Die Gartenlaube (1888)/Heft 31
Alle Rechte vorbehalten.
Das Waltenbergsche Haus lag ziemlich entfernt vom Mittelpunkte der Stadt; es war eine schöne, geräumige Villa, inmitten eines parkartigen Gartens, die der Vater des jetzigen Besitzers erbaut und bis zu seinem Tode bewohnt hatte. Seitdem freilich war sie leer geblieben; denn der Sohn, der ja immer auf Reisen lebte, dachte bei seinem Reichthum nicht daran, das Haus nutzbar zu machen. Er hatte die Aufsicht einem Verwalter übergeben, dem zugleich die Pflicht oblag, die von Zeit zu Zeit aus weiter Ferne eintreffenden Sendungen auspacken und aufstellen zu lassen, bis endlich, nach einem vollen Jahrzehnt, die verschlossenen Läden und Thüren wieder geöffnet wurden und die so lange verödeten Räume sich wieder belebten.
Das große Balkonzimmer, das in der Mitte des Hauses lag, hatte dieselbe Einrichtung behalten wie zu Lebzeiten des alten Herrn. Es herrschte dort keine blendende Pracht, wie in der Nordheimschen Wohnung, aber überall zeigte sich die Gediegenheit und Behaglichkeit eines vornehmen Bürgerhauses. Die Menschen freilich, welche sich augenblicklich hier bewegten, nahmen sich fremdartig genug aus in dieser Umgebung. Ein Neger, von dunkelster Färbung, mit krausem, wolligem Haar, und ein schlanker brauner Malayenknabe, beide in der phantastischen und malerischen Tracht des Orients, waren eben beschäftigt, einen Tisch mit Blumen und mit allerlei Erfrischungen zu besetzen, während ein Dritter in der Mitte des Zimmers stand und die nöthigen Anweisungen gab.
Die Kleidung des Letzteren war allerdings von europäischem Schnitt, schien aber die Mitte zwischen einem Matrosen- und einem Farmeranzuge zu halten. Der schon ältere Mann, eine ungewöhnlich lange und hagere Gestalt, zeigte gleichwohl einen kräftigen Gliederbau. Das kurzgeschnittene Haar begann schon hier und da zu ergrauen und das durchfurchte, sonnenverbrannte Gesicht gab in seiner dunklen Färbung dem Braun des Malayen kaum etwas nach. Aus diesem braunen Antlitz aber blickte ein Paar Augen von echt germanischem Blau und von den Lippen kam ein so echtes, derbes, unverfälschtes Deutsch, wie es nur dem eigen ist, der in seiner Muttersprache redet.
„Die Blumen in die Mitte!“ kommandirte er. „Die Geschichte muß poetisch aussehen, hat Herr Waltenberg gesagt, also machen wir sie durch und durch
[518] poetisch! Said, Mensch, Du stellst ja die silbernen Fruchtschalen neben einander wie ein paar Grenadiere! An die beiden Enden des Tisches gehören sie. Und was willst Du denn mit den Krystallgläsern, Djelma? Am Seitentische soll der Wein eingeschenkt werden, habt Ihr verstanden?“
„O yes, master,“ versicherte der Neger, aber der Andere fuhr ihn an.
„Deutsch sollst Du sprechen! Hast Du es noch nicht gelernt? Wir sind jetzt in Deutschland, auf diesem gottverlassenen Boden, wo man sich im März noch die Nase erfriert, wo die Sonne alle Monat nur einmal scheint und dann auch nur auf obrigkeitlichen Befehl. Ich kann es so wenig leiden wie Herr Waltenberg, aber wenn Ihr mir nicht Deutsch lernt, dann kommt ein Donnerwetter über Euch!“
„Ik schon sprecken deutsch, Master Hron’ – wundervoll!“ erklärte Said mit großem Selbstgefühl.
„Wundervoll, jawohl! Nicht einmal meinen Namen kannst Du aussprechen. Veit Gronau heiße ich, nicht ‚Master Hron’‘; hundertmal habe ich Dir das schon gesagt, aber solch ein Heide begreift das nicht.“
Said nahm eine äußerst gekränkte Miene an bei diesem Vorwurf.
„Bitte, Master Hron’ – au ik sein guter Christ.“
„Ja, getauft bist Du wenigstens,“ sagte Gronau trocken; „aber Du bist doch noch ein halber Heide und der Djelma ist ein ganzer. Bei dem hat man seine liebe Noth, ihm den Allah und Mohammed aus dem Kopfe zu bringen und den lieben Herrgott dafür hineinzusetzen. Djelma, Du Schaf, was siehst Du mich so an? Hast wohl wieder nicht verstanden, was ich sage?“
Der Malayenknabe, der mit dem Deutschen augenscheinlich noch auf sehr gespanntem Fuße stand, schüttelte verneinend den Kopf, so daß sich Said veranlaßt sah, ihm mit seiner „wundervollen“ Sprachkenntniß zu Hilfe zu kommen und den Dolmetscher zu machen.
„Das hat der Herr davon, daß er mit Euch fortwährend in Eurem Kauderwelsch redet,“ grollte Veit Gronau „Wenn ich Euch nicht das Deutsche beibrächte, Ihr verständet noch heute kein Wort davon. – So, nun ist der Tisch in Ordnung! Lauter Blumen und Früchte und nichts Ordentliches zu essen und zu trinken! Das ist wahrscheinlich auch poetisch; ich finde es verrückt, aber das kommt auf eins heraus.“
„Es kommen auch – ladies?“ fragte Said neugierig.
„Damen!“ verbesserte ihn sein Mentor. „Ja, die kommen leider auch mit. Ein Vergnügen ist das nicht, aber eine Ehre; denn sie werden hier zu Lande ungeheuer respektvoll behandelt, ganz anders wie Eure schwarzen und braunen Weiber, also nehmt Euch zusammen!“
Er hätte den beiden wahrscheinlich noch weitere Verhaltungsmaßregeln ertheilt, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür und der Herr des Hauses trat ein. Er musterte flüchtig den mit Blumen und Früchten überladenen Tisch, gab Said einen Wink, sich in das Vorzimmer zu verfügen, und sprach einige indische Worte zu Djelma, der daraufhin ebenfalls verschwand, dann wandte er sich zu Veit Gronau und sagte:
„Präsident Nordheim hat sich entschuldigen lassen, aber die anderen Herrschaften werden erscheinen; auch Doktor Gersdorf hat zugesagt. Sie entgehen also für diesmal der gefürchteten Begegnung, Gronau.“
„Gefürchtet?“ wiederholte Veit. „Daß ich nicht wüßte! Ein großes Vergnügen wäre es mir allerdings nicht gewesen, von einem ehemaligen Spielkameraden, mit dem ich auf Du und Du gestanden habe, mit einem allergnädigsten Kopfnicken beehrt und ihm als eine Art von Bedienter vorgestellt zu werden.“
„Als mein Sekretär,“ betonte Waltenberg. „Ich dächte, eine solche Stellung hätte nichts Entwürdigendes.“
Gronau zuckte die Achseln.
„Sekretär, Haushofmeister, Reisebegleiter, alles in einer Person! Sie haben mich freilich immer als Landsmann behandelt, Herr Waltenberg, nicht als Untergebenen. Als Sie mich damals in Melbourne auffischten, war ich grade am Verhungern und wäre auch verhungert ohne Sie – vergelt’s Gott!“
„Thorheit,“ sagte Ernst, fast unwillig den Dank ablehnend. „Sie waren mir mit Ihren Sprachkenntnissen und all Ihren praktischen Erfahrungen ein ganz unschätzbarer Fund und ich glaube, wir sind in den sechs Jahren beide zufrieden mit einander gewesen. – Also der Präsident und Sie waren Jugendfreunde?“
„Ja, wir sind zusammen aufgewachsen als Nachbarskinder und haben auch später noch zusammengehalten, bis der eine hierhin und der andere dahin ging im Leben. Er hat es mir freilich vorausgesagt, daß ich ein armer Teufel bleiben würde, mir und dem Benno Reinsfeld, der auch dabei war.“
Waltenberg war an das Fenster getreten und sah etwas ungeduldig hinaus, aber er hörte aufmerksam zu. Die Jugendzeit des Mannes, den er nur in der Fülle des Reichthums und Glückes kannte, schien ihn zu interessiren.
„Wir hatten natürlich alle drei ungeheure Zukunftspläne,“ fuhr Veit mit gutmütiger Selbstverspottung fort. „Ich wollte in die weite Welt gehen und als goldbeladener Nabob zurückkommen, Reinsfeld wollte mit irgend einer Erfindung die ganze Menschheit in Erstaunen setzen, wir waren eben Buben, die da meinten, daß die Welt ihnen gehöre! Aber der kluge Nordheim saß dabei und goß uns einen kalten Wasserstrahl über die erhitzten Köpfe. ,Ihr werdet beide nichts zu Stande bringen,‘ sagte er, ‚denn Ihr versteht nicht zu rechnen!‘ Wir lachten ihn damals aus, den zwanzigjährigen Rechner, mit seiner nüchternen Weisheit, aber er hat doch recht behalten. Ich habe mich tüchtig in der Welt herumgetrieben und alles Mögliche versucht, aber bei mir hieß es immer: Wie gewonnen, so zerronnen! Ich blieb arm wie eine Kirchenmaus und Reinsfeld ist mit all seinem Talent auch irgendwo sitzen geblieben, als armseliger Ingenieur – unser Kamerad Nordheim aber wurde Millionär und Präsident und Eisenbahnprinz – weil er zu rechnen verstand!“
„Ja, das hat er von jeher verstanden,“ sagte Waltenberg kühl. „Jedenfalls nimmt er eine einflußreiche und in mancher Hinsicht allmächtige Stellung ein. – Doch da kommen unsere Gäste!“
Er trat rasch vom Fenster zurück und ging den Ankommenden entgegen. Draußen war in der That ein Wagen vorgefahren, der Frau von Lasberg und Alice in Begleitung Elmhorsts brachte. Wolfgang hatte sich doch nicht der Pflicht entziehen können, seine Braut zu begleiten, und es hatte sich auch kein Vorwand gefunden, die Einladung abzulehnen, deren Annahme sein Schwiegervater so dringend wünschte. Er fügte sich also der Nothwendigkeit; aber wer ihn genauer kannte, sah, daß er ein Opfer damit brachte, wenn er es auch nicht an Höflichkeit fehlen ließ, ebenso wenig wie der Herr des Hauses. Die beiden Männer, die vom ersten Augenblick der Bekanntschaft an eine instinktmäßige Abneigung gegen einander fühlten, stellten sich gegenseitig auf den Standpunkt kühler Artigkeit und das geschah auch bei dem heutigen Besuche.
„Fräulein von Thurgau verspätete sich; sie fuhr erst bei dem Oberregierungsrath vor, um Baroneß Ernsthausen abzuholen.“ Frau von Lasberg, die das mittheilte, war gleichwohl etwas befremdet darüber. Ihrer Meinung nach mußte Wally schon seit gestern auf dem Lande sein, in der sicheren Hut des Großonkels. Statt dessen war heut morgen ein Briefchen an Erna gekommen, mit der Bitte, sie zu dem Besuch im Waltenbergschen Hause abzuholen. Die Reise war also aufgeschoben worden, vermuthlich um einige Tage. Aber das Mißfallen der alten Dame darüber verwandelte sich in Empörung, als sie den Doktor Gersdorf eintreten sah. Also ein förmliches Rendezvous! Und man erkühnte sich sogar, die Damen des Nordheimschen Hauses zu Mitschuldigen zu machen, indem man sich gewissermaßen unter ihrem Schutze zusammenfand. Das konnte und durfte den Eltern nicht verborgen bleiben; noch heute sollten sie es erfahren und Frau von Lasberg, die nicht die geringste Anlage zu einem Schutzgeiste hatte, ließ vorläufig dem Doktor einen eisigen Empfang zu theil werden. Leider machte das nicht den mindesten Eindruck auf ihn; auf seinen ernsten Zügen lag heute ein eigenthümliches Leuchten und er betheiligte sich mit ungewohnter Heiterkeit an der Unterhaltung.
Erna war inzwischen, der Verabredung gemäß, an der Ernsthausenschen Wohnung vorgefahren und da es schon etwas zu spät war, so sandte sie nur den Diener hinauf. Nach fünf Minuten erschien auch die junge Baroneß, sprang in den Wagen und überfiel, kaum daß der Schlag geschlossen war, ihre Freundin mit einer so ungestümen Umarmung, daß diese fast erschrocken zurückwich.
„Was hast Du denn, Wally?“ fragte sie. „Du bist ja ganz außer Dir?“
[519] „Verlobt bin ich!“ jubelte Wally. „Ich bin Alberts Braut und in drei Monaten werde ich seine Frau. O dieser vortreffliche, unvergleichliche Großonkel! Ich möchte ihm um den Hals fallen, wie Dir, wenn er nur nicht so garstig wäre!“
Erna war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen wie Alice, aber diese Nachricht kam ihr doch zu unerwartet – sie kannte ja den Widerstand der ganzen Ernsthausenschen Familie gegen diese Verbindung.
„Deine Eltern haben eingewilligt?“ fragte sie. „So ganz plötzlich? Das schien ja noch vor wenigen Tagen unmöglich zu sein?“
„Nichts ist unmöglich!“ rief Wally entzückt. „O, ich habe den Himmel so gebeten, dem Großonkel irgend einen dummen Streich einzugeben! Daß er auf diesen Streich verfallen würde, das ahnte ich allerdings nicht, das glaubst Du auch nicht, Erna; das muß man überhaupt erlebt haben, um es zu glauben!“
„So sprich doch vernünftig! Erkläre doch endlich!“ sagte Erna, mit einem vorwurfsvollen Blick in das glückstrahlende Gesicht der kleinen Baroneß.
„Geheirathet hat er!“ platzte diese heraus. „Geheiratet, mit siebzig Jahren, und nun ist er ein junger Ehemann – es ist zum Todtlachen!“ Und damit warf sie sich in die Polster zurück und lachte, bis ihr die Thränen in die Augen traten.
„Der alte Baron hat sich – vermählt?“ wiederholte Erna, die das gleichfalls unerhört fand.
„Jawohl, mit einem uraltadligen Stiftsfräulein. Die Sache war schon längst abgemacht; aber sie wurde geheim gehalten, weil er die Scenen mit meinen Eltern fürchtete. Er ist überhaupt nur hergekommen, um sein Testament zurückzunehmen, das er hier beim Gericht niedergelegt hatte, und gleich nach der Rückkehr hat er sich trauen lassen, standesamtlich und kirchlich, niet- und nagelfest, wie der Papa sagt, und das ganze Vermögen hat er seiner Frau beschrieben, auch niet- und nagelfest, und wir bekommen gar nichts und nun bin ich keine Partie mehr – denke nur, welches Glück!“
Die junge Dame hatte eine höchst merkwürdige Art, ohne alle Pausen zu sprechen, so daß es unmöglich war, ein Wort dazwischen zu werfen. Auch jetzt nahm sie sich nur die allernothwendigste Zeit, um Athem zu schöpfen, und dann fing sie von neuem an:
„Sie hatten ein förmliches Komplott geschmiedet, der Papa und Eure weise Frau Oberhofmeisterin, der ich das zeitlebens gedenken werde. Wie ein Postpacket sollte ich eingepackt und an die Adresse des Großonkels geschickt werden. All mein Weinen und Trotzen half nichts, die Koffer waren schon fertig. Da fiel der Brief des Großonkels mit der Anzeige seiner Vermählung wie eine Bombe in unser Haus. Papa sah aus, als habe ihn der Schlag getroffen, Mama bekam Weinkrämpfe und ich tanzte in meinem Zimmer umher und warf die sämmtlichen eingepackten Sachen wieder aus dem Koffer, denn von der Reise war natürlich keine Rede mehr. Am anderen Morgen herrschte bei uns eine Stimmung, als hätten zehn Gewitter eingeschlagen; der Großonkel wurde in Acht und Bann gethan; es gab eine lange geheime Konferenz zwischen meinen Eltern und als Albert am Nachmittage kam, wurde er ohne weiteres angenommen.“
„Und Du warst grenzenlos glücklich – ich kann es mir denken!“ fiel Erna ein.
„Nein, zunächst war ich empört,“ erklärte Wally, indem sie das Näschen rümpfte. „Albert benahm sich so unendlich prosaisch bei der Werbung. Anstatt von unserer ewigen unendlichen Liebe und unseren schon halb gebrochenen Herzen zu sprechen, rechnete er meinen Eltern ganz genau vor, was seine Praxis ihm einbringe, welches Vermögen er schon erworben habe und noch zu erwerben hoffe. Ich war außer mir über dies abscheuliche Rechenexempel – natürlich stand ich wieder am Schlüsselloch und hörte alles mit an – aber Papa und Mama wurden immer sanftmüthiger und freundlicher dabei. Schließlich wurde ich gerufen und dann gab es allgemeine Umarmung und Rührung und Thränen. Ich weinte immer mit, obgleich ich eigentlich lieber getanzt hätte, und nahm es Albert sehr übel, daß er keine einzige Thräne vergoß! Der Großonkel erhielt ein Telegramm – das wird ihn ärgern in seinen Flitterwochen – und morgen werden die Verlobungskarten gedruckt und in drei Monaten heirathen wir!“
Die kleine Baroneß fiel im Uebermaß ihrer Wonne der Freundin von neuem um den Hals. Aber jetzt hielt der Wagen vor der Waltenbergschen Villa und damit war der große Moment gekommen, den Wally mit vollem Triumphe genoß. Sie traten ein und während der Herr des Hauses Fräulein von Thurgau empfing, eilte Gersdorf, von seinem Rechte Gebrauch machend, seiner Braut entgegen, was ihm einen niederschmetternden Blick von seiten der Frau von Lasberg zuzog.
„Ich glaubte, Sie seien bereits auf dem Lande, Baroneß,“ sagte sie im schärfsten Tone.
„O nein, gnädige Frau,“ versetzte Wally mit harmlos unschuldiger Miene. „Ich hatte allerdings die Absicht, dem Großonkel einen Besuch zu machen; da er sich aber verheiratet hat –“
„Wer?“ fragte die alte Dame, die sich verhört zu haben glaubte.
„Mein Großonkel, Baron Ernsthausen auf Frankenstein – und ich habe mich gleichfalls verlobt. Sie gestatten, gnädige Frau, daß ich Ihnen meinen Bräutigam vorstelle.“
Das Lächeln, mit dem Waltenberg die Nachricht aufnahm, verriet, daß er bereits unterrichtet war; Frau von Lasberg dagegen saß völlig sprachlos da, und erst als die Glückwünsche von allen Seiten kamen, faßte sie sich soweit, auch ihrerseits eine Gratulation auszusprechen, die freilich sehr kühl und förmlich klang und von der jungen Braut mit einer allerliebsten Bosheit aufgenommen wurde. Aber lange hielt das nicht an bei Wally, die heute ihrem ärgsten Feinde verziehen hätte und im Uebermuth ihres Glückes, in ihrer sprudelnden Heiterkeit alles mit sich fortriß.
Das Zusammensein gestaltete sich auf diese Weise sehr zwanglos und anregend, trotzdem es „nichts Ordentliches zu essen und zu trinken gab“, wie Gronau sich ausdrückte. Seine Natur verlangte entschieden etwas Gediegeneres als Früchte, die in dieser Jahreszeit und in ihrer Auserlesenheit allerdings mit Geld aufgewogen werden mußten, und etwas Trinkbareres als den schweren, duftenden Wein, von dem man nur nippen konnte. Die Damen schienen aber anderer Meinung zu sein und man brach endlich in der heitersten Stimmung auf, um die Sammlungen zu besichtigen, für welche das ganze obere Stockwerk des Hauses ausschließlich eingerichtet war.
Waltenberg führte seine Gäste die Treppe hinauf, und als sich die hohe Flügelthür öffnete, die jene Räume abschloß, da war es in der That, als sei die ganze Gesellschaft aus der grauen winterlichen Oede dieses nordischen Märztages auf einem Zaubermantel in den sonnen- und farbenglühenden Orient getragen worden.
Die fremdartigen Schätze aller Länder und Zonen waren hier in einer Fülle und Pracht aufgehäuft, wie es nur ein langes Reiseleben und eine unbeschränkte Verfügung über die reichsten Mittel möglich machen konnten; aber die Aufstellung dieser in mancher Hinsicht unschätzbaren Sammlung hätte einen Mann der Wissenschaft zur Verzweiflung gebracht, denn sie war ohne jede Regel, einzig mit Rücksicht auf ihre malerische Wirkung geordnet. Allerdings wurde diese Wirkung im vollsten Maße erreicht und die geschickt vertheilten Gruppen exotischer Pflanzen, die sich überall erhoben, gestalteten das Ganze zu einem Bilde, vor dem der nüchterne Begriff der „Sammlung“ völlig verschwand.
Teppiche von echt orientalischer Zeichnung und Farbe bedeckten die Wände und schmückten Fenster und Thüren; dazwischen hingen seltsam gestaltete Waffen, die kriegerische Wehr von Völkern, die fern von aller Kultur lebten, bunter Federschmuck und mächtige Palmenfächer. Neben schimmernden Seidenstoffen und zarten, golddurchwirkten Schleiergeweben zeigten sich fremdartige Geräte und Gefäße vom tönernen Wasserkruge an bis zu dem kostbarsten Trinkbecher aus edlem Metalle, seltene Muscheln und riesige Meerkorallen. Hier lag das Fell eines Löwen am Boden, dort schien eine buntgefleckte Schlange aus der Moosdecke einer Pflanzengruppe emporzuzüngeln; eine ganze Vogelwelt in den leuchtenden Farben des Südens und mit dem täuschenden Anschein des Lebens hing und schwebte zwischen den Palmen und ein mächtiger Tiger blickte mit seinen Glasaugen so drohend auf den Eintretenden, als sei er jeden Augenblick bereit, zum Sprunge anzusetzen. Said und Djelma in ihren malerischen Trachten vollendeten das phantastische Bild, und die goldfarbenen Scheiben der Fenster, durch welche das Tageslicht eindrang, erweckten die Täuschung, als fluthe wirkliches heißes Sonnenlicht durch die Räume und tauche sie in einen glühenden goldigen Schein, der diese ganze Zauberwelt der Wirklichkeit vollends zu entrücken schien.
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[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] Waltenberg war ein ebenso kundiger wie liebenswürdiger Führer. Er geleitete seine Gäste von einem Gemach in das andere, von einem Gegenstande zum andern und hatte die Genugthuung, zu sehen, daß seine Schätze volle Bewunderung fanden. Es ergab sich ganz zwanglos, daß er bei all den Erklärungen auch von dem Orte und der Gelegenheit sprach, wo er dies und jenes erworben hatte, und dabei entrollte er, vielleicht unabsichtlich, vor den Augen der Zuhörer ein Leben, das in seinem bunten Wechsel von Gefahren und Genüssen in der That einem berauschenden Märchentraum glich. Daß er sich dabei vorzugsweise an Erna wandte, war nur natürlich, sie allein hatte wirkliches Verständniß und Interesse für den eigenartig phantastischen Charakter dieser Umgebung, das hörte er an ihren Bemerkungen. Elmhorst wollte offenbar keine Bewunderung zeigen, sondern beobachtete eine höflich kühle Zurückhaltung, während Alice und Frau von Lasberg nur die Theilnahme zeigten, die man dem Seltsamen und Ungewöhnlichen entgegenbringt.
Gersdorf, der die Sammlungen seines Freundes bereits kannte, machte den Führer bei seiner Braut, und das war keine leichte Aufgabe; denn Wally wollte durchaus alles sehen und bewundern und sah im Grunde doch nur ihren Albert, der ihr nicht von der Seite gehen durfte. Sie flatterte umher wie einer von den leichtbeschwingten Kolibris dort, als diese noch ihr leuchtendes Gefieder unter der heimischen Sonne entfalteten, und jubelte beim Anblick irgend eines neuen und merkwürdigen Gegenstandes auf wie ein ausgelassenes Kind, zum großen Mißfallen der Frau von Lasberg, die sich wieder einmal gedrungen fühlte einzuschreiten, obgleich sie aus Erfahrung wußte, wie wenig das zu nützen pflegte. Sie benutzte einen Augenblick, wo Gersdorf mit Alice sprach, und blockirte die junge Dame förmlich in einer Fensternische.
„Meine liebe Baroneß, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß auch eine Braut Rücksichten zu nehmen hat,“ hofmeisterte sie. „Sie hat ihre Frauenwürde zu wahren und darf es nicht aller Welt zeigen, daß sie vor Glück ganz außer sich ist. Eine Verlobung ist –“
„Etwas Himmlisches!“ unterbrach sie Wally. „Ich möchte nur wissen, wie mein Großonkel sich dabei benommen hat! Ob er auch Lust gehabt hat, den ganzen Tag zu tanzen, wie ich?“
„Man sollte meinen, Sie seien noch ein Kind, Wally,“ sagte die alte Dame entrüstet. „Sehen Sie Alice an, sie ist auch Braut, und gleichfalls erst seit einigen Tagen.“
Wally faltete mit dem Ausdrucke komischen Entsetzens die Hände.
„Ja wohl, aber das ist auch eine Brautschaft – daß Gott erbarm’!“
„Baroneß, ich muß sehr bitten!“
„Ja, ich kann mir nicht helfen, gnädige Frau, Alice ist ja ganz zufrieden und Herr Elmhorst benimmt sich äußerst gebildet. Man hört immer nur: ‚Du wünschest, liebe Alice?‘ oder: ‚Wie Du befiehlst, liebe Alice!‘ Immer höflich, immer artig! Aber wenn mein Bräutigam mich mit dieser langweiligen kühlen Artigkeit behandelte, die immer auf dem Gefrierpunkt steht – ich schickte ihm auf der Stelle den Ring zurück!“
Frau von Lasberg stieß einen Seufzer aus; sie gab es auf, dieser jungen Dame Schicklichkeitsgefühl beizubringen und hob die Blockade auf, worauf Wally wie ein Pfeil davonschoß und sich mit Verleugnung aller Frauenwürde schleunigst an den Arm ihres Verlobten hing.
Eine charakterlose Krankheit, bei der man nicht gesund und nicht krank ist!“ Dies Wort des Dichters Heine, mit welchem er seinem Unmuthe über einen Schnupfen Ausdruck gab, läßt sich mit vollem Fug und Recht auch auf die Migräne anwenden. Wiewohl keine jener Krankheiten, welche den menschlichen Organismus in seinem Bestande gefährden und durch ihren Verlauf ernstlich das Leben bedrohen, bildet sie doch eine höchst qualvolle Gesundheitsstörung, eines der verbreitetsten, aber auch hartnäckigsten und peinlichsten Nervenleiden, die unsere durch die vorschreitende Kultur immer feinfühligere Generation plagen.
Wer kennt nicht, zum mindesten vom Hörensagen aus Bekanntenkreisen, die Qualen, welche die Migräne bereitet, jene eigenthümliche Empfindung von Kopfschmerz, grundverschieden von dem gewöhnlichen, leicht erträglichen und leicht verschwindenden Kopfweh, indem sie zumeist nur die eine Hälfte des Kopfes betrifft und in periodischen Anfällen auftritt, die sich durch viele Jahre, zuweilen die ganze Lebensdauer hindurch, von Zeit zu Zeit, nicht an bestimmte Regel gebunden, wiederholen! Aber gar manche unserer Leser und Leserinnen wissen wohl aus höchst unliebsamer eigener Erfahrung von den Qualen dieser Anfälle zu erzählen. Denn die Migräne ist in sehr vielen Familien zu Hause und nicht selten haben alle Familienmitglieder von ihr zu leiden, allerdings in ganz besonders bevorzugter Weise die weiblichen Angehörigen, zuweilen von dem kleinen Mädchen angefangen, das in der Schule von diesem Nervenleiden befallen wird, bis hinaus zur Großmutter, welche noch immer hie und da ihr altgewohntes Migräneanfällchen bekommt. Wie bei den meisten Nervenerkrankungen giebt sich auch bei der Migräne eine erbliche Familienbelastung kund, welche in einer von den Eltern auf die Kinder und Kindeskinder übergehenden Schwäche der Nervenapparate besteht und es zu Wege bringt, daß unter bestimmten, die allgemeine Nervosität begünstigenden und fördernden Einflüssen auch jenes specielle Nervenleiden zur Entwicklung gelangt und in die Erscheinung tritt.
Solche die Entstehung der Migräne fördernde Momente giebt es viele und mannigfache. in der Jugend das langdauernde Stubenhocken in den ungenügend gelüfteten Kinderzimmern oder in den von Kindern überfüllten Schulräumlichkeiten, die Ueberbürdung mit geistigen Arbeiten, welche das Gehirn und das gesammte Nervensystem allzu sehr in Anspruch nehmen; weiter in den Jahren der körperlichen Entwicklung, bei den heranwachsenden Mädchen unzweckmäßige Art der Ernährung und mangelhafte Bewegungsweise, wodurch dem Körper kein hinlänglich kräftiges, sauerstoffreiches Blut zugeführt wird; bei den jungen Männern aber das viele Tabakrauchen, welches die Nerven überreizt, das anhaltend lange Studiren bis tief in die Nacht hinein oder auch, was gleichfalls in den Jünglingsjahren nicht selten sein soll, das nächtliche Kneipen, durch welches die Nervenkraft gar rasch abgenutzt und aufgerieben wird, endlich auf der Höhe der Lebensjahre die mannigfachen Angriffe, welche das Nervensystem im Getümmel der Arbeit, in der Thätigkeit des Berufes wie in den Vergnügungen der Gesellschaft, kurz allenthalben und immer während des hastigen Lebenserwerbes und raschen Lebensgenusses der Gegenwart zu erdulden hat.
So kommt es, daß das Migräneleiden in jedem Lebensalter vorkommen kann, zumeist aber in dem jugendlichen Lebensabschnitte und in den Jahren bis zu Fünfzig vorherrscht, und leicht begreiflich ist es auch, daß das Weib, dessen Erbübel ja die Schwäche ist, am häufigsten davon betroffen wird. Wenn das Leben seine Höhe überschritten hat, die Nerven ruhiger und abgestumpfter geworden sind, dann werden in der Regel auch die Migräneanfälle viel seltener und treten minder quälend auf.
Die Ursachen, welche den unmittelbaren Anstoß zur Auslösung eines Migräneanfalles bei den mit diesem Leiden behafteten Individuen geben, sind sehr mannigfacher Art. Bei dem einen Nervenschwachen bringt eine unerwartete tiefe Gemüthsbewegung, ein heftiger Schreck, ein großer Aerger den Migräneanfall hervor. Bei der anderen nervösen Person wird zuweilen eine reichlichere Mahlzeit, eine leichte Ueberladung des Magens durch den Eintritt jenes Anfalles gebüßt; wiederum in anderen Fällen, besonders bei reizbaren Damen, genügt schon irgend ein beliebiger unangenehmer Eindruck, welcher das Auge, Ohr oder die Nase trifft, um Migräne herbeizuführen.
Der Anfall selbst bietet zumeist ein Bild großer, ja man kann bisweilen sagen, unerträglicher Qualen. Gewöhnlich beginnt er mit einem Gefühle von Eingenommensein des Kopfes, der Empfindung eines dumpfen Schmerzes und peinlichen Druckes in [523] der Schläfengegend der einen Seite, vorwiegend auf der linken Körperhälfte. Von hier strahlt der Schmerz allmählich gegen die Augengegend aus und macht sich im Auge selbst geltend, während zugleich die Intensität der schmerzhaften Empfindung zunimmt und sich als tiefes Bohren, spannendes Drücken, quälendes Hämmern im Kopfe kundgiebt. Die Empfindlichkeit der Nerven für die Sinneseindrücke ist dabei so krankhaft gesteigert, daß jeder Lichtstrahl die Augen blendet, jedes leiseste Geräusch das Ohr peinlich berührt und jede Bewegung im Zimmer ein tiefes Wehe verursacht. Der von Migräne Befallene möchte sich deshalb am liebsten von der Außenwelt ganz abschließen, er sucht einen stillen Raum aus, den er sich verdunkelt, vergräbt seinen Kopf tief in die Bettkissen und will nichts als Ruhe, Ruhe. Zu den peinlichen Kopfschmerzen gesellen sich häufig während des Anfalles noch Uebelkeiten, Magenschmerz, gasiges Aufstoßen und Erbrechen einer wässerigen, galliggefärbten Flüssigkeit. Dieser qualvolle Zustand, welcher manche Aehnlichkeit mit der Empfindung der Seekrankheit hat, dauert bald längere, bald kürzere Zeit, meistens aber einige Stunden, zuweilen einen ganzen Tag, bis allmählich der Schmerz an Stärke einbüßt, die Druckgefühle nachlassen und ein wohlthätiger Schlaf den ermüdeten Körper umfängt. Aber noch am nächsten Tage verrathen oft das blasse Aussehen, die dunklen Ränder um die Augen, die schlaffen Gesichtszüge, die allgemeine Schwäche den Sturm, welchen der Migräneanfall von gestern hervorgerufen.
Ueber das eigentliche Wesen der Migräne herrscht in den ärztlichen Anschauungen noch nicht volle Klarheit; so es ist sogar noch streitig, wo der Sitz des Schmerzes bei Migräne eigentlich sei. Während die einen den sogenannten dreigetheilten Nerven und seine oberflächlichen Verzweigungen für die eigentliche Quelle des Schmerzes halten, nehmen andere an, daß der Schmerz innerhalb des Schädels selbst in den Nerven der Hirnhäute sitze. Zur Aufhellung der Vorgänge bei diesem Leiden haben Beobachtungen beigetragen, welche von mehreren Forschern bezüglich des Verhaltens der Blutgefäße der betroffenen Kopfhälfte angestellt wurden. Man hat nämlich in einigen Fällen eine Verengerung der Blutschlagadern auf der entsprechenden Kopfseite, auf welcher der Schmerz tobte, beobachtet und damit einhergehend eine auffällige Blässe dieser Gesichtshälfte, eine merkliche Kühle der betreffenden Partie und Erweiterung der Augenpupille. In anderen Fällen wiederum bemerkt man im Gegensatze zu der eben hervorgehobenen Erscheinung, daß eine Erweiterung der arteriellen Blutgefäße der betroffenen Kopfhälfte eintritt und hiermit in Verbindung eine starke Röthung und Schwellung dieser Gesichtsseite, vermehrte Schweiß- und Thränenabsonderung, Erhöhung der Temperatur, Verengerung der Augenpupille. Als Ursache der Zusammenziehung der Muskelfasern der Blutgefäße im ersten Falle betrachtet man eine Reizung der im Halssympathicus (der Halspartie des sogenannten sympathischen Nervensystems) verlaufenden gefäßverengenden Nervenfasern und die Erschlaffung der Gefäßmuskelfasern; im zweiten Falle sieht man als solche Ursache eine Lähmung der gefäßverengenden Nervenfasern an.
In vielen Fällen von Migräne scheint das Bauchgangliensystem der Ausgangspunkt der Reizung der Nervenfasern zu sein. Schon in alten Zeiten war es den Aerzten bekannt, daß Störungen der Magenverdauung, der Darmthätigkeit wie der Leberfunktion zu dem Auftreten von Migräneanfällen in einer gewissen Beziehung stehen. Diese Anschauung wurde später als nicht richtig wieder verlassen; aber in der jüngsten Zeit haben sich die Beobachtungen gehäuft, welche den Zusammenhang von Unterleibsstörungen mit der Erregung von Migräne darthun, gleichwie ein solches ursächliches Verhältniß zwischen Leiden der Verdauungsorgane und anderen Neurosen (Nervenleiden) nachgewiesen worden ist. Man müßte dann die Migräne als eine sogenannte reflektorische Nervenerregung betrachten, welche ihr veranlassendes Moment in den krankhaften Zuständen des Magens und Darmkanales, speciell in Darmträgheit hat, indem durch Veränderungen der nervösen Apparate im Darme krankhafte Erregungen dem centralen Nervensysteme auf dem Wege des sympathischen Nerven mitgetheilt werden, welche schmerzhafte Empfindungen (Migräne) auslösen und zugleich eine Reizung oder auch eine Lähmung der im Halssympathicus verlaufenden gesäßverengenden Nervenfasern bewirken.
In der That konnte ich in einer beträchtlichen Reihe von Fällen einen innigen Zusammenhang zwischen chronischer Darmträgheit und Migräne nachweisen und vermochte durch Behebung des ersteren Leidens eine Heilung der letzteren zu erzielen. Namentlich bei Männern und Frauen, welche infolge diätetischer Sünden, zu reichlicher üppiger Kost, sitzender Lebensweise, anstrengender geistiger Arbeiten oder übermäßiger Sinnenreizung die Erscheinungen der Unterleibsblutvölle boten und dabei an halbseitigen Kopfschmerzanfällen litten, welche durch lange Zeit den verschiedensten örtlichen und allgemeinen Behandlungsmethoden trotzten – gelang es, bei dem Gebrauche geeigneter abführender Mittel mit Durchführung zweckmäßiger diätetischer Maßregeln baldige Heilung zu erzielen. In einigen dieser Fälle deuteten auch Unbehaglichkeitsgefühle und schmerzhafte Empfindungen, welche in der Magengrube, in der Blinddarmgegend oder im ganzen Unterleibe dem Ausbruche des Migräneanfalles vorhergingen, auf den angegebenen Zusammenhang hin. Es sei hierbei hervorgehoben, daß sich die Anwendung jener die Unterleibsthätigkeit regelnden Mittel nutzlos erwies, den beginnenden Anfall zu unterdrücken, daß aber ihr methodischer längerer Gebrauch in der Weise, daß dann der Darm regelmäßig und ausreichend seine Schuldigkeit that, auch eine Wiederkehr der Migräneanfälle verhütete. In anderen Fällen ist der Grund der Migräneanfälle ein viel tieferer, in einer Veränderung der Blut- und Säftebestandtheile gelegen. So kann Blutarmuth und Bleichsucht, gleichwie sie den Boden liefern, auf welchem die verschiedensten Nervenleiden üppig gedeihen, auch die Ursache der Migräne bilden. Oder es kann – und ob dies der Fall ist, vermag nur die genaue ärztliche Untersuchung zu entscheiden – die gichtische und rheumatische Krankheitsanlage sich durch periodisch auftretende Kopfschmerzen bekunden, welche das Gepräge der Migräne tragen. Endlich ist die Migräne zuweilen, wenn auch selten, nicht ein selbständiges Nervenleiden, sondern das Symptom einer eigentlichen Erkrankung des Gehirnes.
Die Behandlung der Migräne wird nach dem eben Erörterten ganz besonders auf die Darmfunktion Rücksicht nehmen müssen und, wo sich eine Trägheit des Magens und des Darmes erweisen läßt, auch dahin anregend zu wirken bestrebt sein. Gegen die so außerordentlich häufige Darmträgheit muß man nicht sogleich mit dem schweren Geschütze der arzneilichen Rüstkammer anrücken; oft genug, ja man kann wohl sagen in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle, kommt man mit einer gehörigen konsequenten Regelung der Lebensweise und richtiger Veränderung der Kost, ohne eigentliche Arzneimittel zum Ziele. Die Menge der Speisen bei jeder Mahlzeit muß, entsprechend den Verdauungskräften, geregelt und besonders jedes „zu viel“ vermieden werden. Betreffs der Art und Beschaffenheit der Nahrungsmittel müssen bei chronischer Darmträgheit alle jene Speisen sorgfältig vermieden werden, welche geeignet sind, die regelmäßige Darmentleerung zu beeinträchtigen. Alle groben, schwer verdaulichen, viel Rückstände hinterlassenden Speisen sind als verboten zu betrachten: so besonders Hülsenfrüchte – Erbsen, Linsen, Bohnen – grobe Mehlspeisen, harte, zähe Fleischarten, Kartoffeln, gewisse Fruchtarten, wie Mispeln, Kastanien. Wo auf eine geringe Absonderung der Darmsäfte als Ursache der Darmträgheit geschlossen werden muß, sind solche Nahrungsmittel zu wählen, die viel flüssige Bestandteile enthalten; daher ist Suppe mittags und abends zu genießen, Milch, weißer Kaffee, leicht verdauliche Gemüse, wie Spinat, gelbe Rüben, Blumenkohl, Obst, Kompotte sind empfehlenswert, weiches, junges, mürbes Fleisch mit reichlicher Zuthat von Sauce auszuwählen. Die betreffenden Personen sollen das Bedürfniß der Stuhlentleerung, wenn es sich geltend macht, niemals unterdrücken und müssen sich vielmehr an eine gewisse Regelmäßigkeit dieser Körperfunktion gewöhnen. So ist es sehr zweckdienlich, des Morgens gleich nach dem Erwachen einen Versuch zu unternehmen, den Darm an seine Pflichterfüllung zu mahnen. Thun es die Patienten, so wird ihnen die Freude zu theil, die langgewohnten Flaschen mit Arzneien und Schachteln mit Pillen bei Seite schieben zu können.
Nicht zu vernachlässigen ist dabei eine angemessene körperliche Bewegung, längeres Spazierengehen, Reiten, Turnen. In hartnäckigen Fällen habe ich von zweckmäßiger Massage in Verbindung mit Anwendung des elektrischen Stromes günstige Wirkungen gesehen. Brunnenkuren mit auflösenden Mineralwässern (Marienbad, Karlsbad, Kissingen, Homburg) haben, da sie aus die Darmthätigkeit mächtig fördernd einwirken und in angenehmster Weise eine günstige Veränderung ungeeigneter Lebensgewohnheiten gestatten, oft ausgezeichnete Heilerfolge bei gewissen Fällen von Migräne aufzuweisen.
[524] Bei schwächlichen, blutarmen, in ihrer Ernährung herabgekommenen Individuen, wo die schlechte Blutbeschaffenheit, die zarte Organisation des Körpers und die Mangelhaftigkeit des Nervensystems als veranlassende Momente der Migräne betrachtet werden müssen, ist es zur Behandlung der letzteren unumgänglich notwendig, auf das Grundübel durch blutkräftigende und nervenstärkende Mittel einzuwirken. Eisenpräparate, kräftigende Kost, Aufenthalt in Gebirgsluft oder an der See, kalte Waschungen des Körpers, Seebäder, Stahlbäder, Eisenmoorbäder u. s. w. werden in solchen Fällen passend angewendet, ihre treffliche Wirksamkeit entfalten. Dabei wird mit der körperlichen Kräftigung auch zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit des Nervensystems eine passende geistige Diät einhergehen: Vermeidung jeder Aufregung, Anstrengung und Ueberreizung der Nerven.
Wenn in einer nervös veranlagten Familie eines der Eltern an Migräne leidet, muß man, um den Ausbruch dieser Nervenanfälle bei den Kindern zu verhüten, ganz besonders darauf bedacht sein, von frühester Jugend an das kindliche Nervensystem zu kräftigen, es vor Verweichlichung und Verwöhnung zu wahren, andererseits aber geistige Ueberbürdung zu meiden. Besondere Vorsicht in dieser Richtung ist bei Kindern um die Zeit der zweiten Zahnung und in der Periode der Entwickelung des Jünglings und der Jungfrau nothwendig, weil in diesen Lebensabschnitten eine vorzugsweise Neigung zur Ausbildung von Nervenleiden mannigfacher Art sich geltend macht.
Um den Ausbruch des Migräneanfalles zu verhüten oder den bereits aufgetretenen Anfall zu mildern, ist eine große Anzahl von Arzneimitteln, so besonders Chinin, Coffein, salicylsaures Natron, Amylnitrit u. a. m. empfohlen worden. Diese anzuwenden, muß immer dem Arzte vorbehalten werden und kann nicht Sache des Laien sein, der leicht Unheil stiften könnte. Ich betone dies besonders, weil es in letzter Zeit modern geworden ist, sich einfach eines der in den Zeitungen gepriesenen Gegenmittel gegen die Migräne anzuschaffen und im Bedarfsfalle nach Belieben anzuwenden. Ein solches Mittel ist beispielsweise das Amylnitrit, von dem man 1 bis 3 Tropfen auf ein Tuch oder Watte gießt und dasselbe vor die Nase hält. In der That erfolgt hierauf zuweilen ein sofortiges Verschwinden des Schmerzanfalles; allein die Anwendung dieses Mittels ist durchaus nicht gefahrlos; die Einathmung von 1 bis 2 Tropfen desselben erzeugt sogleich stärke Röthung des Gesichtes und der ganzen oberen Körperteile, womit sich Hitzegefühl, eine rauschähnliche Empfindung von Schwere im Kopfe, Steigerung der Herzthätigkeit und Pulsfrequenz verbinden, welche zuweilen Bewußtlosigkeit, Ohnmacht sowie plötzlichen Stillstand des Herzens zur Folge haben.
Nicht selten gelingt es, durch einfache Mittel eine gewisse Linderung im Schmerzanfalle herbeizuführen. So verschafft zuweilen die Anwendung von Kälte, das Auflegen eines feuchtkalten Tuches oder eines mit Eisstückchen gefüllten Gummibeutels auf den Kopf Milderung des Schmerzes, in anderen Fällen ist solche Wirkung nur durch Wärme zu erzielen. Oefter empfinden die vom Migräneanfalle Betroffenen es wohltuend, wenn man ihnen ein Tuch recht fest um den Kopf herumbindet und dadurch einen kräftigen, tiefen Druck bis auf die Schädelknochen ausübt. Auch der Genuß einer Taste starken schwarzen Kaffees oder recht heißen Thees und die hierdurch erfolgende reichliche Schweißerregung vermag manchmal Erleichterung zu verschaffen. Es giebt allerdings auch Migräneanfälle gewisser verwöhnter Damen, welche ebenso rasch wie sicher durch ein – neues Kleid oder eine Ballkarte zu kuriren sind; doch diese Art nervöser Anfälle gehört nicht in den Rahmen meiner Betrachtung, welche es nur mit Krankheiten, nicht aber mit Ungezogenheiten zu thun haben will.
Alle Rechte vorbehalten.
Noch einmal wurde das flatternde Gewölk, das die schneeumwandeten Schrofen des Säntis, der Gyrenspitze und des Alten Manns zu umschleiern strebte, durch den Sturmwind verjagt, der nun schon seit einer Stunde von der Innerrhodener Hochebene in die Felsenwelt des Appenzeller Gebirgs emporfegte. Die mächtigen Wolkenmassen, welche das tiefe Seealpseethal gleich dicken Dämpfen ausfüllten, wurden von ihm, in einzelne Fetzen zerrissen, emporgetrieben; oben aber in der Sphäre des ewigen Schnees stießen sie noch eine Weile auf den Widerstand der Sonne. Doch immer dichter kam es nachgedrängt, immer dunkler wurde es auch dort oben – noch ein kurzer Kampf zwischen den Dämonen des Lichts und der Finsterniß, und die letztere hatte gesiegt. Jetzt war auch die schlanke Säntisspitze und das letzte Stückchen blauen Himmels verschwunden und die empordrängenden Nebel hatten sich mit den Gewitterwolken oben so eng vereinigt, daß der Blick auch die verschiedenartigen Bewegungen der Dunstmassen nicht mehr zu verfolgen vermochte. Ja, der Wanderer auf dem schmalen Fußpfad, der sich hoch ob dem See auf der linken Firstkette über die Felsabhänge der Maarwies nach der Meglisalp hinzieht, vermochte überhaupt nichts mehr zu sehen als rings um sich grauen Nebeldunst und die immer dichter fallenden Regentropfen, die auf dem Geröll des Glimmerschiefers am Boden klatschend aufschlugen und die Alpenrosen am Abhange niederbogen.
„Eine schöne Geschichte,“ rief unmuthig ein älterer Herr von kräftiger Gestalt, dessen weißer Vollbart ein Gesicht von edlem Profil und lebhaftem Ausdruck umrahmte, „da wird’s ja völlig Nacht und es ist doch kaum erst vier Uhr. – Aber wer hatte recht?“ wandte er sich an seinen noch recht jugendlichen Führer, dessen bloße Füße mit Behagen die Nässe des vorher so heißen Weges zu empfinden schienen. „Ich traute dem Wetter schon unten in Weißbad nicht. Ihr aber bliebet dabei, es könne halt nur ein paar Tröpfli geben. Die paar Tröpfli ließen ja nicht auf sich warten; aber sie blieben nicht allein, und jetzt gießt’s in Strömen. Wie sollen wir so auf den Säntis kommen? Kaum den Weg unter seinen Füßen kann man noch erkennen.“
„Müssen halt auf der Meglisalp übernachten und morgen früh bei Zeiten naufigehn.“
„Ja, glaubt Ihr denn, daß das Wetter sich über Nacht aufhellt?“
„Wird schon gut, Herr. Ein Gewitterregen hält nicht die Ewigkeit an.“
„Und wie lange dauert’s denn noch bis zur Meglisalp?“
Ein lauter Donnerschlag, dessen Krachen mit schauerlichem Dröhnen in den Schluchten des Gebirgs widerhallte, erstickte die Antwort des mit seinem kurzen Alpenstock vor sich hin deutenden Burschen.
„Wenn wir schnell gehen, kann’s kein Viertelstündli mehr dauern.“
„Nun dann, junger Mann, vorwärts! Wir haben zum Glück den Wind im Rücken! … Hoho!“ unterbrach er sich, als vom grasigen Abhang über dem schmalen Pfad, den sie beschritten, lautes Getrampel vernehmbar ward und dazu ein Geräusch, wie wenn flüchtiges Wild durchs Knieholz bricht. Der Stadtherr blieb dabei stehen und faßte seinen Bergstock, als wollte er sich zur Wehr setzen.
„Nur unbesorgt, Herr, “ beruhigte der Führer. „Die Küh’ von der Alp sind es, hören S’ nicht das Geläut? Es geht über die Almen an uns vorbei. Die hellen Schellen – das sind die Geiß’n. Die Thiere merken, daß das Unwetter arg wird. Da suchen sie Unterschlupf in den Nothställen. Wir müssen ganz nahe dem Ziele sein.“
In schnellem Laufschritt, als sei ihm der vollbepackte Tragkorb auf dem Rücken mit dem Handgepäck des Touristen keine Last, flog der Bursche voran; der alte Herr bewährte auch jetzt seine Rüstigkeit und blieb dem jungen Blut wacker auf den Fersen. Als ein neuer Blitz den Aether zuckend durchfuhr und, eine schnell verlöschende Helligkeit verbreitend, in großer Nähe einschlug, lag vor den Wanderern das kleine Gehöft, das ihnen eine sichere Unterkunft für die Nacht versprach.
Der alte Herr mit den elastischen Sehnen war sofort in die große schwarzgeräucherte Küche getreten, die in jeder echten [525] Alphütte zugleich das Haupt- und Familienzimmer bildet, und bald fand er sich mit dem Alpwirth, seiner Frau und einer Tochter derselben in bester Unterhaltung. Er hatte eine schlechtere Herberge in dieser Alpeneinsamkeit erwartet, wie er sagte; daß die Aufnahme eine gastliche sei, hatte er schon unterwegs auf seiner Herreise gehört. Gleich zwei Gebäude und beide für die Aufnahme von Touristen berechnet, das lasse er sich gefallen. Die beiden Gebäude waren zwar recht klein und dürftig, nur im Unterbau aus zusammengemörtelten Steinblöcken, im übrigen aus Holz roh zurecht gezimmert; aber der freundliche Herr, der sich seines nassen Lodenmantels entledigt hatte und sich nun behaglich am Feuer wärmte, über welchem der große Milchkessel am eisernen Haken hing, hatte ganz recht mit diesem Lob, war er doch auch ein vielerfahrener Alpengänger, dem gar wohl bekannt war, wie unbehaglich so manches Unterkunftshaus ähnlicher Art sich bietet. Im Hintergrunde des vom offenen Herdfeuer nur halb beleuchteten, an den Wänden mit blankem Milchgeschirr ausgestatteten Raumes saßen zwei Führer, jeder einen Napf Milch mit großem Appetit auslöffelnd.
„Wollen’s auch eine Milch?“ fragte die Sennin den Ankömmling.
„Danke, liebe Frau. Aber ich möcht’ schon lieber etwas Warmes. Das kalte Wetter draußen hat mich ganz ausgefroren.“ Er ließ sich von seinem Führer seinen Rucksack bringen und entnahm demselben eine Ledertasche, die mit allerhand Konserven und ähnlichen Nahrungsmitteln, wie sie dem Reisenden nützlich sind, gefüllt war. Er öffnete eins der Blechbüchschen und roch mit Wohlbehagen daran. „Kaffee können Sie doch kochen?“
Die Frau bejahte das, fast beleidigt über den Zweifel.
„Nun, nun,“ beruhigte der freundliche Herr, „hab’ mir schon in mancher Alphütte den Kaffee selbst kochen müssen.“
Er schüttelte mit prüfendem Blick aus seiner Büchse ein Häufchen des bereits gebrannten und gemahlenen Kaffees auf ein entfaltetes Blatt Papier und reichte diese Portion der wieder eintretenden Ammerei, wie die Alpleute ihre Tochter nannten. „Das reicht gerade für zwei Tassen. Und, nicht wahr, Du bringst mir ihn recht heiß, Ammerei? Ist das Dein Taufname?“
„Anna Maria steht’s im Kalender.“
„Und ohne Milch, Ammerei. Inzwischen giebt mir der Vater wohl Bescheid, wo ich heute mein müdes Haupt betten soll.“
„’s ist schon gut,“ sagte dieser. „Es ist noch eine Kammer mit zwei Betten frei, und wenn niemand mehr kommt, können’s allein drin schlafen. Der Seppli kann Ihre Tasch’n gleich naufi tragen.“
„Es sind also schon mehr Reisende da?“
„Ei freilich, drei Parteien mit Führern, fünf Herren und zwei Damen. Gehn’s nur gefälligst in das Gastzimmer gerad’ hier über uns. Da finden’s schon Gesellschaft. Den Kaffee bringt Ihnen die Ammerei hinauf, sobald er fertig ist.“
„Gut denn! Behüt’ Gott einstweilen! Hab’ mich hier unten bei Euch recht wohl befunden. Wegen meiner bedurft’s nicht des ‚Gastzimmers‘. Und vor dem Kaffee bringt’s mir auch was zu essen. Ein paar Spiegeleier und Brot kann ich doch haben?“
„Wohl, wohl!“
„Gut also, bringen’s mir drei und dem Führer geben’s auch ein paar. Fleisch habe ich bei mir.“
Er war in die Thür getreten, wo ihm der Regen ins Gesicht schlug. „Das scheint sich hier festregnen zu wollen,“ sagte er ärgerlich, indem er seine goldene Brille abnahm, um die angelaufenen Gläser zu putzen. „Was denkt Ihr, Alpmeister? Wird’s über Nacht klar werden?“
Der alte Senn kratzte sich hinterm Ohr.
„Jetzt läßt sich gar nichts sagen, Herr. Wir können vor ‚Duft‘ ja nicht einmal das Wetterloch sehen. Aber besser kann’s schon werden bis morgen.“
„Dazu gehört freilich nicht viel,“ sagte mit sauersüßem Lächeln der Gast, der nunmehr in den Regen hinaustrat und über die hölzerne Freitreppe zu dem ihm angekündigten oberen Gastzimmer emporstieg.
Das herzhafte „Guten Tag“, mit welchem er hier eintrat, wurde nicht gerade entgegenkommend erwidert. Langeweile und Mißmuth schienen hier oben das Regiment zu führen. Das Gefühl des Eingeregnetseins schien auf den Gemüthern aller zu lasten. Auch diejenigen Opfer des launischen Wettergottes, die zu einander gehörten, gaben sich, still für sich, irgend einer Beschäftigung oder müßiger Uebellaune hin. An einem der Fenster, durch die man bei gutem Wetter die herrlichste Aussicht auf die Häupter der Säntisgruppe gehabt haben würde, stand ein Herr in mittleren Jahren und trommelte an den Scheiben. Die Züge und der Bartschnitt desselben verriethen angelsächsischen Typus, doch erinnerte der einfach und praktisch gekleidete Tourist sonst in nichts an jenen „großkarrirten“, murraybehafteten Engländer, dessen überlebte Erscheinung in
[526] deutschen Reisebeschreibungen noch immer sich umtreibt. Ein jüngerer Mann, dessen etwas blasses Gesicht auf einen gelehrten Beruf schließen ließ, war in die Lektüre eines Buches vertieft. Er hatte eine Flasche Bier vor sich auf einem der zwei großen Tische stehen, welche die im übrigen ziemlich kahle Stube den Gästen darbot, und ließ sich durch das Lesen im Rauchen nicht stören. Ein Ehepaar, das, sichtlich im besten Alter, sich bester Gesundheit erfreute und vor Ausbruch des Regens offenbar von der Hitze sehr auszustehen gehabt hatte, deren Reflex noch auf ihren Stirnen und Wangen glühte, gab sich in beschaulicher Wehmuth einem frugalen Mahle hin, welches in der Hauptsache aus mitgebrachten Fleischschnitten bestand und dem eine Flasche des landesüblichen Hallauer die Würze gab. Ein anderes Paar von schlankerem Wuchse und aparterem Wesen stand schließlich neben dem Nähtisch einer zweiten jungen Alpnerin, die am Fenster neben der Thür mit einer der kunstvollen Weißstickereien beschäftigt war, wie sie die Appenzeller „Meidli“ mit ihren geschickten Händen alljährlich zu Tausenden in die großen Ausfuhrgeschäfte in St. Gallen, Appenzell, Gais und Bühler abliefern. Der blonde bärtige Herr hatte in der Rechten ein Skizzenbuch, in dem er offenbar vorher gezeichnet hatte, denn die andere Hand spielte mit einem Bleistift; die junge Frau hatte einen großen Strauß von Alpenblumen in der Linken und reichte aus demselben eben an schönes Exemplar von selbstgepflücktem Edelweiß der Stickerin hin.
Auch der neue Ankömmling, der zunächst mit prüfenden Blicken ein paarmal das Zimmer durchmessen hatte, in dessen Hintergrunde eine Falltreppe in ein oberes Stockwerk führte, fand sich angezogen von dem Bild der stickenden Gebirgstochter, deren feine Nadelstiche eben dabei waren, auf einem Streifen duftigen Mousselins das ziemlich naturgetreue Abbild einer Edelweißblüthe auszuführen.
„Das ist ja wahrhafte Künstlerarbeit,“ rief er unwillkürlich, nachdem er dem Mädchen eine Zeitlang zugesehen.
Dieses blickte befriedigt auf bei dem Lobspruch, sagte dann aber gelassen:
„’s ist nur Uebung, Herr. Mühsam aber ist’s schon, und wenn wir im Winter Tag für Tag über unseren Kissen sitzen, thun uns die Finger mitunter recht weh. Jetzt im Sommer giebt’s immer Abwechselung in der Arbeit; da macht einem das Sticken Freud’. Die letzten Tage, wo das Wetter so schön war und sehr viele Gäste bei uns einkehrten, bin ich gar nimmer dazu gekommen.“
„Bleiben Sie denn auch im Winter hier oben?“ fragte jetzt theilnehmend die Dame hinter ihr.
„O nein,“ sagte das Meidli; „da geht’s mit den Kühen und Geißen hinunter ins Schwender Thal.“
„Nun, da bringt so wohl auch der Winter Unterhaltung und Lustbarkeit?“
„Das schon auch, den Sennenball und den Schöttlerball in Appenzell und bei Hochzeiten oder Kindstaufen ein ‚tanziges Mahl‘. Aber die Hauptsach’ ist doch unsere Arbeit. Wenn die Meidli aus der Freundschaft nicht zusammenhalten thäten und zum Sticken zusammenkämen, könnt’s manchmal etwas gar zu einsam werden.“
„Da wird wohl wacker geplauscht, während die Nadeln sich fleißig rühren?“
„Wohl, wohl, aber auch ein G’sangl giebt’s oft, und wer’s kann, erzählt Geschichten, die alten heimischen, die jedes gern immer wieder hört, von der Jungfrau und dem Schatz in den Auen, vom blauen Schnee und der verschneiten Alp, vom Bötzler, vom besten Locker oder auch etwas neues.“
„Das ist recht,“ rief der alte Herr; „man sollt’ es nicht glauben, aber wahr ist es doch: die Leute auf dem Lande wissen oft besser für ihre Unterhaltung zu sorgen, als wir drin in den Städten mit unserem Ueberfluß an Bildungsmitteln und Scheinbildung.“
Der Blonde mit dem Künstlerkopf neben ihm nickte zustimmend und sagte:
„Sicher steckt in den alten Geschichten, wie sie sich hier von Mund zu Munde und von Geschlecht zu Geschlecht vererben, oft mehr Weisheit und Schönheit als in den Gesprächen, mit denen in unseren Salons vielfach über Kunst und Litteratur gesprochen wird, und vor allem – mehr Natur. Und die ist’s doch, die wir hier oben suchen.“
Die fleißige Stickerin hatte sich indessen erhoben: es sei zwar noch früh am Tage, aber sie müsse bei der wachsenden Dunkelheit doch jetzt die Lampen anzünden.
Während das flinke Mädchen die beiden einfachen Hängelampen über den Tischen anzündete, kam einige Bewegung in die Gesellschaft. Die Ammerei kam und brachte das einfache Eiergericht, das sich der letzte Ankömmling bestellt hatte. Der junge Gelehrte, der sich die Zeit mit Rauchen und Lesen vertrieben hatte, stand auf und trat an ein Fenster. Der Engländer wandte sich von dem seinen ab, und jener sagte mit Humor zu diesem:
„Ja, von der erhofften Aussicht ist hier ebenso wenig zu genießen wie oben auf dem Säntis, den Sie – wie Sie erzählten – so unbefriedigt verließen.“
„Indeed“, sagte mit langsamer und seine Abkunft verrathender Sprechweise der Engländer, „weil es heute mittag für meinen Geschmack zu – hell war. Hier bietet der Sturm – mir Ersatz für die fehlende Aussicht. Sehen Sie nur, wie er den Regen gegen die Scheiben schüttet.“
„O ja,“ meinte schmunzelnd der Deutsche, „auch das sieht, sozusagen, ganz nett aus. Aber bei schönem Wetter muß es hier doch wohl noch hübscher sein, wenn man da draußen statt Dunst und Nebel das großartige Panorama sieht, wie ich es eben da in dem Specialwerke über den Appenzeller Kanton gelesen habe.“
Mit komischem Pathos im Ton die Weise eines berufsmäßigen Fremdenführers kopirend und sich indirekt an alle Anwesenden wendend, fuhr er fort: „Um die weite Alp herum ragen aus den leuchtenden Schneefeldern der Säntis, die Gyrenspitze, die hintere Wagenluke, der Bötzler, der Fählerschafberg nach dem blauen Himmelsgewölbe hinauf; wilde Bergwasser schäumen tobend von den Schneefeldern in die Tiefe hinunter; Herdengeläute erklingt überall, Jodler schmettern durch die Luft … Ja, ja! All das kann man an besserem Tage hier genießen. Und hat man es recht gut getroffen, noch mehr. Wenn nämlich auf der grünen Alpe hier vor uns, welche der Nebel unseren Blicken entzieht, von den Sennen und Sennerinnen des weiten Seealpseethals ‚Alpstubeten‘ gehalten wird, da entfaltet sich hier ein festliches Treiben von ungemein malerischem Reiz. Da kommen die Appenzeller Meidli in ihrem schönsten, reich mit Silbergespänge und -Ketten verzierten Sonntagsstaat in Scharen herbeigezogen und mit ihnen die Sennen, gleichfalls in festlicher Tracht; ein Tanzplatz ist abgesteckt, die Fiedel und die Handharmonika spielen auf und unter Gottes blauem Himmel beginnt der Reigen. Bei einiger Phantasie, meine Herrschaften, kann man sich das alles ja schönstens vorstellen und das darf uns einigermaßen mit unserem Schicksal versöhnen.“
„Bravo!“ rief der Alte, der seine kleine Mahlzeit beendet hatte.
„Doch lange dürfte dieser Trost nicht vorhalten,“ sagte der robuste Herr, dessen Appetit jetzt befriedigt war und der nun begann, sein umständliches Reisenecessaire in Ordnung zu bringen. „Solch ein Wetter! Wenn wir wenigstens unten in Weißbad geblieben wären.“
„Und dabei ist wohl wenig Aussicht aus Besserung?“ warf der Alte fragend hin, als wolle er zum Widerspruch reizen.
„Es kann leicht noch schöner werden, wollte sagen–schlimmer,“ erwiderte der Engländer. „Sie müssen wissen, ich bin ein großer Enthusiast für die Natur, wenn sie – wild ist. Es ist das nur natürlich; denn dann ist sie doch am schönsten.“
„Dennoch dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir dem Sonnenschein und blauen Himmel den Vorzug geben und in unserem Falle recht sehr wünschen, der böse Regen möchte baldigst aufhören,“ sagte mit gutmüthigem Lächeln der Mann des materiellen Behagens, im Einklang mit seiner Frau, die sich begnügte, über den romantischen Standpunkt des Engländers lebhaft den Kopf zu schütteln.
„Und leider steht es mit den Aussichten schlecht genug,“ bemerkte nun der junge Gelehrte. „So ist es rathsam, sich wenigstens keinen Illusionen hinzugeben. Das macht erst recht ungeduldig.“
„Aber die Führer machten uns eben noch Hoffnung auf baldigen Wechsel des Wetters.“
„Ja, die Führer! Die sind immer Optimisten. Das bringt ihr Geschäft mit sich. Sie müssen sonst fürchten, aus halbem Wege entlohnt zu werden. Und davon will ihr gesunder Egoismus nichts wissen.“
„Aber was für Gründe haben denn Sie für Ihre pessimistische Auffassung?“
„Das ist der Kassandrafluch der meteorologischen Wissenschaft. Ich bin meines Zeichens Astronom und soweit sich nach den vorhandenen atmosphärischen Anzeichen ein Schluß ziehen läßt, handelt es sich heute nicht nur, wie es anfangs schien, um ein Gebirgsgewitter, [527] sondern um einen gründlichen Regen, der nur von gewitterartigen Erscheinungen begleitet ist. Ja, wenn der Wind umschlüge! Aber dazu ist vorderhand keine Aussicht. Morgen früh vielleicht?“
„Da heißt es sich in Geduld fassen“ sagte mit einem Seufzer die ältere Dame, indem sie sich in ihr Shawltuch wickelte und sich wieder auf ihren früheren Platz zurückzog.
„Aber wie soll man sich denn in dieser öden Hütte die Zeit vertreiben!“ rief verzweifelt ihr Gatte, der sein leichtes Sommerröckchen mit einer Lodenjoppe vertauschte, die er seiner umfangreichen Reisetasche entnahm. „Zu Bett kann man doch zu so früher Stunde noch nicht gehen, zumal uns hier nicht grade Stahlfedermatratzen erwarten dürften und der Sturm einem ohnehin das Einschlafen nicht erleichtern wird.“
Der Astronom schlug den Herrschaften, deren Sprechweise verrieth, daß sie im norddeutschen Plattland ihre Heimath hatten, ein Spielchen vor. „Sie können doch gewiß Skat?“ Doch diese verneinten es.
„Nicht möglich,“ rief der lustige Sterngucker. „Nun, dann ein anderes Spiel! Bärbeli,“ rief er gleichzeitig, „Ihr habt doch Spielkarten?“
„Wir hatten wohl, aber gestern sind sie abhanden gekommen. Es muß sie eins haben mitgehen lassen!“
„Nun, das muß ich sagen!“ rief jetzt auch im Tone der Verzweiflung der joviale Verehrer des Skatspiels. „Eingeregnet sein, das ist schon schlimm; aber eingeregnet sein ohne Karten, das übersteigt das Maß des Erträglichen! Bringen Sie mir wenigstens noch eine Flasche Bier!“
Das jüngere Ehepaar hatte sich inzwischen seinen vorher nur unterbrochenen Beschäftigungen hingegeben. Die Dame ordnete die mitgebrachten Alpenpflanzen in ihr Herbarium ein; der Herr führte in seinem Skizzenbuch eine angefangene Zeichnung aus. Er that dies mit so leichtem künstlerischen Strich, daß sich der Weißbart mit der goldenen Brille, welcher um Erlaubniß gebeten hatte, ihm zuzusehen, nicht der Frage enthalten konnte, ob er Maler von Beruf sei, was jener ohne viel Aufhebens bejahte. Der Engländer hatte sich wieder an sein Fenster gestellt und lauschte seinem Freunde, dem Sturm, der mit schrillem Geheul das Gebäude umtobte. Es war dies jetzt allen vernehmlich, da auch die übrigen wieder in die frühere Schweigsamkeit verfallen waren. Der Astronom rauchte nachdenklich seine Cigarre, der norddeutsche Herr hatte sich auch eine solche, offenbar eine echte, angezündet und sah nun mit seiner getreuen Ehehälfte der Gattin des Malers zu, welche mit bewunderungswürdigem Geschick ihre Pflanzen auf den Löschpapierblättern des Herbariums so zurecht legte, daß die einzelnen Blüthen und Blätter in ihrer Eigenart und doch auch wieder in malerischer Gesammtwirkung zur Geltung kamen. Das Bärbeli unterbrach die Stille; es brachte das gewünschte Bier und den Kaffee für unseren Freund. Derselbe kostete mit prüfender Kennermiene und lobte das Getränk.
„Sag’ der Mutter, daß sie ihn vorzüglich gekocht habe. Aber es ist zu viel. Darf ich den Damen eine Tasse anbieten? Echter Mokka. Ich habe ihn selbst mitgebracht … Sie lassen sich die kleine Aufmerksamkeit gefallen? Das ist schön! Geh, Bärbeli, dort im Schrank stehn ja Tassen.“
Das Mädchen brachte das Nöthige schnell herbei.
„Und nun, Meidli, da wir so gemüthlich beisammen sitzen, zum Theil ohne zu wissen, was wir anfangen sollen, wie wär’s, wenn Du etwas für unsere Unterhaltung thätest? Da, der Herr Maler sitzt grade so über sein Skizzenbuch gebeugt wie Ihr im Winter über der Stickerei, wenn Ihr Euch Geschichten erzählt. Und auch wir anderen befleißen uns einer andachtsvollen Ruhe. So sind wir Städter nun einmal, wenn wir, gänzlich unvorgestellt und unvermuthet, auf Reisen Tisch- und Zeitgenossen werden. Aber von Dir werden wir uns wohl alle gern eine Euerer heimischen Geschichten und Sagen erzählen lassen. Wie war’s mit dem ‚Bötzler‘ und mit dem ‚blauen Schnee‘? Fang’ einmal an!“
Das Mädchen zupfte sich verlegen an den Schürzenzipfeln. „Gehen’s, was machen der Herr für Gspaß! Für solche gescheite Stadtleut wie Sie sind das keine Geschichten und Sie würden mich nur auslachen, wenn ich Ihnen eins erzählen wollt’.“
Doch die Touristen, der Engländer nicht ausgeschlossen, protestirten sehr lebhaft. „Nein, nein, Bärbeli! Erzähl nur frisch drauf los!“
„Ei, wenn S’ denn gar so d’rauf aus sind; ich weiß schon, daß drinnen in den großen Städten es grundstudirte Leut giebt, die eine ganz närrische Freud’ an unsern Liedern und Geschichten haben; da will ich nachher die vom Bötzler Ihnen sagen, aber vorher muß der Herr selber etwas erzählen; der weiß gewiß schönere Geschichten wie so ein dummes Meidli in den Bergen.“
„Seht einmal, was für ein durchtriebener Schalk dem Mädel im Nacken sitzt!“ rief dagegen abwehrend der gesprächige Alte.
„Ja, aber recht hat das Bärbeli, Herr Professor,“ rief jetzt der lustige Wetterprophet mit dem düstern Kassandrablick von vorhin, indem er sich erhob. „Ich habe doch die Ehre, in Ihnen Herrn Professor Hermann Schröder zu begrüßen. Mein Name ist Helbig, Observator der Sternwarte in –, doch das thut nichts zur Sache; ich habe als Student bei Ihnen Kolleg gehört und jetzt erst erkannte ich Sie an der Stimme. Damals war Ihr Bart noch nicht weiß, auch trugen Sie keine Brille.“
„Ja, ja, man wird alt. Ich erinnere mich wohl. Vor zehn Jahren etwa Sie hörten bei mir das Lessingkolleg und englische Litteraturgeschichte.“
„Ganz recht, Herr Professor!“
„Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, und bedaure nur, daß der Anlaß dieser gräuliche Regen ist.“
„Für den wir uns jetzt schadlos halten wollen durch eine animirte Unterhaltung.“
„Recht so! Das wollen wir! Die Herrschaften mögen unsere plötzliche Inkognitoenthüllung freundlichst als Vorstellung betrachten,“ fuhr mit einer höflichen Verbeugung gegen die übrigen der Professor fort.
„Bitte gleichfalls,“ schloß sich Herr Helbig an.
„Maler Breitinger, meine Frau“, „August Kurz, Fabrikant, meine Frau“, „John Whitfield“ – stellten sich auch die übrigen vor.
„Und nun, Herr Professor, Ihre Geschichte?“
„Fällt mir nicht ein, meine Ferien und diese Schweizerreise durch ein Kollegium zu profaniren. Ich habe genug im Hörsaal vorzutragen“.
„Aber, Herr Professor, Sie würden gewiß uns sämmtlich erfreuen!“
„Bleiben Sie mir mit dem Professortitel vom Leibe. Bin ich deshalb auf diese Höhen gestiegen? ‚Auf den Bergen ist Freiheit‘, singt der Dichter und ‚hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein‘, ist mein Wanderspruch!“
„Den ich mir gefallen lasse,“ warf der Maler dazwischen „Aber Sie sollen ja auch gar nicht doziren. Sie sollen nur das schönste und freieste Unterhaltungsmittel hier wieder zu Ehren bringen, das der freien Erzählung. Wie die arabischen Kaufleute auf ihren Reifen durch die Wüste des Nachts in ihren Zelten sich die Zeit vor dem Einschlafen durch Stegreif-Erzählen von Märchen und Geschichten vertreiben und der Berufenste dabei zuerst das Wort erhält …“
„Ja und wie Sie uns in Ihrem ‚Kolleg‘ so anziehend von Chaucers Canterburygeschichten erzählt haben, deren Einkleidung uns eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Pilgern vorführt, die auf der Reise zum Grabmal des heiligen Becket von Canterbury begriffen sind und sich auf den Vorschlag des lustigen Wirths vom Tabard-Inn den mühsamen Weg durch Geschichten erzählen kürzen, so wollen auch wir’s machen, um die Langeweile zu bannen und das schlechte Wetter zu vergessen.“
„Der Vorschlag läßt sich hören. Wenn Sie mich zum Alterspräsidenten des Symposions ernennen, so erhebe ich den Vorschlag zum Antrag. Wer ist dagegen?“
Die meisten erklärten zwar, sie hätten keine Uebung und würden sich blamiren, aber die Idee wurde von allen heiter willkommen geheißen. „Und nun zur zweiten Frage: welcher Art sollen die Geschichten sein? Herr Breitinger, Sie melden sich zum Wort, bitte!“
„Ich denke, da uns die Lust am Reisen, am Wandern hier zusammengeführt hat, so sollten es Reiseabenteuer sein, und da uns das Unwetter draußen heute um den erhofften Reisegenuß gebracht hat, möge jeder, sich und uns zum Trost, seine schönste Reiseerinnerung zum besten geben!“
Lebhafte Zustimmung war von allen Seiten die Antwort.
„Angenommen also,“ resümirte der Professor. „Jeder erzähle seine schönste Reiseerinnerung. Aber wer soll anfangen?“
„Ich denke, die studirten Herren machen den Anfang,“ war die Meinung der Damen.
„Ladies first,“ sagte verbindlich lächelnd der Engländer.
[528] „Dem Alter gebührt die Ehre,“ stichelte der Astronom, der sich als Jüngster in dem Kreise fühlte.
„Das hieße die natürliche Ordnung aus den Kopf stellen,“ entgegnete der Professor. „Je älter wir sind, um so reicher sind wir an Reiseerinnerungen und um so mehr Zeit brauchen wir also, die schönste aus der Menge herauszusuchen.“
„Es ist wirklich recht schwer,“ seufzte Herr Kurz, der mit gerunzelter Stirn vor sich hinbrütete. Seine Frau sah ihn vorwurfsvoll an. „Aber, Mann mußt Du erst nachdenken, welches Dein schönster Reisetag war?“
„Natürlich unser Verlobungstag, Lina, ich weiß wohl,“ beschwichtigte der Mann; „aber das ist doch keine Geschichte.“
Doch der Professor schlichtete den Streit mit einem Gewaltspruch. „Herr Doktor Helbig, kraft der mir übertragenen Befugniß als Präsident ersuche ich Sie, den Reigen des Erzählens zu eröffnen.“
„Nun gut! Dann müssen Sie es mir aber auch nicht verargen, wenn ich die grade heranschwimmende Erinnerung aus meinem Gedächtnißstrom heraufangele und für die beste erkläre, weil sie eben die erste ist. Ich könnte ihr den Titel geben: ‚Wenn man nicht Skat kann.‘ Für die poetischeren Gemüther unter uns empfiehlt sich dagegen als Titel ein Wort, mit welchem ich die ganz eigenthümliche, aus Abenteuerlust, Naturgenuß und Freiheitsgefühl gemischte Stimmung bezeichnen möchte, die man namentlich in der Jugend beim frohen Wandern über Berg und Thal empfindet; unser litteraturkundiger Präsident gestatte mir den Anklang an den ‚Waldeszauber‘ Eichendorffs; das Wort heißt: ‚Wanderzauber‘!“
Die Mode spottet bekanntlich aller Logik und so stecken auch unsere Frauen, wenn die Natur erstarrt im Winterschlaf liegt, die duftigen Rosen in das Haar, während im Sommer, wenn die Kinder Floras siegreich alle Felder und Gauen behaupten, Kunstblumen aller Art auf den Damenhüten erscheinen. Aber die Blume selbst, sei sie nun Kunst oder Natur, gehört zu dem Luxus unserer Tage, wie sie in allen früheren Zeiten ihre Rolle spielte. Wie ein poetisches Symbol zieht sie sich durch die alte und die neue Geschichte, schmückt die Heldengräber und die Burgruinen, huldigt der Schönheit und dem Ruhme, windet der Zukunft ihre farbenprangenden Kränze. Sie beherrschte alle Ceremonien der alten Völker, und die christliche Kirche, die sie anfangs als ein Abzeichen des Heidenthums ausschloß, wollte sich schließlich auch nicht mehr ihrem blühenden Zauber entziehen. Fortunatus, Bischof von Poitiers, schrieb ein zierliches Gedicht an die Königin Radegund und die Aebtissin Agnes von Poitiers und sagte darin: „In dieser schönen Frühlingszeit schmücken alle Menschen ihre Häuser mit Blumen. Ihr aber sollt die herrlichen Blumen sammeln, sie zur Kirche tragen und damit die Altäre schmücken, damit sie in leuchtenden Farben erglänzen. Der goldne Krokus geselle sich zum holden Veilchen, grelles Roth sei durch schimmerndes Weiß abgelöst, dunkles Blau zu Grün gesellt. Es ist ein Kampf unter Blumen, die eine siegt durch ihre triumphirende Schönheit, die andere durch ihren süßen Duft; sie verdunkeln alle Edelsteine und spotten des Weihrauchs.“
Das war im sechsten Jahrhundert, in Rom aber schmückt man noch heute in der Kirche der Santa Maria Maggiore die Altäre mit weißen Rosen und Jasminblüthen. Die Blume gehörte im Mittelalter zum höchsten Luxus der Kirche. Die anglikanische Kirche kennt noch heute keinen höheren Prunk und vor Ostersonntag drängen sich aus dem Blumenmarkt von Covent Garden unzählige Churchmen zwischen vornehmen Ladies, um wahre Wagenladungen prächtiger Blumen für den Schmuck der Altäre zu erwerben. Die Römer bekränzten ihr Haupt, und darum wies die christliche Kirche anfangs diesen Gebrauch zurück, im neunten Jahrhundert aber waren bereits die Kränze von Rosen und Myrthen für Braut und Bräutigam, die der christliche Priester verband, allgemein. Die plötzlich verpönten Grabkränze erschienen zuerst wieder auf den kleinen Särgen der christlichen Kinder und spielten bald bei den Begräbnissen überhaupt die wichtigste Rolle, die sie noch heute innehaben.
Aber nicht nur in den kirchlichen Ceremonien, auch in allen weltlichen Dingen errichtete die Blume ihre Herrschaft. In Frankreich gab es eine Rosensteuer (baillée des roses), die noch gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts entrichtet wurde. Es war dies ein Tribut, welchen die Pairs von Frankreich dem Parlamente darzubringen hatten. Er mußte an einem Tage im April, Mai oder Juni, wenn die erste Sitzung stattfand, entrichtet werden. Vor Beginn derselben hatte der Pair, an dem die Reihe war, für die baillée zu sorgen, alle Gemächer des Palastes mit Rosen zu schmücken, selbst den Fußboden mit grünen Gräsern und Feldblumen zu bestreuen. Dann ging er in die große Halle und vertheilte die Rosen, die man ihm in großen silbernen Körben vorantrug, an die Mitglieder des Parlaments und die Hausoffiziere, die zu ihrem Dienste beigestellt waren. Wenn die Vertheilung beendet und die Sitzung geschlossen war, gab er den Präsidenten, Räthen, Beamten und Ceremonienmeistern des Hofes ein großes Festmahl.
Der Ursprung dieser Sitte ist nicht bekannt. Sie existirte nicht bloß für das Pariser, sondern auch für die übrigen Parlamente des Königreiches, besonders für jenes von Toulouse. Die Rosensteuer war ferner auch an die Kinder des Königs, die Prinzen von Geblüt, die Herzöge, Kardinäle und übrigen Pairs zu entrichten. Ein Edikt Heinrichs III. soll die Entrichtung des duftigen Tributs angeordnet haben. Große Ausdehnung nahm der Blumenluxus in Frankreich unter Ludwig XIV. an, welcher ein großer Blumenfreund war. Er liebte es, am Abend den Duft seltener, kostbarer Blumen einzuathmen und in den königlichen Gärten gab es weite Beete von Veilchen, Orangenblüthen, Jasmin, Tuberosen, Heliotropen, Hyacinthen und Narcissen. Die Vorliebe des Königs wurde selbstredend in den Palästen der Großen nachgeahmt. Jenes Porzellanhaus, in welchem Ludwig seine glänzendsten Feste gab, trug den Namen „Palais de Flore“ – Palast Floras. Eine der königlichen Launen zertrümmerte aber den Porzellanpalast. Er fiel mit Madame de Montespan in Ungnade und an seiner Stelle erhob sich ein imposanterer Bau, zu Ehren des neuen Sternes, der Maintenon. Das war Trianon, in italienischem Stile gebaut, ganz aus rosafarbigem Marmor, mit einer mächtigen Balustrade, welche das ganze Gebäude krönte, geschmückt mit marmornen Statuen, Körben, Urnen, Kronen. Lenôtre erfand einen neuen Stil für die königlichen Gärten. Fortoul schreibt in den „Fastes de Versailles“: „Wenn man von Versailles nach Trianon kam, glaubte man, Land und Zone gewechselt zu haben und in irgend eine deliziöse Villa Italiens gerathen zu sein. Die Erde ist derart geschmückt und vergoldet durch Blumen und Marmor, die sich in stillen Wassern spiegeln, daß es scheint, als leuchte da eine wärmere Sonne und überschütte die ganze Landschaft mit ihrem Glanze.“
Wenngleich die Herrschaft der Blume beständig neuen Glanz gewinnt, so sind die Blumenarten doch der Mode unterworfen, wie alles in der Welt. Die alten Griechen liebten die Levkojen und Narcissen, in Deutschland beherrschten Lilien, Rosen und Rosmarin lange den Markt und die Frauenherzen, bis sich die Tulpe zur Alleinherrscherin emporschwang und alle Börsen plünderte. Sie ruinirte Holland wie später die Georgine Frankreich. Heute sind die Pelargonien, Hortensien, Geranien, Kakteen, Kamelien, Azaleen die Lieblingsblumen der eleganten Welt. Sie schmücken alle unsere Feste. Auf den Bällen strahlen die Damen nicht bloß von Juwelen, sondern farbenglühende Blumen nisten in ihrem Haar, schlingen sich in Gewinden aller Art um ihre kostbaren Roben, blühen an jeder Frauenbrust, umsäumen den weißen Nacken am Rande des Kleides, werden, zu Sträußen gebunden, von den schönsten Händen getragen. Wir senden sie der Geliebten ins Haus und kein Geburts- oder Namenstag schöner Frauen geht ohne Blumenhuldigung vorüber. Wir tragen sie kokett im Knopfloche und ehren die Künstlerin für die schöngesungene Arie mit einem Blüthenregen. Es giebt bereits eine „Blumenbindekunst“.
Zu Anfang der vierziger Jahre erfanden die Franzosen die Champignon-Bouquets, welche die kunstvollste Anordnung der Blumen gestatteten, indem die Blumen an lange Drähte geheftet
[529][530] und dann nach Belieben neben einander gereiht wurden. Mit Hilfe dieser Drähte bildet man aus Blumen Phantasiestücke aller Art, die als sinnige Geschenke dienen, für die Sängerin die Blumenlyra, für den Gelehrten den Blumenfolianten, Füllhörner, Vasen, Fächer etc. Neuestens hat man die Blumenkissen erfunden, aus feuchtem Moos gebildet, welches den Blumenstengeln eine feste Grundlage bietet. Mehr als alle diese künstlichen Formen, zu welchen die seltensten und kostbarsten Blumen verwendet werden, wird uns aber immer das kleine Sträußchen von Primeln oder Maiglöckchen erfreuen, das uns in der schönen Frühlingszeit ein niedliches Blumenmädchen an der Straßenecke anbietet.
Die Kunstblumen verdanken ihre Entstehung frommen Schwestern. In den Frauenklöstern Italiens wurden bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Ausschmückung der Altäre und zur Bekränzung der Heiligenstatuen mühsam aus Papier, Pergament und sonstigen steifen Stoffen künstliche Blumen verfertigt. Seither haben die sogenannten „italienischen Blumen“, die in den venezianischen Fabriken aus den Bälgen der verdorbenen Seidenkokons hergestellt werden, überall in Europa als ein besonders zierlicher Damenschmuck Ruf bekommen. Selbstredend beschränkt sich die Fabrikation in Venedig, welche beinahe ganz Italien mit künstlichen Blumen versorgt und ganze Waggonladungen derselben in das Ausland exportirt, nicht bloß auf diese einzige Sorte. Ich habe in einer venetianischen Blumenfabrik Umschau gehalten. Kaum ist die erste Chokolade bei Florian auf dem Markusplatze hinuntergeschlürft, so präsentirt sich dort schon dem Fremden ein Cicerone mit dem Anerbieten, ihn in eine „berühmte“ Fabrik der „berühmten italienischen Blumen“ zu führen. Sie nimmt zwei Stockwerke und das Erdgeschoß in einem der dunklen, grauen, alterthümlichen Häuser der Frezzaria ein und beschäftigt mehrere hundert Mädchen, die in den weiten niederen Sälen der Stockwerke untergebracht sind, während sich die Waarenniederlage im Parterre befindet. In allen Glasschränken sieht man hier die täuschendsten Erzeugnisse der Kunst, welche der Natur die leuchtenden satten Farben und oft auch den Duft gestohlen zu haben scheinen. Denn diese Blumen werden häufig in Parfüms getaucht, welche berufen sind, unsere Geruchsorgane zu täuschen, wie der glänzende Schmelz dieser zierlichen Fabrikate unser Auge täuscht. Hier können die absonderlichsten Wünsche der Fremden, die aus Venedig nur etwas Besonderes heimbringen wollen, befriedigt werden. In den oberen Sälen sitzen die Arbeiterinnen, welche mit ihren geschickten Fingern so märchenhaft schöne Kunstgebilde verfertigen. Denn bei der Fabrikation feiner Kunstblumen ist beinahe alles Handarbeit und ihr Werth hängt einzig und allein von der Geschicklichkeit und dem Geschmacke der ärmlich gekleideten, zumeist kränklich aussehenden Mädchen ab, die an den langen Tischen sitzen und den gesundheitsschädlichen Staub der gefärbten Bestandtheile ihrer Blumenprodukte einathmen. Diese Geschicklichkeit und diesen Geschmack vermag keine Maschine zu ersetzen.
Im vergangenen Jahrhundert erfand wohl ein Schweizer eine Ausschneidepresse für Blätter, doch ist dieselbe nur für Blätter kleinster Art, wie der Hyacinthen, Maiglöckchen etc. in Gebrauch. Bei den größeren Blumenblättern zieht man der korrekten Form, welche der Natur nicht immer entspricht, den höhern Reiz der Unregelmäßigkeiten vor, welche die Schere der Arbeiterin begeht. Die Gewebe zu den Blumenblättern erfahren eine besondere Appretur in anderen Fabriken. Die Scheren und sonstigen Werkzeuge der Arbeiterin, die Pressen, welche die Blattnerven botanisch treu wiedergeben, sind eigenthümlich konstruirt. Die Verrichtungen, die mit der Blumenfabrikation verbunden, sind die verschiedenartigsten und werden von verschiedenen Arbeiterinnen besorgt. In einem Saale beispielsweise werden ausschließlich die Blumenstengel und Blattstiele verfertigt; in einem zweiten Saale gießt man Früchte aller Art, Beeren, Kirschen, Weintrauben und so weiter, wie sie oft zwischen Blätter und Blüthen vermischt werden, aus Wachs; an einem besonderen Tisch werden nur Staubfäden fabrizirt; andere Säle sind der Herstellung der Blumenknospen gewidmet. In einer weiten Halle erledigt man die Glasarbeiten, denn nicht alle Früchte werden aus Wachs gegossen; besonders die Beeren sind zumeist aus Glas. Die Glaskügelchen werden aus dünnen Glasstangen hergestellt, deren Ende man über eine kleine Flamme hält und glühend macht; durch eine geschickte Drehung wird die runde Form erzeugt, durch den Gebrauch verschiedenfarbiger Stäbe werden die feinsten Farbennüancen erzielt.
Den geschicktesten Arbeiterinnen ist das Zusammensetzen der Blätter zu Blüthen und der Blüthen zu Bouquets, Kränzen und Guirlanden aller Art anvertraut. Es ist interessant, diese Arbeit zu beobachten, bei welcher die emsig sich bewegenden Fingerchen der Arbeiterinnen mit den Innentheilen der Blumen beginnen, die äußeren Blumenblätter, zuerst die farbigen, dann die grünen nach und nach ansetzen, die Krone an den Stengel fügen und die gezackten Blätter an den Stengel reihen.
Venedig und Italien haben indessen schon lange kein Monopol mehr auf die Blumenfabrikation, die bereits auch in Frankreich und Deutschland in großem Maßstabe betrieben wird. Paris beschäftigte vor dem Kriege im Jahre 1870 15 000 Arbeiterinnen in Blumenfabriken und exportirte Kunstblumen alljährlich im Werthe von 25 Millionen Franken. Seit dem Kriege soll die französische Blumenfabrikation unter der Konkurrenz der deutschen stark gelitten haben. Namentlich die Berliner Blumenfabriken liefern wahre Kunstwerke und erobern sich wacker das heimische Absatzgebiet zurück. In Wien erfreuen sich die wunderschönen täuschenden Kunstblumen der Gräfin Baudissin großen Beifalls, welche ganze Blumenstöcke, exotische Pflanzen aller Art, ganze Epheuhecken, natürlich alles „unverwelklich“, zur Zimmerdekoration verfertigt.
Mit den imitirten Blattpflanzen befreunden sich auch jene, welche sonst den Blumen „ohne Seele“ keinen Geschmack abgewinnen können. Freilich ist jeder Kunst eine Grenze gezogen. Wer baut die Epheublüthe nach, die sich dem Sonnenstrahl verschließt und ihren Kelch nur dem keuschen Mondlicht öffnet? die Mimose, die bei fremder Berührung zitternd ihre Blätter schließt? die Sonnenwende, die strahlenberauscht stets gegen Osten blickt? So weit indessen die Kunst reicht, muß sie mit der Natur dem ungeheuren Luxus dienen, den wir modernen Menschen mit den Blumen treiben. Tausende und Tausende eifriger Hände wirken und schaffen jahraus, jahrein, nur für ihn. Dann kehrt ja der Frühling immer wieder, der große Zauberer, der aus reichem Füllhorn seine Gaben streut.
Lortzing läßt seinen Zaren Peter bekanntlich singen: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“ Im Parkett entsteht bei dieser musikalisch so schönen Stelle jenes eigentümliche Geräusch, welches sich aus allerlei Nasallauten nebst obligater Taschentuchbegleitung zusammensetzt - die ältesten jungen Damen stimmen dem sentimentalen Beherrscher aller Reußen wehmutsvoll zu, noch auf dem Heimweg säuseln sie leise vor sich hin. „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein! Hu, wie kalt ist es geworden!“
Ich habe mich der Schwärmerei für die Kindheitsepoche niemals unbedingt anschließen können. Auf die so gern gestellte Frage „Möchten Sie nicht noch einmal Kind sein?“ habe ich stets mit einem so energischen „Nein“ geantwortet, daß die zartsinnigen Fragerinnen sich entrüstet ob solcher Gefühllosigkeit abwandten. Wenn man das Gymnasium in einer großen Stadt besucht hat, wenn man den schweren Kampf mit der Trigonometrie und Stereometrie bestanden und sich von einem Klassenexamen zum anderen mehr schlecht als recht durchgelogen hat, wenn man sich der heißen Mittagsstunden erinnert, wo man, nach hastig verschlungener Mahlzeit, auf den durchglühten Trottoirs eiligst der Schule zustrebte, um dort von 2 bis 4 Uhr in den entlegensten Winkeln der Weltgeschichte und der Syntax einherzutaumeln, dann gehört ein hoher Muth dazu, sich ernstlich nach den Fleischtöpfen der Gymnasiastenzeit zurückzusehnen.
Zweimal in jedem Jahr packt jedoch auch mich die brennende Sehnsucht nach den dämmerhellen Tagen der sorgenlosen Freiheit. Sobald die Zeit kommt, wo im Elternhause die Weihnachtstanne gekauft zu werden pflegte, wo die ersehnte Arbeit des Aufputzens begann, fängt auch das Heimweh nach der Jugend an sich zu regen – wie der Baum, den uns einst die Mutter anzündete, strahlt da doch nimmer ein anderer! Gerade die Weihnachtsstimmung, die uns alte zu frohen Kindern macht, ist auch solcher wehmütigen Rückerinnerungen am günstigsten, bald aber verhallt auch sie im Drange der Tageseindrücke und der Sorge für
[531] die nächste Stunde. Noch einmal aber meldet sich dies Heimweh nach der Jugend, fast genau ein halbes Jahr später klopft wiederum der Wunsch bei uns an, leise, aber vernehmlich: „Wärst du noch einmal Kind!“
Die großen Ferien! Welch Zauberwort für alles, was einen Schultornister oder eine Büchertasche trägt! Wie zählt man schon von Pfingsten an die Tage, wie nimmt der Fleiß auch bei den besten Schülern rapid ab, wenn der Julianfang in Sicht ist! In den letzten Tagen besonders giebt es kein Halten mehr, schon mehren sich die Lücken in den Klassen, denn alle, die so „glücklich“ sind, krank zu sein, reisen schon etliche Tage vor dem Schulschlusse ab, es gelingt auch dem strengsten Lehrer nicht mehr, die koncentrirte Aufmerksamkeit zu erzwingen, um so weniger, als ja auch diese vielgeplagten Pädagogen sich hinaussehnen aus der dumpfen Klassenluft, hinaus aus dem ewigen Cirkeltanz um ein stets gleichbleibendes Arbeitspensum.
Wenn es in den letzten drei Tagen vor dem Ferienanfang aus unserem Gymnasium gar nicht mehr vorwärts gehen wollte, dann wurde zum äußersten Mittel gegriffen, es wurde aus irgend einem interessanten Buch vorgelesen, und so schlichen die Stunden denn glücklich hin, bis endlich der sonst gefürchtete, gern hinausgezögerte, diesmal aber heiß ersehnte Moment der Censurvertheilung erschienen war. In dem brausenden Jubel, der nun die großen Ferien begrüßt, verstummt sogar der Zorn und Schmerz über die vermeintlichen „Ungerechtigkeiten“ der Lehrer, welche sonst noch Stunden lang nach dem Schlußakt von den jungen Gemüthern eifrig debattirt werden. Wer hat aber heute dazu Zeit? Kaum die Aermsten, denen auch für die Ferien kein anderer Aufenthalt winkt. Alles, was in die Bäder oder aufs Land reist, stürzt eilends nach Haus, um schnell noch die letzten Bücher und Hefte den schon gepackten Koffern einzuverleiben. Die Eltern finden kaum Zeit, sich nach dem Zeugniß des Sprößlings zu erkundigen, selbst eine Nr. 3, die in jedem anderen Moment die Stimmung für Tage und Wochen hinaus getrübt hätte, geht kaum beachtet unter in der Hast und Unruhe der Reisevorbereitungen.
Man muß einen Berliner Bahnhof beim Ferienanfang gesehen haben, wenn man sich eine ahnungsweise Vorstellung von einer modernen Völkerwanderung machen will. Daß die Coupés überfüllt sind, versteht sich ebenso von selbst wie die Anwesenheit einer schier unübersehbaren Kinderschar bis zur äußersten Jugendgrenze hinab; das Schlimmste aber vom Schlimmen ist das ganz unglaubliche Handgepäck. Die Netze über den Sitzbänken, der Raum unter denselben, jedes Eckchen ist angefüllt mit Koffern, Plaids, Taschen, Körben, Schachteln, Schirmen und anderem für so verschiedenartige Generationen unentbehrlichen Hausrath. Und welche Anhäufung von Lebensmitteln! Obst, „Stullen“, Kuchen, Bonbons, Chokolade, Cakes, Drops, Wein, Bier, Likör, Eau de Cologne, Magenbitter, wenn man das Glück hat, mit einem ganz jugendlichen Erdenbürger die Zelle zu theilen, wohl auch das durch einen Gummipfropfen geschlossene Milchfläschchen – eine gefährliche Symphonie von Düften! Der Beginn einer echten und rechten Ferienreise ist ohne eine gewaltige Fr – pardon – Eßorgie gar nicht denkbar; wozu geht man denn auch in die Sommerfrische, wenn man sich vorher nicht noch einmal den Magen ordentlich verderben soll?! Fährt der Zug um acht Uhr von Berlin ab, so beginnt die Zufuhr von Nahrungsmitteln etwa um halb neun und dauert bis unmittelbar vor dem Mittagsessen, das natürlich auf der Hauptstation heruntergejagt wird, um dann gleich nach dem Kaffee mit frischem Muth und gesteigertem Appetit wieder einzusetzen.
Wehe dem „einzelnen Herrn“, der noch in der letzten Minute vor Abgang des überfüllten Zuges von dem zur Eile drängenden Schaffner mit der Versicherung „Hier ist noch ein Platz“ in ein solches Kleinkinderbewahrcoupé geschoben wird – könnten Blicke tödten, entseelt sänke der Unglückliche dahin, getroffen vom Wuthblicke beleidigter und empörter Mütter! Einen Platz für die mitgebrachte Reisetasche? Nicht für eine Million! Niemand rührt sich; mit der ganzen Rücksichtslosigkeit, welche dem schwachen Geschlecht – mitunter! – zur Verfügung steht, setzt man dem frechen Einbruch den entschiedensten passiven Widerstand entgegen. Diese Tage gehören den Müttern und Kindern, wer nicht zu ihnen zählt, der bleibe in seines Nichts durchbohrendem Gefühl eben fort, wenn er nicht wie ein völlig schamloser Eindringling behandelt sein will.
Ich habe diese Erfahrungen schon früh gemacht, als ich, selbst noch ein Knabe, aber mit dem männlichen Vollbewußtsein des Untertertianers nebst etlichen Schinkenbroten ausgerüstet, zum ersten Male allein in die lachende Welt hineinfuhr, um Mutter und Schwester nach der lieblichen Insel Rügen zu folgen. Alle Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten der Ferienzüge sind gesteigert auf denjenigen Strecken, welche die landschaftshungrigen Großstädter an die See führen, denn da nimmt der Berliner eben außer seinem heimischen Dache einfach alles mit, einschließlich Betten, die, in riesige Säcke eingenäht, den kleinen behaglichen Ostseedampfern die Physiognomie von Auswandererschiffen geben.
Wie es sich für die erste selbständige Reise gehört, war ich früh am Platze und richtete mich in einer Ecke des Coupés behaglich ein. Ich hatte den Betrag für ein Billet zweiter Klasse erhalten, nach einiger Erwägung aber eins dritter Güte erstanden, angeblich um die vorausgereiste Familie durch solch heroisches Beispiel freiwilliger Sparsamkeit zu überraschen. So wenigstens suchte ich mir damals die unschuldige Betrügerei plausibel zu machen, heute bin ich skeptischer geworden und glaube eher an eine spätere Kapitalanlage in Cigaretten und Apfelkuchen mit Schlagsahne. Wie dem auch sei – die historische Wahrheit ist nicht mehr genau festzustellen denn es kam anders, als ich erwartet hatte.
Eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge saß ich während der sechsstündigen Fahrt nach Stralsund, rings umher Kinder, auf die ich mit der ganzen unsäglichen Verachtung eines zwölfjährigen Herrn herabsah, Mütter und freundliche Beschützerinnen derjenigen Passagiere, welche die Reise in ihrem eigens dazu mitgebrachten Steckkissen machten. Kein Fenster durfte geöffnet werden, denn im Coupé nebenan war eins offen, es gäbe sonst Zug, und „Hänschen hat ein Gerstenkorn“. Dabei aß Hänschen aber tapfer eine Käsestulle nach der andern, während Fritzchen Kirschen zu sich nahm, deren Kerne sein liebliches Mündchen dann auf den Boden spie, und die ganze Familie von Zeit zu Zeit von einem scharf riechenden Kräuterliqueur genoß. Was Emmchen, die allerjüngste Mitreisende, angeht, so wurde mir ihr holder Anblick in mäßigen Intervallen dadurch entzogen, daß sie sich mit ihrer Nährmutter in die entlegenste Ecke zurückzog, während die wirkliche Mutter mit kühner Leibesvorbeugung den Rückzug deckte.
Endlich nimmt so alles ein Ende, sogar eine Ferienreise mit Hindernissen. Nachdem etliche wenig erquickliche Scenen sich in unserem Kinderheim auf Rädern abgespielt und die Folgen der irrationellen Ernährung sich in der verschiedensten Weise bemerkbar gemacht hatten, erreichten wir endlich, mit der gebührenden Verspätung, Stralsund. Auf zum Hafen! Eine mäßige Viertelstunde vergeht, bis die Familie mit Sack und Pack ausgeladen ist. Ich stehe auf Kohlen denn das Dampfschiff muß in kürzester Zeit abfahren, und der Weg ist gewiß ziemlich weit. So! Einen Blick noch wirft die Mutter auf den nun verödeten Raum – außer Fritzchens Kirschkernen und einem kleinen Berg Stullenpapier ist nichts mehr vorhanden, was an die seligen Stunden erinnert – majestätisch wie die Mutter der Gracchen verläßt sie die Stätte, und nun ist auch für mich die Bahn frei!
Vor dem Bahnhofsgebäude waren inzwischen alle Bande frommer Scheu gerissen, eine wilde Jagd auf ein benutzbares Vehikel hatte begonnen. Mütter irren, Kinder wimmern – mit Hilfe der herbeigeschleppten Bettsäcke giebt das Ganze ein beinahe malerisches Bild. Mir wurde ob dieses Anblicks um meine Selbständigkeit denn doch etwas bange, so weit ich auch das Auge schickte, keine Droschke war mehr zu erblicken, keiner der biederen vorpommerschen Rosselenker hatte sich auch die Mühe gegeben auf einen halbwüchsigen Knaben zu achten, dem man wohl gar nicht das zu einer solchen Fahrt erforderliche Kapital zutraute. Endlich – ich sah eben meine lieben Reisegefährten auf hoch bepackter Kutsche davonjagen, Freund Fritz saß einen halben Meter hoch über dem Kutscher auf einem gelben Reisekorb und schien noch bei den geliebten Kirschen zu sein – entschloß ich mich wohl oder übel zu Fuß zu gehen. Gedacht, gethan! In wilder Flucht strebte ich dem Hafen zu, mich durch ein schier unentwirrbares Labyrinth von Straßen und Gäßchen durchfragend, und richtig kam ich auch gerade noch zur rechten Zeit, um – den Dampfer abfahren zu sehen und von Hänschen eine „lange Nase“ als liebevollen Abschiedsgruß zu empfangen.
„Einen Verlorenen zu beweinen ist auch männlich,“ sagt Oranien ich hatte den Dampfer versäumt, beim Laufen meinen Gloriaschirm verloren – ich war ein Mann, aber ich weinte.
Mit dem erhofften Ueberschuß war es nun nichts. Das Geld ging in Depeschengebühr und der Begleichung meiner Hotelrechnung zu Grabe. Aber ich hatte nicht nur meine Reise, sondern auch ein veritables Abenteuer gehabt, und das wog die Aussicht auf verschiedene Apfelkuchen auf.
Wie sehnt man sich jetzt nach all der Ferienlust zurück! Selbst das Schreckgespenst der Ferienarbeiten, das damals fürchterlich mahnend Tag und Nacht, in Thüringen wie am Ostseestrand, vor meiner geängsteten Seele stand, ich würde es gern ertragen, könnte ich dafür das drückende Handgepäck der Sorgen los werden, ohne das es nun keine Ferienreise mehr giebt.
Mancherlei habe ich seit meiner ersten selbständigen Reise hinzu gelernt, ich sehe es ruhig mit an, wenn meine Nebenmenschen sich den Magen verderben, ich kann große und kleine Leute Kirschen essen sehen, ja zur Noth selber welche mit ihnen essen, und wenn mir ein Dampfschiff vor der geehrten Nase davon fährt, so weine ich nicht mehr wie damals, denn ich habe seither oft genug das Nachsehen gehabt. Sind wir darum wirklich klüger und vernünftiger geworden, wie wir es uns so gern einbilden?! Du lieber Gott – wir haben eben resignirt und lassen des Schicksals Stöße und Schläge geduldig über uns ergehen – das ist unsere ganze Weisheit!
Immer aber, wenn der Juli naht und die großen Sommerferien beginnen, klingt und summt es in meinem Innern: „0 selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“
Verlassen. (Mit Illustration S. 520 und 521.) Unter den vielen Schilderern tirolischen Bauernlebens, welche München besitzt, nimmt neben Defregger Mathias Schmid, dessen Lebensbild und Porträt die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1884 (S. 606) brachte, unstreitig den ersten Platz ein. Indeß hat er sich einen so ganz anderen Wirkungskreis ausgesucht als jener, daß er mit dem Dölsacher Meister und dessen liebenswürdigem Idealismus kaum jemals konkurrirt. Denn nicht unter den sonnigen Halden des Pusterthales
als wohlhabender Bauernsohn, der niemals irgend welche Noth gekannt, sondern im rauhen Paznaun unter Noth und Kämpfen aller Art aufgewachsen und gestählt, zeigt er uns mit einer gewissen Vorliebe die Nachtseiten dieses Tiroler Lebens, den ewigen Kampf mit der Natur, die Noth der Armen und Heimathlosen, den kalten Egoismus der Reichen
oder derer, die es werden wollen. Eine solche Scene führt uns sein Bild „Verlassen“ vor, wo ein hübscher Bauernbursche, der um einer reichen Braut halber die arme Geliebte treulos verlassen, dieselbe nun unvermuthet auf der Höhe eines Joches vor einem Bildstock niedergesunken
[532] trifft und schuldbewußt die Augen niederschlägt, während die Braut, welche
mit ihm die Verwandten besuchen gewollt, den Zusammenhang zwar nicht
kennt, aber doch sofort ahnt und den Burschen unschlüssig und erschreckt
losgelassen hat. Sind schon die Charaktere dieses hochtragischen Stoffes
vortrefflich gegriffen, ist besonders die arme Verrathene, die offenbar aus
dem Thal auswandern gewollt und hier unter der Last ihres Jammers
zusammenbrach, mit erschütternder Wahrheit gegeben, so unterstützt auch
die Landschaft, in der sich die Scene abspielt, die Stimmung des Ganzen
meisterhaft. Es ist ein düsterer Spätherbsttag, wo der erste Schnee schon auf
den Bergen im Hintergrunde gefallen, der auf dem Joch ohnehin immer
brausende Wind hat darum kaum eine dürftige Spur von Vegetation
mehr übrig gelassen. Das kalte grelle Licht, welches auf die Verlassene
fällt, der mit Sturm und Regen drohende Himmel, der sich über ihr
wölbt, vollenden den unheimlichen Eindruck des Ganzen, das mit finsterer
Schwere auf uns lastet. Dabei hat Schmids Zeichnung immer einen
großen Zug, wie sein Kolorit zwingende Stimmung; es ist eine Energie
in seiner Darstellung, die alle kleinen Reize erbarmungslos unter den
Tisch wirft, nur um die Totalwirkung um so schlagender zu machen. Wie
vortrefflich ist nicht das Verwöhnte, Weichliche der reichen Bauerntochter
geschildert oder der kalte Egoismus des kräftigen Burschen, der weit mehr
Aerger über das unvermuthete Zusammentreffen empfindet als Reue, und
dem man die Bauernschlauheit sofort ansieht.
Für den Durst! Was ist das Beste für den Durst? Die Frage wird jetzt oft und an viele herantreten; denn die Hundstage stehen bevor und so windig kühl wie bis jetzt wird der Sommer nicht bleiben; die Hitze wird schon kommen, wird schon erschienen sein, wenn diese Zeilen in die Hand unserer Leser gelangen. Die Frage wird aber alsdann verschiedenartig beantwortet werden.
„Das Beste ist das Wasser!“ ruft einer, der mit griechischen Weisen auf vertrautem Fuße steht und den alten Spruch recitirt. Wir möchten an der Bedeutsamkeit desselben nicht rütteln und so manchem rathen, lieber mehr Wasser als Wein, Bier oder gar – Schnaps zu trinken. Das beste Mittel, um in der heißen Jahreszeit den Durst zu löschen, ist jedoch das Wasser nicht. Durch reichliches Wassertrinken werden die Schweißdrüsen zur erhöhten Thätigkeit angeregt; dies ist nicht angenehm und Schwitzen erzeugt wieder Durst. „Ein Glas Bier!“ ruft ein anderer, und ein Tourist füllt seine „Feldflasche“ mit Rothwein. Sie beide haben ebenso wenig recht wie der Handwerksbursche, der sich sein Gläschen Kornbranntwein lobt. Alkohol ist ein Reizmittel, das die Blutgefäße erschlafft und dessen üble Folgen in der Hitze sich bald bemerkbar machen.
„Ein Glas Limonade!“ ruft eine Dame, und in der That hat sie beinahe das Richtige getroffen. Man muß ja immer bei Frauen anfragen, wenn man sich einen guten Rath holen will. Aber die Dame trinkt süße Limonade und der Zucker schwächt die Wirkung des schönen Getränkes ab; er entwickelt im Körper Wärme und erzeugt wieder Durst.
Das beste für den Durst ist eine schwache Säure, gleichviel welche. Wir geben natürlich Fruchtsäuren den Vorzug und unter ihnen steht obenan die Citronensäure, die ja in fester Form in jeder Apotheke gekauft werden kann. Für die Zeit der sauren Gurke empfehlen wir darum der Beachtung der durstigen Leser auch – saure Limonade.
Bei dem Dampfhammer. (Mit Illustration S. 525.) In einem seiner reizvollen technischen Feuilletons schildert M. M. v. Weber eine kennzeichnende Scene aus der Erfindungsgeschichte des Dampfhammers. In der größten Schmiedewerkstätte der Welt, bei dem berühmten John Nasmyth zu Patricroft, war im Jahre 1842 – fast gleichzeitig mit einer ähnlichen Konstruktion, die Bourdon und Schneider in Creuzot erdacht hatten – ein freilich noch sehr primitiver Dampfhammer aufgestellt worden, der Embryo eines Dampfhammers, möchte man fast sagen, denn das ganze Ding bestand nur aus einem alten Dampfcylinder, der mit seinem Kolben einen schweren Eisenblock hob und wieder fallen ließ, wenn man dem wirkenden Dampfe das Entweichen gestattete. Es war das Ganze nicht einmal neu, schon James Watt hatte fast sechs Jahrzehnte früher (1784) ein Patent auf dieselbe Idee genommen, aber es war doch thatsächlich der erste Dampfhammer, der wirklich in Betrieb gesetzt wurde, und machte daher ein gewaltiges Aufsehen in England. Da kamen nun eines schönen Tages die Eigenthümer eines großen Eisenwerks, um sich die Konstruktion in der Nähe anzusehen und auch gleich eine Bestellung auf einen Dampfhammer von gewaltigen Dimensionen aufzugeben. Die Herren waren jedoch tüchtige, wohlerfahrene Fachleute und erkannten schnell, daß die Erfindung noch in den Kinderschuhen steckte; das Schmieden ging vor allem zu langsam, das Heben des Kolbens erforderte zu viel Zeit, die Schläge folgten nicht schnell genug aufeinander, so daß das Schmiedestück nicht während der Weißglühhitze, auf deren Ausnutzung es vor allem ankam, vollendet werden konnte. Sie waren daher im Begriff, mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß sie ihre Banknoten nicht in Patricroft lassen konnten, wieder abzureisen, als John Nasmyth ausrief: „Legen Sie Ihr Geld nur für uns bei Seite – wir werden es doch noch und zehnmal mehr dazu von Ihnen erhalten.“
Und in überraschend kurzer Zeit formte sich unter den Händen der geistvollen Ingenieure von Patricroft wirklich die Erfindung zu einem vollendeten Ganzen. Vor allem gelang es Robert Wilson, die automatische Steuerung des Hammers zu finden: im Auf- und Niedersteigen öffnet und schließt der riesige Fallblock sich selbst verschiedene Ventile und regelt dadurch den Zustrom des Dampfes, der ihm seine Bewegung verleiht. Bald kam man auch darauf, dem hochgespannten Dampf, der den Fallblock hebt, oberhalb desselben eine zweite Verwendung zu geben; der Dampf mußte hier wie das Pulver auf ein Geschoß wirken und den massigen Block mit verzehnfachter Gewalt auf das Werkstück zurückschleudern. Kaum fünf Monate nach dem ersten Besuch jener Herren wurde das Wort des Meisters zur Wahrheit: der Dampfhammer war der unentbehrlichste Gehilfe der Eisenindustrie geworden.
Seitdem hat das merkwürdige Werkzeug, das vielleicht eine der eigenartigsten Erfindungen des Jahrhunderts des Dampfes ist, zahlreiche und zum Theil sehr ingeniöse Verbesserungen erfahren, ohne daß es darum die charakteristischen Merkmale, die ihm Nasmyth gegeben, verloren hätte. Unsere Zeichnung giebt ein klares Bild der ganzen Konstruktion: ein mächtiges Eisengerüst trägt hoch oben den Dampfcylinder, in welchem der Kolben mit dem gewaltigen Hammerblock, dem „Bär“, sich auf- und niederschiebt; seitwärts auf einer Plattform steht der Schmied, den Griff der „Steuerung“ in der Rechten – so haarscharf vermag er mittelst ihrer nicht nur die Zahl und die Wucht der Schläge, sondern auch die Höhe des Hubes zu bestimmen, daß er eine Nuß aufknacken kann und den Kern nicht zerdrückt. Als Kaiser Wilhelm I. die Kruppschen Werke besuchte, bat man den hohen Herrn, seine Uhr auf den Ambos zu legen: der tausend Centner schwere Block sauste herab und blieb einen Millimeter über dem Uhrglas stehen, ohne dasselbe zu beschädigen.
Ohne den Dampfhammer würde das Schmieden vieler Werkstücke der modernen Industrie ganz unmöglich sein, die gewaltigen Schrauben und Wellen der heutigen Riesendampfer, die großen Panzerplatten, die schweren Gußstahlrohre der Artillerie sind nur durch ihn ausführbar geworden. Während sich die Dimensionen der Dampfhämmer aber auf der einen Seite ins Gigantische gesteigert haben – auf den Eisenwerken in Creuzot befindet sich ein Hammer von 1800 Centnern Bärgewicht und bei Krupp arbeitet ein Hammer von 1000 Centnern Gewicht bei einer Fallhöhe von drei Metern – hat sich neuerdings auch in größeren Schmiedewerkstätten der Dampfhammer, fast möchte man jenen Kolossen gegenüber sagen: en miniature, sein Bürgerrecht verschafft. Der Aufwerfhammer des Amerikaners Bradley vollführt z. B. mit einem kleinen Hammer von 12 bis 100 Kilogramm Gewicht über 200 Schläge in der Minute und eignet sich ganz vorzüglich für den Betrieb in der Werkstätte. So dient auch hier der Dampf seiner großen Kulturmission: der Entlastung der Menschheit von der schweren physischen Arbeit.
Heinrich Semler †. Wiederum hat das afrikanische Klima ein Opfer gefordert: Heinrich Semler, der erst vor etwa drei Monaten in den Dienst der ostafrikanischen Gesellschaft getreten war, ist am Fieber gestorben. Unseren Lesern ist Heinrich Semler kein Fremder. Vor Jahren erschien von ihm ein Artikel über das Alden-Obst – das amerikanische Dörrverfahren, in der „Gartenlaube“. Damals wollte Semler bahnbrechend wirken, die in Amerika gesammelten Erfahrungen den deutschen Obstzüchtern mittheilen und in Deutschland neben der Obstzucht eine Obstindustrie ins Leben rufen. Er hat auch zu diesem Zwecke ein ausgezeichnetes Werk geschrieben über „Die Verwerthung des Obstes“ (Wismar, Hinstorffsche Hofbuchhandlung), welches ein Musterwerk genannt werden darf und welches wir oft und warm empfohlen haben.
Als später Deutschland seine Machtsphäre in fernen Welttheilen erweiterte, als endlich deutsche überseeische Kolonien begründet wurden, überraschte uns Heinrich Semler mit einem Meisterwerke „Die tropische Agrikultur“, welches in ausführlicher zuammenfassender Weise die Kultur sämmtlicher tropischer Gewächse behandelt. Wer dieses Werk gelesen, dem mußte es klar sein, daß Semler wie kaum ein Anderer dazu berufen war, in der schwierigen Frage, wie in Afrika Plantagen zu gründen seien, bahnbrechend zu wirken. Die Deutsch-ostafrikanische Gesellschaft wußte ihn für diese Aufgabe zu gewinnen. Leider konnte er dem Klima nicht trotzen; frühzeitig sank er dahin; ein rüstiger Kämpfer für die Hebung des deutschen Wohlstandes, hat er sich den Dank der Nation verdient. Leicht sei ihm die Erde!
Ein Sommertag. (Mit Illustration S. 529) Da liegt die spiegelglatte Wasserfläche des Sees vor uns ausgebreitet. Bis an den Horizont hinaus tanzen die goldenen Sonnenlichter darauf, und in der schattigen kleinen Landungsbucht spiegeln sich Bäume und Sträucher so klar in den Fluthen, daß es ist, als tauche der Blick in einen andern, noch duftigeren Wald hinab. Die Dorfkinder haben diese Bucht längst schon als Badeplatz eingeweiht; furchtlos tummeln sich die kühnen kleinen Naturschwimmer hier in den lauen Fluthen. Nur Klaas, das einzige Söhnchen der reichsten jungen Bauersfrau, ist ganz aus der Art geschlagen; er fürchtet sich vor dem Wasser! Vergeblich hält ihm ein freundliches Nachbarkind die helfende Hand entgegen, vergebens verschwendet die Mutter Liebkosungen und Versprechen; er klammert sich fest an ihren Arm und blickt mißtrauisch hinaus nach dem Elemente, das „keine Balken“ hat. Doch vielleicht wird er sich noch dazu herbeilassen, zaghaft mit den dicken Füßchen ein wenig im Wasser zu plätschern, und das ist doch wenigstens ein Anfang; mehr freilich wird heute wohl nicht erreicht werden.
L. B. in Krefeld. Wir haben zwar kein Portrait Kaiser Friedrichs wie das Kaiser Wilhelms I. als besondere Beilage gebracht, aber das in Nr. 12 des laufenden Jahrgangs erschienene Bildniß desselben ist ein künstlerisch so fein ausgeführtes, daß es passend auch als Zimmerschmuck Verwendung finden kann.
B. H. in Lübeck. „Kopf weg!“ Dieser Ruf stammt aus einer nach unseren Begriffen wenig anmuthigen Zeit. Sie wissen doch, daß es früher in den Häusern keine sog. Gußsteine gab und die Bürger alles was ihnen beliebte, zum Fenster hinausgießen oder hinauswerfen durften. In vielen Städten bestand diese „Freiheit“ noch im 14. Jahrhundert, nur mußte der Betreffende vorher dreimal „Kopf weg!“ rufen. Arme Passanten!
H. A. in A. Photographien der beiden Bilder „Vom Sturm gejagt“ von Karl Raupp und „Hildegundis“ von Konrad Kiesel (vergl. Nr. 25 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“) erschienen im Verlage der Photographischen Union in München.