzkammern der Erde durchwühlen. Die mineralischen Schätze dieses entlegenen Erdenwinkels wurden im Februar 1878 durch die Gebrüder Schieffelin[WS 1] entdeckt. Allen Warnungen ihrer Freunde trotzend, daß sie in diesen durch Apachen höchst unsicheren Regionen schwerlich Reichthümer, sondern höchstens ihren „tombstone“, ihren Grabstein, finden könnten, legten die Abenteurer den Grund zu dem Städtchen, welches sie in dankbarer Anerkennung der ihnen gemachten Prophezeiung „Tombstone“ benannten, ein für den Ort immerhin recht charakteristischer Name, da hier von Minern und Cow-Boys (Rinderhirten) unzählige Schießereien und Mordthaten verübt worden sind. Dem Ortsnamen angemessen waren auch zur Zeit meiner Anwesenheit die Namen einiger Biersalons gewählt, wie „The Coffin“ (der Sarg), „The Poison-box“ (die Giftschachtel), „The Tombstone-gem“ (der Grabsteinschmuck) etc. Eine hier erscheinende Zeitung hatte als Titel das Wort „The Epitaph“ („Die Grabschrift“) angenommen.

Daß die Befürchtungen der Freunde der Gebrüder Schirffelin nicht unbegründete waren, beweist die ganze Geschichte von Arizona, deren jede Seite mit Blut geschrieben ist. Wenngleich auch die Zahl der indianischen Bevölkerung von Arizona nur 30 000 Köpfe beträgt und davon die zusammen 25 000 Seelen zählenden Moquis, Pimas, Maricopas, Mohaves, Chimohuevis, Papayos und Yumas friedlich gesinnt sind, so haben sich dagegen die 5000 Apachen mit um so blutigeren Lettern in die Chronik von Arizona eingezeichnet. Neben den Sioux ist ihr Stamm der gefürchtetste und ruheloseste aller nordamerikanischen Indianerstämme. In verschiedene kleinere Abtheilungen zerfallend, wie die Tontos, Chiricahuas, Coyoteros, Mescaleros u. s. w., leben sie auf einem unermeßlichen Gebiete zerstreut, und die vielen koulissenartig hintereinander aussteigenden, wenig gekannten und wasserarmen Gebirgszüge dieses Gebietes mit ihren wilden Schluchten und Pässen bilden den unbezähmbaren Apachen willkommene Schlupfwinkel und Vertheidigungsplätze. So sind namentlich die schwer zugänglichen Chiricahua-, Huachuca-, dos Cabezas- und Dragoon-Berge voll von grausigen Reminiscenzen an die Blutherrschaft der Häuptlinge Cochise, Mangas, Colorado, Vittorio und Geronimo. Aeußerst gewandte Reiter, muthig, entschlossen und verschlagen, unempfindlich für Hunger, Ermüdung oder körperliche Schmerzen, mit Muskeln versehen wie von Stahl, dabei grausam wie Hyänen, sind die Apachen seit Jahrhunderten die wahre Geißel für ganz Arizona, Neu-Mexiko und Nord-Mexiko und haben ganze Länderstriche geradezu entvölkert. Der seit Generationen herrschende Guerillakampf zwischen Weißen und Apachen wird wahrscheinlich erst dann sein Ende finden, wenn der letzte Apache sein Leben unter dem Revolver eines Bleichgesichtes verhaucht. Wie erbittert und grausam dieser Guerillakampf geführt wurde und noch wird, geht daraus hervor, daß die mexikanische Regierung in den vierziger Jahren für jeden Apachenskalp einen Preis von 100 Dollars (425 Mark) bezahlte. Die Schädelhäute von Frauen standen mit 50, die von Kindern mit 25 Dollars im Preise. Derartige Prämien wurden vom Staate Chihuahua noch im Jahre 1880 gezahlt, als die unter Führung des Obersten Terrazas stehenden mexikanischen Freiwilligen die Skalpe des Apachenhäuptlings Vittorio und seiner 77 Krieger in feierlichem Triumphzuge in die Hauptstadt Chihuahua einbrachten.

Eine Hauptschwierigkeit in der Bekämpfang der Apachen bestand darin, daß die Rothäute, wenn von den Truppen des einen Landes verfolgt, stets auf das Gebiet des benachbarten Staates übertraten, wohin ihnen dann die Soldaten nicht folgen durften. Erst neuerdings, nachdem die Regierungen von Mexiko und der Union in der Apachenfrage gemeinschaftliche Sache gemacht und ihren Truppen, wenn diese in Verfolgung von Apachenhorden begriffen waren, das Betreten des angrenzenden Staates freigestellt haben, ist eine entschiedene Wendung zum Besseren eingetreten und dürfte mit der im Sommer 1886 erfolgten Gefangennahme des Häuptlings Geronimo und seiner Verpflanzung nach Florida einstweilen Ruhe und dem Lande die Aussicht verschafft worden sein, nunmehr in Frieden der Weiterentwickelung entgegen zu gehen.

[543]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
2. Wanderzauber.

Ich bin zwar der Jüngste in diesem Kreise, aber wenn ich an die Zeit zurückdenke, an deren Erinnerungen ich jetzt rühre, komme ich mir schon recht alt vor. Damals verfolgte ich noch nicht mit mühsamen Berechnungen die Bahnen der Planeten und Kometen und noch weniger erschienen mir die Bahnen des Menschenlebens von Gesetzen und Regeln abhängig, die sich berechnen lassen. Und von jener Zeit her erscheint mir als Hauptreiz des Reisens und Wanderns, daß seine Wechselfälle aller Vorausberechnung spotten und man an jedem Kreuzweg dem Glück in einer anderen freundlichen Gestalt begegnen kann. Meine schönsten Reiseerinnerungen stammen denn auch aus der Zeit, da ich mit meinen Kommilitonen von Jena aus die Höhen und Thäler des Thüringerwaldes wandernd durchmaß, ohne viel Geld in der Tasche, aber das ganze Herz voll Lebensfrische und Daseinsfreude, das Geibelsche „O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!“ zum Panier.

Die verehrten Damen unserer Tafelrunde werden sich schwerlich einen Begriff machen können von der Stimmung, welche den Ton angiebt, wenn Studenten wandern. „Studio auf einer Reis’, juchheidi, juchheida!“ heißt’s im Lied und die holde Mahnung eines anderen Verses:

„Laßt uns die Becher bekränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt geh’n –“

wird nie so wörtlich befolgt, als wenn der Bruder Studio das Ränzel auf den Rücken nimmt und sich auf die Wanderschaft begiebt, planlos, ziellos, hinaus ins Freie, in die Welt, wo sie schön ist. Und mit seinen Augen betrachtet, ist die Welt fast überall schön.

In unseren großen Städten, wo neben anderen wichtigen Centralstellen des Lebens auch Universitäten sind, kommt diese Stimmung kaum mehr recht auf; aber in jenen kleinen Orten, die nur Universitäten sind, um welche ewiges Philistervolk ehrfurchtsvoll herum wohnt, hat die alte deutsche Burschenfreiheit noch mächtige Bollwerke und behauptet sich siegreich vor der alles nivellirenden Großstadtkultur. Eine der Hochburgen der alten echten Studentenpoesie ist Jena an der Saale und von einem Pfingstausflug von hier in den Thüringerwald, den ich mit zwei gleichgestimmten Kameraden im ersten Semester unternahm, will ich nunmehr erzählen. Wohl habe ich seitdem Schöneres gesehen als die idyllischen Waldthäler Thüringens und Bedeutenderes erlebt als an jenen Tagen, aber keine spätere Reiseerinnerung steht in gleichem Maße von Poesie verklärt vor meiner Seele wie diese.

In Thüringen, wo von altersher immer Deutsche gewohnt haben, ohne daß fremder Einfluß von außen die heimische Sitte hätte verändern können, findet sich im Volksbrauch noch so manches aus altersgrauer Vorzeit erhalten. Wie die thüringischen Mädchen noch heute in der Nacht zum ersten Mai „in den Maithau gehen“, das heißt mit ihren Freundinnen unter Scherzen und Liedersang in die nächste Umgebung des Orts pilgern, wie es die Vorfahren gethan, die mit dem wundertätigen Thau dieser Nacht gläubig Schläfe und Stirn sich netzten, um damit ihr Gesicht vor den Spuren des Alters zu feien, so spielt zu Pfingsten die „Maie“, das ist mit ihrem jungen hellgrünen Blätterschmuck die Birke, eine von Alters her geheiligte Rolle. Wie zur Weihnacht die dunkle Tanne, wird dieser lustige Frühlingsbaum dann zum Schmuck der Häuser und Kirchen verwandt. Und in jedem Dorf wird auf dem großen Platz, wo die Linde steht oder wenigstens einstmals stand, ein Tanzplatz abgesteckt, oft auch mit Brettern ausgeschlagen und ringsherum im Geviert werden wiederum grüne Maien aufgestellt.

Auch uns hatten flatternde Maienbäume auf der Fahrt von Jena nach Rudolstadt lustig umrauscht, als wir das blühende Saalthal am ersten Pfingsttag morgens in einem offenen Beiwagen der Post durchfuhren. So wollte es die alte Tradition unserer Verbindung, der Eisenbahn zum Spott, die uns weit schneller, aber auch ohne alle Romantik aus Ziel gebracht haben würde. Und hatte schon bei dieser Fahrt eine Stimmung sich unser bemächtigt, die dem lustigen Grün der Birken an Frische nichts nachgab, so wollte der Jubel kein Ende nehmen, als wir nach beendigtem Mahl im „Adler“ zu Rudolstadt in größerer Gesellschaft von anderen Jenenser Studenten, die sich dort zusammengefunden hatten, in langem Zuge, zu zwei oder drei Arm in Arm, singend und mit den Stöcken schwenkend „zum Städtle hinaus“ zogen auf der Straße nach Blankenburg, von wo bekanntlich der Weg ins wildromantische Schwarzathal abbiegt. Schwarzburg am Ende desselben war das Endziel dieses ersten Reisetags.

Wir waren noch nicht lange gegangen, das unverwüstliche Wanderlied „Der Mai ist gekommen“ war eben zum dritten Mal mit zum Theil schon recht heiseren Kehlen zu Ende gesungen worden, da zeigte sich ein neues Dorf vor uns auf dem Wege und dieser Anblick weckte in der Mehrzahl der Genossen das gewohnheitsmäßige Verlangen nach einem solennen Kaffeeskat. Das Hin und Her der Vorschläge führte zu dem Entschluß, in dem Wirthshaus des Dorfs, falls es nur einen Garten zum Sitzen im Freien habe, die erste Einkehr zu halten und einen obligaten Skat dabei ins Werk zu setzen. An Karten dazu konnte es nicht fehlen, denn vier bemooste Häupter unserer bunt zusammengewürfelten Reisegesellschaft hatten diesen Einwand sofort damit niedergeschlagen, daß sie aus ihrer Brusttasche jeder ein Spiel Karten triumphirend hervorzogen.

Für unsere Damen, denen die zwingende Macht des Skatspiels über alle, die es spielen können, vielleicht noch unbekannt ist, muß ich hier hervorheben, daß Jena nur wenige Eisenbahnstunden von Altenburg, der Wiege dieses sinnreichen Kartenspiels, liegt und die Jenaer Studentenschaft schon frühzeitig ihren Beruf erkannt hat, demselben ein anhaltendes Studium und die ausdauerndste Pflege zuzuwenden. Sie werden daher meine Zerknirschtheit nachempfinden können, daß ich es damals bis über die Anfangsgründe des Skats noch nicht hinausgebracht hatte, während meine zwei eigentlichen Reisegefährten leidenschaftliche Spieler waren, die, nachdem sie mich meiner Unfähigkeit wegen weidlich verspottet hatten, ihrer Befriedigung lauten Ausdruck gaben, in so angenehmem Kreise den „dritten Mann“ für den ersten „Pfingstreiseskat“ finden zu können.

Das Wirthshaus im Dorf hatte richtig einen geräumigen Garten und bald saß die bis dahin freigeeinte Gesellschaft in Gruppen von drei und vier Personen abgesondert beim Spiel. Während der Wirth vergnügten Angesichts die ersten Gläser heranschleppte, schmetterte es aus den Holztischen bereits von grünen Wenzeln, Schellenassen und Eichelzehnern. Mir blieb nichts übrig, als mich, wenn nicht „weinend“, so doch beschämt „aus diesem Bund zu stehlen“ und mein Heil auf eigene Weise in einem „Solo“ zu suchen. Und ich hatte nicht lange zu suchen. Schon beim Einzug in die grüne Kastanienhalle des Wirthsgartens waren uns Fanfaren einer nahen Tanzmusik entgegen geklungen, und diesen lockenden Tönen nachgehend, gelangte ich bald auf den freien Dorfplatz, unter dessen breitem Lindendach aus blanken Brettern ein Tanzboden hergerichtet war, auf welchem sich sonntäglich geputzte Burschen mit ihren Mädchen im Takte drehten. In nächster Nähe des von Birken umrahmten Tanzplatzes waren, ebenfalls in primitiver Weise, aus Brettern und Pfosten Tische aufgeschlagen, an denen die älteren Leute saßen, die Frauen strickend, die Männer Pfeife rauchend, paarweis ein gemeinsames Bierglas vor sich, das offenbar nur in langen Pausen von dem blondzopfigen Töchterlein des Lindenwirths gefüllt zu werden brauchte, dessen Haus und Gehöft an diesen Platz grenzte. Wenigstens behielt das schmucke Kind genug Zeit übrig, um sich der Tanzlust hinzugeben, die ihm aus den blauen Augen über den gerötheten Wangen schimmernd leuchtete. Es war kein Wunder, daß eine merkliche Trübung dieses freudigen Ausdrucks eintrat, als ich durch mein Begehr nach einem Glase Bier sie nöthigte, sich aus den Armen ihres Tänzers zu lösen, nachdem die Musik eben erst ein neues Stück begonnen. Ihr Tänzer war nicht eben ein bevorzugter Vertreter seines Geschlechts und der Unmuth auf der Stirn der flinken Hebe, der noch nicht ganz verflogen war, [544] als sie mir den Trunk brachte, galt, wie sich zeigte, auch nur der Unterbrechung des Tanzes überhaupt, nicht dem Verluste grade dieses Tänzers.

Da mir ihre frische Jugend sehr gefiel, suchte ich sie denn auch festzuhalten in dem Gespräch, das ich mit dem Ausdruck meines Bedauerns begonnen hatte, sie im Tanze gestört zu haben. Ziemlich unvermittelt antwortete sie darauf: seitdem sie den vorigen Winter bei ihrer Tante, der Wirthin „Zum goldenen Lamm“ in Kahla, zugebracht habe, gefiele ihr es gar nicht mehr, wie hierin ihrem Heimathsorte die Burschen tanzten. Die Herren Studenten, mit denen sie auf den Winterbällen in Kahla oft habe tanzen können, die walzten freilich auch gar zu schön. So sagte sie und blickte dabei unwillkürlich nach meinen Füßen, wie um zu prüfen, ob ich wohl in der Lage sei, dieses allgemeine Lob durch eigene Leistung als vollberechtigt zu erweisen. In der That war ich, damals wenigstens, ein besserer Tänzer als – Skatspieler. Der Blick des kecken Dirnleins auf meine nicht grade salonmäßig bekleideten Füße wirkte auf mich elektrisirend. Die Musik lockte, das Lachen und Singen der Tanzenden mahnte zum Mitthun und das schlanke Mädchen vor mir hätte gar nicht nöthig gehabt, so ermunternd mich anzureden. Als der alte Wirth, ihr Vater, sein gestricktes Käppchen lüftend und die lange Tabakspfeife aus dem linken Mundwinkel in den rechten nehmend, nun auch noch hinzutrat mit der Frage, ob ich nicht ein wenig mittanzen wolle, da war ich mit dem lustigen Flachskopf schon mitten unter den Tanzenden und wirbelte die mich leise Belobende flott im Kreise herum.

Es ging ganz prächtig. Das Mädchen war geschmeidig und leicht, wie selten eins, das auf dem Lande erwachsen ist. Und der keineswegs gebohnte Bretterboden war viel glätter, als ich beim ersten Anblick vermuthet hatte. Viel Unterhaltung gab’s dagegen nicht. So lange die Musik spielte, mußte ich auch das Tanzbein schwingen. Und trat eine Pause ein, so rief mir der Vater sein Kind fort, damit es ihm helfe, frisch Bier den Gästen zu bringen. Endlich konnte sie sich ein wenig Ruhe gönnen und als ob sich das von selbst verstände, setzte sie sich neben mich und trank mir ohne besondere Nöthigung ein drollig burschikoses Schmollis zu. Ich muß nun hier einschalten, daß ich damals noch recht blöde war, da ich während der Schulzeit ohne Verkehr mit Altersgenossinnen aufgewachsen war; die Rede floß daher meiner Nachbarin viel behender von den Lippen als mir, und meine Unbeholfenheit stimmte mich um so unbehaglicher, je mehr die kleine Wirthstochter sich Mühe gab, aus ihrem Aufenthalt bei der Tante in Kahla die Anschauung herzuleiten, daß sie nun eigentlich kein Landpomeränzchen mehr, sondern eine perfekte Städterin sei.

Ich fand diesen Ehrgeiz recht wenig angebracht, da mir das Leben auf dem Lande viel reizvoller als das in den Städten, namentlich aber als das in einer Kleinstadt erschien und ich war eben im Begriff, die Dummheit zu begehen, der kindlichen Einbildung der kleinen Dorfkokette mit pedantischen Einwänden zu begegnen, als ein plötzliches Ereigniß mich veranlaßte, vom Sitz aufzuspringen.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel und mit lautem Donnergedröhn kam plötzlich auf der Landstraße ein zweispänniger Herrschaftswagen mitten auf den Platz gesaust und in demselben Moment, da ich das Fuhrwerk in der emporgewirbelten Staubwolke deutlicher erkennen konnte, rissen die Stränge, die Deichsel brach mit Krachen und die wildgewordenen Pferde schleiften den Kutscher ein Stück vorwärts, bis auch die Zügel nicht mehr hielten und die Rosse ungehindert weiter stürmten. Während die Theilnahme der Bauern sich vor allem den Pferden zuwandte und dann dem Kutscher zugute kam, hatte mich unwillkürlich mein Interesse dem Wagen zugetrieben, an welchem mit der Deichsel gleichzeitig ein Rad gebrochen war. Ich kam grade zurecht, um den Insassen aus dem Wagen zu helfen; es waren drei Damen der verschiedensten Altersstufen, nur die Urahne fehlte, um das berühmte Quartett der Schwabschen Ballade vollzählig zu machen. Großmutter, Mutter und Kind dankten alle drei sehr höflich, überzeugten sich schnell, daß der Kutscher sich nichts Ernstliches durch den Fall zugezogen, und gingen dann auf das Wirthshaus zu, den sie geleitenden Wirth bittend, dafür Sorge zu tragen, daß der Schmied schleunigst herbeikomme, um die Schäden des Wagens so gut wie möglich in aller Schnelligkeit auszubessern. Das Wort führte in dieser Sache die Großmutter, eine etwas korpulente, aber noch sehr rüstige Dame, welcher die Brille, die sie trug, nichts von der Freundlichkeit des Ausdrucks raubte, der das Gesicht trotz des Unfalls schon beim Aussteigen belebt hatte. In der Mutter fanden sich diese Züge faltenlos und in frauenhafter Frische wieder. Und gar erst in der Tochter! Sie müssen mir verzeihen, daß ich es Ihnen überlasse, sich aus siebzehn Jahren schlanken Gliedern, braunen träumerischen Rehaugen in einem zarten, aber gesunden Mädchenangesicht ein Bild auszumalen, das annähernd dem gleichkommt, welches mir in der Erinnerung haftet. Während die beiden älteren Damen schwarze Kleider trugen, war das Mädchen ganz weiß gekleidet; um den Hals trug es eine Schnur weißer Perlen. Ich hatte ihnen gleich beim Aussteigen die Schirme und Mäntel abgenommen und machte mir ein Vergnügen daraus, dies Handgepäck ihnen nach dem Sitze zu tragen, den ihnen der Wirth in der Laube seines kleinen Gärtchens, das links an sein Haus grenzte, anwies. Die älteren Damen zeigten sich sehr dankbar für meine kleinen Ritterdienste. Während mich aber ihre würdevolle Freundlichkeit trotzdem mit einiger Verlegenheit erfüllte, erweckte die schweigsame Sympathie, mit der mich das kleine schlanke Fräulein von der Seite wiederholt anschaute, eine mir bis dahin im Verkehr mit Damen völlig unbekannte Stimmung von Vertrauensseligkeit. Wie ich nun eben nach Worten suchte, um dieses Empfinden in irgend passender Form zum Ausdruck zu bringen – die Damen hatten gerade in der von weißem und blauem Flieder dicht umblühten Laube Platz genommen – da that sich die Gartenthür hinter mir auf und die Stimme der blonden Wirthstochter, die aber gar nicht mehr lustig klang, rief mir zu, daß eben wieder der Tanz beginne, und ich habe ihr doch noch einen versprochen. Ich murmelte verwirrt etwas von älteren Pflichten, verbeugte mich verlegen und ging zögernd auf die unwillkommene Ruferin zu, die mich, als habe sie wunder welche Rechte auf meine Galanterie, an der Gartenthür mit dem Vorwurf empfing:

„Ja, so sind die Herren Studenten. Ist niemand besseres zur Hand, so machen sie ungenirt uns Mädchen vom Lande die Kour; kaum aber zeigt sich etwas Vornehmeres, so ist man für die stolzen Herren nicht mehr auf der Welt!“

Da ich dem Mädel mit keinem Worte ein Recht zu solchem Anspruch gegeben, verdroß mich diese Art sehr, und als ich ein paarmal mit der mich jetzt sehr zärtlich an sich Drückenden herum getanzt und dabei zwischen den flatternden Birkenzweigen in der Richtung des Gartens ein weißes Kleid schimmern gesehen hatte, ließ ich die kleine Eifersucht nach einer förmlichen Verbeugung ruhig stehen und schritt mit einer mich selbst überraschenden Kühnheit direkt aus das fremde Mädchen zu, welches neugierig von der Gartenthür aus dem fremdartigen Treiben unter der Linde zuschaute, begrüßte sie fröhlich und ermunterte sie, von der Pfingstfreiheit, die heute alle guten Menschen verbrüdere, Gebrauch zu machen und auf dem ländlichen Tanzplatz mit einem fahrenden Bruder Studio einmal herum zu tanzen. Ihre Mutterwürde wohl nichts dagegen haben.

In den träumerischen Augen des zarten Geschöpfs blitzte es von heller Lebenslust auf; sie blickte sich um zu ihrer Mutter, welche hinter ihr stand, und da diese uns gewährend zunickte, war sie im Nu an meiner Seite.

„O wie schön, wie romantisch!“ rief sie leise, „ja, Pfingstfreiheit! – das war’s, wonach ich mich sehnte, als ich vorhin aus der heißen Kutsche unbefriedigt auf die um uns aufwirbelnden Staubwolken sah und mich mißgestimmt fragte: ist das Pfingsten? Ist das Reiselust? Wie dankbar bin ich Ihnen!“

Wir waren auf dem Podium; die Musik begann eben ein neues Stücks lustig und fidel wirbelten die Klänge; lustig und fidel wiegten wir uns auf und nieder.

„Nein, seht nur den Fuchs an!“ hörte ich plötzlich die Stimme des einen meiner beiden Reisekameraden vom Zaune her ziemlich laut sagen. „Wetter, was der Kerl für ein Glück hat! Während wir im Skat verlieren, läßt sich der Taugenichts zur Belohnung dafür, daß er fein artig das Kartenspiel meidet, das schönste Prinzeßchen vom Himmel herunterzaubern, nur damit er auch sein Vergnügen habe.“

„Aber nun ist es Zeit,“ rief der andere, als der Tanz gerade zu Ende war. „Es ist so wie so spät geworden.“

Und mit der Autorität eines Leibburschen, die keine Widerrede verträgt, trat er auf mich zu und sagte unter stummer

[545]

Kaiser Wilhelm II. in Kiel.
Originalzeichnung von Hans Olde.
1. Empfang des Kaisers auf dem Bahnhofe. – 2. Einschiffung und Salut vom Geschwader. – 3. Salut von der Hafenbefestigung in Friedrichsort. – 4. Die Jacht „Hohenzollern“ mit der Torpedoflotille.

[546] Begrüßung meiner verlegen und scheu dreinblickenden Tänzerin zu mir:

„Thut mir leid, Fuchs; wir müssen gehen. Die andern sind schon voraus. Haben so schon Zeit verloren mit dem Suchen nach Dir! Doch Du wirst das Fräulein gewiß noch zu ihrem Platz führen wollen. Also wir warten dort an der Ecke. Mein Fräulein, habe die Ehre!“

Ein Student im ersten Semester steht viel zu widerstandslos unter dem Regiment seines Leibburschen, als daß ich in diesem entscheidenden Augenblick zu widersprechen gewagt hätte, zumal die Freunde bereits auf mich gewartet hatten. In verlegener Eile und mit stammelnden Entschuldigungen geleitete ich das bis in die Stirn erröthete Mädchen zu den Ihren, empfahl mich dort mit dem Hinweis, daß mich die Rücksicht auf meine Reisegefährten zum Aufbruch zwinge, und dann machte ich Kehrt und mir war, als sei plötzlich die Sonne hinter Wolken verschwunden. Unwillkürlich hatte ich beim Weggehen „auf Wiedersehen“ gesagt, und zu spät fiel mir’s auf die Seele, daß ich nicht einmal den Namen des Mädchens erfahren hatte. Zerstreut zahlte ich an den Wirth meine kleine Zeche, und wenn mich nicht eine Bemerkung meines Leibburschen daran erinnert hätte, so würde ich ganz vergessen haben, meiner kleinen Tänzerin mit dem eifersüchtigen Köpfchen Lebewohl zu sagen. So that ich’s von weitem, indem ich meinen Hut gegen sie schwenkte.

„Aber, Fuchs, Dich dürfen wir ja gar nicht mehr allein lassen. Das geht doch über das Bohnenlied,“ hieß es nun, indem die Freunde sich gegenseitig darauf aufmerksam machten, daß das Mädchen mit dem Ausdruck schweren Mißmuths mich ziehen sah. „Es ist im Grunde klug von Dir, Fuchs, daß Du Dich um das Skatspielen ‚drückst‘. Du würdest höllisch verlieren bei so viel Glück in der Liebe!“

Ich aber fühlte nichts von diesem Glück, sondern im Gegentheil nur Aerger über die frühe und jähe Unterbrechung eines so poetisch sich anspinnenden Abenteuers. Um den Neckereien der Kameraden, die es übrigens herzlich gut mit mir meinten, ein Ende zu setzen, erzählte ich ihnen von dem Unglücksfall, der mein kleines Reiseabenteuer eingeleitet hatte. Der Schmied des Orts war eben mit der Reparatur des Wagens beschäftigt. Den daneben stehenden Kutscher hätte ich gar zu gern nach dem Namen seiner Herrschaft gefragt, aber ich fürchtete, meine Freunde würden mir dies als Zeichen der Verliebtheit auslegen, und so schwieg ich. Diese stimmten im Weiterschreiten ein übermüthiges Wanderlied an, in dem es von den Mädchen heißt, daß sie mit Sehnsucht dem weiterziehenden Burschen nachblicken, an den sie ihr Herz verloren; er aber könne sich nicht aufhalten, denn höher noch als Kuß und Liebesglück stehe ihm seine Freiheit. „Wonach zu achten, Fuchs,“ sagte am Schluß des kecken Gesangs mein Leibbursch Lorenz. Und damit war das Thema unter uns erledigt und wir gaben uns gemeinsam den Eindruücken der uns umgebenden Natur hin, deren zauberischer Reiz um so fesselnder ward, je mehr sich das Thal verengte, je wilder zerklüftet die röthlichgrauen Felsen am Ufer der Schwarza zwischen dem dunklen Tannengrün und dem lichten Laubgebüsch emporragten, je ungestümer und kecker das frische Berggewässer vorwärts stürzte, die Vergißmeinnicht am Ufer nur flüchtig berührend, wie ein fröhlicher Gesell in brausender Jugendlust auch weiter stürmt, ob auch freundliche Mädchenaugen am Wege zum Weilen laden.

Abends in Schwarzburg, wo sich im „Thüringer Hof“ wieder eine ganze Kneiptafel fideler Scholaren zusammengefunden hatte, brachten meine zwei Gefährten das Gespräch auf mein Abenteuer und eines der bemoosten Häupter knüpfte daran in salbungsvollem Ton eine recht leichtsinnige Betrachtung über die schöne Einrichtung der Welt, die so groß sei, daß man jeden Tag einem andern Mädchen den Hof machen könne, ohne nur einem wieder am nächsten Tag begegnen zu müssen. Ein anderer, der aus Livland stammte und auch mit zwei Freunden von Jena aus eine Pfingsttour unternommen hatte, erzählte ein lustiges Abenteuer, das sie zusammen am frühen Morgen erlebt hatten. In Rußland besteht bekanntlich die Sitte des Osterkusses. Beim ersten Begegnen am Ostermorgen wird ein Kuß ausgetauscht, wobei man Christos woskress (Christ ist erstanden) sagt. Die drei waren nun früh am Morgen mitten im Feld einem hübschen Bauernmädchen begegnet und der Livländer hatte sie angehalten und mit freier Benutzung dieses Osterkußmotivs ihr auseinandergesetzt, er müsse als Russe heiligem Brauche gemäß dem ersten Mädchen, dem er morgens am Pfingsttag begegne, einen Kuß geben. Offenbar hatte er das recht gut vorgebracht, denn das Mädchen war auf die Schelmerei insoweit eingegangen, daß sie stehen geblieben war und sich vorsichtig umgeblickt hatte, wie um sich zu vergewissern, ob sie allein sei. Der Livländer hatte jedoch diese Gelegenheit versäumt und gewartet, was sie weiter thun werde, indem er sich in theologische Spitzfindigkeiten verlor, die das Landkind unmöglich verstehen konnte. Da hatte sie sich zu den beiden anderen gewandt: ob die Herren auch Russen seien. Und ohne viel Zögern habe darauf der kleinste der drei, ein fideler Breslauer, ihr entgegnet: bloß Freund von Ruß, doch auch Freund von Kuß, habe sich auf die Zehen gehoben und der stattlichen Tochter des Thüringerwaldes einen herzhaften Kuß gegeben. Die habe darauf gelacht und sich dann davon gemacht; der Livländer aber hatte das Nachsehen, weil er, als es zu handeln galt, die günstige Gelegenheit verschwatzt hatte.

In der folgenden Nacht hatte ich einen quälenden Traum Ich war im Garten des Lindenwirths in dem Dorf an der Straße nach Blankenburg; nur war derselbe viel größer als in Wirklichkeit. Die tanzlustige Wirthstochter verfolgte mich auf den Kieswegen, über die ich mit um so größerer Hast jagte, als die Verfolgerin mir näher kam, welche in allen Tonarten mir zurief, ich solle doch stehen bleiben und mit ihr hinter die Laube treten, wo uns niemand sehen könne, und da wolle sie mir einen Kuß geben. Dort hinter der Laube aber stand, das fühlte ich instinktiv, zwischen blühenden Syringensträuchern das weißgekleidete Fräulein. Ihr wollte ich den Kuß geben, um den mich meine Verfolgerin bat. Aber da ich auch nicht von jener dabei gesehen sein wollte, lief ich immer zu, bis jene ermüdet sein und die Jagd einstellen würde. Endlich geschah dies. Nun eilte ich hinter die Laube. Aber ich kam zu spät. Das holde Mädchen in Weiß war freilich dagewesen, jetzt aber wurde sie von Wolken hinweg getragen, unwiederbringlich, und sie konnte mir nur aus der Ferne mit den Händen zuwinken, während der traurige Blick ihres Auges klagte: warum säumtest Du so lange? Jetzt ist’s zu spät!

Und nun merken Sie auf, wie seltsam das Reiseglück mit mir am folgenden Tag spielte. Wir waren früh bei Zeiten aufgebrochen, den schönen Waldweg hinauf zum Trippstein und von dort über Paulinzelle, wo wir nach Besichtigung der alten Klosterruinen Mittag hielten. Am Nachmittage ging’s gemächlich auf einem Waldwege nach Gräfinau, um von dort aus weiter zum Abend nach Ilmenau zu gelangen. Bald hinter ersterem Orte, gerade als wir an einem Kreuzwege uns im Zweifel befanden, welchen Pfad wir zu gehen hätten, trafen wir auf einen Landgendarmen, einen trotz seines martialischen Aussehens und riesigen Vollbarts recht gemüthlichen Vertreter der gestrengen Polizei, der uns nicht nur den Weg zeigte, sondern auch Feuer für unsere ausgegangenen Cigarren anbot, wogegen er eine frische von uns annahm und sich selbst anzündete. Er erklärte, denselben Weg zu gehen, und hatte sich bald mit meinen Freunden in ein Gespräch eingelassen über allerhand aufregende Ereignisse aus der Verbrecherwelt, wofür dem Gendarmen seine Praxis, meinen Freunden der „Neue Pitaval“ den Stoff lieferte, dessen Bände sie gerade damals eifriger studirten, als das Corpus Juris und Windscheids Pandekten. Mir behagten diese Räubergeschichten nicht, die sehr wenig zu meiner Stimmung paßten; aber sie ließen sich nicht stören; eine Geschichte gab die andere, das Thema war zu ergiebig. Erst als der biedere Mann der Ordnung gelegentlich einer Erzählung erwähnte, daß er auch Skat spiele, nahm das Gespräch eine andere Wendung, die dahin führte, daß beim nächsten Wirthshaus die beiden Spielratten den Gendarm einluden, mit ihnen einzukehren und ein paar Stunden zu spielen. Mein Protestiren half nichts. Ich könne mir ja die schöne Gegend betrachten, das müsse für einen „Natursimpler“ wie ich doch noch ein größeres Vergnügen sein; ich aber sagte unwirsch: „Nun gut, ich gehe voraus; in Ilmenau treffen wir uns abends in dem Gasthaus, das uns eben der Herr Gendarm empfohlen hat.“ –

Aergerlich ging ich vorwärts; doch der Blick auf die in der That herrliche Umgebung und die zur Rüste sich neigende Sonne, die im Westen die dunklen Waldberge mit rothem Lichtschein überflutete, gab mich bald wieder der träumerisch wohligen Stimmung zurück, die schon den ganzen Tag mich beherrscht hatte. Das [547] Schauspiel des Sonnenuntergangs, das durch Heraufziehen von Gewitterwolken einen besonderen Reiz erhielt, fesselte mich derart, daß ich nicht merkte, wie der Hauptweg eine Biegung nach links machte, während der Waldpfad, auf dem ich langsam meinen Weg verfolgte, mich in die Irre führte. Ich mochte so eine halbe Stunde gegangen sein, als ich mich plötzlich in einer Allee von hohen dichten Laubbäumen – ob es Linden oder Kastanien waren, weiß ich nicht mehr – befand.

Rechts und links von dem vielfach mit Gras überwachsenen Fahrwege dehnte sich der Wald hin. Bald konnte ich bemerken, daß der erstere in ziemlicher Entfernung in einem breiten Thorweg mündete. Neugierig näherte ich mich demselben; ein parkartiger großer Garten mit alten dichtkronigen Bäumen, zwischen denen aus der Ferne die Mauern eines großen Gebändes vorschimmerten, nahm mich auf. Auch anderes schimmerte hell durchs Gebüsch. Im Hintergrunde des Gartens schien eine größere Gesellschaft mit Spielen im Freien beschäftigt; helle Damenkleider blinkten ab und zu in Lücken des Buschwerks aus, und nun vernahm ich auch Stimmen. Aus meinem Lauschen weckte mich plötzlich ein Geräusch. Schritte knirschten auf dem Kiesweg, der, von dichtem Gesträuch umhegt, nach einem lauschigen Rondel führte. Ein dicker Baumstamm verhinderte, daß ich von dort aus gesehen werden konnte. Die Statue eines sein Schilfrohr blasenden Pans entzog andererseits auch meinem Blick einen Theil des so nahegelegenen Platzes, auf dem jetzt ein feiner Lieutenant in Interimsuniform mit einer jungen Dame heraustrat, auf die er mit lebhaften Gesten einsprach. Er war jetzt stehen geblieben, doch sie ging weiter mit einer abweisenden Gebärde und ließ sich auf einer Bank wie gelangweilt nieder. Jetzt konnte ich das Antlitz sehen; es war – ich traute meinen Augen nicht – meine Reisebekanntschaft von gestern; das weiße Kleid war mit einem rosafarbenen vertauscht. Der junge Offizier drehte sich verlegen den Schnurrbart; dann folgte er dem Mädchen und begann aufs neue seine eindringlichen Vorstellungen. Der Erfolg war eine kurze Antwort von seiten der jetzt sehr streng ihn anblickenden Schönen, welche bewirkte, daß er stracks mit militärischem Ruck Kehrt machte und den Weg, den er vorhin an der Seite des Mädchens gekommen, allein zurücklegte.

Dieses blieb wie in Träumen verloren sitzen. Als sie die Augen wieder hob, stand ich vor ihr. Ja, sie war es wirklich, das holde Kind, dessen Wesen mich gestern wie mit magischer Sympathie berührt, von dem ich die verwichene Nacht so seltsam geträumt hatte. Wunderbare Fügung! Und dieselbe freudig staunende Ueberraschung, die mich beseelte, lächelte mir freundlich aus ihrem Angesicht entgegen. Wir brauchten wenig Worte zur Aufklärung; sie war gestern auf der Reise hierher gewesen; die Besitzung gehörte einem Onkel von ihr. Daß ich mich auf meiner Wanderfahrt von den Gefährten getrennt, um mich hierher zu verirren, mußten unsre jungen Gemüther als eine Fügung des Himmels auffassen, der beschlossen hatte, uns einander wieder zuzuführen. Die berückende Wirkung dieser Thatsache machte das Mädchen zutraulicher gegen mich, als es ein jahrelanger Verkehr in den Salons der Städte würde ermöglicht haben. Sie war aufgestanden und hatte mir freudig die Hand gegeben, wie einem alten Bekannten. Dann aber war eine seltsame Befangenheit über sie gekommen und sie war unwillkürlich einige Schritte in den Schatten der Bäume zurückgewichen, doch ohne mich zu hindern, ihr zu folgen.

Sie stand zwischen blühenden Syringenzweigen, ganz wie ich sie im Traum gesehen, und gelbe Blüthentrauben des Goldregens umringelten ihre schwarzen Locken und ihren weißen Hals. Es war mir plötzlich, als könnte sie mir durch ein Wunder – wie es in dem Traum geschehen – entführt werden, als müsse ich sie fest halten und als könne ich die fliehende Minute versäumen, in der allein mir vergönnt sei, das Lächeln des Glücks von diesen Lippen zu lesen. Und so küßten wir uns.

In den Sträuchern und Bäumen um uns begann es zu rauschen; das schreckte uns auf. Es war nur der Wind, aber das Geräusch hatte ihr das Ungewöhnliche ihrer Lage, unsres Thuns zum Bewußtsein gebracht, nachdem sie vorher die Welt außer uns so ganz und gar vergessen gehabt, was ihr jetzt die Röthe der Scham in die Wangen trieb. Der Wind blies heftiger, und das Gesicht in ihre Hände bergend, fing sie an zu weinen. Ich sah ihr an, wie in ihrem Innern Zweifel rangen, ob sie mich einladen solle, ihr zu den Ihrigen zu folgen. Sie hätte es sicher gethan, wenn die Verlegenheit, die sich ihrer bemächtigt, nicht in diesem Augenblicke stärker gewesen wäre als jede andere Empfindung.

Am Himmel wetterleuchtete es. Große Tropfen fielen. Und nun hörten wir ihren Namen rufen. – „Marie!“ – So erst erfuhr ich, wie sie hieß. „Marie,“ sagte ich leise und ergriff ihre Hand.

„Wir müssen uns wiedersehen,“ sagte sie; „aber nicht heute.“

Ein furchtbarer Donnerschlag unterbrach ihre Worte. Gleich darauf begann der Regen in Strömen zu gießen.

„Marie,“ rief jetzt eine Männerstimme lauter und näher als früher. Geängstigt fuhr sie zusammen. „Ich muß hinein. Auf Wiedersehen!“ Indem sie dies leise rief, eilte sie von dannen. Fort war sie, unwiderruflich fort. Und bis heute bin ich ihr nicht wieder begegnet.

* * *

Die Damen blicken mich erstaunt an. Sie werden mit Recht fragen, ob und warum ich keinen Versuch gemacht habe, sie wiederzusehen? Ob ich ihn gemacht habe! Nach ihrem schnellen Verschwinden hatte mich, der ich trotz des Regens stehen blieb, ein Aufseher angetroffen und barsch gefragt, was ich hier zu suchen hätte. Der wolkenbruchartige Regen unter Donner und Blitz hatte jedoch alle weitere Verständigung abgeschnitten; zu suchen oder zu fordern hatte ich ja nichts hier. Hinter mir wurde knarrend das eiserne Parkthor geschlossen; mir war, als habe ein zorniger Cherub die Pforten des Paradieses hinter mir zugeschmettert. Es war tief in der Nacht, als ich in Ilmenau ankam. Ich hatte mich im Walde bei dem furchtbaren Gewitterregen verlaufen. Die Freunde empfingen mich mit Vorwürfen und sie hatten ein Recht dazu; was wußten sie von dem Wandermärchen, das ich inzwischen erlebt! Ihr Einfluß und die Zucht des studentischen Komments waren stark genug, um mich zu zwingen, am anderen Morgen mit ihnen dem verabredeten Reiseplan gemäß weiter zu marschiren. Mein Geheimniß mochte ich ihnen nicht verrathen. Kurz nach Pfingsten hatte ich meine erste Mensur, bei welcher ich einen scharfen Hieb über den Kopf erhielt, der nur schwer heilte. Sobald ich konnte, habe ich mich dann aufgemacht, um den Weg zu dem einsamen Park im Wald wieder zu finden. Aber ich fand mich in der Gegend nicht zurecht; ging wiederholt irre; die Spur blieb mir verloren. Und dann: ich war eben ein junger Student, der andere Dinge im Kopf hatte, als einem verwunschenen Schloß nachzugehen. Oft war mir’s wirklich, als sei das ganze Erlebniß nur ein Traum gewesen. Aber es war doch wirklich erlebte Wanderpoesie, die unvergeßlich meinem Erinnern eingeprägt ist und heute noch in demselben als schönstes Reiseerlebniß glänzt. So …, das war meine Geschichte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Kaiser Wilhelms II. nordische Meerfahrt. (Mit Illustration S. 545.) Vor einem Jahre erst erlebte Kiel denkwürdige „Kaisertage“, als der greise Kaiser Wilhelm I. Anfang Juni der Grundsteinlegang des Nord-Ostseekanals beiwohnte (vergl. „Gartenlaube“ 1887, S. 426). Mitte Juli d. J. prangte die Stadt abermals im reichen Festschmuck, als es galt, den Enkel Wilhelms des Siegreichen, Kaiser Wilhelm II., beim Antritt seiner Meerfahrt nach Rußland und den nordischen Höfen zu begrüßen, und wie das Volk vor Jahresfrist den greisen Kaiser mit jubelnder Begeisterung empfing, so brachte es jetzt auch dem Enkel Kundgebungen der Liebe und des freudigen Vertrauens entgegen.

Des Kaisers Bruder Prinz Heinrich, der stellvertretende Chef der Admiralität Graf von Monts, Vizeadmiral von Blanc, die Contreadmirale Knorr und von Kall, die Spitzen der Civilbehörden etc. hatten sich am Morgen des 14. Juli zur Begrüßung auf dem Bahnhofe eingefunden, wo die Ehrenkompagnie des Seebataillons Aufstellung genommen hatte und Mannschaften des Füsilierbataillons eine Kette gegen die nach Tausenden zählende Volksmenge bildete. Der Hofzug traf bald nach 9 Uhr ein und der Kaiser, welcher über der Admiralsuniform das Orangeband vom Schwarzen Adler trug, umarmte den Prinzen Heinrich und begrüßte die zum Empfange anwesenden hohen Offiziere sowie die Vertreter der Stadt. Als er dann die Bahnhofstreppe hinabschritt, spielte die Musik des Seebataillons die Nationalhymne.

In der Stadt wurde keinerlei Aufenthalt genommen, auch nicht im Schlosse, über dessen inneren Hof die Wagen nach dem Hafen fuhren. An letzterem herrschte ein überaus reges Leben; die Zuschauermenge war eine unübersehbare und das Schauspiel, welches sich derselben bot, in der

[548] That ein imposantes. Als der Kaiser in das Boot stieg, welches ihn nach der Raddampferjacht „Hohenzollern“ übersetzen sollte, erschütterte plötzlich der gewaltige Donner der salutirenden Geschütze die Luft, und von Bord wie von den Raaen jedes einzelnen Schiffes, welches das Kaiserboot passirte, erbrauste ein dreifaches seemännisches Hurrah. Bereits um 11½ Uhr warf sich die Jacht „Hohenzollern“, den Kaiser an Bord, von der Boje los und setzte sich in Bewegung, gefolgt von den beiden Divisionen der Torpedoflottille, zwölf schwarzen Schichaubooten, welche bis dahin in der Wyker Bucht verborgen gelegen hatten und nun gleich unheimlichen Seeteufeln heransausten, um der kaiserlichen Jacht das Geleit bis zu dem draußen wartenden Geschwader zu geben. Bei der Hafenbefestigung von Friedrichsort wurde die Flotte nochmals salutirt – dann ging’s hinaus aufs offene Meer, in rascher Fahrt dem Ziele entgegen.

Heute wissen wir, daß die Fahrt eine glückliche war, da bereits am Nachmittage des 19. Juli das deutsche Geschwader in Kronstadt einlief und Kaiser und Kaiser sich begrüßten, in Freundschaft und – hoffen wir’s! – zu dauerndem Frieden.
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Blumenweihe zu Mariae Himmelfahrt. (Mit Illustration S. 533). Unser Bild stellt eine Scene dar, wie sie sich am 15. August zu Mariae Himmelfahrt, einem hohen Feiertage der Katholiken, vornehmlich im bayerischen Schwabenlande, aber auch in anderen Gegenden abspielt. Die Kinder, meist Mädchen in Festtagskleidung, sind von nah und fern herbeigeeilt, um vor der Mutter Gottes zu „prangen“. Die kleinen Hände können die mächtigen Blumensträuße kaum umfassen, denen auch die Früchte des Feldes beigebunden sind, um an ihnen die segenspendende Weihe der Kirche vollziehen zu lassen und sie als Talismane gegen alle erdenklichen Fährlichkeiten nach Hause zurückzutragen. Vor dem Altar vollzieht der Priester die Segnung, indem er aus dem von einem Chorknaben gehaltenen Becken geweihtes Wasser um sich sprengt. Ueber der ornatgeschmückten Gestalt des Geistlichen glimmt mit mattem Schein die „ewige Lampe“ und zu beiden Seiten des Hochaltars fällt das volle Sonnenlicht ein und durchbricht siegreich wie ein Gruß von oben die duftenden Wollen, welche dem silbernen Weihrauchfasse entsteigen und über die ganze stimmungsvolle Gruppe dahinziehen.
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Der Lehrlingshort in München. Ueberall in Deutschland sind, nach dem in München gegebenen Beispiel, Knabenhorte entstanden, deren segensreiche Wirkungen sich bereits deutlich fühlbar machen. Nun ist in der bayerischen Hauptstadt ein weiterer Schritt gethan worden, um die jungen Lehrlinge ebenso vor dem sittlichen Verderben zu bewahren wie früher die Schulknaben, und der durch edeldenkende Männer gegründete Lehrlingshort verdient, in den weitesten Kreisen dringend zur Nachahmung empfohlen zu werden, denn in ihm finden die jungen Leute für den Sonntag Nachmittag einen gemüthlichen Aufenthalt, Geselligkeit und geistige Anregung, also mit einem Wort: Bewahrung vor den elenden Sonntagsvergnügen der Großstadt, welche so viele Arbeiter schon in der ersten Jugend dem moralischen Ruin zuführen.

Die Mittel sind auch hier, wie beim Knabenhort, die allereinfachsten: ein geräumiges helles Lokal nahe den Isarauen, ein Stück Brot und ein Glas Bier um die Vesperzeit. Aber hierher, wie in den Knabenhort, drängen sich die armen Jungen, um in dem Winters gut geheizten und beleuchteten Raume, unter den Augen „ihres Herrn Raths Jung“, den alle wie einen Vater lieben, im herzlichen Verkehr mit ihm und seinen Gehilfen so frohe Stunden zu verleben, wie ihre glücklicher situirten Altersgenossen in der eigenen Familie. Eine stattliche Bibliothek von Reisewerken, Unterhaltungsblättern und Jugendschriften beglückt die „Leseratzen“, die mit aufgestützten Köpfen dasitzen, taub gegen alles, was rings umher vorgeht; andere bemächtigen sich der Dominos, Schachbretter und Schachspiele, der Zeichenstifte etc. Um 5 Uhr aber wird alles bei Seite gelegt, denn da hält entweder Herr Rath Jung oder ein Lehrer der vielen hiesigen Schulen oder ein sonstiger Freund der Anstalt dem jungen Auditorium einen seinen Fassungskräften angemessenen Vortrag, der mit gespannter, lautloser Aufmerksamkeit aufgenommen wird. Bei meinem neulichen Besuche erklärte den Knaben eben ein junger Militärbeamter ihre künftige Dienstpflicht, indem er ihnen bewies, wie die Forderungen von Gehorsam, Pünktlichkeit und Reinlichkeit nicht eine Plage, sondern ein Gewinn fürs Leben seien. An einem späteren Sonntag wurde „Die Glocke“ von Schiller vorgelesen und erklärt, aber immer auf die Gemüthswirkung berechnet, indem alles von den Leitern der Anstalt vermieden wird, was die Lehrlinge geistig zu sehr heraufschrauben und mit ihrem Stand unzufrieden machen könnte.

Dafür ist der Pflege des Talentes, welches in allen Ständen beglückend wirkt, ein weiter Spielraum gelassen. Es wurden am späteren Abend oberbayerische Gedichte v. Stieler und Kobell deklamirt und mit schallender Heiterkeit aufgenommen, dann kam die Musik an die Reihe, und nun verklärten sich die Gesichter. Bücher und Spiele wurden freiwillig bei Seite gelegt, und mit wahrer Andacht hörten alle den Vorträgen ihrer Kameraden zu. Der oberbayerische Stamm ist sehr musikbegabt; viele Bauernburschen spielen Zither, ohne eine Note zu kennen; so genügte auch hier, nachdem die Instrumente angeschafft waren, eine billige Unterweisung, um das größte Vergnügen zu verursachen. Ein lustiger Tanz, von einem Schlosser- und einem Drechslerlehrling auf zwei Zithern flott gespielt, fand rauschenden Beifall, dann holte ein kleiner Kaminfeger seine Geige, ein Schriftsetzer die Klarinette, und dazu akkompagnirte auf der Guitarre der junge Lehrer einer hiesigen Schule, welcher nach sechs überlasteten Wochentagen aus edelster Menschenfreundlichkeit seine Erholungszeit dem Lehrlingshort widmet!

Es braucht kein weiteres Wort, um ein solches Unternehmen anzupreisen; jeder kann sich selbst sagen, vor welchen Gefahren bewahrt, um welche Güter bereichert die jungen Menschen abends um acht Uhr das ihnen so liebe Erholungslokal verlassen, mit der frohen Aussicht, nach abgethaner Arbeitswoche wiederkehren zu dürfen.

Jeder aber sollte auch trachten, in seinem Kreise, in seiner Stadt einen ähnlichen Lehrlingshort gründen zu helfen, denn es ist unzweifelhaft, daß nur solche Anstalten vermögen, die socialen Mißstände an der Wurzel anzugreifen. Dazu beizutragen ist patriotische Pflicht – die dankbaren und glücklichen Gesichter der armen Jungen zu betrachten aber ein so großes Vergnügen, daß darin allein schon reichliche Vergeltung für alle aufgewandten Opfer liegt.
R. A.     


Ein einfaches Mittel, die Temperatur des nächsten Tages voraus zu bestimmen, wurde schon vor längerer Zeit von Dr. A. Troska angegeben. Neuerdings veröffentlicht derselbe in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift“ eine verbesserte und vereinfachte Regel. Dieselbe lautet: „Die Temperatur, welche das feuchte Thermometer eine Stunde vor Sonnenuntergang im Freien und im Schatten anzeigt, ist, wenn man von Abweichungen bis zu 1° C. als unerheblich absieht, in 80% aller Fälle gleich derjenigen Temperatur, welche dasselbe Thermometer trocken um 8 Uhr des nächsten Vormittags im Schatten zeigen wird.“ Danach braucht man nur sein Thermometer eine Stunde vor Sonnenuntergang mit einem in reinem Wasser getränkten kleinen Lappen von Mousselin, Tüll oder feiner Leinewand an der Quecksilberkugel einfach, aber anschließend zu umwickeln und den Lappen mit etwas Bindfaden daran festzuschnüren. Hierauf wird das Instrument im Freien und im Schatten ausgehängt, und die Temperatur, die es anzeigt, ist die mittlere Temperatur des nächsten Tages. Auf 20% falscher Prophezeiungen muß man sich allerdings auch bei diesem Wetterpropheten gefaßt machen.
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Klage- und Trostlieder deutscher Dichter. Der Tod unserer Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. hat natürlich eine Reihe von Gedichten hervorgerufen, von denen einige der hervorragendsten unter dem Titel „Dichterstimmen aus Deutschlands Trauertagen“ (9. März, 15. Juni 1888) gesammelt worden sind (Dortmund, Th. Garmssche Buchhandlung). Es finden sich unter den Verfassern gefeierte Dichternamen wie G. von Amyntor, Fr. von Bodenstedt, Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Julius Wolff neben jüngeren Talenten, und da jeder dieser Dichter seine Eigenart nicht verleugnet, so ist alles Eintönige in der kleinen Sammlung vermieden und in den verschiedensten Tonarten ertönen die Klagegesänge, welche ein Echo im Herzen des schwergeprüften deutschen Volkes gefunden haben. Auch die Sänger der „Gartenlaube“ Friedrich Hofmann und C. Hecker sind in der Sammlung vertreten.
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Hieroglyphen.

In dieser Aufgabe stellt jedes Bild den Anfangsbuchstaben seines Namens dar (Nagel = N, Säbel = S u. s. w.). Es sind nur die Konsonanten durch Bilder bezeichnet; werden dieselben aber durch die richtigen Vokale ergänzt, so ergiebt die Lösung eine bekannte Sentenz.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)
Unverzagt in Br. Ihr Kanarienvogel leidet an Milben oder Vogelläufen, und zwar in so hohem Grade, daß er nicht allein stellenweise die Federn verloren, sondern sich auch, in seiner Noth, kläglich wie ein junger Vogel gebärde. Ueberdecken Sie seinen Käfig zur Nacht mit einem weißen Leinentuch, so werden Sie an dem letztern die winzigen rothen Blutsauger zahlreich wahrnehmen können. Zur Entfernung des Ungeziefers ist aber das Ausschütteln des Tuchs, an jedem Morgen ins Feuer, doch keineswegs ausreichend; dazu müssen Sie den Vogel einer besonderen Kur unterwerfen. Sie nehmen ihn in die Hand, bepinseln alle Stellen, welche nackt sind, namentlich Hinterkopf, Schultern u. a., mit guter, unverfälschter Insektenpulvertinktur und am nächsten Tage mit verdünntem Glyzerin (1 : 5 Wasser). Dies wiederholen Sie eine ganze Woche hindurch, also jedes Bepinseln drei- bis viermal. Hauptsache ist aber, daß der Käfig gründlich gereinigt, mit heißem Wasser ausgebrüht, dann mit Insektenpulver ausgestäubt, die Schublade mit Papier überdeckt und darüber trockener, sauberer Sand gestreut wird. Auch die Stelle, an welcher der Käfig steht, muß gesäubert, mit heißem Wasser abgescheuert oder wenigstens mit Insektenpulvertinktur bepinselt werden. Am rathsamsten ist es, wenn Sie einen neuen Käfig anschaffen, welcher keine Ritzen und Schlupfwinkel für das Ungeziefer hat. Anleitung dazu, wie ein solcher zweckmäßig eingerichtet sein muß, können Sie in meinem Buche „Der Kanarienvogel“ finden.
Dr. Karl Ruß.     

F. Sch. in München. In dem Artikel über König Ludwig ist nicht gesagt, „daß Griechenland heute noch Bayern 1 800 000 Gulden schulde“, sondern, daß König Ludwig die Summe, so lange er lebte, nicht zurück erhielt. In Ihrem Schreiben bestätigen Sie selbst diese allbekannte Thatsache. Wir unsererseits nehmen aber gern Gelegenheit, Ihre freundliche Notiz zu veröffentlichen, daß es der Energie des Fürsten Bismarck gelang, auf dem Berliner Kongreß 1878 die Zahlung jener alten Schuld beizutreiben, so daß jetzt kein Differenzpunkt zwischen Bayern und Griechenland mehr existirt; daß auch die Griechen Ludwig I. die wohlverdiene Statue errichten wellen und Abgesandte zu seiner Centenarfeier schicken.

K. P. in Freienwalde. Ein anziehendes Lebensbild des Kaisers Friedrich III. ist das in der Verlagshandlung von Ferdinand Hirt in Leipzig unter diesem Titel erschienene von B. Rogge, königl. Hofprediger. Der Ton der Darstellung ist schlicht und warm; zwei Bildnisse des Kaisers und viele andere Abbildungen erläutern den Text.


  1. Nach Powell, Exploration of the Colorado River (Erforschung des Coloradostroms).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Scheiffelein, vgl. Ed Schieffelin