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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[685]

No. 42.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


„Fanfaro.“
Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Die Gesellschaft ordnete sich zu einem langen Zuge nach dem Speisesaale. zuerst der Rector Magnificus mit der Gemahlin des Obersten am Arme, und der Oberst, die Hausfrau führend, die Anderen schlossen sich an: die Professoren mit den geneigten Denkerstirnen und dem in sich gekehrten Blicke, die Officiere mit den scharfen, jede Situation sofort erfassenden Augen. Ihnen zur Seite schritten die Damen, dann kamen die jungen Mädchen in blau, rosa und gelb getaucht, als wollten sie Vergißmeinnicht, Röschen und Butterblümchen darstellen, von jungen Officieren geleitet, welche schon leise darüber räsonnirten, daß sie an dem „Trompetertisch“ sitzen würden, und junge Studenten im ersten Semester, die in Folge ihrer Schüchternheit nur Mädchen im letzten Semester der Ballfähigkeit erlangt hatten und sich heimlich etwas von „ledernen Damen“ zuraunten.

Als Ereme an Bartenstein’s Arm sich einreihte, ging abermals ein Aufsehen durch die Gesellschaft.

Miß Smith blickte ihre Gastfreunde an, die vor ihr standen wie Geschäftsleute, die Etwas auf Accord übernommen haben und nicht zu liefern im Stande sind. Da trat Kronheim heran, bot ihr den Arm und began so gewandt und gleichgültig, wie er Alles zu thun pflegte, englisch zu sprechen. Neuere Sprachen hatte er als Specialstudium für die Kriegsakademie gewählt.

Elsa flog auf Melanie zu, drückte ihr krampfhaft die Hand, während ihre Augen dem schönen Paare folgten, und sprach mit schwerer Betonung: „Und mich führt ein junger Ratz.“

„Wer?“ fragte Melanie, schon an Gerhardt’s Arm.

„Heißen denn die ganz jungen Studenten nicht so, die Gegensätze zu den Moosköpfen?“ fragte Elsa.

„Fuchs und bemoostes Haupt,“ belehrte Melanie sie noch eilig und schloß sich dem Zuge an.

Dieser umkreiste die mit Blumen und Fruchtschalen geschmückte Tafel; dann rückten die Stühle auf dem glatten Parkett; die Damen legten ihre langen Schleppen zierlich um die Füße wie Kätzchen ihre Schweife; die Gesellschaft ließ sich nieder.

Melanie hatte ihren Herrn so zu dirigiren gewußt, daß sie Ereme gegenüber saß; sie konnte sich das Vergnügen nicht versagen, das interessante Paar zu beobachten.

Während Ereme die langen Handschuhe abstreifte, breitete Bartenstein ihren Fächer aus und betrachtete das Bild auf demselben, das den Zephyros darstellte, einen Jüngling mit einem blumengefüllten Mantel.

„Selbst der Fächer ist griechisch,“ tadelte er. „Da gefällt mir der von Fräulein von Seebergen besser. Ich sehe, wenn ich nicht irre, einen Kalpak darauf.“

Melanie entfaltete ihn, und es zeigte sich ein bezopfter Ziethenscher Husar, der seinen Arm um die Wespentaille eines sich sträubenden Dämchens schlang, die mit einer Rose und einer Perlenschnur im gepuderten Haar geschmückt war.

„Er macht das Recht des Stärkeren geltend,“ rief der Hausherr heiter herüber.

Die Herren lachten, Melanie schob ihren Fächer zusammen, und Bartenstein, den Ereme’s gehaltenes Wesen stets zu neuer Neckerei antrieb, sagte: „Die alten Griechen würden die Dame dargestellt haben, wie sie den Husaren mit einem Feldstein niederschlägt. Bei uns siegt natürlich immer der Mann.“

„Sind Sie dessen so gewiß?“ fragte Ereme von oben herab. „Im ersten Ansturme mag die rohe Kraft Vortheile erringen, den letzten entscheidenden Sieg trägt stets die höhere Bildung davon.“

Der Professor der Geschichte, ein kleiner Herr mit großem Haupte, um das sich dicke graue Locken bauschten, lachte hinterhaltig und fragte seinerseits: „Sind Sie dessen so gewiß, Fräulein Clusius? Bedenken Sie: Als die Cultur der Griechen so hoch gestiegen war, daß ein Archimedes durch Brennspiegel Krieg führen wollte, wurden die viel plumperen Römer, die aber die ursprüngliche Kraft für sich hatten, Herr über sie, und ein gemeiner Soldat stieß den großen Rechenkünstler nieder.“ Und er verspeiste eine pikante Kaper aus seinem Muschelragout.

„Denken Sie, Herr Professor,“ entgegnete Ereme, „an das hochgebildete äolische Volk, das ein wildkräftiger thessalischer Reiterstamm überfiel, seine der Athene geweihten Altäre umstürzte und es unterjochte –“ Bartenstein’s brauner Bart kräuselte sich unter einem muthwilligen Lächeln. Er schenkte Ereme’s Glas voll und sah ihr dabei in die hoheitsvoll blickenden Augen. Doch ernst wie eine Verkündigerin der ewigen Gerechtigkeit führ sie fort: „Aber allmählich richtete sich das Culturvolk auf. Mit den feinen Waffen der Bildung begann es den Kampf gegen die rohe Gewalt; unmerklich drängte es dieselbe zurück und unterwarf den siegestrunkenen Eroberer.“

Melanie erschrak über die leise bebenden Lippen Ereme’s und den Uebermuth in Bartenstein’s Zügen. „So führte die Vereinigung zum Segen für beide,“ bemerkte sie. „Die Thatkraft brachten die Thessalier, die Aeolier die Bildung. Sie konnten zufrieden sein.“

[686] Auch die Majorität der Gesellschaft war zufrieden, als nun über das äolische Volk zur Tagesordnung übergegangen wurde.

Nur Bartenstein war der Aeolier noch nicht überdrüssig. „Ich Naturkind,“ sagte er, „habe den Sinn Ihrer gelehrten Auseinandersetzung ergründet. Unter den Thessaliern ist ein thatkräftiger Mann zu verstehen, unter dem äolischen Volk eine feine Frau, die ihm gehorchen muß, und der er dafür gestattet, seine rauhen Gewohnheiten zu glätten.“

„Ihre Erklärung würde passen,“ antwortete Ereme, „wenn man sich das Verhältniß zwischen Mann und Weib wie zwischen Tyrann und Sclavin denken wollte. Das vermag freilich nur Derjenige, der keine Ahnung von Frauenwürde hat.“

Bartenstein wurde ernst. „Bitte, gnädiges Fräulein. Frauenwürde weiß ich zu ehren: ich habe eine Mutter. Und ein Tyrann bin ich auch nicht. Aber ich verstehe zu herrschen. Auch mich selbst beherrsche ich, was manche hochgebildete, zartbesaitete Seele nicht kann,“ fuhr er wieder lächelnd fort. „Das haben wir im Cadettencorps geübt, während Sie in griechischer Sprache auswendig lernten, wie der Kriegsgott von einer Dame besiegt wurde.“

„Dicht an der Grenze der Selbstbeherrschung beginnt die Verstellung,“ entgegnete Ereme. „Und ehe ich mich vor mir selbst so weit erniedrigte, daß ich diese Grenze überschritte, will ich es ertragen, daß Sie mich um meines ehrlichen Zornes willen gering schätzen.“

„Ich schätze Sie im Gegentheil sehr hoch,“ antwortete Bartenstein rasch, „nur nicht so hoch , daß Sie unerreichbar für mich würden. Gleiches Niveau, das ist das beste Feld für einen heißen Kampf, wie wir ihn führen, – und der schließlich doch mit einem schönen Frieden enden wird.“

„Sie sind sehr zuversichtlich,“ antwortete sie ernst. „Ich aber bin eine Kassandranatur. Ich sehe den Tag kommen, an dem wir an einander vorübergehen werden, als hätten wir uns nie gekannt.“

Er sah sie betroffen an. „Das klang ja ganz tragisch. Sie zürnen mir, weil ich Ihnen eine kleine Belehrung gegeben habe? Sie lassen es an solchen mir gegenüber auch nicht fehlen, und ich nehme sie immer ganz gern hin. Aber Sie dürfen mich nicht ernstlich beleidigen. Sonst könnte allerdings Ihr Wort wahr werden und Alles aus sein.“ Er sah ihr mit eindringlichem Blicke in die Augen.

Eine dunkle Gluth stieg in ihre Wangen.

Er nahm ihre äußerste Entrüstung als Eingeständniß ihres Unrechts und winkte nun versöhnlich mit den schöngebogenen Augenwimpern, indem er beruhigend sagte: „Nun Waffenstillstand! Es bleibt ja vorderhand beim Alten. Sie erziehen mich und gestatten mir, daß auch ich Ihnen diesen Dienst hin und wieder erweise. Und was die Zukunft betrifft, so bin ich überzeugt, daß nicht die düsteren Prophezeiungen der Kassandra, sondern der frohe Glaube des Ulanen Recht behält.“

Der Hausherr erhob sich mit dem ersten Glase Champagner in der Hand und toastete auf das gute Einvernehmen zwischen Wehrstand und Lehrstand.

Melanie, die das junge Paar nicht aus den Augen ließ, schüttelte leise den Kopf dazu.

Ereme hielt ihr Glas lässig in der Hand, aber Bartenstein stieß muthig an.

Von den Tischen der Jugend tönte lautes Jubeln. „Prosit, Erlaucht, ich komme Ihnen eins,“ rief ein junges Mädchen.

„Meine Gnädigste, ich lege mich zu Füßen,“ lautete die Antwort.

Elsa rief: „Hurrah!“ und hob ihr Spitzglas hoch empor.

Ihre Mutter warf der Hausfrau einen flehenden Blick zu, worauf diese die Tafel aufhob.

Als die Gesellschaft aus dem Speisesaale zurückgekehrt war, zog Ereme ihre Fingerspitzen von Bartenstein’s Arm hinweg und erwiderte seine tiefe Verbeugung mit einer flüchtigen Bewegung des Hauptes, die eher einer stummen Verneinung als einem Gruße glich.

Da hörte sie eine warme Stimme an ihrem Ohr: „Ihnen gönne ich ihn; denn Sie sehen reizend zusammen aus. Wissen Sie, wie er mit dem Vornamen heißt? Witold.“ Es war Elsa, die ihr durch den Schaumwein geöffnetes Herzchen vor Ereme ausschüttete.

Ereme sah sie verwundert und unwillig an; aber Elsa’s Großmuth wurde gelohnt; denn als Bartenstein sie so zärtlich an Ereme geschmiegt sah, engagirte er sie.

Im raschesten Tempo flog er mit ihr durch den Saal. Unwillkürlich folgte ihm Ereme mit dem Blicke nach. Wie schön sah er aus! Wie energisch markirte der schmale Fuß den Beginn jedes neuen Walzertactes! Da fiel ihr plötzlich die Fußspur im Garten ein.

Sollte es möglich sein?

O, ihm war auch diese Keckheit zuzutrauen. Er fürchtete selbst eine Entdeckung nicht.

Sie mußte an den schönen Athener denken, der durch einen wilden Tanz sein Glück, die Hand einer Königstochter, die ein Reich zu vergeben hatte, verscherzte und sich darüber mit dem leichtfertigen Worte tröstete, das in Hellas zu einem geflügelten wurde: Was macht sich Hippokleides daraus? Was macht sich Witold daraus? übersetzte sie.

Im nächsten Augenblicke überwallte sie heiß der Zorn, daß sie den Namen gemerkt hatte. Sollte derselbe sie nun auch verfolgen, wie Alles, was mit diesem selbstbewußten Mann zusammenhing, ihrem Gedächtniß eingebrannt schien?

Elsa tanzte glückselig in Witold’s Arm vorüber. Ein Gefühl von Widerwillen stieg in Ereme gegen das junge Mädchen auf. Sie suchte die Ursache desselben darin, daß Elsa ihr den Namen aufgedrängt hatte. Mit düsterem Ausdrucke sah sie dem Paare nach.

Da zuckte sein Blick plötzlich zu ihr herüber, und er lächelte zufriedengestellt, als er ihren Augen begegnete.

In tiefster Empörung über ihn und über sich selbst wandte Ereme sich ab.

Warum hatte sie ihm nachgesehen? Das mußte ja den eitlen Mann immer wieder von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugen.

Die Perlmutterstäbe ihres Fächers rauschten klappend zusammen.

Sie suchte ihre Tante auf und empfahl sich mit dieser der Hausfrau.

Mit vom Champagner gerötheten Wangen kam Gerhard zu Melanie, die dem Tanze zusah.

„Wie der wiegende Rhythmus die Paare beherrscht!“ sagte er, in den Saal hineinschauend. „Selbst ein so ungebundener Naturmensch wie dieser Herr von Bartenstein fügt sich, wenn auch unbewußt, diesem ästhetischen Gesetz.“

Der Oberst, der neben Melanie stand, blinzelte ihn schlau an. „Wollen Sie nicht auch einmal dasselbe mit Bewußtsein über Ihren Gliedmaßen walten lassen?“

Gerhard knöpfte die Händschuhe zu und eilte in den Saal.

Da er Thusnelda, die Tochter des Professors der Geschichte engagirte, leuchteten die Augen ihrer Mutter auf, als steige ein Hoffnungsstern empor. Sorgfältig breitete sie die blonden gekreppten Haare der Tochter auf dem blauen Grenadinekleid aus, bevor diese dem Doctor folgte.

Sobald er seine ersten Pas machte, entfaltete Melanie ihren Husarenfächer und war nicht zu bewegen, über denselben hinweg einen Blick nach ihrem jungen Freund zu werfen.

Der Oberst lachte und murmelte: „Ein sehr verdienstvoller junger Gelehrter, dieser Herr Doctor Gerhard. Aber keine Spur von wiegendem Rhythmus. Er zieht vor, staccato zu tanzen.“

„Nichts ist so schwer in der Jugend, als über sich selbst in’s Klare zu kommen,“ entschuldigte Melanie.

Der Oberst nickte ihr schelmisch zu. „Ich glaube, er tappt noch nach mancher andern Seite hin im Finstern. Aber es werden ihm schon die Augen aufgehen.“

Gerhard kam nach seiner Extratour mit strahlendem Gesicht zu Melanie zurück und setzte sich neben sie.

„Fräulein Thusnelda ist eine sehr hübsche junge Dame,“ bemerkte sie.

„Wer?“ fragte er.

„Sie haben ja eben mit ihr getanzt.“

Gerhard lachte. „Das weiß ich gar nicht. Wer kann diese jungen Mädchen von einander unterscheiden, die sämmtlich geistig nichts sind!“

Melanie drohte ihm mit dem Fächer. „Sagten Sie nicht, daß ein Mann der Reflexion Geist bei den Frauen nicht suche?“

Er erwiderte ihr Lächeln mit einem zärtlichen Blick. „Ja; aber ich sehe ein, daß alle diese Sätze unendlichen Modificationen unterworfen sind.“ Er rückte näher und flüsterte ihr zutraulich zu: [687] „Ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich doch keine Frau brauchen kann, die mir geistig nicht ebenbürtig ist. Bei der ätzenden Kritik, die ich der Beschaffenheit meines Geistes nach üben muß, bedarf ich durchaus einer Frau, welche dieselbe durch Klugheit, Milde und Schonung mit dem Bestehenden zu versöhnen strebt.“

„Ich glaube eher,“ erwiderte Melanie, „daß diese Versöhnung in Ihnen selbst durch einen Läuterungsproceß sich vollziehen wird und Sie, wie jeder edel beanlagte Mensch, zu der Milde gelangen werden, welche die höchste Auffassung des Lebens, die klarste Beurtheilung der Menschenseele mit sich bringen. Denn Sie sind mit Ihren jungen Jahren noch lange nicht am Ende Ihres geistigen Wachsthums.“

Bartenstein kam aus dem Saal zurück. „Wo ist Fräulein Clusius?“ fragte er Melanie.

Die vorübergehende Hausfrau antwortete lächelnd: „Die Damen Clusius haben uns leider schon verlassen. Sie sind eben nach Haus gefahren.“

Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Reizen Sie Ereme nicht unaufhörlich,“ sprach Melanie. „Ich warne Sie. Ein Mädchen wie sie ist doch nicht ein Feind, den man nicht zur Rnhe kommen lassen darf.“

„Ach, gönnen Sie uns doch unseren lustigen Krieg,“ entgegnete er, wieder lachend. Und ohne von der übrigen Gesellschaft, die sich eben zum Cotillon arrangirte, Notiz zu nehmen, begab er sich in das Rauchzimmer, wo die älteren Herren bei Cigarren und baierischem Bier abwarteten, bis der letzte Ton verklungen war.

Dann erlosch das Gaslicht, die Blumen des Ballschmuckes zerflatterten, die leichten Roben wanderten zerdrückt und von den Tanzsporen arg verwüstet in die Ecken der Garderoben, und die jungen Köpfe mit den blonden und braunen Bärtchen verschliefen die Erinnerung an alle die süßen Lügen, deren sie sich schuldig gemacht hatten.




Nur ein Eindruck blieb in den Theilnehmern des Festes haften: die Beziehung, in welche die hochmüthigste Professorentochter und der schneidigste Officier zu einander getreten waren. Und das Interesse, welches hervorragende Liebespaare immer erregen, heftete sich an die beiden ausgezeichneten Menschen.

Miß Smith saß ganz verblüfft mit ihren Gastfreunden auf dem Balcon, welcher, der neuesten Mode entsprechend, mit grün blühenden Petunien und rothen Blattgewächsen besetzt war. Ihre blaßblauen Augen starrten Ereme an, welche unten durch die Akazienallee wandelte, als könne sie ihr absehen, wie sie es angefangen habe, Bartenstein zu erobern.

Ihre Freundin flüsterte etwas von „flirtation“, und der Hauch des Windes mußte das Wort Ereme zugeweht haben; denn sie sah geringschätzig an ihrer feinen Nase herab, als sie langsam vorüber schritt.

Der Banquier tröstete die Damen: „Etwas Anderes als flirtation ist es auch nicht. Denn dieses Fräulein Clusius ist keine Partie. Sie besitzt meiner Schätzung nach ungefähr ein Capitalvermögen von dreißig- bis vierzigtausend Thalern. Wir wissen aber, daß bei der Cavallerie erst hunderttausend Thaler für anständig gelten. Und wenn er auch ein Gut hat, so verwöhnen unsere jungen Herren sich jetzt viel zu sehr, als daß sie nicht eine Frau mit großem Zuschuß sehr gut brauchen könnten.“

In dem nächsten Professorium, einer intimen Geselligkeit der Universitätslehrer und ihrer Familien, hielt der Professor, welcher deutsche Literaturgeschichte las und als Goethe-Kenner bedeutenden Ruf genoß, einen Vortrag über die „Iphigenie“ seines Lieblingsdichters. Als er die Werbung des Thoas berührte, sprach er:

„Iphigenie mußte vor ihm zurückschaudern; denn in ihr krystallisirte der hellenische Geist, und er war der Barbar. Allerdings aber,“ fügte er mit einem Lächeln um die feinen bartlosen Lippen hinzu, „gehörten er und seine Taurier einer Bevölkerung an, der noch eine große Zukunft bevorstand. Es war die cimmerische, von welcher die Cimbern, die Urväter des deutscheu Volkes, abstammen. Wer weiß, ob ein Goethe unserer Tage die Iphigenie nicht eine andere Entscheidung hätte treffen lassen,“ schloß er mit einem Blick nach der Seite, wo Ereme saß.

Aller Augen hefteten sich auf sie und bemerkten, wie sie die Farbe wechselte, so unbewegt auch ihre Miene blieb.

In den Damencafés wurde von nichts gesprochen als von der auffallenden Art, in welcher Bartenstein Ereme auszeichnete.

„Sagen wir lieber: er compromittirt sie,“ verbesserte die Mutter von Betty und Hedi, während sie geärgert ihren Mandelkuchen in den Kaffee tauchte.

„Alle seine Pferde führt er ihr täglich vor,“ erzählte die Hausfrau, die als Nachbarin Ereme’s genau unterrichtet war; „und er weicht nicht eher vom Universitätsplatz, bis sie sich am Fenster zeigt, was oft recht lange dauert.“ Dazu präsentirte sie die Windbeutel mit Schlagsahne.

„Sie versteht es die Männer zu behandeln,“ sagte empört die Mama von Bella und Stella, ihren Kirschkuchen verspeisend.

„Es war auch zu viel, daß er der Frau Doctor zu ihrem Geburtstag ein Ständchen bringen ließ: einen Choral, ein Lied, einen Tanz,“ rügte die junge Wittwe im dritten Trauerjahr und nippte einmal auf die Alteration an der Resedabowle.

„Sein Bursche hat zwei radgroße Bouquets hingetragen: Heliotrop und Pelargonien für die Frau Doctor, für Ereme die kostbarsten Rosen,“ klagten die jungen Mädchen und beluden ihre Krystalltellerchen mit Eistorte.

Dann verschob man die Heimkehr noch eine Stunde, um eine der Fensterparaden zu belauern, ging endlich mit verdorbenem Magen und verdorbener Laune nach Haus und machte seiner Bosheit wenigstens dadurch Luft, daß man die Köpfe von Ereme, die an ihrem Fenster saß, abwendete, als habe sie das Recht auf einen Gruß verwirkt.

Auch die alten Freunde der Clusius’schen Familie fühlten sich verstimmt.

Als der Professor der Geschichte mit Frau und Tochter von einem Gegenbesuch, den sie bei Ereme gemacht hatten, heimkehrte, bemerkte die Frau Professorin: „War das ein Gewühl von Officieren, die Visite machten und in der Bibliothek umhergingen, als seien sie da einquartiert. Ich konnte auch gegen Ereme die Bemerkung nicht unterdrücken, was wohl ihr seliger Vater dazu sagen würde, wenn er sein Haus von diesem militärischen Hauch überzogen sähe.“

„Was antwortete sie darauf?“ fragte Thusnelda, indem sie sich noch einmal im Spiegel darauf ansah, welchen Eindruck sie bei dem Zusammentreffen mit den jungen Officieren gemacht haben könnte, und nachträglich eine verbogene Feder auf ihrem Hut ordnete.

Die Mutter erzählte verdrießlich: „Sie erwiderte mir ganz großartig: ‚Es ist altes Herkommen in unserer Familie, jedem Fremden unsere Sammlungen zugänglich zu machen!‘ Aber sie fühlte sich doch getroffen, das sah ich ihr an.“

„Sie hat doch unerhörtes Glück,“ meinte Thusnelda neidisch, „gerade Einer von den Ulanen, der famosesten Truppe.“

„Ach, es sind ganz junge Regimenter,“ knurrte ihr Vater. „Erst 1808 wurden sie aus den polnischen Towarczys formirt, und diese waren wieder aus den Bosniaken Friedrich’s des Großen gebildet worden. Der Name kommt zuerst in der ehemaligen polnischen Armee vor und soll von einem tatarischen Anführer Ullan stammen. Daher wird ja wohl auch der Spectakel rühren, den sie den ganzen Tag machen. Pferdetrappeln, Commandiren, Schießen, Blasen, Klirren, Rasseln, Stöpselknallen!“ Er stieg kopfschüttelnd in seine Studirstube hinauf; denn er arbeitete emsig an einer Geschichte der Befreiungskriege.

Und er fuhr fort, die Schlacht bei Leipzig zu beschreiben. Er ließ die Armeen aufmarschiren, die Kanonen donnern, die Cavallerie rasseln, die Infanterie stürmen. Und seine Familie ging auf den Fußspitzen; denn das kleinste Geräusch störte Papa.

Unterdessen verließen auch die jungen Officiere in langer Reihe das Clusius-Haus, als logire dort ein hochstehender Vorgesetzter. Aber sie sprachen nicht von Thusnelda’s Hut, sondern waren ganz „baff“ über die Gelehrtheit der hochinteressanten Dame, hofften, daß Bartenstein ihr die übertrieben großartigen Mucken austreiben werde, und beschlossen, das Werk: Clusius über Hellas zu kaufen, da dieser berühmte Name doch demnächst in Beziehung zu dem Regiment kommen werde.

Auch der Oberst hatte um Erlaubniß zur Besichtigung der Sammlungen gebeten und war mit Frau und Tochter bei Ereme gewesen. Als sich die Hausthür wieder hinter ihnen schloß, bot er seiner Gemahlin den Arm und sagte mit vergnügtem Angenblinzeln: „Die Kleine hat mir sehr gefallen, und ihr Chierwein war vorzüglich.“

Elsa’s Eifersucht auf Ereme war nach Backfischart in Schwärmerei für sie umgeschlagen. „Und sie hat mir auch das Recept zu dem [688] süßen trichterförmigen Gebäck versprochen,“ rühmte sie sich. „Es stammt aus Griechenland, ist Blätterteig mit Hymettoshonig bestrichen; sie bereitet es stets selbst, ebenso wie die Lukumia, die Confiture aus Rosenwasser und Zucker.“

Ihre Mutter schien nachdenklich. „Es war sehr anziehend, zu sehen, wie sie mit Würde die Hausfrau spielte, den Wein in die griechischen Schalen schenkte und dann wieder wie eine Gelehrte die verschiedenen Athenebilder erklärte. Es hat mich Alles interessirt; ich schaute in eine reiche Welt, die mir bis dahin verschlossen war.“

Der Oberst strich sich vergnügt seinen langen Schnauzbart. „Ein Hauptspaß wird’s, wenn wir den allergrößten hochmüthigsten Blaustrumpf in’s Regiment bekommen. Sie wird eine vornehme Frau, die sich auch für die höheren Grade eignet.“

„Triumphire nicht zu früh,“ warnte seine Gattin. „Ob es ihr möglich sein wird, in die Interessensphäre eines Officiers sich hinein zu denken, erscheint mir fraglich. Sie ist zu durchdrungen von der Wichtigkeit der classischen Bildung, um ganz in einem Mann aufzugehen, der durch und durch deutscher Soldat ist. Du hörtest, daß sie ihr Museum noch ausbauen will. So bereitet man sich nicht zur Frau eines Officiers vor. Uebrigens war es von Dir, Elsa, unpassend, daß Du sie fragtest, ob sie ihre Bibliothek mitnehmen wolle, wenn sie einen Herrn heirathete, der öfters versetzt werde.“

Elsa zog schmollend ihren Mund zusammen.

Der Oberst antwortete: „Na, thu’ mir den einzigen Gefallen. Mit dem Museum, das war Spiegelfechterei. Lehre mich die Frauen nicht kennen. Einem Bartenstein widersteht keine. Du kannst Dich darauf verlassen, der weiß sie zu cajoliren und zahm zu machen. Auf unserem Fest, das wir am Tag von Vionville ihm zu Ehren geben, weil er damals bei den altmärkischen Ulanen stand, wird er wohl die letzte Attake machen, und sie wird sich ergeben.“

„Wir werden sehen,“ sagte die Oberstin sanft. Sie widersprach nicht mehr. Das hatte sie sich in der Ehe abgewöhnt. Und sie wußte, daß bei den Männern ein blinder Glaube an ihre Unwiderstehlichkeit vorhanden ist, den nie eine Warnung, sondern nur eine Erfahrung erschüttern kann.

(Fortsetzung folgt.)

Verheißung.[1]
Mit Illustration.

Es leuchtet sonnig der Frühlingstag,
Die Blüthen duften im grünen Hag,
Da wandelt still durch des Gartens Au
Mit ihrem Knaben die bleiche Frau.
„Ach, Mutter, wie ist’s so schön ringsum
Und Du bist traurig, blaß und stumm!“ –
„Wohl fächelt die Stirn mir der Frühlingswind,
Im Herzen ist’s Winter, mein armes Kind.
Es klang das Horn, das zum Streite rief,
Dein Vater hört’s nicht, er schläft so tief;
Sein Harnisch rostet, umflort ist sein Schwert,
Und Feinde bedräuen ihm Land und Herd.
Aus blühenden Gärten, aus fürstlichem Haus
Verjagt man die Seinen – in’s Elend hinaus!“

Sie leitet weiter das schweigende Kind,
Umschlingt das Gewand ihm mit Blättergewind’
Und reicht ihm die Rose mit schmerzlichem Kuß:
„Deiner Heimath letzter Blüthengruß!“

Nun stehen sie still an der Mauer Rand
Und blicken hinaus in’s sonnige Land;
Da schallt gedämpfter Rossestrab:
Ein Reiter sprengt den Hohlweg herab,
Auf braunem Hengste ein frischer Gesell,
Das Wamms von Sammet, die Waffen hell.
Die Frau an des Knaben Seite erschrickt,
Sobald sie des Ritters Antlitz erblickt:
Dem einstens das liebende Herz sie verletzt,
Der lang’ sie gemieden, er naht ihr jetzt.

Er hält an der Mauer sein edles Thier:
„Gertrudis, heut’ komm’ ich wieder zu Dir.
Wie ist Dein Antlitz so bleich wie Schnee,
Mir blutet das Herz, da ich Dich seh’;
Du stehst mit Deinem Kinde allein –
Darf ich Dein Hort und Schützer sein?“ –

Es schweigt die Frau, doch der Knabe spricht:
„Du fremder Mann, so gut und licht,
Ja, schütze mich und mein Mütterlein,
Dann sollst Du so lieb wie der Vater uns sein!“

Die Herrin sieht bebend zum grünen Grund,
Sie schließt mit der Linken des Knaben Mund,
Der aber reichet mit kindlichem Sinn
Dem Ritter das rothe Röslein hin. –
Er nimmt es mit Hast aus der kleinen Hand:
„Das sei mir des Sieges Unterpfand!
Die Blüthe werde des Helmes Zier,
Die rothe Rose sei mein Panier!
Und kehre ich wieder aus glücklichem Streit,
Dann lege ab Dein Wittwenkleid,
Dann komm’ ich, die weiße Rose zu frein;
Gertrudis, darf ich? – Du sagst nicht nein? –
Hinaus denn zum Streite, sei Gott mit mir.
Den Vater, mein Knabe, erkämpf’ ich Dir!“ – –

Er steckt die Rose an seine Brust,
Das Pferd trabt weiter durch Gras und Blust.
Die Frau sieht ihm nach in träum’rischer Ruh,
Dann küßt sie den Knaben und – lächelt dazu.
 Anton Ohorn.

  1. Aus einer Gedichtsammlung, welche der unsern Lesern wohlbekannte Verfasser unter dem Titel: „Heimchen“, Gedichte von Anton Ohorn, soeben im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erscheinen läßt.

Die Deutschen in Oesterreich.

Ein Wort für den deutschen Schulverein.

Schon eine geraume Weile nehmen wir keine unserer Tageszeitungen in die Hand, ohne nicht wenigstens auf eine neue erregende Notiz zu stoßen über die rastlosen Anstrengungen einer ganzen Reihe kleinerer und größerer Völkerschaften, sich neue nationale Selbstständigkeiten zu gründen, und zwar die meisten auf Kosten einer alten Nation, die für Alle die Mutter und Pflegerin der gesammten Bildung war, deren sie sich erfreuen: der deutschen.

Die Leser der „Gartenlaube“ sind über diese Kämpfe gegen das Deutschthum in den österreichischen Ländern bereits unterrichtet. Schon vor zehn Jahren wiesen wir auf einen „verrathenen Bruderstamm“ hin in dem Artikel „Von unseren sächsischen Landsleuten im Osten“ (Jahrgang 1874, S. 274). Ihnen folgten 1880 (S. 403) die Artikel „Die Deutschen in Ungarn“ und 1881 (S. 375 und 402) „Die Sachsen in Siebenbürgen“. Ueber „Die Deutschen in Böhmen“ gaben wir den ersten Bericht im Jahrgang 1880, S. 834, und im laufenden Jahrgang (S. 460) zeigten wir in dem Artikel „Verlorenes deutsches Land“, welche außerordentlichen Verluste das Deutschthum gegen Südslaven und Italiener zu beklagen hat.

Der Kampf gegen das Deutschthum war in Ungarn und Böhmen längst entbrannt und wurde in beiden Ländern auf das Heftigste geführt, während in den südslavischen Gebieten nur

[689]

Verheißung.
Nach dem Oelgemälde von Carl Hoff.

[690] einzelne Hetzereien zum Vorschein kamen. Erst als Folge der sogenannten „Versöhnungspolitik“ des österreichischen Ministers Grafen Taaffe, der 1879 an die Spitze eines clerical-föderalistischen Cabinets trat, brach auf der ganzen Linie des Slaventhums von den Polen Galiziens, Ruthenen und Slovaken bis hinab zu den Slovenen, Kroaten etc. der Sturm gegen das Deutschthum los, und zwar für nicht wenige Deutsch-Oesterreicher geradezu überraschend. Was Graf Belcredi einst, als Oesterreich noch an der Spitze des deutschen Bundestages stand, dem Wiener Reichstag angedroht: „Man muß den Deutschen einmal zeigen, daß man Oesterreich auch ohne sie regieren kann“ war leider vergessen oder vielleicht auch belächelt worden, weil Niemand daran zu zweifeln vermochte, daß, nach der Umgestaltung des Kaiserstaates in Oesterreich-Ungarn, durch den „Ausgleich“ für den Zusammenhalt des westlichen Monarchietheils die deutsche Sprache und Nationalität das einzige mögliche Bindemittel sei. Daß dies je anders werden könne, war für keinen guten Deutsch-Oesterreicher denkbar. Daher aber auch um so niederschmetternder die Wirkung, als sie erkennen mußten, daß das Deutschthum hinsichtlich seiner geistigen Leitung des alten Kaiserstaats nun doch in Gefahr sei. Das deutsche Element war plötzlich der Hinneigung zum deutschen Reich verdächtig, und wer sich fortan den Ansprüchen des gehätschelten Slaven- und Magyarenthums zu widersetzen wagte, stand in Gefahr, als Reichsfeind behandelt zu werden.

Diese Haltung, wenn sie einschüchtern sollte, bewirkte das Gegentheil: der deutsche Geist erwachte im deutschen Volke Oesterreichs, und männliche Einsicht und Erfahrenheit fanden eine Waffe für ihren Kampf, wie sie besser nicht hätte erdacht werden können.

Da liegt in Südtirol, in der Bezirkshauptmannschaft Cles, 1400 Meter hoch über dem Meer, eine deutsche Colonie, deren etwa 700 Bewohner ein wackerer Mann, der Curat Mitterer, glücklich vor Verwälschung gerettet hatte, nur fehlte ihnen ein Schulhaus. Dies mußte gebaut werden, und das brachte ein anderer Mann, Pernerstorfer, zu Stande und kam dabei auf den Gedanken, zum Behufe weiterer Gründungen dieser Art zum Schutz des Deutschthums einen „Deutschen Schulverein“ in’s Leben zu rufen. Nun steht auf dem Nonsberg das neue Schulhaus als eine kleine, aber feste Burg deutschen Wesens da, der „Deutsche Schulverein“ aber als ein Bollwerk der deutschen Nationalität in den völkerreichen Donaulanden.

Die Hauptstärke des Vereins liegt in der weisen Beschränkung seiner Ziele, die doch die größte Sicherheit für das bieten, was erstrebt werden soll. Es erscheint fast harmlos, das emsige Gründen von Volksschulen und Kindergärten, und doch kann der Bau deutschen Wesens kein festeres Fundament finden, als die Herzen der Jugend. Es war aber eine fast ungeheuerliche Aufgabe, die Tausende von gefährdeten Punkten des deutschen Wesens in den weiten Kreisen Oesterreich-Ungarns zu erforschen und die Mittel zur Abhülfe herbeizuschaffen und ebenso gerecht als klug zu verwenden. Da führten die Gesetze selbst den Weg zur Theilung dieser Aufgabe herbei. Der Hülferuf der Deutsch-Oesterreicher hatte auch im deutschen Reiche offene Ohren und Herzen gefunden, es bildeten sich Zweigvereine, unter anderen auch einer in Berlin, der mit dem österreichischen Schulvereinsvorstand in Wien in Verbindung zu treten begehrte. Dem widersprach jedoch das Vereinsgesetz, und so war man in Berlin darauf angewiesen, den „Allgemeinen Deutschen Schulverein in Deutschland“ zu gründen. Während nun der Wiener Vorstand die Sorge für die österreichischen Kronländer diesseit der Leitha auf sich nahm, fiel dem Berliner der polnische und ungarische Reichstheil zu, zugleich mit der Verpflichtung, die für die diesseitige Reichshälfte bestimmten Unterstützungen nur durch den Wiener Vorstand ausführen zu lassen, um Unrecht Und Irrung zu vermeiden.

Wenden wir uns nun zu den Wiener „Mittheilungen des Deutschen Schulvereins“, welche jährlich vier Mal, in den Monaten März, Juni, September und December erscheinen. Ueber die geschäftliche Ordnung des Vereins erfahren wir da im Bericht über die Hauptversammlung desselben am 18. Mai 1882 Folgendes: Die Verwaltung des Vereins wurde durch den engern Ausschuß besorgt, welcher in 54 Sitzungen 1516 Geschäftsstücke, darunter 1266 auf Schulangelegenheiten bezügliche, behandelte; außer diesen waren noch 3455 die Verwaltung betreffende Stücke eingereicht. Aus der Kanzlei des Vereins, welcher Dr. Karl Eckel und der erste Zahlmeister Julius Eckel vorstand, waren an 10,000 Schrift- und Druckstücke abgesandt. Als Referenten in Schulangelegenheiten fungirten der Obmann Dr. Weitlof für einige bestimmte Schulen Böhmens, Mährens und von Gottschee, der Obmann-Stellvertreter Dr. von Kraus (zugleich Redacteur der „Mittheilungen“) für Böhmen, Dr. Steinwender für Tirol, Kärnthen, Krain, Dr. Eger für Mähren, der Schriftführer Dr. Wolffhardt für Steiermark und der zweite Zahlmeister Dr. Maresch für Schlesien, Galizien und Triest.

Gern möchte ich den Lesern einen solchen Referentengang schildern, bei welchem die obengenannten Vorstandsherren neugegründete Vereinsschulen und Kindergärten besuchen oder Neugründungen vorbereiten. Welchen Scenen begegnen wir da in ihren Berichten! Unsere Leser verschaffen sich gewiß diesen Genuß durch Ankauf der „Mittheilungen etc.“, die, 4 Nummern für 1 Gulden für Nichtmitglieder und 50 Kreuzer für Mitglieder des Vereins, von der Vereinskanzlei (Wien I. Kolowratring 8) zu beziehen sind.

„Die ordentliche Hauptversammlung des Deutschen Schulvereins“, welche am 2. Juni dieses Jahres zu Graz stattfand, gestaltete sich zu einem großen deutschen Nationalfest, einem Ehrentag aller Deutschen Oesterreichs. Wie das alte Jena bei seinen glänzendsten Burschenschaftsfesten, prangte die schöne Hauptstadt Steiermarks im Schmuck schwarz-roth-goldener Fahnen. Das „Banner des deutschen Geistes“ und „das deutsche Lied“ waren die äußeren Zeugen des Tags und seiner Bestimmung. Die ausführliche Schilderung dieses Festes und namentlich die gediegenen und inhaltreichen Reden aus Männer- und Frauenmund bitten wir ebenfalls in den „Mittheilungen“ (Nr. 11) nachzulesen. Sie geben ein getreues Bild von dem Geist, welcher jetzt das deutsche Volk Oesterreichs erhebt. Vertreten waren in Graz 495 Ortsgruppen durch 1701 Anwesende. Zur Hauptversammlung waren noch 1194 Theilnehmer aus Graz und 640 auswärtige durch Legitimationskarten zugelassen.

Von Bedeutung für den Verein ist die Gründung von Frauen-Ortsgruppen, welche bereits weit über tausend Mitglieder zum gemeinsamen Wirken vereinen; ja durch die von Frau Nina Kienzl geleitete Grazer Frauen-Ortsgruppe wurde die erste offene und entschiedene Betheiligung deutscher Adelsgeschlechter an den Bestrebungen des Vereins veranlaßt. Sogar die Wittwe des Erzherzogs Johann, die achtzigjährige Gräfin von Meran, ließ die Versammlung beglückwünschen und hinzufügen: Sie wisse aus Erfahrung, wie nothwendig in Untersteiermark den Bewohnern die Kenntniß der deutschen Sprache sei, und sie sei überzeugt, daß auch ihr Gemahl, wenn er noch unter den Lebenden weilte, dem Schulverein seine volle Sympathie zuwenden würde! Es machte auch einen begeisternden Eindruck, als eine der ersten Obmänninnen einer Ortsgruppe, Frau Therese Ziegler aus Haselbach, beim Festcommers ihren Dank für ein Hoch auf die Frauen mit den Worten schloß:

„Unsere Kinder sollen es einst bezeugen, daß wir unsere Aufgabe ernst genommen und daß man uns den Namen nicht unverdient gegeben hat, der für uns Frauen der schönste und der größte Stolz ist, den Namen einer deutschen Frau!“

Der Bestand der Ortsgruppen des Vereins hat sich auf 831 vermehrt, wovon 475 allein auf Böhmen und Mähren kommen; die Gesammtzahl der Mitglieder beträgt 85,848, das Gesammtergebniß für Rechnung des Jahres 1883 bis zum 15. Mai d. J. 222,946 fl. 97 kr.

Der Schulverein besitzt 35 eigene Vereinsschulen mit 61 Classen und 32 Vereinskindergärten mit 41 Abtheilungen.

Die Zahl der vom Verein subventionirten Schulen beträgt 34 und die der subventionirten Kindergärten 20. An 40 Orten hat der Verein sich zu Schulbausubventionen verpflichtet; Schuleinrichtungsgegenstände wurden an 7 Schulen und verschiedene Lehr- und Lernmittel an 46 Schulen vergeben und 30 Orte in Böhmen, Mähren, Schlesien, Steiermark und Kärnthen je nach Bedürfniß mit Bibliotheken versorgt.

Selbstverständlich muß der Verein die von ihm angestellten Lehrer, weil sie meistens auf bedrohten Posten stehen, gut honoriren, er darf nicht mit Zulagen, Ehrengaben und Remunerationen kargen und ist auch auf anständige Pensionirung derselben bedacht.

So ist der Deutsche Schulverein aufgebaut und so wirkt er. Wie schon die Zahlenreihen im Obigen andeuteten, ist der schwerste Kampf in Böhmen und Mähren zu bestehen. Ehe wir aber diesen näher betrachten, wollen wir einen Blick auf den [691] „Allgemeinen Deutschen Schulverein für Deutschland“ werfen, dessen Hauptsitz Berlin ist. Am 15. August 1881 traten die Männer zusammen, welchen man die Gründung dieses zweiten großen Schulvereins verdankt. Es war ein schweres Werk, begann sehr bescheiden, erfreute sich aber einer so gesunden Organisation, daß sein Gedeihen nicht ausbleiben konnte. Früher begründet war ein Schulverein zu Frankfurt am Main, der sich, um selbstständig zu bleiben, dem Berliner Verein nicht anschloß.

Mit 1365 Mitgliedern wurde der Anfang gemacht, während der Wiener Schulverein schon zu 60,000 aufgestiegen war.

Die Statuten des Vereins, kurz und bündig, 16 Paragraphen in 8 Abtheilungen umfassend, stellen in § 1 als Zweck desselben auf: „Die Deutschen außerhalb des Reichs dem Deutschthum zu erhalten und sie nach Kräften in ihren Bestrebungen, Deutsche zu bleiben oder wieder zu werden, zu unterstützen. Allen Parteibestrebungen bleibt der Verein fern.“

Wie in Oesterreich „Die Mittheilungen etc.“ ist in Deutschland das „Correspondenzblatt“ des Vereins das Organ desselben. Beide Veröffentlichungen, die bei ihrer Billigkeit der größten Verbreitung fähig sind, sollte man in jedem deutschen Hause finden – der Aufwand weniger Pfennige[1] für diese Schriften würde hinreichen, um in kürzester Zeit Millionen Deutscher über einen nationalen Kampf zu belehren und für ihn zu erwärmen, von welchem die ungeheure Mehrzahl derselben bis jetzt kaum mehr Notiz genommen, als bei der alltäglichen Befriedigung des Zeitungslesebedürfnisses für sie abgefallen. Welche Energie hatten die Ehrenmänner des Vorstandes und die Mitarbeiter desselben aufzuwenden, um nur den bescheidenen Erfolg zu erreichen, dessen wir uns trotzalledem aus Dankbarkeit freuen! Nennen wir aber vor Allem die Namen des Vorstandes. Sie sind: Dr. Falkenstein, Vorsitzender, Prof. Dr. R. Böckh, stellvertretender Vorsitzender, Dr. Vormeng, Schriftführer, G. Kolb, Stellvertreter, Dr. Bernard, Schatzmeister, Leo, Banquier, Stellvertreter, Prof. Dr. Aegidi, Geh. Legationsrath, Prof. Dr. Bertram, Stadtschulrath, Prof. Dr. Bleibtreu, Prof. Dr. Brunner, Dr. Hepke, Legationsrath, Dr. Jannasch, Dr. Fr. Kapp, Reichstags-Abgeordneter, Prof. Pfleiderer, Buchh. Reimarus, Prof. Dr. Wattenbach und Prof. Dr. Zupitza.

Was unter der Oberleitung dieser Männer bis Ende des vorigen Jahres für den Verein errungen worden ist, stellt im „Correspondenzblatt“ Nr. 1 dieses Jahres eine tabellarische „Uebersicht des Verbandes des ‚Allgemeinen Deutschen Schulvereins‘ zur Erhaltung deutscher Sprache und Sitte im Auslande“ auf. Diese „Uebersicht“ zeigt uns in den Provinzialverbänden Brandenburg, Schleswig-Holstein und Nassau, ferner in den Landesverbänden Baden und Sachsen[2], sowie in einer Reihe einzelner deutscher Städte 79 Ortsgruppen mit 9228 Mitgliedern. Dazu kommen „Verwandte Vereine“ in Frankfurt am Main und Bayern mit 426 Mitgliedern, endlich 17 Vereine, welche dem Allgemeinen deutschen Schulverein in corpore beigetreten sind, mit 1049 Mitgliedern. Da wir hierzu aber noch die unbekannte Zahl der Mitglieder der dem Verein beigetretenen 8 Studentenverbindungen in Tübingen und schweizerischer Ortsgruppen mit dem Vorort Zürich rechnen müssen, so wird die hier verzeichnete Anzahl von 10,603 Mitgliedern sich um ein Bedeutendes um so mehr erhöhen, als seit dem Delegirtentag am 19. April der Verein einen erfreulichen Aufschwung zu nehmen scheint. Wir müssen darüber und über die bisherigen Leistungen des Vereins unsere Leser auf die Correspondenzblätter dieses Jahres verweisen, deren jüngstes (Nr. 3) zu diesem Artikel noch nicht benutzt werden konnte.

Trotz aller bisherigen Mühen und Erfolge, stehen weder die Vertheidigungsmittel des österreichischen, noch die des deutschen Schulvereins im richtigen Verhältniß zu den täglich wachsenden Machtmitteln der von der herrschenden Ministerialpolitik gedeckten Feinde des Deutschthums. Auch die geplante Theilung der Arbeit der beiden Vereine ist nicht durchzuführen. In den Czechen ist uns ein Feind erstanden, welcher dem Deutschen Reiche selbst als gefährlicher Nachbar dasteht, und welch ein Feind ist der Czech!

Professor Dr. Knoll hat ihn uns vorgemalt, als er jüngst (am 22. September) im Landtage zu Prag, auf nationale Theilung Böhmens dringend, ein Sündenregister aufrollte, wie es häßlicher und beschämender schwerlich gefunden wird. Wir wollen mit der Wiederholung desselben dieses Blatt nicht beflecken, aber beistimmen wird man uns, daß aus jenem Bilde in jedem Zuge nichts Anderes hervorblickt als die unbeschreibliche Rohheit einer verwahrlosten Masse, die sich freut, ihre ehemaligen Lehrer ungestraft mit Koth und Steinen werfen zu können. Und in dieser Weise tritt der Czeche auch auf der Rednerbühne und in der Presse vor uns hin. Sollen wir sie etwa abdrucken, die Rede des Herrn „Dr. Eduard Gregr“ (der Deutsche Gröger hat es in richtiger Erkenntniß seiner Heldenthaten vorgezogen, seinen deutschen Namen in’s Czechische zu übertragen), die derselbe am 8. August auf dem Berge Lipau gegen die Deutschen vor 8000 Seinesgleichen gehalten? Es ist uns schon unmöglich, den Eingang dieser Rede des Herrn ‚Doctor‘, in welcher die Gemeinheit sich in der Gosse wälzt, wiederzugeben. Es wird ja wohl genügen, zu sagen, daß er die deutschen Vereinsschulen, in welchen nicht selten auch czechische Kinder sich eine bessere Bildung holen, dem Staat „als Brutnester von Vagabunden, Petroleuren und Anarchisten“ denuncirt und darauf dringt, sie durch ein besonderes Gesetz, welches czechischen Kindern den Besuch deutscher Schulen geradezu verbietet (die „Lex Kvičala“, nach dem Erfinder, einem k. k. Universitätsprofessor so genannt), für immer unschädlich zu machen.

Und einem solchen Volke sollen die Deutschen, welche mit dem vollsten Rechte Böhmen ihr Heimathland nennen, sich unterwerfen, sie sollen die deutsche Sprache, die deutsche Cultur, die deutsche Nationalität aufgeben, um im Czechenthum unterzugehen?! Und das ist es ja gerade, was den Deutschen in Oesterreich jetzt überall zugemuthet und angedroht wird. Sie sollen der Verbindung mit einer Nation entrissen werden, deren Sprache von weit über 60 Millionen in allen Erdtheilen gesprochen wird, um Zwangsgenosse von Völkerschaften zu werden, deren Sprache nicht über ihre Landesgrenze hinaus Geltung hat! Sie sollen dem angeborenen Verständniß und Mitgenuß deutscher Cultur und ihrer unerschöpflichen Schätze entsagen, um von Völkern und Nationensplittern unterjocht zu werden, die zum Theil noch auf den unteren Stufen der Cultur stehen! Sie sollen den deutschen Namen verlieren zu derselben Zeit, wo die deutsche Nation ihn mit den höchsten Ehren geschmückt hat! Hunderttausende deutscher Kinder sollen diesem Schicksal preisgegeben werden, und Millionen deutsche Männer und Frauen, deutsche Väter und Mütter sehen das ruhig mit an?

Nein! Das wird nicht geschehen! Das muß in dem Deutschen Reich von heute eine Unmöglichkeit sein! Jeder Ehrenmann und jede deutsche Frau, welche nun wissen, wie den Verfolgten und Unterdrückten unserer Stammesgenossen geholfen werden kann, werden keinen Augenblick mit ihrer Hülfe zögern, sie – werden helfen! Friedrich Hofmann.     

  1. Dieselbe Empfehlung verdient noch eine andere billige Volksschrift: „Deutsche Warte, Kalender für das deutsche Volk auf das Schaltjahr 1884. Herausgegeben von Dr. phil. Ottomar Schuchardt, Rötha, Sachsen“ – eine Schrift, deren Titel richtiger heißen müßte: „Deutsche Warte, ein Hausbuch für das deutsche Volk auf so lange, als der Kampf gegen das Deutschthum dauert“. Der Schulverein hat selbst 500 Exemplare desselben erworben, um durch sie für sich und die deutsche Sache wirken zu lassen.
  2. Nach neuesten Nachrichten zählt dieser Verband jetzt bereits 26 Ortsgruppen und wird demnächst 30 haben.

Pierre Corneille.

Von Rudolf von Gottschall.

Zwei Jahrhunderte sind dahingegangen, seitdem der „große“ Corneille am 1. Oktober 1684 sein Auge schloß. Die französische Nation feiert in ihm den Schöpfer ihrer Bühnendichtung; noch immer sind seine Stücke heimisch auf dem Repertoire des Théâtre Français: wie aus einer fremden Welt tönt die feurige und heldenhafte Rhetorik des großen Tragikers hernieder in den geistvoll raffinirten Ton der modernen Gesellschaftsdramen, welche die Pariser Bühne beherrschen; die Darstellung ungezwungener Lebenswahrheit, in welcher die neuern Schauspieler Frankreichs Meister sind, reicht nicht aus für das hochtönende Pathos des ersten dramatischen Classikers; sie müssen einen andern Ton anschlagen in seinen Dramen, [692] und fremdartig berühren die eigenthümlich rollenden Accente, mit denen sie oft die dramatische Gewalt der Alexandriner zum Ausdrucke zu bringen suchen.

Gleichwohl ist Corneille’s Ansehen jenseit des Rheins unerschüttert geblieben; nicht die romantische Schule mit ihren sprachlichen und theatralischen Neuerungen, nicht das neue sociale Drama mit seinen feinen und kühnen Pointen vermochten ihn aus der Mode zu bringen; keiner dieser modernen Don Juan’s konnte den steinernen Comthur, der am Eingange der französischen Dramatik Wache hält, aus dem Sattel heben oder zu gespenstiger Nichtigkeit hinwegspotten.

Es ist wahr, der sichtbare Einfluß Corneille’s auf die deutsche Bühne gehört einer Zeit an, welche vor der Epoche unserer großen Dichter liegt, und diese selbst haben keins seiner Dramen unserer Bühne angeeignet. Schiller übersetzte Racine’s „Phädra“, Goethe Voltaire’s „Tancred“, und „Mahomet“, keiner von ihnen ein Drama von Corneille; doch Goethe spricht nicht nur in seinen Jugenderinnerungen von den Corneille-Aufführungen des damaligen französischen Theaters in Frankfurt; er brachte selbst in Weimar den „Cid“ zur Aufführung. Und Niemand wird leugnen können, daß der kühne Aufschwung der Schiller’schen Dichtung und die große Gesinnung, die in derselben herrscht, etwas Verwandtes hat mit dem machtvollen Pathos Corneille’s.

Pierre Corneille wurde am 6. Juni 1606 zu Rouen als Sohn eines Generaladvocaten geboren und schlug selbst die juristische Carrière ein; doch wurde er derselben bald untreu aus Liebe zu den Musen. Besonders zog ihn das Theater an; schon im Jahre 1625 hatte er sein erstes Lustspiel „Melite“ auf die Bühne gebracht. Eine Reihe von Lustspielen, von denen „La Place Royale“ (1635) den meisten Erfolg hatte, erwarb Corneille den Ruf eines gern gesehenen Dramatikers, der freilich dem Banner der heiteren Thalia, wenn auch in den Banden des französischen Regelzwanges, folgte. Das lenkte auf ihn die Aufmerksamkeit des großen Ministers, welcher den Ehrgeiz besaß, auch als Dramatiker gefeiert zu werden, und während er die Weltbühne mit Tragödien füllte, als Schöpfer von Lustspielen die Zeitgenossen erheitern wollte. Richelieu zog den Dichter in sein dramaturgisches Redactionsbureau, wo seine dramatischen Gedanken und Pläne von Handlangern und Meistern der Technik, die freilich das Meiste und das Beste thun mußten, ausgearbeitet wurden zu Ehren des Cardinal-Staatsmannes, der sich mit den bunten Federn seiner Mitarbeiter zu einem französischen Plautus und Terenz herauszuputzen suchte. Doch Corneille zeigte bei diesen Bearbeitungen einen zu selbstständigen Sinn; der mächtige Selbstherrscher wollte auch auf diesem Gebiete Alles unter seinen starken Willen beugen. Der Dichter zog sich die Ungnade Richelieu’s zu, er verließ Paris und begab sich nach Rouen. Hier wies ihn der frühere Secretair der Maria von Medici, Chalon, auf das spanische Drama hin, und unter Anlehnung an das Drama Guillem’s de Castro „Las mocedades del Cid“ schuf er sein Drama „Le Cid“, welches seinen Ruhm begründete (1636). Zwar die eben begründete Académie saß, auf Befehl Richelieu’s, welcher gegen den fahnenflüchtigen Mitarbeiter nachhaltigen Groll hegte, über die Tragikomödie „Der Cid“ nicht ohne Strenge zu Gericht: obschon Corneille den scenischen Apparat des spanischen Originals wesentlich vereinfacht und dramatisch lebendige Scenen hinter die Coulissen verlegt hatte, war, gegenüber dem französischen Regelzwang, doch noch zuviel freie spanische Romantik in dem Stücke bemerkbar; auch der versöhnliche Abschluß verstimmte die Kunstrichter der Akademie. Das Publicum aber nahm den „Cid“ mit Enthusiasmus auf. Seitdem wandte sich Corneille ganz der Tragödie zu, deren Bahn er schon 1635 mit einer Bearbeitung von Seneca’s „Medea“ betreten hatte; es folgten seine Meisterwerke; „Horaces“ (1639), „Cinna“ (1639), „Polyeucte“ (1640), „Mort de Pompée“ (1641), „Rodogune“ (1646). Einmal noch wandte er sich dem Lustspiele zu, indem er ein spanisches Drama unter dem Titel „Le Menteur“ (1642) für die französische Bühne bearbeitete und damit einen freieren Ton anschlug, als in der eng eingeschnürten französischen Comédie bis dahin vernommen worden war. Von seinen späteren Dramen, in denen zu sehr die regelrechte Schablone vorherrschte und die Eingebungen des dramatischen Genius immer seltener wurden, ist noch „Nicomède“ (1652), „Oedipe“ (1659) und „Sertorius“ (1662) zu erwähnen. Im Ganzen hat Corneille dreiunddreißig Stücke verfaßt: er war bei Weitem nicht so productiv, wie die althellenischen Tragiker oder die großen spanischen Dramatiker, deren Stücke nach Hunderten zählen, productiver aber als Schiller und Goethe, und dürfte hierin mit Shakespeare ungefähr in einer Linie stehen.

Pierre Corneille † am 1. October 1684

Die Akademie, die ihn so scharf beurtheilt, nahm ihn doch noch als ihr Mitglied in den Kreis der Unsterblichen auf (1647), denen sie dies Diplom auszustellen seit jener Zeit sich anmaßte.

Die Rolle, welche Corneille in der Geschichte der französischen Literatur spielt, ist diejenige eines Reformators der Bühne, welche bis in die neue Zeit hinein der von ihm aufgestellten dramatischen Form huldigte; aber er gehört auch der Weltliteratur an als einer jener Dichter, welche von der Bühne herab einen auf die geschichtliche Größe und Bedeutung gerichteten Sinn zu nähren und das Theater zu einer Pflanzstätte großer Gesinnung zu machen wußten; es bedarf solcher Geister, um einer hochstrebenden Zeit den bleibenden dichterischen Ausdruck zu geben. Das ist die Aehnlichkeit, welche Corneille mit Schiller und Shakespeare hat; beide hoben das Theater zu einer Höhe, wo es den die Zeit beherrschenden geschichtlichen Geist spiegelte und trug und eine Macht wurde neben den andern Mächten, welche den Ausschlag geben bei den großen Ereignissen des Tages.

Eine Epoche nationalen Aufschwungs, in welcher Dichtung und Bühne in engen Verhältnissen versumpfen und der Geschmack des Publicums sich dem genrehaft Alltäglichen und Unbedeutenden zuwendet, wird für den Nachruhm eines sehr wichtigen Trägers entbehren. Corneille war der Ausdruck der nationalen Thatkraft und Begeisterung. Darum nannten ihn auch die Franzosen le grand Corneille, und Napoleon, dessen Epoche keinen großen Dichter aufzuweisen hatte, erklärte, er würde Corneille zum Herzog gemacht haben, wenn er in seiner Zeit gelebt hätte. Heldenmuth und Seelengröße – das waren meistens die bewegenden Mächte seiner Dramen: er liebte es vorzugsweise jene Kämpfe darzustellen, in welche Helden gerathen, die dem allgemeinen Wohl das eigene, höheren Ideen die Neigung des Herzens, das Glück der Familie, ja auch die Pflichten gegen dieselbe opfern. In „Horaces“, der ersten Tragödie, welche Corneille ohne jedes Vorbild dichtete, herrscht ein schwunghafter Patriotismus: der Einzelne opfert sich und die Seinen dem Vaterland; gerade in diesem Drama ist echte Römergröße unverkennbar. Noch bedeutender ist „Polyeucte“; in diesem mit rühmenswerther dramatischer Kunst zusammengehaltenen Trauerspiele tritt das Märyrerthum für die christlichen Ideen, von ehelicher Liebe und häuslichem Glück sich lossagend, mit sieghafter Glorie in den Vordergrund.

Neben diesen Stücken, in denen der Heroismus und die Opferfreudigkeit den Ton angeben, finden sich andere, in denen die Selbstherrlichkeit und die Kunst der unumschränkten Herrschaft gefeiert wird: so „Cinna“, in welchem Stücke der Dichter die Monarchie verherrlicht gegenüber den Gewaltthätigkeiten der Republik, eine Monarchie, die zugleich gerecht und milde ist und so ihre Gegner entwaffnet, ein schmeichelhaftes Abbild des Königthums der Bourbons. Daß aber das ehrgeizige Streben nach unbedingter Herrschaft eines Weibes Seele ausfüllen und verwüsten kann, zeigte das von Lessing so grausam zergliederte Schreckensdrama „Rodogune“; Nicomède ist ein Held der Nationalfreiheit wie Hannibal, gegenüber der römischen Weltmacht, ebenso Sophonisbe.

Corneille’s Sprache hat hohen Schwung, auch fehlt ihr nicht das dramatische Schlagwort; aber obgleich die Tragödie das Recht hat, sich voll auszusprechen, mit jenem Pathos, das den großen griechischen Tragikern nicht weniger als Shakespeare und Schiller eigen ist und das nur die geistig Armen verdammen, welche die Schranke ihres Talentes zur Schranke der Kunst überhaupt machen: so hat Corneille das Vorrecht der höheren Dichtung doch in sofern mißbraucht, als er oft einer allzugeschwätzigen Sophistik der Leidenschaft, einem zergliedernden Raisonnement das Wort gönnt, das ihm mehr als alles Andere den Vorwurf des rednerischen Stelzenganges zugezogen hat. Er ist indeß keineswegs ein glatter Phrasendrechsler; er weiß große Naturen oft von dämonischer Leidenschaftlichkeit zu schildern und die Seele nicht blos mit dem Wohlklang seiner Verse, sondern auch mit Rührung, Schrecken und Grauen zu erfüllen. Er hat über die drei dramatischen Einheiten ein Buch geschrieben, ihr Schema aber nicht mit sclavischer Hingebung befolgt. Schon Voltaire tadelte die drei Handlungen in „Horaces“ und vermißte in „Cinna“ sogar die Einheit des Charakters und des Interesses. „Rodogune“ ist nichts weniger als eine Schablonendichtung nach dem kärglichen Maße, das die alten Einheiten gewähren; die Handlung ist weitausgreifend und reich gegliedert.

Der schlichte Mann, dessen Persönlichkeit wenig einnehmend, dessen Unterhaltung weitschweifig und unbequem war, hatte sich schon bei den Zeitgenossen großen Ruhm erworben; doch lastete Richelieu’s Gunst und Ungunst, die Staatsmacht, die er verherrlichte, auf seinem Leben. Auch an Niederlagen fehlte es ihm so wenig wie an Erfolgen. Sein Drama „Pertharide“ (1653) machte ein vollständiges Fiasco; verstimmt wie Grillparzer durch die ablehnende Aufnahme seines „Wehe dem, der lügt“, zog er sich wie dieser jahrelang von der Bühne zurück, und als er sie in neuem Anlaufe zu erobern suchte, anfangs nicht ohne Glück, fand er einen jüngeren Nebenbuhler, der ihm den Lorbeer streitig machte. Henriette von Orleans, später Königin von England, hatte Corneille und Racine veranlaßt, gleichzeitig den Stoff der „Bérénice“ zu behandeln: beide Stücke wurden rasch hinter einander aufgeführt, und in diesem Duell siegte Racine.

Spätere Kritiker, wie Voltaire und besonders Lessing, zerrten an Corneille’s Lorbeer, doch er bleibt ein unvergänglicher, solange nicht große Gesinnungen und Leidenschaften ganz von der Bühne verbannt werden.


[693]

Von der hansischen Flanderfahrt.

Von Karl Braun-Wiesbaden.0 Mit Illustrationen von H. Schlittgen.
III.0 Brügge.0 Rückfahrt.

Canal in Brügge.

Nach einem fröhlichen gemeinsamen Male in Gent fuhren wir den Abend mit der Eisenbahn nach Brügge, der Hauptstadt von Westflandern. Wie wir später erfuhren, hatten wir den Einwohnern von Brügge – „dieser schönen und edeln Stadt“, wie sie unser großer deutscher Maler Albrecht Dürer bewundernd genannt hat – ohne es zu wollen, eine Täuschung bereitet, nämlich durch die Art unseres Einmarsches. Belgien ist das Land der öffentlichen Festlichkeiten, der Straßenaufzüge und der Schaubelustigungen, der Schützenfeste, der Preisschießen mit der Armbrust oder mit dem Handbogen, der Wallfahrten und Processionen, des Umherziehens von Riesen und von Schiffen (natürlich auf Wagen) und der Kirchweihen. Bei der Lebhaftigkeit und der Vergnüglichkeit der Bevölkerung und ihrem gesunden Sinn für Kunst, für Farben und Formen, für Musik und Malerei, ist es zu einem ordentlichen „Ommegang“ oder Aufzug unbedingt nothwendig, daß er nicht ohne einen gewissen Aufwand von äußeren Mitteln stattfindet, welche geeignet sind, die Lust des Volks am Schauen und Hören, kurz die Augen und die Ohren zufriedenzustellen.

Der Deutsche, und namentlich der Norddeutsche, hat für so was nicht viel Sinn und Neigung. Er liebt weder die Schaustellung noch den Lärm, den letzteren so wenig, daß uns unsere östlichen (slavischen) Nachbarn „die Stummen“ zu nennen belieben.

Die Einwohnerschaft von Brügge hatte, so sagte man mir, erwartet, daß diese Hansen (oder wie man hier schreibt „Hanzeaten“), diese „Osterlings“, deren Andenken im Geiste und Gedächtniß der Vlamingen durchaus nicht erloschen, einen ähnlichen „Ommegang“ halten würden, wie ihre Vorfahren vor einem halben Jahrtausend; daß sie einziehen würden mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel, in malerischer Gewandung und nicht ohne eine Art von festlicher oder wenigstens von militärischer Ordnung; denn wozu ist man der Militärstaat?

Dieser Voraussetzung war Nahrung gegeben worden durch das plattdeutsche Hanseaten-Lied, das uns vorausgeeilt war und dessen ersten Vers ich hierhersetzen will:

„Höört jy wel de pypen klingen
Un de trumlen daartoe slaan?
Kinders, nu laat uns ’maal singen,
Dat een fiks marscheeren kan!
 Hanseaat,
 Kameraad!
Vast in takt marscheer dyn straat!
Vraagt een, wat voor’n regiment?
Ses un seüventig men’t nent!“

Von alledem geschah das Gegentheil. Wir kamen spät an, es war, glaube ich, nach neun Uhr Abends, indeß noch hell genug, daß wir den Bahnhof bewundern konnten, welcher uns den Beweis liefert, daß auch für diese Art von Bauwerken der gothische Stil, richtig verstanden, sehr wohl anwendbar ist. Auf dem Bahnhof wurden wir von dem Brügger Comité und den Vorstehern der verschiedenen Vereine, welche sich ihm angeschlossen hatten, lebhaft und freundlich bewillkommnet als die Nachkommen derer, welche vordem so viel zur merkantilen Blüthe dieser Stadt beigetragen hatten. Wir erwiderten die Begrüßung nach Kräften. Aber offen gestanden: wir waren müde. Denn wir waren in Gent den ganzen Tag den Sehenswürdigkeiten nachgelaufen, und [694] so groß unsere Erwartungen von Brügge waren, so hegte doch mancher den stillen Wunsch: „Ich wollte, es wär’ Schlafenszeit und Alles wär’ gut.“

Aber nein, noblesse oblige! Darum „stramm vorwärts“; und so rückten wir in leidlicher Ordnung in die reich decorirte Stadt ein, unter dem Wehen der Fahnen, unter welchen sich neben den lebhaften schwarz-gelb-rothen belgischen auch einige wenige bescheidene schwarz-weiß-rothe befanden. Diese Farben des Deutschen Reichs begrüßten uns namentlich vor den deutschen Bierhäusern, deren es hier mehrere giebt. Das belgische obergährige Bier, Pharo, wie Lambik, entspricht dem deutschen Geschmacke nicht. Das deutsche Bier aber hat seinen Eroberungszug um die Erde vollendet. Selbst der Türke trinkt Schwechater und Pilsener und behauptet, das verstoße nicht gegen den Islam (d. h. das Gesetz), denn es sei nicht Wein, sondern Gerstensaft oder Malzextract. Und als die Deutschen in New-York das Schillerfest begingen und „Wallenstein’s Lager“ aufführten, meinten die Yankees, bei den Deutschen gehe es nun einmal nicht ab ohne „Lager“, worunter sie Bier (Lagerbier) verstanden.

In der That war ganz Brügge auf den Beinen bei unserm Einmarsch, welcher sich von dem genannten gothischen Bahnhofe nach dem großen Marktplatz bewegte, einem schönen großen Platz, umgeben mit theils wohlerhaltenen, theils mit historischer Treue und Sorgfalt wiederhergestellten gothischen Giebelhäusern und abgeschlossen durch zwei lange Verkaufshallen, aus deren Mitte sich der mächtige und doch graziös emporsteigende Beffroy (Bergfried oder Donjon) erhebt, der bis zur oberen Balustrade achtzig Meter mißt und das Sinnbild des Reichthums und der Macht dieser Stadt bildet, welche vordem in dem Welthandel dieselbe Rolle spielte, wie gegenwärtig London. Der Anblick dieser Herrlichkeit, die in der halbhellen Nacht noch märchenhafter und zauberartiger emporsteigt, als am Tage, hob wieder unsere etwas erschöpften Kräfte; und als nun das Glockenspiel des Beffroy anhob, zuerst die deutsche „Wacht am Rhein“, dann das „Vlaanderen“-Lied und endlich die belgische Nationalmelodie, genannt „La Brabançonne“, zu spielen, da brach ein förmlicher Verbrüderungs-Enthusiasmus zwischen den Angehörigen der verschiedenen Völker aus, welche auf dem Marktplatze dieser monumentalen Stadt zusammengetroffen waren – die Einen, um den längst verwehten Spuren ihrer hanseatischen Vorfahren nachzugehen und die Stätten ihrer Wirksamkeit zu studiren – die Andern, um, wie dies ein hier in stattlichem Format und in vlamischer Sprache erscheinendes Blatt „Burgerwelzijn“ (Bürgerwohl) ausdrückt, zu zeigen, daß Brügge „een guthertig welkom wenscht aan de afstammelingen van dezen, die eens aan het hooft stonden der handelsbeweging van de ganze wereld“, das heißt, daß Brügge ein aufrichtiges Willkomm entgegenbringt den Nachkommen Derjenigen, die einst an der Spitze der Handelsbewegung der ganzen Welt gestanden haben.

Straße in Brügge.

Dann bewegte sich der mächtige Zug die Rue Saint Jacques, auf Vlamisch „Sinter-Jacobs-straat“ geheißen, nach dem vormaligen Boterhuis oder Beuterhuus, auch Caeshuus genannt. Vormals eine offene Laube, in welcher man Butter und Käse verkaufte, bildet es jetzt eine große Concerthalle, welche eine Unmasse Menschen faßt und sich durch ihre vortreffliche Akustik auszeichnet.

Während wir und unsere Brügger Freunde einmarschirten in den Concertsaal, sah sich die liebe Straßenjugend, die uns bisher ebenfalls das Geleit gegeben hatte, von dem Heiligthum ausgeschlossen. Sie rächte sich dafür dadurch, daß sie, und zwar mit viel Geschick und Naturwahrheit, das Hahnengeschrei nachahmte; und als ich, da ich ein wenig hatte zurückbleiben müssen, mir durch ein höfliches „Bon soir Messieurs!“ Eingang durch ihre geschlossenen Reihen zu schaffen versuchte, machte man mir zwar mit großer Bereitwilligkeit Platz, aber hinter mir ertönte ein vielstimmiges „Frenschman“, von noch weit zahlreicheren Hahnenschreien begleitet, worüber ich mich aufrichtig freute.

Oben, in dem bereits dicht mit Menschen angefüllten Concertsaal, fand ich sofort einen liebenswürdigen Bürger von Brügge, der mir als Führer diente und mir die Herren namhaft machte, welche an dem „Bureel“ (Bureau) Platz genommen hatten, um uns zu begrüßen. Es waren die Herren Van Ackeren, Sabbe und Vermast, die Delegirten des Comité Brügge-Nüremberg; Herr Sorel-Merlin, Vertreter des „Reizigerkring“; Dr. de Meyer, von dem „Kunstkring“; Herr de Thibaut de Boesinghe, Vorsitzender der „burgerlijke Godshuizen“, Herr Nelis von der „Emulatie“ und die Herren Steyart und Edwin Gaillard von der „Alterthumskundigen Maatschapij“, das ist dem Alterthums-Verein für Brügge und Umgegend. – Die große Anzahl der gemeinnützigen Vereine oder Kreise (Krings, das ist Cirkel, cercle) ist beachtenswerth. Sie liefert einen Beweis für den überall zu Tage tretenden lebhaften und spontanen Gemeinsinn, welcher in Allem, was der Bürger aus eigener Kraft thun kann, nicht auf hohe obrigkeitliche Anregung oder Nöthigung wartet. Ich könnte mancherlei Interessantes über diese Reisende-, Kunst- und Alterthums-Vereine und deren Thätigkeit mittheilen, will aber hier nur noch mit einem Worte des Vereins gedenken, welchen man auf vlamisch schlechtweg die „Emulatie“ nennt, während er auf französisch „La société d’émulation“ genannt wird. Er weckt und entfaltet unter den Bürgern [695] einen regen Wetteifer zur Erhaltung, Wiederherstellung und Beschreibung der baulichen Eigenthümlichkeiten Brügges und giebt auch Annalen heraus, welche unter Anderem die höchst werthvollen Abhandlungen des Architekten Verscheldt enthalten. Darunter eine auch als besonderes Buch erschienene Studie dieses Autors über die Namen der Straßen und Plätze Brügges, welche in Deutschland gelesen zu werden verdient. Denn sie zeigt uns, welch ein reiches Material von historischer, cultur- und wirthschaftsgeschichtlicher Bedeutung in diesen alten Namen steckt, daß ohne dieselben kaum die Historie und die Topographie einer Stadt erforscht und geschrieben werden kann, und wie unklug – um nicht ein schlimmeres Wort zu gebrauchen – es ist, die alten Namen polizeilich abzuschaffen zu Gunsten neuer, die allen localen oder geschichtlichen Untergrundes entbehren und häufig aus Vornamen bestehen, bei welchen etwas zu denken nach kurzer Zeit kein Mensch mehr im Stande ist. Wer weiß z. B. wer jener „Friedrich“ war, nach welchem die Friedrichstraße in Wiesbaden benannt ist? Man könnte einen Preis darauf setzen.

Doch zurück zum Butter- und Käsehaus in Brügge, oder vielmehr zu dem schönen großen Saal, der an dessen Stelle getreten.

Ich füge dem mitgetheilten Verzeichniß noch hinzu, daß Herr M. J. Fontaine, einer der Schöffen der Stadt Brügge, in Verhinderung des Herrn Bürgermeisters, des Comte Disard (welcher übrigens uns, d. h. einen Theil der Flanderfahrer, Abends in den prachtvollen Räumen seines Hauses auf das Liebenswürdigste empfing), den Vorsitz der Versammlung führte. Alle Anreden erfolgten natürlich in vlamischer Sprache.

Zunächst begrüßte Herr Van Ackeren die Gäste mit einem kräftigen und kurzen Willkomm im Namen des Comités. Ihm folgte Herr Sabbe mit einem längeren Vortrag über die glorreiche Vergangenheit Brügges, über seine Beziehungen zur Hanse und zu Deutschland und über die hoffnungsvolle Zukunft, welche man für die Stadt erwartet. Er überreichte dem hansischen Verein ein Exemplar von Gilliodt’s-Van-Serren „Inventar“ und von Edwin Gaillard’s „Glossarium“. Die werthvolle Gabe nicht nur, sondern auch die inhaltreiche Rede wurde von den Deutschen unter lebhaftem Beifall entgegengenommen, oder wie es das bereits citirte vlamische Blatt ausdrückt, „door een algemeen handgeklap begroet.“

Senator Dr. Klügmann von Bremen, früher Mitglied des deutschen Reichstags, jetzt des Bundesrathes, antwortete in einer feinen beziehungsreichen Rede Namens der Hansefahrer und schloß mit einem Hoch auf Brügge, in welches die Deutschen lebhaft einstimmten, oder, wie es auf vlamisch heißt, sie „bevestigden door en dricvoudig en vervoerend gejuich de woorden van hunnen collega“. Damit war der officielle Empfang zu Ende, und wir leisteten dann der freundlichen Einladung, uns in das Local der Gesellschaft Brügge-Nüremberg, das „Café des Arts“ zu begeben und dort einige Erfrischungen einzunehmen, bereitwillig Folge; denn so willig der Geist war, alle die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen, so machte sich doch die Schwäche des Fleisches geltend.

Vom Fischmarkt in Brügge.

Einschalten muß ich noch eine Bemerkung über die vlamische Sprache, von der ich, soweit es der Raum mir gestattet, einige Proben gegeben habe. Der geneigte Leser wird sich aus diesen Proben unschwer überzeugt haben, daß diese Sprache, welche eine nicht unansehnliche Literatur aufzuweisen hat, mit unserem Deutsch demselben Stamme entwachsen und daß sie, namentlich für die Niederdeutschen, leicht zu verstehen ist. Dies ist besonders der Fall, wenn man sie gedruckt vor sich hat und sich die Sache überlegen kann. Etwas schwieriger ist es aber bei den rasch enteilenden gesprochenen Worten. Am schwierigsten zu verstehen sind die unteren Classen wegen der gutturalen Laute, welche sie mit einem Theile der Holländer und der Schweizer gemein haben.

Die Nacht mußte ich diesmal in einem Hôtel zubringen, denn der „Schwan“, unsere schwimmende Heimath, war in Folge vielfacher Schwierigkeiten, die er bei den Schleusen des Canals zu überwinden hatte, sehr spät in der Nacht an der verabredeten Stelle erschienen, und der letzte Mann unserer Expedition gelangte erst um zwei Uhr Morgens an Bord. Indessen des andern Tages waren alle Schmerzen der vergangenen Nacht vergessen und schon um zehn Uhr wurde der Marsch nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt angetreten, unter Führung der gastlichen Herren von Brügge.

Brügge ist anders als Wisby, wohin wir 1881 unsere hansische Fahrt gerichtet hatten. Wisby, bis zum 14. Jahrhundert die Königin der Hansa im Osten, hat von ihrer Größe nur noch kolossale Befestigungswerke und Kirchen gerettet, – aber Alles in Trümmern, zwischen welchen die modernen Häuslein stehen, wie die Wohnungen der Pygmäen zwischen den riesigen Trümmerburgen der Giganten.

Brügge hat aufgehört, die Königin der Hansa im Westen zu sein, wie denn ja auch die Hansa selbst aufgehört hat und deren Geschichte und Gedächtniß nur durch die Historiker und namentlich durch unseren hansischen Geschichtsverein (für den ich hierdurch nebenbei auch neue Mitglieder werben möchte) wieder aufgeweckt und belebt wird. Brügge ist von hundert anderen Städten, die damals, zur Zeit seiner Blüthe, klein und arm waren und ihm nicht das Wasser zu reichen vermochten, weit überflügelt. Aber seine Paläste und seine Kirchen stehen noch unversehrt da. Auch heute noch dienen jene öffentlichen und diese kirchlichen Zwecken. Auch seine Privatbauten, bis auf die kleinen spitzen Giebelhäuser herunter, welche längs der canalisirten Wasserläufe aufgereiht sind und vor welchen die bekannten Spitzenklöpplerinnen eifrig an der Arbeit sitzen – wie dies unser Bild (S. 694) zeigt – haben ihren alten Charakter bewahrt, und selbst da, wo der falsche Geschmack eingerissen [696] war, wo man den eigenthümlichen Charakter der Backsteingothik verlassen oder gefälscht, wo man die zierlichen Zinnen der Giebelhäuser abgetragen und durch die Horizontale des gespreizten und geschmacklosen ersten Kaiserreichs ersetzt, wo man die feinen Gliederungen und farbigen Figuren der gebrannten Ziegel mit Gyps, Stuck u. dergl. überschmiert und ihnen den Anschein von Marmor oder von Haustein zu geben versucht hatte, ist in neuerer Zeit eine gesunde Reaction eingetreten. Man wendet sich zu Gunsten der Formen, welche sich zur Zeit des Naturlebens der Kunst, fern von jedem fremden, namentlich auch classischen Einflusse, unter der Einwirkung eines stark hervortretenden Bewußtseins städtischer Besonderheit gebildet haben, wieder ab von der Geschmacksrichtung einer kritischen und reflectirenden Periode. Man restaurirt und man restaurirt richtig. Unser Zeichner veranschaulicht den Charakter von Brügge vortrefflich durch ein Canalbild, ein Platzbild und durch das Innere eines flandrischen Hauses (s. S. 693, 695 u. 696).

In dem lateinischen Verzeichnisse der Städte Niederdeutschlands von 1524 („Catalogus urbium Germaniae inferioris“) heißt es – ich übersetze wörtlich – von der Stadt Brügge:

„Der öffentlichen und privaten Gebäude Glanz und Pracht übertrifft alle und jede Rede und jede Möglichkeit des Ausdrucks: Wenn mit Wenigem Alles gesagt werden soll, so ist kein Ort der Welt geeigneter, zur Weide des Auges und zur Aufrichtung und Erfrischung des Geistes zu dienen. Gent, Antwerpen, Brüssel, Löwen und Mecheln (Gandovum, Hantwerpia, Bruxella, Lovanium, Mechlinia), – das sind alles schöne Städte, aber sie sind nichts verglichen mit Brügge („sed nihil ad Brugas“)!“

Und dieses Urtheil datirt von 1524, wo die Zeit der höchsten Blüthe schon vorüber war, wo Gent aufkam und Antwerpen sich anschickte, schließlich beiden den Rang abzulaufen.

Blick in ein flandrisches Haus.

Wir verließen Brügge nur ungern. Die Kunstschätze, namentlich die unsterblichen Werke des Hans Memling, welcher den Uebergang von der Miniatur- zur Oelmalerei bildet und die Vorzüge beider in sich vereinigt, hätten von Rechtswegen ein längeres Studium erfordert, und mit unseren neu gewonnenen flandrischen Freunden hätten wir gern noch ein paar Tage verplaudert.

Die Letzteren machten uns jedoch das Vergnügen, unserer Einladung Folge zu leisten und uns bis Ostende zu begleiten. Die Absicht, unser Abschiedsmahl, zu welchem die durchaus nicht zu verachtende „Schwanen“-Küche alle Kräfte aufgeboten, auf Deck einzunehmen, wurde durch einen stürmischen Gewitterregen vereitelt, wie er uns während unserer Flanderfahrt öfters heimsuchte. Indeß auch in der Kajüte entwickelte sich ein reger geistiger Austausch. Am beifälligsten aufgenommen wurde der Toast des Professors Wätzold aus Hamburg auf die Professoren Frederick aus Gent und Sabbe aus Brügge, die treuen Wahrer flandrischer Sprache und Sitte. Dazwischen sangen wir – ein Jeder so gut wie er konnte, das alte:

„Vlanderen bovenal!“

von Hoffmann von Fallersleben und das von unserem vortrefflichen Dr. Koppmann in altem Stile neu gedichtete „Vitalien-Brüder-Lied“, mit dem Refrain:

„Mord unde Brand!
Den leven Got to Vrund,
Und aller Werld Viand!“,

das ist: „Mord und Brand! Den lieben Gott zum Freund und aller Welt Feind!“ Es klang schaurlich, aber es war gut gemeint; denn in der That, wir waren lustige „Victualien“-Brüder.

Ein großer Theil der Bevölkerung Brügges gab uns, als die Sonne wieder schien, noch eine gute Strecke das Geleit canalabwärts zu Lande. Darunter Reiter und Wagen und auch zwei rüstig fürbaß schreitende stattliche Kapuziner. Das Land auf beiden Seiten glänzte in frischem Grün; die Wiesen sammtartig, wie die Matten der Alpen, während bei uns zu Hause die Sonne Alles gelb gebrannt hatte.

Auch diesmal hatte der „Schwan“ mancherlei Schwierigkeiten in den mäandrischen Windungen des Canals zu überwinden. Einige Male saß er auch fest, und in Ostende mußten wir Halt machen, denn die Schleuse war noch nicht praktikabel. Viele fanden darin eine willkommene Gelegenheit, sich das Bad anzusehen, zu dessen Verfeinerung auch in neuester Zeit wieder Manches geschehen ist.

Am andern Morgen fuhren wir weit hinaus auf die hohe See, um dann in zwei Tagen und einer Nacht zurückzukehren. Poseidon meinte es gut mit uns. Der zweite Tag namentlich war von entzückender Schönheit und versöhnte auch Die, welche ein wenig an schwankenden Anwandlungen oder kleinen Katastrophen gelitten hatten. Der Photograph, Herr Kindermann, machte während der Fahrt prachtvolle Aufnahmen von Meeresansichten.

An dem im Sonnenlichte roth erglänzenden Helgoland vorbei, dampften wir in die Elbe. Noch vor sechs Uhr Abends schifften wir uns in Hamburg aus an der Schiffslände von Sanct Pauli.

Wir trennten uns, indem wir einander ein fröhliches Wiedersehen wünschten und uns der in ungetrübter Harmonie gemeinsam verlebten schönen Tage des Gesellschafts-, Kunst- und Naturgenusses und mannigfaltiger Belehrung erfreuten, – jener Tage, die gewiß noch lange in eines Jeden Gedächtniß lebendig bleiben werden.


[697]

Vorbereitungen zur Reise.
Nach dem Oelgemälde von Henriette Ronner.

[698]

Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
26.

Bald nach dem Abendfeste in Tiefurt kam am 25. August der Ludwigstag heran, den man als Namenstag der Herzogin Luise feierte.

Die hohe Frau hatte durch ein wenig mehr Entgegenkommen und Freundlichkeit neulich in Tiefurt Goethe so tief bewegt und wieder so sehr für sich eingenommen, daß er sich sofort mit Plänen trug, ihren festlichen Tag zu verherrlichen. Er fand zu seiner Ueberraschung auch diesmal in der feindlichen Partei - das heißt bei Görtz und seinen Anhängern - eine rege Theilnahme.

Neuerlicher Gewitterregen hatte eine Ueberschwemmung des „Sterns“ herbeigeführt, wo anfänglich ein Festspiel beabsichtigt war, daher mußte man jetzt einen andern Plan entwerfen.

Am linken Ufer der Ilm führte, vom Fürstenhause aus gangbar, ein erhöhter Weg her; etwas flußaufwärts stand eine Mauer, um als Kugelfang vom Schießhause aus die Umgegend zu schützen; diese sowie ihre Umgebung lag hoch und trocken. Hinter der Mauer befand sich ein Platz mit herrlichen alten Eschen und Gebüsch, derselbe konnte jede Art von Ueberraschung bergen; davor, den weiteren Ausblick versperrend, ließ man in den bis zum Feste noch übrigen drei Tagen heimlich eine hübsche kleine Einsiedelei aufbauen, mit Strohdach, Borkenbekleidung und Mooswänden, die man vorn und hinten verschiebbar einrichtete.

Goethe und Seckendorf, der talentvolle Poet und Componist, hatten mittlerweile ihr Festspiel fertig und mit den anderen Freunden einstudirt. Sie wollten in Mönchskutten erscheinen, erzählen, ihr Kloster sei durch die Fluthen vernichtet, dies Häuschen habe man gerettet, und hierher lade man die Gesellschaft zur frugalen Kost, dann sollten sich des Borkenhäuschens Thüren aufthun und man einen bescheiden besetzten Tisch sehen, auf dem sich nichts befinde als eine irdene Schüssel mit Bierkalteschale, ein Laib Brod, Zinnteller und Holzlöffel. Wenn die Hofgesellschaft dastehe, nicht wissend, was aus dem Scherze zu machen sei, solle sich die hintere Wand des Häuschens öffnen und unter den alten Eschen wohlbesetzte Holztafeln, geputzte Gäste und symphonische Musik sie einladend begrüßen, worauf dann die Glückwünsche der Anwesenden an die gefeierte Fürstin den Uebergang zum festlichen Schmause bilden sollten.

Diesem Plane gemäß spielte sich das Fest am Mittage des 25. August ab. Der Herzog, seine Gemahlin, Herzogin Amalie und ihre nähere Umgebung hörten die Reden der Mönche, als welche Prinz Constantin, Goethe, Seckendorf, Knebel, Wieland, Einsiedel und einige Andere auftraten, standen erstaunt am Tische mit der Kalteschale und athmeten erfreut und lachend auf, als bei dem Wegziehen der Wand das festlich heitere Bild sie einlud.

Die Mönche machten anfänglich Miene, ihre Gäste zu bedienen, und Goethe, der Pater Decorator, hielt sich hinter dem Stuhle der Herzogin Luise, um ihr wenigstens die Suppe zu reichen. Dann aber mußten die würdigen Herren in ihren weißen Kutten sich zwischen den Gästen an den Tafeln einreihen und an den Freuden des Mahls wie alle Anderen theilnehmen.

In den Pausen des Diners schlossen sich den Instrumentalvorträgen Gesangsstücke der Sängerinnen Corona Schröter und Luise Rudorf an, worauf die gern gesehenen jungen Mädchen an einem der Nebentische ihren Platz aufsuchten.

Goethe hatte sich heute einmal wieder das Couvert neben Corona gewählt. Bei solchen festlichen Gelegenheiten durfte er nicht hoffen, neben der Freundin zu sitzen, die, als Gattin des Oberstallmeisters, in der Nähe der höchsten Herrschaften ihren Platz fand.

Corona, die schöne liebenswürdige Künstlerin, übte eine große Anziehungskraft auf ihn aus, wenn er auch wußte, daß ihr Herz seinem Freunde Einsiedel gehörte, der auf ihrer andern Seite saß.

Aber weder für den einen noch für den andern ihrer Nachbarn fand Corona heute die rechte Aufmerksamkeit; sie antwortete zerstreut, starrte auf einen Punkt, wechselte oft die Farbe und bezeigte besondere Goethe gegenüber eine seltsame Scheu.

Einsiedel fragte sie flüsternd, was ihr fehle. Ob ihre Bekenntnisse gegen ihn sie beängstigten? Auf seine Verschwiegenheit und vollkommene Hingabe an ihren Willen dürfe sie doch bauen.

„Das ist es nicht, Hildebrand,“ entgegnete sie gleichfalls leise und mit Vorsicht, „ich habe einen Aufrag vom Meister, der gewiß Uebles bezweckt und mich furchtbar beunruhigt. O, daß ich ausersehen bin, den dunkelsten Plänen als Werkzeug zu dienen!“

Der Freund bat sie, ihm ganz zu vertrauen, ihm Alles mitzutheilen, was sie bedrücke, was sie thun solle; vielleicht lasse sich doch etwas ändern. Sie lehnte aber in ängstlicher Weise ab, sagte, der Graf müsse hier sein, sie könne doch nicht umhin, zu gehorchen. Das Verhängniß über ihr treibe sie wider ihren Willen! Er möge nicht weiter in sie dringen, sondern ihr Ruhe und Schonung gönnen.

Nach dem Mittagessen wurden von hurtigen Lakaien die Tische fortgeräumt und von den Musikern die Instrumente zu einer Polonaise gestimmt.

Man wollte sich nicht so bald trennen, es versprach ein herrlicher Abend zu werden, die Gesellschaft war lustig und guter Dinge; der Herzog, nach einigen Gläsern Champagner sehr aufgeränmt, erfreut von der Ueberraschung, entzückt von dem neu entdecktem fast unbekanntem Platz, erklärte, die Gesellschaft müsse beisammen bleiben.

So spazierte man unter dem Epheu umher, scherzte, lachte, saß in Gruppen zusammen, versuchte ein Tänzchen und unterhielt sich in der gehobenen Stimmung ganz vortrefflich.

Goethe forderte Corona zur Polonaise auf, sie dankte, da Einsiedel sie früher darum gebeten habe, den nächsten Contretanz aber solle er bekommen. Er erklärte sich einverstanden und trat jetzt mit ihr, strahlend vor Heiterkeit und Jugendlust, in die Reihen.

Die Ungebundenheit der Dinerstimmung fügte es, wie er glaubte, daß er sich plötzlich der Herzogin Luise mit dem Oberhofmeister Graf Görtz gegenüber sah, und heimlich lachend sagte er sich, daß der hochmüthige Graf sammt seiner edlen Partnerin zu anderen Zeiten wohl erlesenere Gegentänzer gesucht haben würde, als ihn mit der Sängerin.

Auch der Herzogin fiel diese Fügung unangenehm auf, und sie deutete ihrem Cavalier an, wie sie erstaunt sei, daß er nicht für ein passenderes vis-à-vis gesorgt habe.

Der Graf entschuldigte sich mit nichtssagenden Redensarten. Luise dachte, der Wein mache ihn confus, und dann begann die Musik, ehe sich etwas ändern ließ.

Hinter Goethe und Corona stand der kleine Baron von Göchhausen, heute in Folge des wohlthätigen Tranks aus den Händen des Wundermanns ganz besonders leicht und heiter gestimmt. Er sah dem Tanze zu, wiegte sich in den Hüften und schien seine ganze Theilnahme dem Treiben der Jugend zu widmen.

Plötzlich, als Goethe und Corona, ihren Platz verlassend, vortanzten, schoß er in den Kreis und raffte ein weißes Etwas vom Boden auf; er sah es nicht näher an, sondern verließ seinen bisherigen Standort und begab sich in die Nähe des Herzogs, der gleichfalls in dieser Quadrille und mit Luise von Göchhausen tanzte.

„Sie müssen zugeben, Tuselchen,“ sagte Karl August fröhlich, „daß dies wieder eine Fête ist, die unserem Zauberer drüben alle Ehre macht! Steckt er auch in der weißen Fahne von einer Kutte, der Goldjunge, die alle die anderen Männer miserabel kleidet, so sieht er doch immer aus wie ein junger Gott, und es ist die pure Unmöglichkeit, wenn man auch Ursache dazu hätte, ihm böse zu sein.“

„Durchlaucht haben Recht, amüsant ist’s heute, und ich bin hexenvergnügt!“ rief das kleine Fräulein und ließ ihre lachenden lebhaften Augen durch den Kreis herum und zu ihrem Partner fahren. „Dero Hätschelhaus scheint nachgerade allen Leuten genehm,“ fügte sie mit einem boshaften Seitenblicke auf Graf Görtz hinzu, der eben mit vieler Grandezza ein pas seul vor Goethe und Corona tanzte.

[699] Der Herzog lachte laut auf: „Himmlischer Anblick das! Wie er es nur angefangen hat, Freund Wolf, Luise als Gegentänzerin zu bekommen? Ich dachte, sie bisse sich lieber den kleinen Finger ab, als meinem armen Parvenü die Ehre zu erzeigen! Na, mich freut’s, wenn sie Raison annimmt, wenn er sie zu uns herumkriegt.“

In diesem Augenblicke wurde der Contretanz beendigt; als der Herzog nach der Verabschiedung von seiner Tänzerin sich wandte, stand der kleine Baron voll Göchhausen vor ihm, tief dienernd, submissest lächelnd und offenbar mit einem Anliegen auf dem Herzen.

„Eh, Baron, was wollen Sie? Wo drückt der Schuh?“ fragte der Fürst gnädig.

„Durchlaucht verzeihen, Durchlaucht gestatten“ – murmelte der kleine Mann. „Supponire, daß dies Schreiben – meine ergebenste Pflicht und Schuldigkeit Dero Einsicht zu unterbreiten.“

Damit hielt er dem Herzoge einen zusamnlengefalteten, adressirten, aber nicht gesiegelten Brief hin. Karl August griff mechanisch danach.

„Goethes Handschrift und an Luise! Gewiß ein poetischer Erguß, ein Festcarmen! Wie kommen Sie dazu?“

„Durchlaucht zu dienen, der Brief fiel aus der Tasche des Herrn Legationsrath Goethe, als er in der Quadrille avancirte. Ich stand hinter ihm und enlevirte das Schreiben.“

Als der Oberkämmerer sah, daß er nicht weiter beachtet werde, zog er sich mit einigen Bücklingen zurück. Der Herzog aber trat zur Seite und entfaltete sonder Arg und Bedenken den Brief.

Aber welch ein Wechsel auf seinem Antlitze! Flammende Röthe und fahle Blässe, eine zornig gestaltete Stirn, zerbissene Lippe, und endlich wilden Griffs ein Zerknittern, Zusammendrücken des Papiers, das er mit plötzlichem Rucke in die Tasche schob. Ohne sich umzusehen, ohne zu zaudern, verschwand er hinter der Schießmauer und verfolgte mechanisch den Weg an der Ilm her, der ihn zum Fürstenhause führte.

Die Musik zu einem Menuet, Gläserklirren und lachende Stimmen folgten ihm; er aber hörte nichts davon, seine Gedanken wühlten und bohrten zu gewaltig in ihm; das Blut kochte in seinen Adern und jede Spur froher Weinlaune, die ihn belebt hatte, war erstorben.

In seinem Palais angekommen, befahl er: „Ein Pferd!“ und ritt wenige Minuten später allein im Gesellschaftsanzuge zum Thore hinaus. Da hing er wie willenlos und gebrochen im Sattel, in seinem rothen, goldgestickten Sammetrocke, schlaff eine Reitpeitsche haltend, die sein Groom ihm eingehändigt hatte.

Die Stallbedienten, welche ihm nachsahen, schüttelten die Köpfe.

„Wenn er noch wetterte und fluchte, wär’s mir lieber,“ sagte ein alter Kutscher.

„Das schöne Zeug, die weiße Seidenhose ist hin,“ meinte bedauernd ein junger Reitknecht.

Der aber, dem diese Bemerkungen galten, ahnte nicht, daß er etwas thue, was auffallen müsse. Er hatte überhaupt kein anderes Gefühl als das eilte entsetzliche: sein Freund, sein Liebling, sein herrliches Vorbild - war ein gemeiner Heuchler und verrieth ihn unter gleißendem Schein; Irrthum schien ihm unmöglich. Er hatte die ganze Sachlage mit eigenen Augen gesehen; Göchhausen stand hinter Goethe, Luise tanzte ihm gegenüber; gewiß hatte dieser es so eingerichtet, um ihr den Brief zu geben!

Was nur Luise zu dem Briefe gesagt hätte? Er mußte doch mit ihr schon seiner Sache gewiß sein, um dies zu wagen! Also auch sie eine Scheinheilige? Sie, die Strenge, gegen ihn so Kühle! Aber freilich, ein Apoll, ein genialer Feuerkopf wie Goethe! Er wußte und fühlte es ja selbst, wie ihm die Herzen zuflogen! Ein tiefer Seufzer hob seine Brust. Nein, dies konnte er ihm nicht verzeihen! Liebte er auch Luise nicht, so war sie doch sein Weib, die Herzogin, die Hüterin seiner Ehre!

Trennung von Beiden war der einzige, der Endgedanke aller Ueberlegungen. Wo hatte er nur seine Augen gehabt, daß er nicht längst gesehen, wie der Freund sie inniger verehrte, als recht war? Freilich, so wie es der Brief aussprach, das hätte er doch nicht gedacht. Und es war nicht allein Goethe’s Handschrift, es waren Redewendungen, Worte, wie er sie oft von ihm gehört, und doch dies Unglaubliche, diese kecke Sprache sinnlicher Leidenschaft! Er wiederholte sich einzelne Sätze, die sich seinem Gedächtniß eingebrannt:

„Süßer, verschmähter Engel, den zu besitzen, zu entschädigen mir Seligkeit wäre! - Ich sehe und träume nichts, als die Himmelssterne Deiner Augen; o Luise, wenn Du Dich zu mir herab neigen, mich glücklich machen wolltest! - Er, der Dich nicht zu würdigen versteht, entbehrt auch nichts!“

„Seine Liebe für die Stein ist fingirt, ist ihm ein Deckmantel,“ fuhr der Herzog in seinem Selbstgespräche fort. „Die Frau ist seine Vertraute, Hehlerin, Zwischenträgerin. Welch ein erbärmliches, verworfenes Gezücht, unter dem ich lebe! Ich, dem das Höchste ist: ein edler Menschenkreis!“

Sein Pferd blieb in diesem Augenblicke an einem Gebüsche stehen und zupfte Blätter ab.

Jetzt zuerst kehrte er zur Gegenwart zurück, sah sich um, wo er sich befand, und nahm die Zügel fester. Er war, ohne es zu wissen, den Weg an Goethe’s Gartenhaus vorbei, nach Oberweimar geritten.

Die Sonne sank bereits; am liebsten wäre er landein gesprengt, hätte alles, was Klärendes und Trennendes geschehen mußte, brieflich abgemacht, aber so im Staatskleide ohne alle Vorbereitung und Begleitung? Er nannte sich selbst feige und riß plötzlich sein Pferd herum. Ein wilder Zorn flammte in ihm auf; er schlug mit der Peitsche über des Rosses Flanke und flog in sausendem Galopp den Weg in wenigen Minuten zurück, für den er vorhin im träumenden Verweilen so lange Zeit gebraucht hatte. Die rasche Bewegung that ihm wohl; die Sonne war jetzt im Untergehen, ein schönes, tiefglühendes Abendroth verklärte die Gegend; er mäßigte die rasche Gangart seines Pferdes, hielt sich gerüstet für alles, was geschehen mußte, und fühlte sich älter, aber auch fester geworden.

Sein Empfinden der bittern Erfahrung war aus dem dumpfen Wehgefühl in das Begreifen der Sachlage übergegangen. Er erkannte, daß er kurz und kräftig mit den Dingen fertig werden müsse.

So weit in seinem Gemüthe gekommen, wurde er durch einen Anruf aus seinem Gedankengange aufgeschreckt; unwillkürlich hielt er beim Ton dieser Stimme sein Pferd an und wandte den Blick hinauf, woher der Ruf kam.

Da stand Goethe in feiner Alltagskleidung auf dem Altan, vom warmen Abendroth umflossen, mit heiter strahlenden Blicken, und rief ihn noch einmal an:

„Mein lieber gnädiger Herr, wohin sind Sie uns enflohen? Warum verließen Sie das Fest?“

„Elender!“ knirschte der Herzog. Er wollte ihn ja nicht wiedersehen, hielt es unter seiner Würde, je wieder ein Wort mit ihm zu wechseln; dennoch, bei seinem herzbewegende Anblick, dem Ruf dieser geliebten Stimme widerstand er nicht. Rasch entschlossen wollte er jetzt alles gleich persönlich mit ihm abmachen, das war der einzig richtige, männlich tapfere Entschluß!

Er sprang vom Pferde, Philipp nahm dessen Zügel, und Karl August eilte in’s Haus.

Schon auf der Truppe zog er den verhängnißvollen Brief hervor, glättete denselben mit zitternden Händen und reichte ihn dem verrätherischen Freunde, als dieser ihm oben an der Treppe entgegen kam.

„Was soll dies Papier?“ fragte Goethe.

„Lies!“ herrschte der Fürst ihn an.

Beide traten, mechanisch vorgehend, in Goethe’s Zimmer; dieser wandte sich zum Fenster, um bei dem scheidenden Licht sehen zu können, was ihm der Herzog gegeben.

„Ein Brief von mir?“ fragte er erstaunt, „und an die Herzogin?“

Der Herzog lachte höhnisch auf; der Andere hatte diesen Ton nie von ihm gehört.

Goethe las und erstarrte.

„Meine Schrift!“ sagte er. „Manches von meinen Gedanken und Redewendungen, und doch so – das ist infam!“

Er warf in tiefem Widerwille den Brief mitten in’s Zimmer und rief:

„Durchlaucht, das schrieb ich nicht!“

„Du – Du leugnest?“

(Fortsetzung folgt.)

[700]

Blätter und Blüthen.


Dank und neue Bitte, wie immer. – Seitdem wir in Nr. 27 der „Gartenlaube“ unsern „Dank für dreifache Wohlthätigkeit“ veröffentlichten, ist uns wiederum Gelegenheit gegeben worden, über neue Wohlthaten zu berichten.

Vor Allem wird es unsere Leser mit erfreuen, daß unserem „einbeinigen früheren Unterofficier Schultze“ in Berlin: zu einem künstlichen Bein verholfen worden ist. Die Firma J. Schmickler in Bochum nahm sich des invaliden braven Mannes an, der uns „hocherfreut“ meldet, daß er uns demnächst anzeigen werde, wie mit dem neuen Fuß das Laufen gehe. Dem edlen Wohlthäter sprechen wir für sein ansehnliches Opfer hiermit auch unsern Dank aus.

Unsere Bitte um Beschneidemaschinen ist nur für den böhmischen Buchbinder durch den Papierfabrikbesitzer Herrn Ernst Haase in Wran erfüllt worden. Zwei Andere, in Ostpreußen und Baden, warten noch vergeblich auf Erlösung aus ihrer Noth und wiederholen dringend ihre bitteren Klagen, da sie ohne eine solche Hülfe ihre Familien nicht mehr ernähren können. In Deutschland bestehen viele große blühende Buchbindereien, denen wir diese Bitte für bedrängte Handwerker ihres Fachs nahe legen möchten.

Große Freuden sind zwei armen Kranken bereitet worden. Ein seit Jahren an das Bett gefesseltes Kind in Bischofswerda erhielt durch die mildthätige Hand der Frau Justizrath Clara Böhmig in Chemnitz einen sehr praktisch für alle Lagen eingerichteten Krankenstuhl. Ebenso ist der Wunsch einer seit acht Jahren rückenmarkskranken Frau erfüllt, welcher durch den Herrn Geheimen Kirchenrath Dr. Köhler in Auma ein nur wenig gebrauchter Fahrstuhl übermittelt wurde.

Aber noch harren fünf unglückliche Gelähmte sehnlich derselben Wohlthat.

Da lebt in Magdeburg ein junger Mann von 26 Jahren, der seit 12 Jahren total gelähmt ist, „sodaß er wie ein neugeborenes Kind gewartet werden muß.“ Seit 6 Jahren hatte er seine Krankenkammer nicht verlassen, als es ihm vor wenigen Wochen einmal vergönnt wurde, auf einem gemietheten Fahrstuhl in die frische Luft gebracht zu werden. „Die Freude, nach so vielen Jahren wieder einmal ein Stückchen Welt und seine lieben Bäume sehen zu können, spottet jeder Beschreibung.“. Welches Glück würde für diesen Beklagenswerthen ein eigener Fahrstuhl sein!

Ebenso für jene vierzigjährige Frau und Mutter in der Niederlausitz, welche seit 15 Jahren durch die Gicht gelähmt und an Händen und Füßen verkrüppelt ist. Welches Wehe liegt in ihrer Klage: „Ich muß, wenn sich Andere in Gottes freier Natur ergötzen, die vier Wände ansehen.“

Dieselbe Klage erhebt die zweiundsechszigjährige Frau eines armen Fabrikarbeiters. Seit 5 Jahren lahm, hat sie den einzigen Wunsch, daß sie am Abend ihres Lebens in ihren Leiden noch bisweilen an die frische Luft gefahren werden könnte.

Denselben Wunsch hegt ein neunundsechszigjähriger Invalid, dessen gichtgeschwollene Hände und Füße ihm den ferneren Gebrauch der Krücken unmöglich machen, sodaß der Aermste sich nicht einmal „an Gottes schöner Natur noch erlaben kann“.

Ganz anders lautet das dringende Verlangen eines Einundzwanzigjährigen, der durch Rückenwirbelentzündung an den Füßen unheilbar gelähmt ist. Am Oberkörper wieder gekräftigt und sogar fähig, kleine Strecken, wenn auch mühsam, an zwei Krücken zu gehen, hegt er den Wunsch, auf dem Fahrstuhl dahin zu gelangen, wo er als Schlosser Arbeit findet, um sich ehrlich sein Brod zu verdienen.

Es ist jetzt die Zeit, wo Tausende, von ihren Ausflügen in Sommerfrischen und Bäder wieder heimgekehrt sind, den Leib gestärkt und das Herz erfüllt von den Freuden, die sie in den Herrlichkeiten der schönen Welt genossen, – diesen Glücklichen sollte es am nächsten liegen, der Unglücklichen zu gedenken, welche dieselbe wonnige Zeit gliederlahm in dumpfen Stuben verleben müssen. Es gäbe weniger Elend, wenn die Glücklichen dankbarer für ihr freundliches Schicksal wären.

Für dringend erbetene Nähmaschinen hat abermals die Firma G. Neidlinger sich unsern Dank in fünf Fällen verdient, deren Einzelaufzählung wir uns für unseren nächsten Dankesbericht vorbehalten. Eine Nähmaschine ist ferner durch eine wohlthätige Dame zu Weißenburg in Mittelfranken einer armen Lehrerwittwe in Bonn zugekommen, und auch mit zwei Hand-Nähmaschinen haben wir zwei Familien erfreuen können.

Wir schließen diesen „Dank, mit seinen neuen Bitten“ mit der wiederholten Zusicherung für Geber und Empfänger, daß für die Frachtkosten aller Geschenke die Verlagshandlung der „Gartenlaube“ einsteht.

Fr. Hofmann. 0

Vorbereitungen zur Reise. (Mit Illustration S. 697.) Das ist eine lustige Gesellschaft! Eins, zwei – vier Junge und eine Alte: ihrer gerade genug, um etwas Ordentliches zu Stande zu bringen. Das wird die Besitzerin der Sachen, die von den Kätzchen hier einer sichtlich etwas gewaltthätigen Revision unterzogen werden, anerkennen müssen, wenn sie, um ihre Vorbereitungen zur geplanten Reise zu vollenden, wieder das Zimmer betritt. Der Koffer in heilloser Unordnung, drin wohl gar noch ein Kätzchen, die Schachtel umgestoßen, der schöne neue Hut, der extra für die Reise angeschafft ist, zerdrückt und zerquetscht – es ist zum Verzweifeln! Vielleicht aber zieht sie aus dem angerichteten Unheil eine gute Lehre – die, daß auch Schachteldeckel und Stubenthüren ihren Beruf verfehlen, wenn sie nicht geschlossen werden.

Ein neuer Motor für Nähmaschinen. Nachdem die Frauenhand durch die Erfindung der Nähmaschine von der Führung der Nähnadel befreit worden war, stellte sich bald das Bedürfniß ein, auch die lästige Tretarbeit der Füße durch maschinelle Einrichtungen zu ersetzen. Hygieinische Rücksichten gaben hierzu in erster Linie Veranlassung. Bald erschien auch im Handel eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Motoren für Nähmaschinen, die als mehr oder minder gelungene Versuche zur Lösung dieser Frage betrachtet werden konnten. Die brauchbarsten waren entschieden die Wassermotoren, die durch einen Strahl der gewöhnlichen Wasserleitungen in Betrieb gesetzt werden, sie haben nur den Fehler, daß sie nicht überall verwendbar sind, da bei ihrer Anwendung das Vorhandensein einer Wasserleitung vorausgesetzt werden muß. Auf den elektrischen Ausstellungen sah man in letzter Zeit gleichfalls vorzügliche Nähmaschinenmotoren, nur kommen sie uns heute vor wie unsichere Wechsel auf Zukunft, da wir noch weit von dem Augenblick entfernt sind, an dem in jedes Haus der elektrische Strom geleitet wird.

Für unsere Zwecke brauchen wir einen Motor, der überall aufgestellt werden und überall arbeiten kann. Wir glauben nun, daß es dem Fabrikanten Louis Heinrici in Zwickau endlich gelungen ist, etwas zu construiren, was von der endgültigen Lösung der Aufgabe nicht mehr weit entfernt ist. Sein Motor, den wir in Verbindung mit einer Nähmaschine hier abbilden, wird durch Dampf getrieben, der in dem über der Maschine befindlichen Kessel erzeugt wird. Die zur Erzeugung des Dampfes nöthige Wärme liefert eine starke Petroleumlampe, welche zu gleicher Zeit das Arbeitsfeld der Nähterin beleuchtet. Der überschüssige Dampf kann durch einen Gummischlauch zum Fenster oder zum Ofen hinaus geleitet, oder auch nach Wunsch in einem besonderen Apparate condensirt werden, der zugleich als Wärme-Apparat und Behälter mit heißem Wasser dient. Der Arbeitseffect der kleinen Maschine beträgt 1/10 Pferdekraft, und sie eignet sich darum auch als Motor für andere Apparate des Kleingewerbes. –i. 0


Guter Rath. Unter dem Nachlasse des berühmten holländischen Arztes Dr. Boerhaave befand sich ein wohlverpacktes und versiegeltes Paket mit der Aufschrift: „Die einzigen und tiefsten Geheimnisse der Arzneikunst.“ Bei der Versteigerung der Bibliothek wurde das Paket mit zehntausend Gulden bezahlt. Als der Käufer seinen Schatz zu Hause mit fieberhafter Eile geöffnet, fand er in einer Unzahl Umhüllungen ein Blatt Papier mit den Worten: „Halte den Kopf kalt, die Füße warm und lebe regelmäßig, so kannst Du aller Aerzte spotten.“ L. M. 0


Allerlei Kurzweil.



Uhr-Arithmogryph.

Welches Wort zeigt die Uhr an.



Auflösung des Scherz-Räthsels in Nr. 41:       Rothenburg an der Tauber.


Auflösung des magischen Tableaus „Die Sterne“ in Nr. 41: Die Zahl der bei jedem Buchstaben befindlichen Sterne zeigt an, in welcher Aufeinanderfolge die Buchstaben zum Worte verbunden werden müssen, wobei jedes der 6 Sternenfelder ein Wort für sich ergibt. Die Worte aller dieser 6 Gruppen in der Ordnung, von oben links angefangen, zusammengestellt, geben den

Satz: Glück und Macht kommen über Nacht.
S. Atanas 0

Auflösung des Homonym in Nr. 41:       Fassung.


Auflösung des Scherz-Räthsels in Nr. 41:       Damaskus.


Kleiner Briefkasten.

O. E., Riga. Sie fragen, ob eine Frau ohne Wissen und Einwilligung ihres Ehemanns einen Paß für’s Ausland erlangen kann? und auf welchem Wege? Solche Anfrage sollte eine Frau nicht stellen – wir geben keine Antwort darauf.

A. H. in Budapest, A. V. in C., F. M. in M.: Ungeeignet.



[Inhaltsverzeichnis der Nr. 42/1884, hierher z. Zt. nicht übernommen.]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil's Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.