Die Gartenlaube (1884)/Heft 41
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No. 41. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Fanfaro.“
Indem Bartenstein Melanie begrüßte, sagte er: „Ueberzeugen Sie sich, wie man dem Zufall zu Hülfe kommen kann.“
„Ich verstehe,“ lächelte Melanie, „wie die Franzosen dahin gekommen sind, zu glauben, die Ulanen stünden mit einer über- oder vielmehr unterirdischen Macht im Bunde.“
„Im Kriege bilden sich immer Mythen,“ sagte er. „Unsere Mannschaften haben sich indessen doch gegen die Annahme, daß sie unverwundbar seien, durch den schönen Vers gewehrt:
‚Ulanen werden in der Schlacht
Wie andre Leute umgebracht.‘
Aber gestatten Sie, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich wieder an Ereme, „daß ich mir einmal den Cameraden dort ansehe.“ Er drehte sich nach der Statue um und rief überrascht: „Eine Minerva! Nun, ich hätte es mir eigentlich denken können.“
„Pallas Athene,“ verbesserte Ereme, ihm langsam folgend. „Der Versuch eines jungen Künstlers, eine Athene nach der Beschreibung von der ehernen des Pheidias, die man die Athene Promachos nannte, zu schaffen.“
„Promachos?“ wiederholte Bartenstein.
„Ja, Vorkämpferin,“ erklärte Ereme.
„Für eine Kämpferin hat sie den Helm zu weit nach hinten gesetzt, ohne das Sturmband herunter zu schlagen,“ kritisirte er. „Sie steht überhaupt da, als habe Vater Zeus ‚ohne Tritt‘ commandirt. Und ihre Uniform sitzt auch nicht reglementmäßig.“
„Vom Standpunkte des Ulanen,“ erwiderte Ereme spöttisch.
Er schien den Spott zu überhören. „Gewiß, vom Standpunkte des Ulanen, der als deutscher Soldat sich bewußt ist, daß Wort, Raum, Kleid und Zeit ihm knapp zugemessen sind. Von dem Standpunkte des deutschen Soldaten aus muß ich Ihnen auch sagen, daß mir diese antike Jungfrau von Orleans sehr mißfällt, und noch mehr das Volk, das Frauen darzustellen beliebte, die mit eingelegter Lanze zu Felde ziehen.“
Ereme sah ihn hochmüthig an. „Es war das edelste Culturvolk der Erde. Und es ist eine hohe Genugthuung für uns Frauen, daß es einem Mädchen die einzig unbesiegbare Waffe verlieh, vor der die größten Helden zurückwichen.“
„Die Lanze,“ neckte er muthwillig, „die wir Ulanen führen.“
„Nein, den Gedanken,“ entgegnete sie schroff, „der ihr so hohe Kraft giebt, daß es ihr ein Leichtes ist, auch den Kriegsgott im Kampfe zu besiegen.“
Eine helle Röthe flog bei ihren Worten über seine Stirn. Er strich sich das kurzgelockte braune Haar zurück, als werde es ihm plötzlich heiß. „In welchem Kampfe?“
„In dem, welchen die Iliade schildert.“
„Sie müssen meinem Gedächtnisse noch weiter zu Hülfe kommen,“ sagte er. „Es ist lange her, seit ich die Iliade gelesen habe. Mir ist nur die Erinnerung geblieben, daß Achilles um einer Sclavin willen seinem Kriegsherrn den Gehorsam verweigert und dennoch nicht vor ein Kriegsgericht gestellt wird. Das ging mir schon über den Spahn. Also dann besiegt auch noch eine Dame den Kriegsgott?“
Ereme neigte bestätigend das Haupt. „Sie verschmäht dem Ungeberdigen gegenüber die feinen Waffen. Mit einem Feldsteine schlägt sie ihn zu Boden, und mit jauchzendem Laute spricht sie die geflügelten Worte: ‚Thörichter, nie wohl hast Du bedacht, wie sehr ich an Kraft Dir vorzugehen mich rühme, daß Du voll Trotz mir begegnest.‘“ Es lag etwas wie eine strenge Warnung in dem Blicke, der ihre Worte begleitete.
Auch seine Augen verdunkelten sich, und er rief ungestüm: „Das ist stark - von der Pallas Athene,“ setzte er in leichtem Tone hinzu. „Der griechische Kriegsgott würde bei uns für untauglich zum Militärdienst erklärt worden sein.“ Er streifte den weißen Handschuh ab und legte seine schön geformte kräftige Hand neben die der Pallas, welche plötzlich puppenhaft erschien. „Ich bezweifle,“ fuhr er fort, „daß dieses Händchen es mit meiner deutschen Faust aufnehmen könnte; aber ich weiß, daß es mir selbst einer so ausgezeichneten Dame gegenüber,“ – dabei hob er die Hand zu der Statue empor – „mitten im Kampfe ein Leichtes sein würde, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter. Sie würde trotz aller holden Gedanken meiner schlichten Willensäußerung sich unterordnen.“ Damit senkte er die erhobene Rechte und bot sie mit einer Bewegung voll Eleganz Ereme, um diese nach dem Sopha zu geleiten, wo Melanie saß.
Obgleich Ereme der Zorn siedend heiß zum Herzen stieg, blieb ihr doch nichts übrig, als auf dem Sopha Platz zu nehmen.
Melanie hatte rothe Wangen und glänzende Augen vor Schreck über die Scene bekommen. Sie suchte zu vermitteln. „Sie würden den Griechen unrecht thun, Herr von Bartenstein, wenn Sie glaubten, daß dieselben nicht verstanden hätten, in ihren Dichtungen der Frau die rechte Stellung zu geben. Kann das Wesen einer solchen schöner bezeichnet werden, als in den Worten der Antigone: ‚Ich bin ein Weib, zum Hassen nicht geboren; nur mitzulieben zwingt mich die Natur.‘“
[670] „Die Natur und der betreffende Herr und Meister,“ bestätigte Bartenstein, in dem die Kampflust tobte, und sah Ereme herausfordernd an.
Diese aber blickte über ihn hinweg, als seien er und seine Rede für sie gar nicht da.
„Ich fürchte, der Ignorant hat schon wieder Ihren Zorn erregt,“ sprach er weiter, nachlässig die Knöpfe seines Handschuhs wieder schließend.
„Wer das Eiserne Kreuz erster Elasse trägt, darf sich schon einen Ignoranten nennen,“ beschwichtigte Melanie.
„Man thut auch als Kanonenfutter seine Schuldigkeit,“ antwortete er aufstehend, ohne den Blick von Ereme zu wenden. „Und was Anderes bin ich nicht: ein Mensch, der alles Angelernte nicht hoch schätzt, gelehrte Bücher nicht ansieht, Kunstwerke nicht versteht, und dessen Wahlspruch ist: Einen Säbel in die Faust und frisch auf’s Pferd.“
„Ein Spartaner, um in Ereme’s Sprache zu reden,“ antwortete Melanie mit einem Versuche zu scherzen.
„Nein, ein Deutscher, ein echter Sohn der Mark,“ widersprach er fast heftig, „der gar nicht mit einem andern Volke verglichen sein will. Mir ist der tiefe Sand meiner Heimath theurer als aller Marmor Griechenlands, und ich bilde mir ein,“ schloß er, muthwillig wieder lachend, „daß ich als Altmärker und nicht als Spartaner über die Pallas Athene triumphiren werde.“
Er nahm die Czapka, verneigte sich mit einem schalkhaften Lächeln tief vor Ereme wie vor einer Fürstin und grüßte mit Ehrerbietung Melanie.
„Sag’ Adieu, Darling,“ suchte Melanie in ihrer Verlegenheit den Kleinen zu ermuntern.
Darling rührte sich nicht.
„Darling!“ rief Bartenstein mit seiner klingenden Stimme.
Da rappelte sich Darling auf, trippelte langsam mit hängendem Köpfchen zu ihm, steckte sein rosenrothes Naschen in seine Hand, leckte ihm den Handschuh, wedelte demüthig und warf einen respectvollen Blick unter seinem Toupet hervor auf ihn.
„Dem Manne wird einmal lieber gehorcht, als den Damen,“ lachte Bartenstein, und fort war er.
Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, faltete Melanie die Hände. „Aber, liebe Ereme, wie konnten Sie ihn mit diesem Citat attakiren?“
„Er hat mich angegriffen,“ widersprach Ereme, „und muß nun die Streiche hinnehmen, die ein Kampf mit sich bringt.“
„An solche ist er besser gewöhnt als Sie,“ warnte Melanie. „Sie fachen durch Ihr Verhalten den Streit nur immer heftiger an.“
„Mag es sein,“ antwortete Ereme, und ein heißer Strahl brach aus ihren Augen. „Ich weiche nicht zurück. Er soll erfahren, daß eine Frau auch zu kämpfen vermag und an stolzem Muthe ihm nicht nachsteht.“
Melanie war sprachlos. Ihr Blick folgte Ereme, die mit glühenden Wangen und blitzenden Augen im Gemache auf- und abschritt. Dabei schien der Stiftsdame ein neues Licht aufzugehen. Sie wehte mit dem duftenden Spitzentuche über die Stirn, als wolle sie einen leichten Nebel verjagen. Dann sagte sie: „Man ist doch manchmal recht blind. Sie werden kämpfen, und ich hätte mir sagen können, daß ich Sie nicht davon zurückzuhalten vermag. Ebenso gut könnte ich mich dem Blitze entgegenstellen wollen. Doch möchte ich Ihnen noch rathen: Werden Sie sich klar über das, was Sie wollen. Wenn Sie mit Grazie kämpfen, ihm immer eine Chance lassen, ein wenig necken und ein wenig nachgeben, dann wird Alles gut endigen. Aber hüten Sie sich, ihn zu beleidigen. Denn in dem Kampfe, den Sie führen, würden Sie erst recht die Verlierende sein, wenn Sie ihn ernstlich verletzt hätten.“
Sie bekam keine Antwort. Ereme hatte sichtlich nicht auf ihre Rede gehört, sondern war ihren eigenen Gedanken gefolgt, die erregt genug sein mochten, dem düster glühenden Blicke nach zu urtheilen, mit dem sie vor sich hinstarrte. Melanie sah ein, daß alle Warnungen und Rathschläge in den Wind gesprochen waren, und empfahl sich.
Ganz erfüllt von dem eben Erlebten ging sie nach Hause. Es war eine schwüle Luft, einzelne Regentropfen fielen, Darling trottete müde hinter ihr her.
Da wurden ihre Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Doctor Gerhard kam ihr entgegen unter einem höchst eleganten Regenschirm.
Sie seufzte. Denn es stand ihm im Gesicht geschrieben, daß er erwartete, von dem Eindrucke zu hören, den sein Essai über die Liebe auf sie gemacht hatte. Er besaß ja den ganzen Egoismus, mit dem die jüngere Generation stets die ältere ausbeutet, ohne ihre Schuld auf andere Weise abzutragen, als daß sie selbst wieder von der nächsten Generation sich ausbeuten lassen muß.
Er grüßte athemlos und erröthend und bot ihr seinen Schirm an; denn sie wurde nur durch einen kleinen Entoutcas geschützt.
Sobald Darling des Doctors ansichtig wurde, drückte er sich dicht an Melanies rechte Seite und zog den Schweif ein; denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß der Doctor in seiner Zerstreutheit auf denselben trat.
„Ihr Werk interessirt mich sehr,“ begann Melanie, mütterlich nachsichtig seinen Wünschen entgegenkommend; „aber ich glaube, Sie sind zu einem Trugschluß gelangt. Der Mensch ist nicht mehr im Stande, mit klarem Blick die Tiefen seines Ichs zu erforschen von dem Augenblick an, da er liebt. Die Liebe macht nach allen Seiten hin blind. Ich habe dafür ein ganz bestimmtes Beispiel vor Augen.“
„Natürlich, Damen haben ja immer Beispiele,“ lächelte Gerhard herablassend und gesellte sich an ihre linke Seite.
„Ich meine,“ fuhr Melanie fort, „eine geistig hoch beanlagte Persönlichkeit, welche sich in jenem leidenschaftlichen Zustand der Verwechselung der Gefühle befindet, den man mit dem Worte ‚Liebehaß‘ bezeichnet.“
„Der Liebehaß,“ antwortete Gerhard, indem er docirend den Finger hob, „entspringt bei einer sehr selbstbewußten Natur einem Gefühl der Empörung darüber, daß ein anderes Individuum sie zwingt, sich mehr mit ihm als mit sich selbst zu beschäftigen. Die Wichtigkeit des Ichs wird nie ohne Kampf aufgegeben.“
„Mein Gott!“ seufzte Melanie, „nun betrachten auch Sie die Liebe als einen Kampf und werfen mit schrecklichen Worten wie Zwang und Empörung um sich, und sie allein vermag doch unsere Seele mit einer Ahnung von schrankenloser Seligkeit zu erfüllen.“
Er schüttelte nachsichtig das kluge Haupt wie einem lieben Kinde gegenüber. „Der denkende Mensch weiß, daß er keine Seele hat, und daß mit den sogenannten Ahnungen der Weltwille ihn betrügt.“
Melanie lächelte. „Ich muß es ertragen, daß Sie mir das Zeugniß geistiger Reife nicht geben wollen.“
„O,“ erwiderte er in einem tröstenden warmen Tone. „Sie sind eben eine echte Frau. Und Gott, um in Ihrer Sprache zu reden, erhalte Sie so! Wir Männer haben leider mit der Illusion über die Gefühle auch Manches eingebüßt, was uns, wenn wir es bei Ihnen wiederfinden, wie ein Märchen aus der Kindheit angenehm berührt.“
Sie waren am Stiftsgebände angelangt. Er zog den Hut. Dann sagte er lachend: „Adieu, Darling; Du weißt, daß das kein Liebehaß ist, den Du für mich entpfindest.“
„Rrrrr!“ knurrte Darling und brachte sein Schweifchen in der Hausthür in Sicherheit.
Melanie stieg in heiterer Stimmung in ihre Wohnung hinauf. Sie mußte sowohl über Ereme’s Kampflust als über die große Selbstschätzung des jungen Doctors lachen. Das waren nun beides ein Paar kluge junge Menschen, aber man sah, daß es auch in den hellsten Köpfen dunkle Ecken gab.
Ereme rang indessen danach, Aufklärung in diese Verfinsterung zu bringen. Wie war es möglich, daß einem übermüthigen Mann die Gewalt gegeben war, den Frieden ihres Lebens so unablässig zu beunruhigen? Womit hatte sie es verschuldet, daß ein solches Geschick über sie hereinbrach? Und wo war das Mittel zu finden, durch das sie sich von dem Friedensstörer befreien konnte?
Brütend über diesen Problemen saß sie an ihrem Nähtische; die feinen alten Spitzen, die sie auszubessern gedachte, lagen, über das dunkle Sammetkissen gebreitet, vor ihr. Die Aussicht auf den Universitätsplatz mit den ab- und zuströmenden jungen Studenten, den würdigen Professoren war so altvertraut, die Arbeit, die sie vorgenommen hatte, so einförmig; aber die Umgebung wirkte nicht nervenberuhigend auf sie. Sie sah gar nicht, wie der Professor der Geschichte, der Freund ihres Vaters, heraufgrüßte, und das Spinnennetz, das sie in eine durchlöcherte Spitze weben wollte, [671] kam so wenig zu Ende wie die Weberei der Penelope. Der kleine vergoldete Fingerhut rollte unbeachtet zu Boden, und wie sie finster mit der blinkenden Scheere spielte, schien auf der Stirn sich der Gedanke zu spiegeln: könnte ich doch, gleich der strengen Parze, alle Fäden abschneiden, die verwirrend sich um mich spinnen!
Da dröhnte kriegerische Musik zu ihr herauf, als blase Kalliope selbst mit vollen Wangen einen Kriegsgesang auf ihrer Drommete.
Sie fuhr erschreckt empor und schaute hinaus. Sie sah gerade in die gespannt an ihren Fenstern hängenden Augen Bartensteins, der seine Schwadron vorüberführte und jetzt, den Säbel senkend, heraufgrüßte mit einem Blick des Dankes dafür, daß sie auf das Signal wie gerufen sich zeigte, und mit einem Lächeln, das ihrer Bereitwilligkeit zu spotten schien.
Sie mußte wohl oder übel seinen Gruß erwidern, wenn sie auch die Brauen finster zusammenzog.
Zitternd vor Zorn über diesen neuen Ueberfall schaute sie der lanzenstarrenden Schlange, die sich die Straße hinabwand, nach, ohne darauf zu achten, daß die folgenden jungen Officiere lächelnd und erstaunt herauflugten nach der schönen jungen Dame in dem phantastischen Jäckchen, von dem sie nicht wußten, ob es ihnen imponirte, oder ob sie sich darüber moquiren sollten.
Als Ereme sich in das Zimmer zurückwandte, stand die Frau Doctor mit bedenklichem Gesicht vor ihr. „Fensterparaden würde ich an Deiner Stelle nicht annehmen, Eremechen,“ warnte die alte Dame liebevoll.
Ereme errötete und erwiderte entrüstet: „Es ist unerhört. Nachdem ich ihm meine Mißachtung so unverhüllt gezeigt habe, nimmt er eine Miene an, als sei mein ehrlicher Zorn eine fröhliche Neckerei. Ich werde ihn studiren müssen, um seine Achillesferse zu entdecken.“
Die Tante sah sie mit äußerstem Erstaunen an. „Du willst ihn studiren? Das überlege Dir reiflich. Ein Mann ist kein Buch, das sich nicht wehren kann. Bedenke das Wort: Wer sich in Gefahr begiebt, kommt darin um.“
Nun traf auch die Tante ein düsterer Blick, vor welchem sie sich mit ihrem Schlüsselbund in das sichere Versteck der Vorrathskammern flüchtete.
Ereme wandte sich den Spitzen wieder zu; aber die Finger zitterten so, daß sie die feine Nadel nicht mehr zu halten vermochten.
Es war, als hätte sich Alles gegen sie verschworen. Selbst die Natur schien im Bunde gegen sie zu sein. Die wundervolle Johanniszeit, die sie zum ersten Mal seit Jahren wieder zu Hause verlebte, übte ihren Zauber aus. Mit Rosen bekränzt zogen die Stunden auf und schienen bunte Falter aus den Aermeln zu schütteln.
Es war eher eine Zeit zum Träumen als zum Kämpfen, das sagte sich Ereme, als sie an einem der warmen Sommerabende unter den Oelbäumen ihres Gartens saß.
Blättersäuseln und Wassermurmeln, fernes Grillengezirp und traumhafter Vogelgesang klang zu einem leisen Accord zusammen, dessen Grundton das ferne Brausen des Eichwaldes bildete. Ueber den Bergen zogen schwere Wolken hin, in denen es von Zeit zu Zeit hell aufleuchtete. Das Gewitter war fern; nur die Luft kam auf feuchten Schwingen heran, nur gedämpft rollte der Donner über den Eichen.
Warum konnte das einlullende Lied der warmen Sommernacht nicht auch ihr den Frieden geben, in dem Alles rundum sich wiegte? Warum mußte sie der mächtigeren Stimme in ihrem Innern lauschen, die ihr beim Anblick der zackigen Blitze die Worte des Aeschylos zuraunte: „Des Mannes allzu kecken frechen Geist, wer schildert den? Eher das Flammenmeteor, das hoch im Aether sproßt.“
Da tönte in das ferne Donnern und das nahe Geplätscher ein leiser weit herkommender Hall, kaum vernehmbar zuerst, aber gleichmäßig, scharf das Geflüster der Nacht durchschneidend; immer näher dann, immer lauter, immer schärfer. Dort jenseit der Gartenmauer tauchte wie ein Schatten ein schlanker Reiter auf und glitt vorüber.
Und wie sie genau wußte, wer der Reiter war, so hatte auch er ihre Gestalt unter den Bäumen erkannt; sie sah, wie er die weiß behandschuhte Rechte zum Gruße erhob. Und wie dann das schmale Gesicht, das hell aus der Dunkelheit sich abhob, ihr zugewendet blieb, während das Pferd ihn rasch vorüber trug, meinte sie den Blick zu fühlen, der durch die nächtliche Dämmerung zu ihr drang, und der sie zwang, ihm mit den Augen zu folgen.
Athemlos lauschend verharrte sie, bis der letzte Hufschlag geisterhaft in dem Gesäusel der Nachtluft verklungen war.
Dann war es auf einmal, als erwache sie. War sie denn eine so sclavische Natur, daß sie immer wieder dem Willen dieses frevelmüthigen Tyrannen sich fügte? Sie reckte sich hoch auf und schritt, stolz sich abwendend, in das Haus hinein.
Warum hatte sie das nicht vorhin gethan, da er noch in ihrem Gesichtskreis war? Ja, warum?
Zu einem Zusammentreffen bot sich für das junge Paar in der Saison morte wenig Gelegenheit.
Nur der Rector Magnificus kam seinen Verpflichtungen gegen die an ihn empfohlenen Studirenden durch einen Thé dansant nach.
Auch auf Ereme’s Pfeilertischchen lag eine Einladungskarte. Unschlüssig stand sie davor. Es war ihr fester Entschluß gewesen, derartige Feste nicht wieder zu besuchen; aber es zog sie Etwas unwiderstehlich hin, obgleich sie wußte, daß sie das ganze Officiercorps der Ulanen dort treffen werde. Sie erklärte es sich damit, daß ihr Gefühl den Besuch des Festes, das die höchste Person der Universität gab, wie die Erfüllung einer Standespflicht von ihr heischte. Sie sagte zu.
Eine gewisse Genugthuung spiegelte sich in ihren Zügen, als sie einen aus Griechenland mitgebrachten orientalischen Stoff seinem Carton entnahm und entfaltete. Es war ein weißes durchsichtiges Gewebe, von seidigen Blumen und Goldfäden in zartem Gerank durchzogen. Die Schneiderin empfing gemessene Befehle, das Untergewand nicht durch kleinliches Gekrause zu entstellen und den Ueberwurf als Peplos zu arbeiten.
Dann öffnete sie die kleine mit Elfenbein ausgelegte Truhe in der Bibliothek, welche die kostbarsten Stücke ihrer Sammlung enthielt, und wählte eine Haarspange von mattem Gold aus, deren schlichte antike Form nur ein tadelloses Profil wagen konnte. Und so ernst auch der Grundton ihrer Stimmung war, zeigte sie sich doch ganz erfinderisch darin, die Flechten und Locken so zu ordnen, daß der Kopfschmuck anspruchslos und hoheitsvoll zugleich aussah. Ein Perlenhalsband hatte ihr Vater ihr geschenkt im Gedenken an seine erhabene Schutzpatronin Pallas Athene, die mit solchem Halsschmuck abgebildet wurde. Es mußte harmonisch zu der Toilette stimmen.
Sie brauchte viel Zeit an dem Festabend, ehe sie damit fertig wurde, sich zu schmücken.
Die Wagen rollten schon lange, welche die Officiere und Professoren zu dem Feste brachten; im eleganten Coupé fuhr der berühmte Operateur und in der Miethskutsche der große Kanzelredner vorüber, und Ereme brachte immer noch eine kleine Verschönerung an. Die Tante, die, mit grauseidenem Kleid und Blondenhaube angethan, in ihrer Stube harrte, und der alte Diener, der, in seiner hechtgrauen Livrée mit silbernen Litzen einem Bücherwurm gleichend, an der geöffneten Wagenthür stand, wurden auf eine starke Geduldsprobe gestellt.
Die Damen Clusius fuhren als die letzten in das gastlich geöffnete Thor ein. Die teppichbelegte Treppe stieg kein Gast mehr empor.
Aber als der Diener die Wagenthür öffnete, trat aus dem Schatten des Treppenpfeilers Bartenstein mit tiefer Verneigung hervor.
„Militärische Pünktlichkeit, gnädiges Fräulein,“ rief er, nachdem er der Tante beim Aussteigen Ritterdienste geleistet hatte, „ist auch eine Tugend, die Sie sich noch aneignen müssen. Um acht Uhr sollte angetreten werden; jetzt wird gleich Retraite geblasen.“
Er bot ihr die Hand; aber sie neigte dankend das Haupt und schritt, ohne dieselbe zu berühren, an ihm vorüber.
Es schlug ihn nicht darnieder. „So steigt Pallas von ihrem Piedestal herab,“ sagte er, indem er den Blick bewundermd an ihre Gestalt heftete. „Und ich muß ihr bei der Kritik das Lob ertheilen, daß sie mit der Toilette ausgezeichnet zu kämpfen versteht.“ Unentwegt geleitete er sie die Treppe hinauf und trug ihr ritterlich das bunte persische Seidentuch nach, dessen Echtheit der türkische Stempel und die strickartig gedrehten, mit Seidenflöckchen durchflochtenen Fransen bezeugten.
[672] Eine Wolke orientalischen Rosenduftes stieg aus dem fremdartigen Gewebe auf; aber sie vermochte nicht, ihm den klaren praktischen Sinn zu umnebeln.
„Darf ich um den ersten Walzer und den Cotillon bitten, gnädiges Fräulein?“ fragte er.
„Ich bedaure, ich tanze nicht,“ war die kühle Antwort.
Einen Augenblick sah er sie erstaunt an. Dann erwiderte er: „Ich verstehe; der Kothurn ist keine bequeme Ballchaussüre. Kann ich dann den Vorzug haben, Sie zu Tisch zu führen? Ich hoffe, daß Sie nicht auch sagen werden: Ich bedaure, ich esse nicht.“ Er ahmte ihre majestätische Bewegung der Hand nach, mit der sie ihn abgewiesen hatte.
Sie erröthete unwillig und fand doch keinen Ausweg. Sie mußte das Engagement annehmen.
„Wie werden Sie sich nun amüsiren, während wir tanzen?“ fragte Bartenstein.
„Das Wort ,amüsiren‘ kenne ich nur dem Klange, nicht dem Begriffe nach,“ wehrte Ereme ab.
„Dann geht es Ihnen mit dem Amüsiren wie mir mit dem Imponiren,“ entgegnete er gleichmüthig. „Mir imponirt nichts. Das Bizarrste können die Leute sagen und thun, ich weiß, es steckt darunter ein Mensch, wie wir Anderen auch sind, der im Grunde ebenso fühlt und ebenso denkt wie ich, wenn er sich auch ein noch so großartiges Air giebt.“
Bei diesen Worten öffneten sich vor ihnen die Flügelthüren, die in das Vorzimmer der Festräume führten, das gleich den übrigen von Gästen erfüllt war.
Als sie zwischen den beiden Bronzecandelabern des Eingangs erschienen, stockte einen Augenblick die Unterhaltung. Es trat jene Stille ein, welche das Erscheinen ausgezeichneter Personen begleitet.
Während dann der Hausherr die beiden Damen begrüßte und sie zu seiner Gemahlin geleitete, begann es in den Gruppen zu summen, und mit dem Aroma des Thees und dem Dufte der natürlichen Blumen, welche die Damen als Ballschmuck trugen, zog flüchtiger vorsichtiger Gesellschaftsklatsch durch die Räume.
„Seit wann kennt Herr von Bartenstein Fräulein Clusius?“ wandte sich „die deutsche Fahne“ verblüfft an Lieutenant Kronheim.
Miß Smith, welche ihr mattblondes Haar zu einem Knötchen zusammengedreht und mit silbernem Speer auf den Wirbel gesteckt hatte, schaute mit geöffneten Lippen ihn fragend an. Kronheim sah zwischen den beiden Damen durch mit dem concentrirten Blicke eines Mannes, der gewohnt ist, zwischen den Ohren eines directionslosen Pferdekopfes hindurch sein Ziel im Auge zu behalten.
„Er muß ihr schon lange vorgestellt sein; er grüßt immer nach ihrem Fenster, wenn er seine Schwadron vorüberführt. Kann ich die Ehre haben, Lancier mit Ihnen zu tanzen, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann.
Die Miß überließ ihm die Tanzkarte, auf die er sich mit goldenem Griffel einschrieb.
„Welche sonderbare Toilette trägt Fräulein Clusius!“ moquirte sich die Frau des Bankiers, deren geblümter Kleiderstoff in kleine Falbeln zerschnitten nur halslose Blüthen und kopflose Stengel sehen ließ. „Sie sieht aus wie eine Odaliske. Das ist gar nicht modern.“
Sie war an die Unrechte gekommen: die Gattin des Professors, der Sanscrit las, erwiderte hochmüthig. „Wer einen alten berühmten Namen trägt, braucht nicht die neueste Mode zu tragen.“
Melanie stockte trotz ihrer Gewandtheit in der Unterhaltung, als sie Ereme und Bartenstein erblickte. Die Freundin hatte doch kaum noch den großartigen Entschluß gefaßt, von der Gesellschaft fern zu bleiben und den kühnen Verehrer in die Flucht zu schlagen. Nun machte sie es wie alle jungen Mädchen: sie benutzte die nächste Gelegenheit, um Ihm zu begegnen, und putzte sich Ihm so schön in die Augen, als es in ihren Kräften stand.
Da gesellte sich Elsa zu ihr wie zu einer Leidensgefährtin, stieß einen herzbrechenden Seufzer aus und klagte: „Da rückt ja Herr von Bartenstein gleich mit einer Dame ein, Nun ist mir mein neues rosaseidenes Kleid auch Wurscht.“
„Wurscht sagt keine Dame,“ rügte ihre Mutter, sich nach ihr umwendend.
Melanie aber erwiderte tröstend dem Backfischchen: „Wissen Sie, daß die junge Erlaucht, der Senior der Rhenanen vortanzt? Sehen Sie, da läßt er durch seinen Diener Sträußchen und Orden für den Cotillon in den Ballsaal tragen.“
Elsa’s Augen richteten sich neugierig auf die Blumen und Schleifen. Der junge Graf hatte den Blick bemerkt. Er suchte ein zierliches Rosenbouquet heraus, bot es Elsa und fragte: „Wollen Sie die Gnade haben, mir den Cotillon zu geben?“
Elsa knixte purpurroth und „viel zu tief“, wie ihr Vater hinter ihr brummte. Sie aber flüsterte vergnügt Melanie zu: „Nun bin ich doch froh, daß ich ein rosaseidenes Kleid habe.“
„Ein tadelloses Skelet,“ murmelte der Anatom, als Bartenstein grüßend an ihm vorüber durch die Gruppen schritt.
„Das kann Ihnen ganz gleichgültig sein, mein verehrter Herr Professor,“ lachte der Oberst. „Diese Knochen gehören dem König. Aber was hat Bartenstein sich da Apartes ausgesucht?“
„Das kann nun Ihnen gleichgültig sein, Herr Oberst,“ erwiderte ebenfalls lachend der Professor. „Die Dame gehört zur Universität. Sie könnte den Lehrstuhl der griechischen Sprache, Geschichte, Kunst besteigen, wann sie wollte.“
„Was Teufel! Stellen Sie mich ihr vor,“ ersuchte ihn der Oberst.
Wie auf ein Commando rückten die jungen Officiere ihm nach. Von Bartenstein vorgestellt, defilirten sie, nur ganz leise mit den Tanzsporen klirrend, an Ereme vorüber.
Die Tanzmusik begann, die Jugend eilte paarweise in den Saal, dessen Gardinen im leisen Abendwinde vor den geöffneten Fenstern wehten und dem letzten Schimmer des Tages gestatteten, sich mit dem hellen Gaslicht zu mischen.
Ereme richtete die Bitte an Melanie, sie den ihr noch unbekannten Damen vorzustellen.
Melanie hatte ihre Freude an der eigenartigen Erscheinung ihrer Freundin. Wie nüchtern erschien der Rahmen, in dem sie sich bewegte, so elegant auch die schön gemaserten Nußbaummöbel, die niedrigen, mit pensée Plüsch bezogenen und mit langen seidenen Fransen und QUasten garnirten Sesselchen waren; wie verwirrend berührten die beFalbelten und gepufften Toiletten der Damen das Auge neben ihrem schlichten Gewande; wie lächerlich wirkten die tiefen Knixe, bei denen die ganze Erscheinung in einer Versenkung zu verschwinden schien, neben ihrer edeln Neigung. Es gab also eine absolute Schönheit, die unabhängig war von Zeit und Raum.
Sie wandte sich an Bartenstein, der, statt zu tanzen, in der Thür stand, halb verdeckt von der Portière, und dem Vorgange unverwandt mit den Augen folgte, ob auch kein Blick von Ereme nach seiner Seite flog.
„Ist es meiner jungen Freundin zu verdenken,“ sagte sie, „wenn sie ihre Welt, die noch im letzten Abglanze, den sie wirft, so veredeln und verschönen kann, hoch über Alles schätzt?“
Bartenstein lachte. „Glauben Sie, daß sie ihre Schönheit und ihr apartes Wesen den Figuren mit zerbrochenen Nasen verdankt? Da müßten ja alle die gelehrten Herren so aussehen, die griechisch verstehen.“
Ein später Gast brach sich zu Melanie Bahn: Doctor Gerhard. „Ihre Bemerkung neulich über die Verwechselung der Gefühle hat mich zu einer neuen Abhandlung angeregt,“ begann er eifrig die Conversation. „Doch beschäftigt mich weniger der Liebehaß, als der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft.“
„Den finde ich riesig,“ lachte Bartenstein.
„Ich auch,“ antwortete Gerhard, mißgestimmt durch dieses Lachen. „Der Naturzweck fällt ja bei der Freundschaft gänzlich weg. Dennoch giebt es Fälle, welche die einfache Sache complicirt machen, und bei denen man sich an die Symptome halten muß, um die Natur der Empfindung zu ergründen. Zu diesen gehört, daß die Liebe nicht auf einem Punkte stehen bleibt, sondern sich steigert oder erlischt, während Freundschaft jahrelang denselben Wärmegrad behalten kann. Liebe ist eben eine acute Krankheit, Freundschaft ein chronisches Leiden.“
Bartenstein lachte hell auf und ging davon, hinter Ereme her in den nächsten Salon.
Melanie schüttelte leise den Kopf. „Nun sehen Sie wieder das schöne Gefühl der Freundschaft unter dem Bilde eines Leidens.“
„Diese Dinge bereiten uns auch große Qualen,“ seufzte Doctor Gerhard, „bevor wir uns über ihre Begriffe ganz klar werden. Dann wird uns aber auch so wohl, wie mir in diesem Augenblicke ist. Darf ich Ihnen meinen Arm bieten? Die Gesellschaft geht zu Tische.“
Die Tanzmusik schwieg.
[673]
Die Studir-Epidemie.
Wie es scheint, finden Sie den Ausdruck ‚Studir-Epidemie‘ ein wenig stark?“
„Stark finde ich ihn allerdings, das will ich nicht leugnen!“
„Lieber würden Sie wohl von ‚Studirsucht‘ reden?“
„Milderen und, gestehe ich es, auch etwas weniger derben Klang hätte das gewiß!“
„Aber eine Sucht, die über ein ganzes, großes Land verbreitet ist und mit jedem Jahr weitere Fortschritte macht, muß man denn doch wohl, wenigstens vom medicinischen Standpunct aus, geradezu als ‚Epidemie‘ bezeichnen!“ –
So verständigten wir uns unter einander und auch der Leser dürfte wohl auf Grund dieser Auseinandersetzung die Ueberschrift annehmbar finden, sodaß wir sofort die Sache selbst näher in’s Auge fassen können.
Wer immer die Reden, welche in den letzten Jahren bei Antritt oder Niederlegung des Rectorenamtes auf unseren Universitäten gehalten wurden, einigermaßen beachtet hat, fand sicherlich, daß in den meisten eine durch Ziffern belegte, bald größere, bald geringere Zunahme der Studentenzahl hervorgehoben ward. Das galt für fast alle einundzwanzig deutschen Hochschulen und wurde stets als ein sehr erfreuliches Zeugniß für die Zunahme der vaterländischen Cultur und natürlich auch als ein Ruhmestitel für die betreffende Universität selbst in Anspruch genommen. Und das verflossene Sommerhalbjahr brachte, wie aus allem hervorgeht, den Hochschulen immer noch größeren Stoff zu derartigen Anpreisungen; denn von nicht wenigen her wurde gemeldet, daß sie während desselben die höchste Zahl Studirender seit ihrem Bestehen (z. B. München, Bonn) erreicht haben, daß ein solcher Besuchsstand noch nicht da gewesen (Erlangen), daß die gegenwärtige Studentenziffer die höchste dieses Jahrhunderts (z. B. in Würzburg) sei, und wie die Ausdrücke mit geringen Verschiedenheiten in der Fassung immer lauten mochten.
Mit den oben berührten, zum Theil sehr schön stilisirten Lobreden und erhebenden Zahlenbeweisen für eine gewaltig fortschreitende Cultur des – Brodstudiums will nun aber eine gewichtige andre Thatsache leider gar nicht übereinstimmen, nämlich die, daß einzelne Regierungen es bereits für geboten erachteten, vor der Wahl mehrerer Studienzweige – zumal vor dem Ergreifen des Rechts- und des höheren Lehrfaches – geradezu zu warnen: der Bedarf des Staates an Vertretern dieser Fächer sei mehr als gedeckt, so daß die Aussicht auf baldige dienstliche Verwendung für solche nicht vorhanden sei etc. Nur das Studium der Theologie ward öfters noch von kirchlichen Behörden als aussichtsreich bezeichnet. Dagegen wurden betreffs des Studiums der Medicin, für welches der Staat und die Behörden kein directes Dienstinteresse haben, wiederum auf ärztlichen Congressen und noch bestimmter aus den Kreisen der praktischen Aerzte vielfach Stimmen laut, welche das Fach als völlig besetzt, ja in den meisten Städten, besonders in Großstädten, wohin der Zuzug am stärksten ist, für durchaus überfüllt erklärten.
Auch erhoben erfreulicherweise in jüngster Zeit selbst einzelne Hochschullehrer, darunter besonders gewichtig der Hallenser Professor Conrad, ihre Stimme gegen die Ueberhandnahme des Studirens, weil dadurch die Studien Noth leiden, vor allem der Ernst und die Tiefe derselben abnehmen, statt dessen aber die Sucht, möglichst bald fertig zu werden, um so vielleicht noch bei dem gewaltigen Andrang einen Vorsprung für’s praktische Leben zu gewinnen, immer mehr zunehmen müsse.
Noch mehr aber klagten viele Gymnasialdirectoren und -Lehrer über Ueberfüllung der Classen mit Hochschulaspiranten, und gegenüber den vielfachen Bestrebungen, selbst den Realschulen das Recht der Ertheilung des Reifezeugnisses für die Universität zu verschaffen, vertreten deshalb auch einzelne Gymnasiallehrer den Standpunkt, daß man sogar in den Gymnasien die Ansprüche an die zukünftigen Studirenden eher erhöhen müsse und sicher sie nicht herabmindern dürfe, damit der ungesunde Zug zum Studirenwollen nicht noch größer und dadurch der Unterricht nicht noch schwieriger und unbefriedigender werde.
Eine solche Ansicht vertrat der inzwischen seiner Stelle enthobene Straßburger Gymnasial-Director Dr. Deecke, wie seiner Zeit die Tagespresse eingehend berichtete.
Ganz abgesehen von höheren wissenschaftlichen und von pädagogischen Rücksichten, fragen sich aber auch jetzt schon Viele, die das Leben kennen: „Was soll in Zukunft aus den überzähligen Studirten werden? Vom ‚Studirthaben‘ allein kann man ja doch in dieser schnöden Welt nun einmal nicht leben, am wenigsten in unserer anspruchsvollen Zeit! Woher sollen nur noch die Stellungen kommen, welche selbst blos während etwaiger Wartezeit den Ueberzähligen den einfachen Lebensunterhalt gewähren werden?“
Das aushelfende Brodschriftstellerthum z. B. hat durch solche schon jetzt eine verderbliche Höhe erreicht, die Presse leidet nicht Noth an Bewerbern aus diesen Kreisen um Redacteurstellen und dergleichen, und das Ausland, speciell Amerika, bedarf keiner deutschen Studirten mehr. Da tritt allerdings das Gespenst des Studirtenproletariats, wovon man hier und da schon ganz offen in der großstädtischen Presse spricht, immer drohender auf, bis es endlich zur Wirklichkeit werden muß. Was es aber gerade mit einem solchen auf sich hat, das braucht man sich nicht auszumalen: liefert doch Rußland ein abschreckendes Beispiel eines solchen und ein Bild der Gefahren, die daraus der Gesellschaft und dem Staate erwachsen.
So weit sind wir freilich vorerst noch nicht; aber man muß dagegen wirken, ehe es dahin gekommen und so lange es noch an der Zeit ist. Die einflußreiche Presse vor Allem muß mit warnender Stimme den Ruf erheben: „Es studiren heutzutage zu Viele!“ Aber es soll nicht hinzugesetzt werden, wie zuweilen pharisäischer Weise aus gewissen Kreisen heraus geschieht: „Und vor Allem zu viel Unberufene“, womit dann gewöhnlich die Söhne der Bürger und Bauern gemeint sind. Denn so lange Cultur und Wissenschaften bestehen und fortschreiten, waren in allen Zweigen menschlicher Thätigkeit gerade unter den sogenannten „Berufenen“ immer am wenigsten Auserwählte, im Gegentheil, es stammten diese in weit überwiegender Zahl stets gerade aus den Reihen des Volkes; wir erinnern nur an Kepler, Luther, Fichte, Liebig und wie sie Alle heißen, deren Väter keine Hof- und Geheimräthe waren.
Nach dem schon eingangs genannten Professor Conrad betrug die Ziffer aller deutschen Studirenden im Jahre 1874 rund 13,800 – und damals wurden, soviel wir wissen, gerade keine Klagen über Mangel an Studirten laut, eher bereits das Gegentheil. Vergleicht man aber nunmehr mit dieser Angabe die Ergebnisse der neuesten Hochschulstatistik, so bekommt man fast Zweifel über die Richtigkeit jener bescheidenen Ziffer, so sehr ist dieselbe im Verlauf von nur zehn Jahren in Schatten gestellt, ohne daß die Bevölkerung des Reichs und damit die Bedürfnisse des Staats an Beamten etc. auch nur entfernt in entsprechendem Maße gewachsen wären. Die Einwohnerzahl Deutschlands hat sich unterdessen zwar immerhin um einige Millionen vermehrt, die Anzahl der Studirenden dagegen ist nahezu auf die – doppelte Höhe gestiegen.
Bereits im Wintersemester 1881 bis 1882 gab es nicht weniger als 24,866 Studenten (also etwa 10,000 mehr als 1874) an den 21 deutschen Hochschulen. Und von da an ist mit fast mathematischer Regelmäßigkeit in jedem Studienhalbjahr diese Zahl, zuweilen fast gar um ein ganzes Tausend, gewachsen. Im Sommersemester 1882 betrug dieselbe 25,818, der darauffolgende Winter ergab 26,263, das nächste Sommersemester 1883 bereits 26,630. Am höchsten aber stellte sich der Hochschulbesuch im Winter 1883 bis 1884: es waren 27,454 Studenten in den Universitätslisten verzeichnet, fast genau die doppelte Anzahl, wie zehn Jahre vorher, sodaß auf 1700 Seelen ein Studirender entfiel. Innerhalb fünf Semester, also zweiundeinhalb Jahren, demnach dritthalbtausend Studenten mehr, als vorher!
Das darf man denn doch gewiß als eine epidemische Zunahme bezeichnen, also als eine krankhafte, weil ja diese Zunahme auf das natürliche Wachsthum der Bevölkerung und das wachsende Angebot des Staates nicht zurückgeführt und nicht damit in Einklang gebracht werden kann.
Und dabei sind die zahlreichen, doch auch als Studirende aufzufassenden Schüler der Bau- und Forstakademien, der polytechnischen Hochschulen etc. noch nicht einmal in Rechnung gebracht!
[675] Viel auffallender tritt die ungesunde Neigung zum Ergreifen der Studirtenlaufbahn aber dann vor Augen, wenn man einen einzelnen Studienzweig herausgreift.
Wir wählen als Beispiel die Medicin, einestheils, weil sie uns am nächsten angeht und wir daher auch die Gestaltung der Dinge im späteren praktischen Leben genauer kennen, anderntheils aber und ganz besonders aus dem schon oben berührten Grunde, weil die staatlichen Behörden kein unmittelbares Interesse und noch weniger die Neigung haben, hier ein abmahnendes Wort zu sprechen.
Im Wintersemester 1881 bis 1882, das wir auch hierbei zum Ausgangspunkte wählen, studirten 4984 junge Leute Medicin. Aerztemangel herrschte aber schon damals sicherlich nicht, am wenigsten in den Städten. Und dennoch stieg die Zahl der Medicinstudirenden im folgenden Halbjahr auf 5418. Der nächste Winter 1882 bis 1883 steigerte diese Ziffer bereits auf 5656, der Sommer 1883 ergab wiederum ein Mehr von 287 Studenten (5943) und im darauffolgenden Wintersemester war das sechste Tausend um 472 überschritten! Das giebt also für den einen Studienzweig der Medicin eine Zunahme von anderthalbtausend Studenten im Verlaufe von nur zweiundeinhalb Jahren!
Muß sich da nicht jeder Unbefangene die einfache Rechenexempelfrage vorlegen: wo sollen denn, wenn die Ziffern nur annähernd noch einige Jahre so fort anwachsen, schließlich die Kranken, von denen doch jeder Arzt einen bescheidenen oder auch unbescheidenen Theil behandeln möchte, zu finden sein? Müssen da nicht viele Aerzte müßig gehen? Sagte doch schon im Jahre 1876 der berühmte Chirurg Stromeyer, freilich nicht ohne Uebertreibung, daß die Hälfte der Aerzte nichts zu thun habe!
Für jeden vorurtheilslos Beobachtenden ist heute die Ueberfüllung des medicinischen Faches außer Frage, zumal in Städten; aber auch auf dem Lande hat in vielen Gegenden Deutschlands (z. B. in Rheinhessen) bereits jeder größere Flecken seinen Arzt, ja sogar manche ganz kleine Dörfer unter tausend Seelen entbehren nicht ihres eigenen Doctors der Gesammtmedicin. Selbst für geringbedachte Assistenzarztstellen an Bürgerspitälern, Privatkliniken etc., für die sich früher kaum ein Bewerber fand, melden sich jetzt leicht Dutzende solcher. Es ist das bereits ein Zeichen ungesunder Concurrenz.
Doch kehren wir zu unserm Hauptgegenstande zurück und versuchen wir, die Ursachen aufzufinden, welche dem oben durch Zahlen erwiesenen stetig wachsenden Andrange zum Studiren hauptsächlich zu Grunde liegen mögen.
Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache selbst, des letzteren liegt ohne Zweifel in der Einführung des an ein ganz bestimmtes Maß von höheren Schulkenntnissen, vielmehr an ein vorgeschriebenes Reifezeugniß geknüpften Privilegiums des einjährigen Freiwilligendienstes. Es ist ja natürlich, daß Jeder, der die Mittel und die Gelegenheit dazu hat, dem dreijährigen Militärdienst ausweicht, um in einem Jahre seiner Pflicht zu genügen. Viele Eltern aber sind, seitdem diese Einrichtung allgemein geworden ist, weniger der mit jenem Dienste verknüpften höheren Bildung oder auch nur der Zeitersparniß wegen, als in Folge der Sucht, äußerlich hinter ihren Mitbürgern nicht zurückstehen zu wollen, bemüht, ihren Söhnen die Berechtigung dazu zu verschaffen. Gilt doch der Einjährigendienst heuzutage in vielen Kreisen als ein Zeugniß für Wohlhabenheit. Bringen aber nun einmal die Betreffenden das Geldopfer, so wollen sie ganz natürlich auch alle Möglichkeiten, die durch dasselbe zu erreichen sind, ihren Söhnen offen halten. Die Knaben werden deshalb am liebsten im Gymnasium untergebracht, damit sie, sofern sie nur irgend günstig beanlagt sind, durch Fortsetzung des Classenbesuchs über die für die Erlangung der Einjährigfreiwilligen Concession festgesezte Stufe hinaus dann das Reifezeugniß für den Hochschulbesuch erlangen können. Erweist sich aber, daß die geistige Befähigung nicht genügt, den Knaben in den höheren Classen trotz aller Nachhülfestunden u. dergl. vorwärts zu bringen, so wird er von der Schule genommen und ist erst recht schlimm daran.
Bekanntlich ist das Berechtigungszeugniß an die erfolgreiche Zurücklegung der Untersecunda geknüpft, die meisten Knaben haben also ihr sechszehntes Lebensjahr bereits hinter sich, wenn sie jenes erhalten haben. Zum Erlernen eines Gewerbes, eines Handwerkes, des Ackerbaues etc. sind sie dann, abgesehen von ihrem Alter, auch als „Halbstudirte“ nicht mehr zu bringen oder nicht mehr zu gebrauchen.
„Ei!“ sagt da die Mutter, „so lassen wir unsern Sohn studiren, da kommt er auch zu einem ‚bessern‘ Leben wie wir, und dazu noch zu Ehren!“ Gesagt und – ohne Kenntniß der Verhältnisse – auch gethan! Damit ist ein Studirender mehr vorhanden und es wachsen, weil dieser Vorgang sich sehr oft wiederholt, auf solche Weise die Hunderte, ja Tausende von überzähligen Studirten derart aus dem Boden heraus: meist junge Leute, die aus rein äußerlichen Gründen, nicht aus innerem Drange studiren und deren Herz von der edlen Leidenschaft für die Wissenschaften niemals ergriffen wird. Diese reinen und wahren Brod- und Versorgungsstudenten haben denn auch nach dem Urtheile sachverständiger Männer in den letzten Jahrzehnten reißend zugenommen, und Aussichten, daß dies in Zukunft anders werde, sind nicht vorhanden, es sei denn, daß das Institut des einjährigen Dienstes aufgehoben werde, was nicht zu hoffen ist.
Weiter hat wohl auch Viele während der letztverflossenen zehn Jahre das Darniederliegen der Landwirthschaft, der Gewerbe, des Handels etc. zum Ergreifen der scheinbar so viel besseren Beamten- und Studirtenlaufbahn veranlaßt. Diese Ursache wird jedoch sicher dann wegfallen, wenn sich jene Nahrungszweige wieder heben; sie ist also keine bleibende, wie die vorher besprochene. Man wird dann wieder einsehen, daß Handwerk und Handel etc. unter Umständen besser im Leben fördern, als das Studiren. Selbst die „Sicherheit der Zukunft“ der Kinder, worauf bekanntlich gerade deutsche Eltern, im Gegensatze zu Engländern, Amerikanern etc., so bedeutendes Gewicht legen und wie sie schablonenmäßig bei der Studirtenlaufbahn vorausbestimmt zu werden pflegt, wird nicht mehr den Ausschlag geben, sobald Handel und Handwerk in den veränderten Verhältnissen der Neuzeit wieder ihre sichere Basis gefunden. Das Wagen und Ringen in Handel und Industrie ist in unserm so lange vorzugsweise Ackerbau treibenden Lande noch immer verhältnißmäßig sehr neu, und viele Eltern ziehen demselben eben die Laufbahn des Studirten vor, weil sie ganz genau vorauswissen, wie sich das Leben ihres Sohnes in derselben schablonenmäßig abwickelt. Es ist eine Beschränktheit der Lebensauffassung, die noch aus den Zeiten der Unterordnung und Unfreiheit unserer Nation herrührt und deshalb, weil sie so lange währte, auch heute noch mächtig nachwirkt, trotzdem die Stellung Deutschlands endlich wieder eine wahre Weltstellung geworden ist. Das kleinbürgerliche Denken und Handeln klebt eben den Deutschen von früher her noch vielfach an!
Dazu kommt noch, unserer Ansicht nach, daß der Deutsche von jeher geneigt ist, das Wissen zu überschätzen, es höher zu stellen, als das Können und Handeln, ganz besonders als das Handeln, welches mit körperlicher Anstrengung und Arbeit verbunden ist. Trotzdem er das schöne Sprüchwort hat: „Arbeit schändet nicht!“ taxirt er doch vielfach noch körperliche Arbeit als allzu untergeordnet im Gegensatze zu den Amerikanern, Engländern, selbst den Italienern und Franzosen, die auch jene hoch stellen, weil sie wissen, daß ohne sie die geistige nichts wirkt und nichts ist.
Mit dem soeben Gesagten in Zusammenhang steht die Anschauung, deren kürzester Ausdruck das so häufig gehörte Wort ist: „Mein Sohn soll sich einmal nicht so plagen, wie ich!“ Da man diesen Ausspruch besonders häufig gerade aus dem Munde Solcher hört, deren Beschäftigung körperliche Anstrengung verlangt, der Handwerker, Ackersleute etc., so ist er nichts Anderes, als der Ausfluß der landläufigen, zumal von den „Gebildeten“ geübten Mißachtung, die man körperlicher Arbeit zu Theil werden läßt, wenn auch Philosophen meinen, er sei der Ausfluß jener dem Menschen im Grunde angeborenen Faulheit, welche dieser nur unter civilisirten, das heißt sehr zusammengesetzten und schwierigen Lebensverhältnissen zu überwinden gezwungen sei. Wie dem aber auch sein mag, so viel ist sicher, daß man gerade in genannten Kreisen die Studirlaufbahn als die leichtere, angenehmere und auch ehrenvollere betrachtet. Leider wird dadurch das Handwerk im weitesten Sinne selbst geschädigt; denn die begabteren Kräfte werden ihm in Bethätigung jener Anschauung oft genug entzogen – und doch hat gerade und nur für solche auch heute noch das Handwerk (einschließlich Industrie und Technik etc.) einen goldenen Boden!
[676]
Von der hansischen Flanderfahrt.
II. Amsterdam. – Antwerpen. – Gent.
Amsterdam hat einen ganz specifisch holländischen Charakter, durch den es sich namentlich von den belgischen Städten unterscheidet, welche wir später besuchten. Dieser Charakter spricht sich weniger aus in den öffentlichen Gebäuden, als vielmehr in den Privathäusern, in den Canälen, den Alleen und in den Straßen.
Wir sehen hier in denjenigen Stadttheilen, welche so recht die Eigenthümlichkeiten der Handelsmetropole zur Anschauung bringen, weder Paläste, noch Miethcasernen (oder wie man in Wien sagt „Zinshäuser“), noch Villen, sondern ein eigenthümlich construirtes Wohn- und Geschäftshaus. Ich will es zu beschreiben versuchen:
Dasselbe verfolgt die Tendenz, sich möglichst schmal zu machen. Was es dadurch an Breite verliert, sucht es an Höhe zu ersetzen. Das Haus ist hoch und schmal und die Fenster sind hoch und schmal. Es wendet der Straße die Giebelseite zu, und auch der Giebel ist hoch und schmal, gleich den Stockwerken. Die meisten dieser Häuser haben nur zwei Fenster Front, das heißt zu ebener Erde ein Fenster und die Thür. Die behäbigsten nur drei, die Thür mitgerechnet.
Man sieht daraus, wie theuer der Raum war, schon damals, als man diese Häuser gebaut hat; wie sehr man darauf bedacht war, den Verkehrsstraßen zu Wasser und zu Lande den Platz nicht zu verkürzen; wie man zwar für das Licht und die Luft in den vorderen Räumen eifrig besorgt war, wie man aber über dieser Vorsorge für Gesundheit und Behäbigkeit der Menschen die Bedürfnisse des Handels und die Räume für die Waaren nicht vergaß. Jedes Haus hat, oder hatte wenigstens, seine Waarenlager, seine Speicher, seine Vorrichtung zum Hinaufwinden der Waaren. Die Packhäuser und die Geschäftslocale außerhalb des Hauses sind neueren Datums. Dann hat jedes Haus irgend eine Decoration, mit welcher der Giebel plastisch abschließt. Hier ist es eine Blume, dort eine Guirlande, da eine Schnecke, hier eine Wulst oder irgend eine jener altmodischen Verzierungen, wie sie unsere deutschen Bücher aus dem vorigen Jahrhundert als Vignetten aufweisen. Vor den Häusern findet man vielfach noch jene Vorterrassen, welche man bei uns „Beischläge“ nennt, und die man in Danzig beseitigt hat, um mehr Straßenfläche zu gewinnen. Die hohen hellen Fenster werden sehr häufig, und zwar von außen mit einer Art von Feuerspritze gereinigt, was man „Glazen-Wasschen“ nennt. Es sind alles Fallfenster, das heißt, sie sind nicht vertical, sondern horizontal in zwei Theile zerlegt, von welchen man den unteren Theil aufschieben und herunter fallen lassen kann. Die hinaufgeschobene Hälfte schien uns, wenn wir den Kopf unten hinausstreckten, wie eine Guillotine zu bedrohen; natürlich beruhte das auf Täuschung, denn die Einrichtung ist sehr solide und hat insofern einen Vorzug, als solche Fenster, die weder nach innen noch nach außen vorstehen, den Raum nicht versperren. Ueber dem Haus ragen Kamine empor in den mannigfachsten Formen. Die Häuser sind, wie ein Hanseat sagte, „alle schwarz-weiß, wie die preußischen Fahnen“. Sie bestehen aus Ziegel und Holz. Der Ziegel ist dunkel gebrannt, oft auch zum Zweck der Conservirung mit einer dunklen Masse überstrichen, sodaß die Wand in der Nähe dunkelroth oder dunkelbraun, aus der Ferne aber wie schwarz aussieht. Die Einfassungen von Thür und Fenster und alles sonstige Holzwerk ist weiß oder hellgelb. Die Thüren sind bunt angestrichen und meistens geschnitzt. Jede hat ihren blinkenden messingenen Klopfer.
Keine dieser Einzelheiten entspricht irgend einem unserer Schönheitsideale. Aber es ist Leben und Bewegung und eine Fülle von Farben und Formen in einer solchen Häuserflucht, und wenn wir sie mit unseren modernen nach der Schnur gebauten monotonen und uniformen Straßen vergleichen, so können wir nicht leugnen: das Ganze gewährt einen malerischen Anblick, trotz aller barocken, grotesken und schnörkelhaften Einzelheiten, die prima vista Anstoß erregen. Und dann sieht man überall, wie das wahre Bedürfniß richtig erkannt und demselben zweckmäßig entsprochen ist, und auch das macht einen befriedigenden Eindruck.
Die Stadt ruht auf Pfählen wie Venedig; aber „Venedig liegt nur noch im Reich der Träume“, und seine Canäle sind verödet. Hier dagegen pulsirt überall das lebhafte Leben. Da wimmelt es von Menschen und Masten, und nirgends ist Ruhe oder Erstarrung.
Und doch giebt es neben diesen belebten Stadttheilen auch andere, welche in einer stolzen und stillen Vornehmheit und Zurückgezogenheit leben, und an der Außen-Amstel baut man in neuerer Zeit auch frei und einzeln stehende Häuser und Villen. Man kann deutlich erkennen, wie die Stadt und mit ihr deren Wohlstand gewachsen, und wie man dann später angefangen hat, die verschiedenen Functionen zu differenziren, das heißt die Geschäfts- und die Wohnräume zu trennen und diese wie jene ihren verschiedenen Zwecken entsprechend zu vervollkommnen. Aber für den Cultur- und Wirthschafts-Historiker haben jene alten, schmalen, hochbeinigen schwarz-weißen Giebelhäuser doch mehr Interesse, weil hier der Grund zu dem Reichthum der Stadt gelegt worden ist, weil sie uns durch ihren bloßen Anblick belehren.
Soviel von den Häusern, die auf beiden Seiten der combinirten Canäle und Straßen liegen, welche man „Grachten“ nennt. Ich versuche nun ein Bild dieser Verbindung von Wasser- und Landstraße zu geben.
In der Mitte also ist der Canal. Auf jeder der beiden Seiten findet man zunächst die Quaimauer, dann eine Allee, dann den Straßendamm, hierauf das Trottoir und endlich die „Beischläge“, welche man hier mit dem Collectivnamen „stoep“ bezeichnet. In die Quaimauer sind in kurzen Zwischenräumen Treppen eingelassen; auch finden sich zahlreiche Vorrichtungen zum [677] Löschen und Laden. Die Allee, welche dann folgt, besteht in der Regel aus Linden und heißt „de boompjes“, die Bäumchen. Dann folgt der Gangsteig, den wir Deutsche Trottoir nennen, die Holländer aber nicht mit einem französischen, sondern mit einem gut germanischen Worte bezeichnen, nämlich „de steenen“, die Steine; denn er ist aus schmalen Klinkers oder hart gebrannten Backsteinen zusammengesetzt, von welchen der eine dem andern als Keil dient, sodaß das Ganze eine große Dauerhaftigkeit und Consistenz hat und weit besser ist, als unsere aus Platten zusammengesetzten Trottoirs, auf welchen man, namentlich im Winter bei Nässe oder Glatteis, keinen sicheren Tritt hat und die schönste Gelegenheit findet, die Arme oder Beine zu brechen. Außer und neben den „Steinchen“ hat man aber häufig zwischen diesen und den Häusern Trottoirs aus Quadersteinen. Endlich folgen jene Terrassen oder Plattformen, welche in einiger Höhe den Häusern entlang laufen, die „stoeps“, welche im Falle einer Ueberschwemmung auch als Nothgang benutzt werden können. In der Regel sind sie mit einem eisernen Gitter umgeben und mit Bänken versehen. Auf diesen sitzt nach gethaner Arbeit der behäbige Hausherr, um in Ruhe sein Pfeifchen oder seine Cigarre zu rauchen. Man nennt das auf Holländisch „stoepen“. Es hat einige Aehnlichkeit mit der Siesta des Türken, welche man „Kef“ nennt, oder mit dem „dolce far niente“ der Italiener.
Das Wachsthum der Stadt zeigen die beiden Gürtel-Grachten, genannt „Cingel-Gracht“ (von dem lateinischen Worte Cingulum, der Gürtel), nämlich der innere Cingel und der äußere, von welchen jener die alte und dieser die neue Stadt als concentrische Kreise umschlingen, ähnlich wie Wien von dem „Ring“ und von den „Linien“ umfaßt wird. Zwischen beiden Cingel-Grachten im Westen der Stadt liegen die bereits erwähnten vornehmen Quartiere, die „Heeren-Gracht“, die „Keizers“- und die „Prinsen-Gracht“.
Amsterdam ist eine neue Stadt. Erst nach dem Falle Antwerpens (1585) entfaltete es sich zu seiner höchsten Blüthe. Es hat deshalb wenig alterthümliche oder alte monumentale Gebäude. Die vielthürmige Neumarktwage (de Waag op de Nieumarkt), früher Stadtthor, macht eine Ausnahme. Das ehemalige Stadthaus, welches seit der französischen Zwischenherrschaft königliches Palais ist (het Paleis van Z. M. den Koning), jedoch wenig oder gar nicht als solches benutzt wird, ist recht imposant, aber im Innern durch den Kunstgeschmack des ersten französischen Kaiserreichs verunstaltet. Ich vermuthe, als es noch Stadthaus war, ist es schöner gewesen. Die Thürme, welche man sonst überall sieht, sind meist reichlich vergoldet, aber ein wenig verschnörkelt. Natürlich hat jeder sein Glockenspiel, auch der auf dem Palaste des Königs.
Jedenfalls aber hinterläßt Amsterdam einen lebhaften und bleibenden Eindruck. Die Grachten mit ihren schönen Alleen und ihren reinlichen Straßen, die zahllosen, zum Theil hochgespannten und hell angestrichenen Brücken und Brückchen, die Erker und Giebel der Häuser, die zwar alle den nämlichen Grundplan haben, aber in den Einzelheiten auf das Mannigfachste variieren, [678] der lebhafte und merkwürdige Verkehr auf den Straßen, die zahllosen Schiffe und Kähne, alles Das vereinigt sich zu einem Bilde, welches ebenso lebendig als charakteristisch ist.
Am zweiten Tage um vier Uhr nahmen wir an Bord unseres „Schwan“ Abschied von unseren Amsterdamer Wirthen, und am anderen Morgen erwachten wir Angesichts der Insel Walcheren und ihrer alten Stadt Vlissingen. Sie ist der Geburtsort des berühmtesten Seehelden des 17. Jahrhunderts, des Admirals Michiel Adriaanszoon de Ruyter; auch hat Vlissingen zuerst von allen niederländischen Städten 1572 die Fahne der Unabhängigkeit aufgepflanzt. Von hier ging es an Südbeveland vorbei, wovon ein Theil in Folge von Damm- und Deichbrüchen im Jahre 1532 „verdronken“, in der Osterschelde, und bald waren wir in Antwerpen, der mächtigen Concurrentin von Amsterdam, deren großartige Blüthe datirt von der Beseitigung des Scheldezolles der Holländer durch die Ablösung von 1863. Wir wurden hier durch ein Comité, an dessen Spize der deutsche Consul stand, und zu welchem zahlreiche hier ansässige Deutsche gehörten, nicht minder freundlich wie in Amsterdam empfangen und zunächst nach dem Rathhause in den großen Saal geleitet, wo uns der Bürgermeister de Wael, eine Hauptstütze der liberalen Partei dieses Landes, in französischer Sprache begrüßte und der Senator Versmann in unserem Namen deutsch antwortete, nachdem Herr de Wael versichert, daß er Deutsch verstehe.
Diese beiden vortrefflichen Reden machten um so mehr Eindruck, als derselbe unterstützt ward durch die historische und künstlerische Ausschmückung des großen Saales, welcher auch „la salle Leys“ genannt wird. Seine Hauptzierde sind die Wandgemälde, mit welchen H. Leys dies Zimmer geschmückt hat. Obgleich dieselben aus der Zeit von 1864 bis 1869 datiren, so wollte doch Mancher darauf wetten, sie seien alt und gut restaurirt. So gut ist der Ton des 16. Jahrhunderts getroffen. Die Stoffe sind der Geschichte der Stadt entnommen und bringen deren Rechte und Freiheiten in anschauliche Erinnerung. Da sehen wir alle jene Fürsten, welche die Stadt mit Rechten und Freiheiten begabten, von Gottfried von Bouillon (1096) bis zu Philipp dem Schönen von Spanien (1491). Wir sehen, wie Karl V. bei seinem feierlichen Einzuge (1514) schwört, die Freiheiten der Stadt zu achten und aufrecht zu erhalten; wie der Bürgermeister, als oberster municipaler Kriegsherr, seine Anordnungen trifft und namentlich 1542 dem Schöffen C. van Spangen den Auftrag zur Vertheidigung der Stadt giebt; wie während der Unruhen von 1567 Margaretha von Parma dem Bürgermeister die Schlüssel der Stadt überreicht etc., Alles mit lebensgroßen Figuren und in lebhafter und doch harmonischer Farbenpracht. Die Architektur zeigt den Stil italienischer Frührenaissance, die Decke das Wappen der Stadt (neben dem Schilde zwei ausgestreckte Hände) und die Schilder der verschiedenen Zünfte. Das große Marmorkamin paßt zu dem Ganzen. Das Rathhaus selber imponirt durch seine Masse. Sein Aeußeres zeigt ebenfalls einen consequent durchgeführten Renaissancestil, unten große Laubengänge oder Hallen, oben einen thurmartigen Mittelbau. Die hohen Gildehäuser, welche den Markt umgeben, tragen dazu bei, den Eindruck zu erhöhen.
Nach dem feierlichen Empfange zerstreuten wir uns in die Stadt, indem Jeder seinen besonderen Liebhabereien nachging. Es ist merkwürdig, was dieses alte Antwerpen, im Vergleiche zu dem verhältnißmäßig jungen Amsterdam, in seinen meisten Theilen für einen modernen Eindruck macht. Der Grachten sind nur noch wenige, der schönen und großen Bassins desto mehr. Ein Theil derselben ist von Napoleon I. erbaut. Er erkannte die mercantile Bedeutung des Ortes und leistete derselben durch diese Anlagen Vorschub, aber gleichzeitig verfolgte er eine Handelspolitik, welche durch ihre Feindseligkeit diese guten Absichten vereiteln mußte. Durch die Continentalsperre wollte er England von dem Festlande ausschließen, in Wirklichkeit aber schloß er sich und die ihm direct und indirect unterworfenen Länder von der See aus. Was früher Napoleon that, das that später der Scheldezoll, der die Entwickelung des Antwerpener Handels hemmte und unterdrückte. Erst seitdem dieses künstliche Hemmniß beseitigt ist, gelingt es Antwerpen, immer mehr die natürlichen Vortheile seiner Lage auszunutzen, worin es durch die Gotthardbahn eine kräftige Unterstützung findet. Auch die große Citadelle, welche früher am südlichen Ende der Stadt lag und dieser in ihrer Entwickelung im Wege stand, ist geschleift und durch detachirte Forts ersetzt worden. Beiläufig bemerkt, ist es uns aufgefallen, daß man, obgleich hier doch der Hauptwaffenplatz des Königreichs ist, so wenig Soldaten und fast gar keine Officiere (welche sich in der Regel der Civilkleidung bedienen) in der Stadt sieht. Dafür erblickt man desto mehr Priester und Mönche. Unter dem jetzigen Ministerium könnte Belgien ein zweiter Kirchenstaat werden, wenn nicht unser Herrgott dafür gesorgt hätte, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Auf dem großen Terrain der ehemaligen Citadelle entfaltet sich eine lebhafte Bauthätigkeit. Die überall abgesteckten Straßen sind schon vielfach mit Häusern besetzt, sowohl mit sehr einfachen, als auch mit recht prachtvollen, zum Theil in einem etwas schwerfälligen Renaissancestil. Auf den noch unbebauten Ländereien wird der Palast für die im Jahre 1885 hier stattfindende Weltausstellung errichtet. Man ist schon mitten in den Vorbereitungen begriffen und hofft, daß sich auch Deutschland an derselben thatkräftig betheiligt.
Wie sehr Antwerpen seine Stellung begreift, beweisen die großartigen und zweckmäßigen Anlagen längs des Ufers der Schelde, welche den Vergleich aushalten mit den Verbesserungen, die London gemacht hat längs der vormals so öden und wüsten Ufer der Themse. Unsere Abbildung S. 676 zeigt die in der Umwandlung begriffenen Schelde-Quais, dahinter die Stadt mit dem mächtigen Thurme der Kathedrale. Früher stand hier ein Stadttheil von meist kleinlichen und ärmlichen Häusern. Die Güter, welche hier ausgeladen wurden, mußten vorläufig da liegen und warten, bis sie von den sogenannten „Nazjen“ (welche man bei uns Markthelfer oder „Rheinschnaken“ nennen würde) weiter gewälzt wurden. Die Bahnhöfe hatten keine Verbindung unter einander und mit dem Hafen. Ein wirklicher Centralbahnhof bestand nicht.
Jetzt ist man im Begriffe, wie dies Senator Versmann treffend ausdrückte, die Aufgabe zu lösen, einen allen Anforderungen entsprechenden Quai herzustellen mit Schuppen und allen sonstigen Erfordernissen, die Eisenbahn über denselben zu führen und „die Schienenwege in die unmittelbare, engste und zweckmäßigste Verbindung mit der Wasserstraße und deren Fahrzeugen zu bringen“. Die Anlagen sind noch nicht ganz fertig, aber Das, was fertig ist, bietet die Bürgschaft einer raschen Ausführung (man hat erst 1881 mit derselben begonnen) und eines vollständigen Gelingens. Unsere deutschen Häfen können hier Mancherlei lernen. An dem neuen Quai legte auch unser „Schwan“ an, und der Unterschied zwischen Ebbe und Fluth war an diesem Anlegeplatze so groß, daß wir einmal in gleichem Niveau mit der Quaifläche waren, das andere Mal stark hinauf und das dritte Mal stark hinunter klettern mußten, um auf das Schiff zu gelangen, wobei allerlei komische Dinge passirten, namentlich bei denjenigen theuren Gefährten, welche spät in der Nacht aus dem „Münchener Hofbräu“ zurückkehrten, das hier eine vielbesuchte Filiale hat. Sonst trinkt man hier von deutschen Bieren mit Vorliebe Straßburger.
Der Charakter der Stadt ist ganz anders als der von Amsterdam. Sie hat, obgleich ganz vlamisch, doch in ihrem Aeußern einen etwas französischen Typus, erinnert aber zugleich an eine alte vornehme deutsche freie Reichsstadt. Auf der „Place de Maire“ z. B., die so ziemlich den Mittelpunkt, wenigstens für die Fremdlinge, bildet, findet man im unteren Stockwerke ein reges, geschäftliches Leben. Da sind Comptoire, Magazine und Café’s und Kneipen. Aber in den oberen Regionen herrscht ein vornehmes Schweigen; da wohnen die reichen Leute; die Fenster sind verhängt; entweder sind die Eigenthümer in den Bädern und Sommerfrischen, oder sie wohnen hinten hinaus nach den Höfen und Gärten zu. Der Ziegelbau, der in Amsterdam herrscht, ist hier verschwunden. Statt der Backsteine sieht man Marmorfaçaden, aber ich kann mir nicht helfen, auch wenn man das für schlechten Geschmack hält: der Marmor ist zwar vornehmer, aber der Backstein ist pittoresker.
Ich muß nun noch der Museen und der Kathedrale, deren Bilder einer besonderen Darstellung bedürfen, des prachtvollen Festes, das uns die hiesige deutsche Colonie in dem „Cercle artistique“ gab, des Hauses der Osterlinge und des „Musée Plantin“ gedenken. Das Letztere ist eine Specialität, welche in allen fünf Welttheilen nicht ihres Gleichen findet und welche immer mehr Besucher anziehen wird, namentlich solche, welche sich für die Geschichte der geistigen und der wirthschaftlichen Cultur, insbesondere [679] aber für die Geschichte der Buchdruckerei, der Wissenschaften, des Verlags und des Buchhandels interessiren.
Christophorus Plantinus, der dies Haus gründete, war einer jener großen Drucker des 16. Jahrhunderts, welche die Erfindung der Buchdruckerei gemeinnützig machten für die ganze Menschheit. Von kleinsten Anfängen ausgehend, gewann sein Geschäft eine Ausdehnung, daß es sich über ganz Europa erstreckte und er mit den mächtigsten und größten Männern seiner Zeit in Correspondenz stand. Unter seinem Schwiegersohn Moretus und dessen Nachkommen wurde das Geschäft in gleichem oder größerem Umfange fortgesetzt und Jahrhunderte lang wurden die Schätze der Druckerei, des Buchhandels, der Bibliothek, der Bildergallerie und des Archives aufbewahrt und vermehrt in dem nämlichen Hause, worin sie sich noch heute befinden, – in diesem großen und alten Hause, dessen innerer Hof mit Säulengängen umgeben und von einem uralten mannsdicken Weinstock überwachsen ist, der mit seinem frischen, von Sonnenstrahlen durchzitterten Grün die alten röthlich strahlenden Wände ausschmückt. Seit 1873 ist das Ganze im Besitze der Stadt, welche es seit 1877 dem Publicum zugänglich gemacht hat, während der Director des Museums, Max Rooses, und Max Buelens, der verdienstvolle Verfasser der „Annales Plantiniennes“, die in der Domus Plantiniana angehäuften Schätze für die Wissenschaft verwerthen.
Das alte Haus der Osterlinge, die maison hanséatique, steht hier in Antwerpen noch, während sie in Brügge gänzlich verschwunden ist.
Wir finden das zwar stattliche, aber sehr verwahrloste Haus am nördlichen Ende der Stadt zwischen dem großen und dem kleinen Bassin. Die drei Quais, welche dasselbe auf der West-, Nord- und Ostseite umgeben, sind nach Hamburg, Bremen und Lübeck benannt. Das Gebäude wurde zwischen 1564 und 1568 aufgeführt, und damalige Schriftsteller behaupten, es sei einem königlichen Palaste vergleichbar. Allein kurz darnach erfolgte der Sturz Antwerpens (1583) und bald darauf begann auch der Verfall der Hansa. Die Mittel zur Unterhaltung des Hauses waren schwer aufzubringen. Das Eigenthum ging ausschließlich auf Hamburg, Bremen und Lübeck über, welche allein sich noch der Sache annahmen. Endlich im Jahre 1863 wurde dasselbe an Belgien übertragen, für eine Million Franken, welche Summe bei Ablösung des Scheldezolles verrechnet wurde. Wenn man sich ein lebendiges Bild machen will von diesem Haus in Antwerpen, so muß man die genaue Beschreibung des „Hauses der Orientalen“ oder Osterlinge von Brügge nachsehen, welche sich in dem Archive der Stadt Köln befindet und die August Reichensperger, unter Beigabe der betreffenden Zeichnung, in seiner Sammlung „Allerlei aus dem Kunstgebiete“ (Brixen, 1867), mit interessanten Randglossen publicirt hat. Der Mangel an Raum zwingt mich, auf die weitere Ausführung dieses höchst interessanten Stoffes zu verzichten. Ich erwähne nur noch den „Quintin-Massys-Brunnen“, ein Werk aus Schmiede-Eisen, angeblich von dem berühmten Massys, der seiner Zeit Grobschmied und dann ein berühmter Maler („in sijnen tyd grofsmidt en darnaer famus schilder“) war, und den Gottfried Kinkel in seinem „Grobschmied von Antwerpen“ besungen. Unsere nebenstehende Abbildung zeigt den alten Brunnen und einige junge Dirnen, welche ebenso, wie das Milchmädchen auf dem andern Bilde, S. 677, an Kinkel’s Verse erinnern:
„Und seht Ihr Euch das Mädchen an –
Ich weiß nicht, ob’s Euch ganz gefiele –
Es ist kein Weib für jeden Mann,
Etwas im kräftigen Pallas-Stile“ etc.
Auch muß ich schließlich noch des schönen Festes gedenken, das uns an dem letzten Abend die deutsche Colonie in Antwerpen in den zu diesem Zwecke gemietheten Räumen des „Cercle artistique, littéraire et scientifique“ gab, einer Gesellschaft, in welcher sich das ganze Culturleben der Stadt concentrirt hat und deren prachtvolle Räume die besten Maler des Landes durch schenkungsweise hierher gestiftete Bilder ausgeschmückt haben in einer Weise, wie sie kein anderes Gesellschaftslocal aufweist. Die Gesellschaft war indeß keineswegs ausschließlich hanseatisch. Man hörte auch viel Vlamisch und Französisch. Auch Süddeutschland und die deutsche Schweiz waren vertreten; und wenn ich an den Hader der Parteien und den Krieg der Interessen in Deutschland dachte, so sagte ich mir: „Was vertragen sich doch die Deutschen so herrlich – im Auslande!“
Den Kopf noch voll herrlicher Erinnerungen an den schönen Abend, machten wir am andern Morgen einen sehr langen Gänsemarsch von unserem „Schwan“ (den wir seinem Schicksal überließen, um ihn in Ostende oder Brügge wiederzufinden), die neuen Quais entlang, und an dem alten „Steen“ (siehe die Abbild. S. 677) vorüber – ursprünglich ein Theil der alten Burg, dann Sitz der spanischen Inquisition, die hier noch allerlei Einrichtungen raffinirtester Bosheit und Grausamkeit zurückgelassen, und jetzt ein ganz sehenswerthes Museum von Alterthümern – an die Waesbahn, station du Pays de Waes, wo wir auf das linke Ufer der Schelde übersetzten und, immer noch den Blick auf die thurmreiche Stadt gerichtet, uns auf der Eisenbahn nach Gent einschifften. Wir kamen gegen elf Uhr dort an und unersättliche oder sagen wir lieber wißbegierige und fleißige Touristen, wie wir nun einmal sind, nahmen wir uns kaum Zeit zum Frühstücken und stürzten uns gleich wieder auf die Sehenswürdigkeiten. Wir hatten dabei an Herrn Dr. Frederick, Professor der Geschichte und der Literatur [680] an der Universität, einen vortrefflichen Führer. Die Stadt Gent, die Hauptstadt von Ostflandern, erfreut sich einer erneuerten Blüthe. Sie ist jetzt vorzugsweise Fabrikstadt und der Sitz zahlreicher Spinnereien und Webereien, sowie von Spitzen- und von Maschinenfabriken. Ihre Handelsgärtnerei erfreut sich einer großen Berühmtheit. Nicht minder die Spitzenklöppelei. Im Mittelalter war die Tuchweberei das Hauptgeschäft. Die Weber waren sehr streitbare Leute und stets bereit, zu den Waffen zu greifen. Die Stadt hat jetzt über 132,000 Einwohner; und ich glaube, daß sie auch im Mittelalter nicht viel mehr gehabt hat. Die gegentheiligen Angaben beruhen wohl auf Uebertreibung, wie dies Friedrich Oetker in seinen „Belgischen Studien“ nachgewiesen.
Kaiser Karl V., der hier im „Prinzenhof“ geboren ist, einem Gebäude, das schon lange verschwunden und nur in einem Straßennamen einen Niederschlag zurückgelassen, hat einen Aufstand der Stadt benutzt, um ihre Selbstverwaltung zu beschränken und ihr die politischen Rechte, die ihr von seinen Vorfahren so reichlich verliehen worden waren, ganz zu entziehen. Dagegen entfaltete die Stadt unter ihm die höchste wirthschaftliche Blüthe. Die Blüthe von Brügge aber ging mit dem Mittelalter zu Grabe, während die von Gent noch lange fortdauerte; und in diesem Gegensatz zwischen beiden Städten liegt auch die Verschiedenheit ihres heutigen Charakters und Aussehens begründet. In Gent ist der Periode der Gothik eine solche der Renaissance gefolgt; die letztere hat versucht, die gothischen Baudenkmale (von welchen vorzugsweise noch einzelne Thore erhalten sind, wie das hier abgebildete alte Rabot-Thor, an welchem Friedrich III. eine Schlappe erlitt, als er 1488 seinem Sohn Max zu Hülfe eilen wollte) zu verdrängen, zu überbieten oder gar zu „verbessern“, das heißt oft: zu verballhornen. Das Rathhaus ist dafür ein sprechendes Beispiel: an den alten Bau, der ein Meisterwerk gothischer Baukunst, hat man einen neuen Flügel angebaut, der sich mit der ganzen anspruchsvollen Pracht des Renaissancestils präsentiert, ohne den Eindruck des alten gotischen Hauses verwischen zu können, während der Gegensatz zwischen beiden Theilen dem Gesammteindruck des Ganzen nur schadet.
In Brügge dagegen hörte mit dem Mittelalter und seiner Kunst auch der Wohlstand der Stadt auf. Damit entging man der Versuchung, den einheitlichen architektonischen Charakter der Stadt durch Renaissance- und später durch Barockstil zu stören. Leider hat man Manches niedergerissen, weil man keine Mittel hatte es zu unterhalten, vielleicht auch keinen Geschmack, um es zu würdigen.
Gent bietet gleichwohl in seiner Kathedrale, in seinem Beffroy, in seinen Bildern, in seinen Beguinenhöfen eine Anzahl von Sehenswürdigkeiten, welche eine eingehende Besprechung verdienen, aber wegen Mangel an Raum hier nicht finden können.
Brausejahre.
Corona Schröter hatte an dem Abend in Tiefurt, als sie, erschüttert von jener Begegnung im Park, mit Einsiedel zu Tisch saß, ihrem treuen Verehrer das Versprechen völliger Offenheit gegeben. Vertrauensvoll wollte sie ihm endlich die Gründe darlegen, welche sie hinderten, sein Liebeswerben anzunehmen. Es ward ihr sichtlich schwer, seinem Flehen und Drängen um Aussprache zu willfahren, aber sein Zweifeln an ihrer Empfindung für ihn, seine trübe Klage über seinen Unwerth, seine ungenügende Begabung, Stellung, Besitz – für sie, die er so hoch hielt, rührten ihr Herz tief.
Die schöne Sängerin saß wenige Tage später, den Freund erwartend, bang und niedergeschlagen in ihrem Zimmer; das siegreiche Auge gesenkt, die Wange bleich, war sie mit den im Schoß gestalteten Händen kein Bild glücklicher Liebe.
[681] Vor ihr stand die dicke, kleine Freundin, ihr, wie so oft schon, vergeblich Trost zusprechend.
„Es muß sein; und wenn er alles weiß, wird es besser mit mir werden!“ seufzte Corona. „Sorge Dich nicht um mich, Minchen, ich muß es überstehen! Und laß uns allein, wenn er kommt, denn was wir in dieser Stunde miteinander ausringen, darf Niemand, auch das treuste Freundesherz nicht, theilen.“
Bald darauf hörten sie Einsiedel’s Schritt auf dem Hausflur. Wilhelmine sprang hin ihm zu öffnen und schlüpfte dann, mit einem traurigen Blick auf die Freundin, hinaus.
Corona erhob sich und streckte dem Kommenden die Hand entgegen; ihre Glieder bebten, und sie mußte sich niedersetzen, um nicht hinzusinken.
Er eilte auf sie zu, preßte ihre Hand an Lippen und Herz und sah sie mit dem warmen Blick besorgter Liebe an.
„Wie bleich, Corona!“ flüsterte er; bewegt aber fuhr er fort: „Was werden Sie mir Großes, Trennendes zu sagen haben? O, ich schwöre Ihnen im Voraus: ich nehme es mit jedem Feinde, jedem Hindernisse auf! Sobald ich nur weiß, um was es sich handelt, bin ich zur That bereit.“
„Ich danke Ihnen für diesen Enthusiasmus der Liebe, der Ihrer still träumerischen Art seltsam, aber herzbestrickend läßt. Armer Freund! Sie und ‚Er‘, welch ein ungleicher Kampf! Armes unschuldiges, vertrauendes Kind, möchte ich sagen, wenn ich Sie mir Ihm gegenüber denke!“
„Corona! schonen Sie mein männliches Selbstgefühl und sprechen Sie es endlich aus, wer dieser Er, dieser Gewaltige, Unbezwingliche, Ihr Herr und Tyrann, der Spender jener unheimlichen Sammetschleife ist, und was er Ihnen ist.“
„Wir sind zu diesem Zwecke heute beisammen,“ erwiderte sie mit dem tiefsten Ernste. „Was er mir ist? O Einsiedel! - Er ist - mein Gemahl!“
Sie sank zurück und bedeckte ihr Angesicht mit den Händen. „Corona!“ schrie er aus, „Sie, Sie vermählt? Das ist also jenes Hinderniß! - Schrecklich! -“
Er ging mit starken Schritten in dem kleinen Zimmer auf und ab und trat wieder vor sie hin. Ihr mit sanfter Gewalt die Hände von den tränenfeuchten Augen nehmend, sah er sie liebevoll an und bat:
„Erzählen Sie mir Alles; sagen Sie mir, wie Sie ihm verbunden wurden und wer er ist!“
„Ja,“ entgegnete sie, sich aufraffend, „das Furchtbare ist ausgesprochen, es wird mich erleichtern, Alles erklären, Ihnen aus tiefster Seele beichten zu können.“
Er setzte sich zu ihr, nahm dann und wann ihre Hand und lauschte mit ganzer Hingabe ihren Worten. Corona hub an:
„Als ich zwölf Jahre alt war, kam ich mit Eltern und Geschwistern nach Leipzig und sang ein paar Jahre darauf in den großen Concerten. Der treffliche Capellmeister Hiller bildete mich aus, und ich lebte von ganzem Herzen in der Musik. Ich mußte mich anstrengen, denn ich sah eine hochbegabte, Alles verdunkelnde Rivalin mit mir um die Gunst des Publicums ringen; Sie wissen, wen ich meine: Demoiselle Schmehling, die jetzige Frau Mara. Diese Anspornung, Tüchtiges zu leisten, erhob mich und bewahrte [682] mich vor Tändeleien. Ich hatte nur Herz und Sinn für das Eine: groß zu werden in meiner Kunst!
Mein Vater fand ein anderes günstiges Engagement und zog mit der Familie fort, ich blieb, für die Collcerte angestellt, in Leipzig. - Sie werden es nicht für eitle Prahlerei halten, lieber Freund, wenn ich erwähne, daß mir von manchen Seiten gehuldigt wurde. Der Enthusiasinus des Jünglings und das ernstgemeinte Werben des Mannes kam mir entgegen, aber mein Herz schwieg, ich hielt mich selbst für kühl, für unfähig, mich dem vielgepriesenen Gefühl der Liebe zu erschließen. Wieder war es meine Kunst, von der ich überzeugt war, daß sie mich ganz ausfülle.
Da, kaum ein Jahr vor meinem Scheiden aus Leipzig, fiel mir in einem Concert ein schlanker Mann in schwarzer Salmmetkleidung auf, der mich mit seinen dunklen Augen unablässig verfolgte. Die Angst und Pein, welche ich unter seinen Blicken litt, steigerte sich derartig, daß es mir schwer wurde, meine zweite Arie zu Ende zu singen.
Noch beklommen von jenem Eindruck, schloß ich mich zum Nachhausewege einer bekannten Familie an und hatte, als die Frerunde mich verließen, nur noch ein kurzes Gäßchen bis zu meiner Wohnung zu durchschreiten. Als ich hier einbog, trat eine Gestalt ans mich zu, in der ich zu meinein unaussprechlichen Schrecken den imponirenden Fremden erkannte.
Er redete mich an und lobte meinen Gesang; ich verstand anfänglich in großer Verwirrung kaum, was er sagte, und erschrak zugleich über dies mir so fremde Gefühl von Angst und Scheu.
Er begleitete mich, ohne daß ich es ihm zu wehren vermochte, bis zu meinem Hause und bat beim Abschied, mich morgen besuchen zu dürfen. Obwohl ich überzeugt war, daß ich die Bitte nicht gewährt, wußte ich doch, daß er kommen würde.
Die Nacht verbrachte ich schlaflos und unter dem Druck einer beklemmenden Spannung, wie in Erwartung eines großen und folgenschweren Ereignisses, eines über mir schwebenden Verhängnisses. O, wie haben sich meine damaligen bösen Ahnungen bestätigt! Am andern Morgen wartete ich mit Zittern auf seinen Besuch und sah ihn gegen Mittag bei mir eintreten.
Es entspann sich nun ein ganz wunderbares Verhältniß. Mir ward nie wohl in seiner Nähe, ich sehnte mich nie nach seinem Kommen, aber ich mußte seine Nähe dulden, denn die Kraft ihn abzuweisen besaß ich nicht.
Zergrübelt habe ich mir den Kopf, um herauszufinden, worin seine Macht bestehe, die er vom ersten Augenblick an über mich gewonnen hatte.
Er war weder jung noch schön, aber alles an ihm trug das Gepräge der Vornehmheit, Sicherheit, Herrschgewißheit. Ich, sonst nicht ohne Selbstgefühl, kam mir in diesem Verhältniß vor, wie die Sclavin dem Sultan gegenüber, wie der Vogel im Bann der Schlange, kurz wie ein ganz willenloses und hülfloses Wesen.
Er sagte mir nach einigen Wochen - nichts von Liebe oder Leidenschaft - nein, nur, daß er wünsche, mich sein zu nennen. Und ich, erschrocken, aber nicht überrascht, ich - willigte ein!
Weshalb ich’s that, das blieb mir selbst ein Räthsel. Als er gegangen war, regte sich meine alte Selbstständigkeit, ich schalt mich, ich zürnte mir, ich beschloß mein Jawort zurückzunehmen, ihn nie mehr zu empfangen, keine Ueberredung zu dulden; als er aber kam, Pläne entwarf und mich seine ‚verehrte Braut‘ nannte, schwieg ich und bemühte mich, seinen Wünschen nachzukommen.
Ist es Ihnen nie geschehen, Hildebrand, daß Sie schier unwillkürlich Dinge thaten, Worte sprachen, die Sie eigentlich nicht thun, nicht sagen wollten? Mir ist dies Mißgeschick oder diese Schwachheit dem Grafen gegenüber oft begegnet. Ich weiß nicht zu sagen, was mich trieb oder hinriß, aber ich ging immer weiter, als meine Absicht war. Soll ich’s Furcht nennen? War’s Eitelkeit, die ihm genügen wollte? Oder war es Beides und der zwingende Einfluß seiner Persönlichkeit dazu?
Der merkwürdige Mann besaß ein fast übernatürliches Wissen. Er kannte alle Länder und vermochte auf das Lebhafteste von bedeutenden Menschen und fernliegenden Verhältnissen zu erzählen; ja manchmal schien sein genaues, persönliches Kennen sich auf längst Vergangenes zu beziehen, sodaß ich ihm mit starrem Schrecken zuhörte. Die Gedanken las er mir von der Stirn, beantwortete Fragen, die ich noch nicht ausgesprochen, war plötzlich dicht neben mir, ohne daß ich sein Kommen gehört, und beschäftigte so ausschließlich meine Gedanken, daß ich doch manchmal glaubte, ich liebe ihn.
Er hatte mir gesagt, daß er in Dresden wohne, aber Franzose sei, Graf Saint Germain heiße, und daß er wünsche, da ich hier weder eine eigene, noch eine seinem Range ebenbürtige Familie besitze, die uns eine Hochzeit rüsten könne, sich still mit mir in Dresden zu vermählen. Ich solle vorläufig meinen Contract nicht lösen, sondern, bis er sein Haus eingerichtet und gewisse Hindernisse beseitigt habe, wieder nach Leipzig zurückkehren.
Ich ging in meiner Bezauberung und Willenlosigkeit auf seine Vorschläge ein und reiste mit ihm nach Dresden.
Wir kamen gegen Abend an und stiegen vor einem düsteren Hause der Vorstadt ab. Pierre, sein französischer Kammerdiener, den ich schon früher mit ihm in Leipzig gesehen hatte, empfing uns. Wir fanden in einem großen Zimmer mit weißgetünchten Wänden einen blumengeschmückten Altar, aus dem reiche Armleuchter mit brennenden Kerzen standen, Vorkehrungen, die, obwohl sie mir nicht unerwartet kommen konnten, mich mit plötzlicher Angst erfüllten.
Der Graf führte mich in ein anstoßendes Cabinet, wo ich meine Toilette ordnete; der Brautkranz lag für mich bereit.
Als ich in das große Zimmer zurückkehrte, standen ein Geistlicher am Altar und zwei würdige, mir fremde Herren als Zeugen bereit. Die heilige Ceremonie begann sogleich; ich ward dem Grafen angetraut und fand, trotz innersten Widerstrebend auch hier, in der letzten Minute, nur das von mir verlangte Ja!
Nach der Trauung geleitete mich mein Gemahl in das Cabinet zurück, umarmte mich, bat mich, da ich zitterte und tief ergriffen war, der Ruhe zu pflegen, die Reise habe mich angestrengt, er wolle sich dem geistlichen Herrn und seinen Freunden, den Zeugen, empfehlen, ich solle, wenn ich mich erholt habe, ihn im anstoßenden Zimmer erwarten, wo wir mit einander soupiren würden.
Nach kurzer Zeit kehrte ich in das große Zimmer zurück. Der Altar mit den Armleuchtern war fortgenommen, dafür stand ein Eßtisch mit zwei Converts inmitten des Raums, ein Paar Lehnsessel daneben und irgendwo zur Seite ein mattbrennendes Licht. Ermüdet wie ich war, setzte ich mich in einen der Sessel und wartete.
Ich befand mich in zu großer Erregung um schlafen zu können, aber ein Gefühl von Schwindel kam über mich.
Mein Blick war starr auf die große, weiße Wand vor mir gerichtet, und mechanisch verfolgte ich die schwebenden Schatten, welche bei dem schwachen Licht jener einen herabgebrannten Kerze darüber hinfuhren.
Plötzlich dichteten sich jene Schatten, ich erkannte die Umrisse einer Gestalt – sie glitt, mit schleppendem Kleide aus dem Estrich wandelnd, heran. Es war eine Frau, doch in fremder Tracht. Als sie mir gegenüber stand, sah sie mich bekümmert an, hob die Hände wie klagend und sagte mit Jammertönen:
‚Armes Weib! Armes Weib!‘ - damit schritt sie vorüber.
Ich wollte aufspringen, schreien, aber ein kaltes Entsetzen lähmte meine Glieder.
Schon folgte der Ersten eine Andere. Sie war nicht wie ihre Vorgängerin gekleidet, mich sahen mich noch bleichere Gesichtszüge an, dunkles Haar fiel über ihre Schultern.
‚Auch Du verloren?‘ sagte sie mit schneidendem Ton. ‚Auch Du von ihm verlockt?‘ Sie riß ihr Tuch herunter und ich sah ein rothes Mal an ihrem Halse.
Mit einem Angstschrei, der mich selbst entsetzte, schlug ich vom Stuhl zu Boden.“
Einsiedel war aufgesprungen und stand ihr gegenüber; er hatte die Arme untergeschlagen, um sein laut pochendes Herz, seine zitternden Nerven zusammenzupressen, jetzt rief er:
„Du träumtest, Corona! Dies war keine Wirklichkeit!“
„Höre nur weiter,“ sagte sie matt. „Als ich die Augen wieder öffnete, stand er, mit seinen gespannten Mienen, seinem eisigen Blick, über mich geneigt.
Ich sprang auf, wehrte ihn ab und warf mich ihm, von Todesangst getrieben, um Gnade stehend, zu Füßen.
Er verschränkte die Arme und sah mit einem spöttischen Ausdruck des Triumphes auf mich nieder.
‚Gräfin Saint Germain bist und bleibst Du,‘ sagte er kühl. ‚Das Wie, darüber läßt sich handeln.‘
[683] Und wir handelten, Hildebrand, wir handelten, aber seine erste Bedingung breche ich jetzt. Ich mußte ihm schwören, nie unsere Verbindung und meine Erlebnisse zu verrathen, nie das Liebeswerben eines anderen Mannes anzunehmen, stets ihm zu gehorsamen und, als Zeichen meiner Treue für ihn, diese schwarze Sammetschleife zu tragen.
Da hast Du mein Geheimniß! Auch die treue Wilhelmine kennt es nur halb.
Nachdem ich jene mir von ihm vorgeschriebenen Bedingungen mit den heiligsten Eiden beschworen hatte, gab er mich äußerlich frei und gestattete mir, in derselben Nacht mit einem von ihm herbei geschafften Wagen allein nach Leipzig zurück zu reisen.“
„Teufel von einem Mann!“ rief Einsiedel aus. „Was konnte ihm daran liegen, diese Komödie, dieses Bubenstück mit Dir aufzuführen? Denn daß Alles Lug und Betrug war, glaube ich fest. Ich meinte, er habe Dich doch, trotz äußerer Kühle, mit heißer Leidenschaft geliebt. Er habe Dich besitzen wollen. Wenn das aber abgeschlossen ist, wozu die Mühe, Dich zu umgarnen?“
„Dieselbe Frage habe ich mir anfänglich oft vorgelegt. Vielleicht ist in ihm etwas von der Jagdlust des Raubthiers, welches sich an den Qualen der Beute freut; dem das Erhaschen, Zappelnsehen eine Wollust ist. Und dann: er konnte mich in meiner Abhängigkeit gebrauchen! Wie oft habe ich nicht von ihm Befehle empfangen und befolgt, an deren Ausführung ihm vielleicht etwas lag! Ich war stets sein willenloses Werkzeug für geheime Intriguen und bin in Folge meiner Stellung als Künstlerin mit vielen einflußreichen Leuten in Berührung gekommen. Ja, ich gehorchte ihm, denn ich zitterte und zittere noch, ihn zu erzürnen! Ich bin wie ein hülflos flatternder Schmetterling in seiner starken Hand: er gönnt mir Luft zum Athmen, so lange es ihm gefällt; drückt er die Hand zu, ist Alles aus.
Sein vor Zeugen ihm angetrautes Weib bin und bleibe ich, in eine Scheidung wird er nie willigen; lehne ich mich gegen ihn auf, so kann er Rechte geltend machen, an die nur zu denken mich mit Entsetzen erfüllt!“
Hildebrand von Einsiedel, der Poet und Idealist, der feine Hofmann und doch so treue kindliche Mensch, war nicht gemacht, die Geliebte aus diesem Netz geheimer Ränke zu befreien. Wäre er aber auch ein Haudegen, ein energischer, welterfahrener Mann gewesen, Corona’s grenzenlose Angst vor ihrem Gebieter, ihre Furcht, nur an die Kette zu rühren, die sie umschlossen hielt, würden seine Thatkraft gelähmt haben.
Sie wollte weiter nichts, als ihm begreiflich machen, daß an eine eheliche Verbindung zwischen ihnen Beiden nicht zu denken sei, und Hildebrand’s weichem, passivem Charakter gegenüber glückte ihr dies Vornehmen bald.
Er gelobte ihr Schweigen und endlich, doch nach manchem Kampf – Entsagung.
Sie versprach, ihn ewig als Freund, als Bruder zu lieben. So schieden sie, auf einer neuen Stufe ihres Verhältnisses zu einander angelangt.
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Vor einiger Zeit kam aus Frankreich die überraschende Kunde, daß jenes schwierige Räthsel, welches seit Jahrhunderten die Menschheit beschäftigte, endlich gelöst sei, daß es dem Genius der Sterblichen gelungen ist, in dem großen Luftocean nach Belieben in jeder Richtung zu segeln. In der That erhob sich am 9. August dieses Jahres aus dem Umkreise der militärischen Luftschifffahrtsanstalt in Meudon ein Ballon, der einer Riesencigarre glich; sicher bewegte sich der Koloß gegen Villacoublay, beschrieb hier majestätisch einen großen Kreis und kehrte an seinen Abfahrtsort zurück, an dem er mit großer Präcision landete. Diese Thatsache läßt sich nicht bestreiten, zum ersten Male ist es einem Luftschiffer gelungen, nicht allein gegen den Wind zu „fliegen“, sondern auch an den Ort, von dem er in die Höhe gestiegen war, zurückzukehren. — Wir haben bereits in unserem Artikel „Hundert Jahre der Luftschifffahrt“ („Gartenlaube“ Jahrg. 1882, S. 215) ausführlich die an positiven Errungenschaften so überaus arme und an phantastischen Projecten so reiche Geschichte der Aeronautik beschrieben. Dort haben wir auch jene Versuche gewürdigt, die angestellt wurden, um gewöhnliche Luftballons durch Luftschrauben, Segel und Ruder lenkbar zu machen. Giffard und Dupuy de Lôme in Frankreich und Haenlein in Deutschland haben zuerst diese Idee zu verwirklichen gesucht, und ihnen folgten bald Andere. In den letzten Jahren hatten namentlich die Versuche von Baumgärtner und Wölffert die Gemüther lange Zeit beschäftigt. Alle diese lenkbaren Luftballons sollten durch Luftschrauben vorwärts bewegt werden, nur in der Construction derselben und in der Anwendung der bewegenden Kräfte gingen die Anschauungen der Erfinder aus einander. Die einen wollten mit Menschenkraft ihr Ziel erreichen, die anderen nahmen zu kleinen Dampfmaschinen oder Gasmotoren ihre Zuflucht.
Die Frage trat in ein neues Stadium, als vor wenigen Jahren Gaston und Albert Tissandier die Elektricität als treibende Kraft anwandten. Es ist ihnen gelungen, ihrem „elektrischen Luftschiffe“ eine Eigengeschwindigkeit von 3 Metern in der Secunde zu geben, aber sie konnten mit dieser verhältnißmäßig geringen Kraft selbst den Widerstand eines schwachen Windes nicht besiegen. Es war nun den französischen Officieren Ch. Renard und Arthur Krebs vorbehalten, einen besonders leichten und kräftig wirkenden elektrischen Motor zu erfinden, der ihrem Ballon eine größere Eigengeschwindigkeit verlieh. Dabei hatten sie das Glück, daß während ihres ersten Versuches am 9. August dieses Jahres die Luft äußerst ruhig war und die Geschwindigkeit des Windes, gegen den sie ihren Cours nahmen, nur 1 Meter in der Secunde betrug. Ohne den Ruhm der beiden Forscher schmälern zu wollen, muß man doch erklären, daß ihre gelungene Fahrt für die praktische Anwendung der Luftschifffahrt nicht von entscheidender Bedeutung ist. Was andere Forscher im geschlossenen Raume an Modellen uns gezeigt haben, das führten jetzt die beiden Officiere im Freien aus, und das Resultat ihres Versuches bestätigt das, was wir längst wußten, daß besonders construirte Luftballons unter günstigen Bedingungen sich gegen den Wind fortbewegen und lenkbar sein können. Die beiden Erfinder müssen uns noch den Beweis liefern, daß sie mit ihrem Luftschiffe auch gegen einen mäßig starken Wind aufkommen, dann erst wird Niemand leugnen, daß ihre Erfindung von der größten praktischen Bedeutung sei.
Von dem neuen Ballon der Herren Renard und Krebs wissen wir
nur, daß er 50,42 Meter lang, 8,40 Meter breit ist, und daß die in der
Gondel aufgestellte elektrodynamische Maschine einen Arbeitseffect von
81/2 Pferdekräften hervorbringt. Das Gesammtgewicht des Ballons, die
Passagiere mit gerechnet, soll 2000 Kilogramm betragen. Auf unsrer
Abbildung sehen wir an der Gondel des Ballons rechts die Luftschraube
und links unter dem Wimpel das Steuer befestigt. Alle Details werden
von den Erfindern unter dem Vorwande des Geschäftsgeheimnisses
verschwiegen, und so ist es auch nicht möglich, sich über den Werth ihrer
Erfindung ein genaueres Urtheil zu bilden. V.
Blätter und Blüthen.
Ein Besuch bei Watteau. (Mit Illustration S. 673.) Man könnte behaupten, viel mehr Leute wüßten, was à la Watteau gemalt ist, als was Watteau gewesen. Ein Park, ein Teich, eine Gesellschaft Damen und Herren im Rococo-Costüm, gondelnd, lagernd, plaudernd — à la Watteau. Ein ungemein einfaches Recept.
Was Watteau, Jean Antoine Watteau selbst betrifft, so war er ein französischer Maler des 18. Jahrhunderts, geboren vor gerade zweihundert Jahren: im October 1684 zu Valenciennes, gestorben 1721 zu Nogent an der Marne, und für eine gewisse Höhe des Lebens und Schaffens gleichsam von Geburt prädestinirt, denn sein Vater war Dachdecker. Er malte in Paris — selbstverständlich, und zwar seit 1702; zuerst bei einem Coulissenmaler, dann bei einem Dutzendbilder-Händler, dann bei zwei wirklichen Malern, von denen der zweite Decorationsmaler war. Hierauf studirte er Rubens und malte dann für sich, und zwar so glücklich, daß er schon 1717 Akademiker wurde. Er war eines der kurzlebigen Genies, die sich in dreißig bis vierzig Jahren aufzehren, bald verwöhnt, kränklich, hastig, unruhig.
Aber ein Genie! Man kann nicht sowohl von ihm sagen: er malte seine Zeit, als: er malte das Vergnügen seiner Zeit, der Zeit des Reifrocks und der Perrücke und des galanten Amüsements. Er malte, wie [684] man sich amüsirte oder zu amüsiren wünschte, wenn man in der Atmosphäre des Pariser Hofes lebte und früh aufwachte und sich fragte: wie schlägst du am angenehmsten diesen Tag todt?
Es ist wahr: er malte auch Soldatenleben, allein diese Stücke sind, so vortrefflich sie sein mögen, nicht à la Watteau; sogar historische Bilder malte er, aber sie taugen nicht viel. Bälle, Concerte, Feste im Freien, in den Gärten und Parks der Zeit – das ist Watteau; das ist Alles geistreich, zierlich, ausdrucksvoll, flott gemalt, oft ein wenig zu flott. Die Farben zart, etwas süßlich. Aber immer spricht eine große Kraft und eine starke bestimmte Eigenart aus den Bildern. Keiner seiner Nachahmer hat so den Duft der Zeit im Bilde gebannt, wie er. Man steht vor einem Watteau und hat plötzlich ein Gefühl, als sei man vor anderthalb hundert Jahren schon einmal dagewesen und erinnere sich plötzlich daran, aber merkwürdig deutlich, mit allen Sinnen. Watteau ist eine Quelle für das Studium der Culturgeschichte.
Wir malen anders, gewiß. Die Bilder jener Zeit haben etwas von Decorationsmalerei an sich, sie waren ein Schmuck wie andrer Schmuck. Diese Watteau-Zeit hatte unglaublich viel Zeit übrig, unglaublich viel Langeweile zu vertreiben, und man füllte sie mit tausenderlei Niedlichkeiten. Sie putzte hier aus und stellte da hin, und sie ging darin auf. Diese Zeit erfand die Pfänderspiele und den Schäferschwindel.
Da steht er nun selber Gruppe auf unserem Bilde, der Tausendsassa, für den Paris schwärmte, von dem hundert Jahre später Niemand etwas wissen wollte und dessen Bilder heute zur Abwechselung wieder mit einer Hand voll Tausendfrankenbillets bezahlt werden. In der wievielten seiner Wohnungen – er hatte alle Jahre ein paar neue – er den Bildergourmand da empfing: wer kann es sagen? Aber was uns da auf der Staffelei den Rücken zudreht, ist sicher etwas Exquisites und Süperbes. Man sieht es: dem alten gewitzten Höfling läuft das Wasser im Munde zusammen.
„Ah, diese – – diese – – Es giebt nur einen Watteau; in der That!“
Wenn er nur nicht so gräulich viel Lack über seine Bilder geschmiert
hätte! Sie sind heute alle trübe und gesprungen. Victor Blüthgen.
Spottvögel. (Mit Illustration S. 681.) Die armen Mönche! Wie ist ihnen mitgespielt worden von alters her bis auf den heutigen Tag! Der Volkshumor hat sie bei den Ohren genommen, der Humor der Bildung gleichfalls, schon vor den bösen und wundervollen „Dunkelmännerbriefen“, und der Münchener Malerhumor spielt seit Grützner’s Vorliebe für sie Fangball mit ihnen.
Es ist wahr, sie tragen viel Schuld daran, daß das Alte so wacklig und morsch wurde und reif, zu Grunde zu gehen. Aber sie haben das deutsche Schulwesen, die deutsche Literatur, das deutsche Bibliothekswesen, die deutsche Gelehrsamkeit – und den deutschen Weinbau begründet.
Alle diese Dinge bis auf den letzten Punkt: weil sie Mönche waren. Nur den einen letzten: obgleich sie Mönche waren.
Warum haben sie sich nicht darauf beschränkt, den Wein zu pflegen und zu cultiviren? Warum haben sie ihn getrunken? Pfui, es ist grausam, das zu sagen; ja unverständig. In der That: nur mit dem Trinken haben sie die feinen Zungen bekommen, und mit den feinen Zungen das Streben nach dem Ideal einer Johannisberger Auslese. Ist es menschlich und gerecht, ihnen eine Lauge von Spott überzugießen, weil sie zuweilen über die Grenze dessen sich nicht klar werden konnten, was sie vertrugen? – „Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“
Sie haben ihre Würde zum Besten derer geopfert, die nun ihre Schelmerei mit ihnen treiben.
Dieser musikalische Reitersmann aus der Wallensteinzeit auf unserem Bilde, welcher eine der frühesten Pfeifen in Europa raucht, könnte Besseres thun, als den ebenso ehrwürdigen wie gut gepflegten Kuttenträger im Schlafe zum Besten zu haben. Er ist ebenso ein wunderbares Ungeheuer, wie die lachende Schankdirne mit den beiden fragwürdigen Gestalten im Hintergrunde. Und sie sollten am allerwenigsten Spott mit einem Manne treiben, dem sie über kurz oder lang doch alle ihre Sünden anvertrauen müssen und durch dessen Vermittelung allein sie ihrem Seelenheile einen Schritt näher rücken können. V. B.
Friedrich Eberhard von Rochow. Seit der Geburt des edlen Volksfreundes und Jugenderziehers Friedrich Eberhard von Rochow sind am 11. October dieses Jahres 150 Jahre verflossen. Kaum 15 Jahre alt, trat Rochow in die Garde ein, in der er die ersten Feldzüge des siebenjährigen Krieges mitmachte. In der Schlacht bei Lowositz verwundet, entsagte er jedoch der Militärcarrière und zog sich auf seine Güter zurück. Dort, besonders zu Rekahn, lernte er die Noth der ärmeren Bevölkerung kennen, die ihn mächtig ergriff. Er suchte eifrig zu helfen und brachte nicht geringe Opfer, erkannte jedoch bald, daß materielle Hülfe allein nichts nütze, daß es vielmehr vor Allem nothwendig sei, die geistige Bildung des Volkes zu heben. Dieser Aufgabe widmete er fortan seine ganze Kraft; er schrieb verschiedene, für seine Zeit außerordentlich wichtige Schulbücher, baute auf seinem Gute Rekahn ein eigenes freundliches Schulhaus und bemühte sich unablässig, überall zum Besten des bildungsarmen, geknechteten Volkes thätig zu sein. Seine Verdienste um die Hebung der Volksbildung sind so große, daß ihm noch heute ein ehrendes Andenken gewahrt sein soll.
Eine merkwürdige Steuer. Im 15. Jahrhundert lebte in Böhmen
ein Herr von Riesenberg. Dieser hatte sich für theures Geld einen Affen erstanden. Einst entfloh dieser in den Wald; Bauern aus dem Dorfe Heynau ergriffen ihn, und da sie ihn für den leibhaftigen Teufel ansahen, schlugen sie ihn todt, womit sie der ganzen Welt vermuthlich einen großen Dienst zu leisten vermeinten. Indeß die Heldenthat bekam ihnen sehr schlecht, da sie fortan zur Strafe eine jährliche außerordentliche Steuer, den sogenannten Affenzins, zahlen mußten. Derselbe verblieb dem Dorfe bis in’s 17. Jahrhundert.Hmn.
Kleiner Briefkasten.
L. in Podolien. Wir können zu unserm Bedauern Ihnen keine so vollständige Auskunft geben, als wohl nöthig wäre. Sie finden aber eine solche recht ausführlich und dazu noch vieles Wichtige für Ihre Bienenwirthschaft in der „Deutschen illustrirten Bienenzeitung“, Braunschweig bei C. A. Schwetschke und Sohn, welche für jährlich 4 Mark direct oder durch die Post und den Buchhandel bezogen werden kann.
P. N. in Steyr. Die Illustration „Steyr in Oberösterreich“ in Nr. 35 ist nach einer Skizze von Franz Hölzlhuber auf Holz übertragen worden.
L. W …. g in Würzburg. Sie irren, unsere Schachaufgabe Nr. 7 läßt sich nicht durch: 1. S c 3 †, 2. T d 3 matt in zwei Zügen schon erledigen. Der Thurm kann ja nicht abziehen, weil sonst der w. König in das Schach des schw. Laufers g 2 treten würde!
J. K. in Wehlen. Ein solches Buch ist nicht vorhanden.
E. H. C. Wenden Sie sich an einen Arzt!
H. K. in M., E. W. in Dresden, L. B. in Constantinopel, Ida M. in D., Bl. Sch. in M. und J. K. in Wehlen: Ungeeignet.
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[Inhaltsverzeichnis der Nr. 41/1884, hierher z. Zt. nicht übernommen.]