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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[225]

No. 14.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.


Es war ein Herbsttag in den zwanziger Jahren. Am Hafen der Insel Capri herrschte ein dichtes Gedränge. Mit ausgespannten Segeln kam das große napoletanische Marktschiff über den Golf, – nur noch wenige hundert Ellen von der Stelle entfernt, wo es ankern sollte.

„Nun, Zingarella,“ wandte sich ein weißbärtiger Fischer zu dem schlanksten und schönsten der jungen Mädchen, die zuvorderst am Saume der sanft verschäumenden Brandung standen, – „Du machst uns ja kein sonderlich vergnügtes Gesicht, – gar nicht wie eine Braut, die den Liebsten erwartet! Oder bleibt Dein Salvatore noch bis Ende des Monats?“

„Nein,“ versetzte das Mädchen; „er kömmt.“

„Dann begreife ich nicht ... Was besagt dann die Falte da zwischen den Augenbrauen? So juble doch, Zingaralla, wie Du damals gejubelt ...“

„Ich heiße Maria,“ fiel sie ihm schroff in die Rede, – „und ob ich nun hier vor den Leuten albern thue mit Lachen und Fröhlichkeit, oder nicht – das wird Euch wohl keinen Kummer bereiten.“

„Schaut’s da heraus?“ brummte der Fischer. „Schon lang’ hab’ ich’s läuten hören, daß die schöne Maria sich besser dünkt, als die Andern, weil der stolze Apulier sie zur Gattin begehrt! Eine gewaltige Ehre! Und die ‚Zingarella‘ verbittest Du Dir? Nun, nichts für ungut, Maria! Hat doch Dein unvergeßlicher Vater selbst Dir den Beinamen zugelegt, weil Du als Kind mit Deinem kohlschwarzen Haar und Deinem sonnverbrannten Gesichtchen recht aussahst, wie eine wilde Zigeunerin! Seitdem hast Du Dich freilich verändert: das wirre Haar wird sorgsam gestrählt und geflochten und mit Blumen geschmückt, und Dein Antlitz ist heller geworden und schöner, – aber im Herzen bist Du nach wie vor die unwirsche Zingarella. ’S ist doch toll, meiner Treu’, wenn ich, ein Siebziger, und noch dazu Dein Verwandter, nicht ’mal das Recht haben soll, Dich anzureden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und Dich um Dinge zu fragen, die ... die ...“

„Nun – die ...?“ wiederholte das Mädchen herausfordernd.

„Die aller Welt hier zu denken geben! Ja, wirf mir nur Blicke zu, als sollte ich gleich in den Boden sinken! Da es denn doch ’mal zur Sprache gekommen, so magst Du’s hören: Deine Liebschaft mit dem Apulier hat böses Blut gemacht auf der Insel. Zur Fischerstochter paßt nicht der fremde Schreiber, der auf ehrliche Leute, wie wir, vornehm herabsieht, obgleich Keiner hier weiß, was er eigentlich ist oder treibt. Viel mag’s nicht sein, sonst hätte er wohl, bei seiner großen Verliebtheit, längst Anstalt gemacht zur Heirath. Aber das kömmt davon, wenn Einer die Ketzer in’s Haus läßt! Seit der Engländer von damals Dich das Lesen und Schreiben gelehrt und Dir Bücher geschenkt hat, in denen allerlei thörichtes Zeug stand vom Laufe der großen Welt und den Geschicken der Völker, seitdem hast Du aufgehört, eine echte Tochter von Capri zu sein. Und wie der Apulier nun kam –“

„Genug, Silvio!“ unterbrach ihn Maria. „Wenn man nicht wüßte, weshalb Ihr Euch so hineinredet, man sollte glauben, ich hätte an Euch und allen Capresen gefrevelt, wie eine Landesverrätherin. Aber ich kann Euch nicht helfen: Euer guter Alberto ist kein Gatte für mich, und er muß sich drein finden.“

„Kein Gatte für Dich? Und warum nicht? Was mich betrifft – daß Du’s nur weißt, Zingarella – ich bin durchaus nicht böse darüber ...! Dich, die Leidenschaftliche, Unstäte als Schwiegertochter im Hause – das wäre mir altem Manne wohl die Hölle auf Erden! Aber wenn Du behauptest, er sei Deiner nicht werth – ei zum Henker, so sage mir doch, durch welche Vorzüge der Apulier ihn aussticht? Höchstens durch allerlei verrückte Ideen, durch phantastische Pläne und Einfälle, die an’s Narrenhaus grenzen! Und Dich hat er auch schon toll gemacht mit seiner unheimlich–gespenstischen Art! Ja, ja, man hat so seine Quellen, Maria! Im Uebrigen – schön gewachsen und stattlich ist mein Alberto, so gut wie er, – dazu eine Seele wie Gold, und ehrlicher Leute Kind, während Dein Salvatore ...“

„Laßt mich zufrieden!“ sagte Maria gekränkt.

„Ein Findelkind!“ lachte Silvio. „Und nun dieser unglaubliche Stolz, dieser fiebernde Ehrgeiz! Geh’, Maria, Du selber fühlst Dich bei der Komödie nicht wohl; Du beginnst einzusehen, daß er mit seiner glatten Verführerzunge Dir Allerlei vorgelogen, was er niemals erfüllen wird, – und deshalb blickst Du so finster, während das Schiff, das ihn bringen soll, fast schon im Hafen liegt!“

„Wie wenig begreift Ihr mich!“ versetzte sie mitleidig.

„Aber ich bitte Euch, Silvio!“ legte sich jetzt eines der jungen Mädchen ins Mittel. „Ihr solltet Euch schämen, so hinterrücks für Euren Alberto um Liebe zu werben – als wäre er Einer von Denen, die es nöthig haben! Der findet Zwanzig für Eine! Na, und was die finsteren Blicke der Zingarella betrifft und das Stirnrunzeln, so könntet Ihr wissen, Silvio, daß dies von je ihre Art ist, wenn ihr Wichtiges und Großes bevorsteht. [226] Sie liebt ihren Salvatore – heißer und grenzenloser als je zuvor; und gerade weil das Alles sie so erfüllt und so von Grund aus bewegt, gerade deshalb ist sie so ernst und so still! O, ich verstehe mich besser auf die Deutung der Mienen! Dafür haben wir die beiden dänischen Maler im Haus – ja wohl, Silvio – und ob Ihr sie Ketzer scheltet, sie sind gute, freundliche Männer, die Unsereinem Manches erklären, und nicht immer an’s Küssen denken, wie die jungen Leute von Capri.“

Der Fischer zuckte die Achseln.

„Du bist auch so Eine, Giulietta, die vor lauter Klugheit nicht sieht, was der Himmel ihr dicht vor die Füße legt! Treibt’s wie Ihr wollt – mir soll’s recht sein! Um die Maria aber ist’s schade, und ich bleibe dabei, sie ist unglücklich, mag sie noch so verliebt sein!“

Die letzten Worte waren halb in den Bart gemurmelt. Das Marktschiff hatte sich in mächtiger Schwenkung quer vor das Ufer gelegt, und alsbald war ein Dutzend Kähne zu dem Fahrzeug herangerudert, um zunächst die Passagiere, dann auch die mannigfaltigen Waaren an’s Gestade zu bringen.

Der Erste, welcher den Boden der Felseninsel betrat, war augenscheinlich ein Nordländer. Er trug einen modischen Tuchrock mit dem schweren kummtartigen Kragen, wie er damals im Schwange war, hohe Stiefel mit gelben Umschlägen und einen breitkrämpigen Filzhut. Trotz dieser sorgfältigen Toilette machte er den Eindruck fröhlicher Ungebundenheit und Naturwüchsigkeit.

Giulietta begrüßte den Ankömmling mit offener Herzlichkeit.

„Das freut mich, daß Ihr uns Wort gehalten, Signor Gustavo!“ sagte sie, ihm die Hand bietend. „Aber ich wußte es ja: Ihr taugt nicht in den Lärm der Toledo-Straße. Hier in Capri, in Eurem traulichen Stübchen, wo Ihr sinnen und malen könnt, ohne daß Euch das Rädergerassel die Staffelei erschüttert – das ist der rechte Ort für Euch – und ebenso für den werthen Herrn Bruder, der’s auch nicht mehr lange treiben wird in Palermo! Es ist ein Brief von ihm da; er schreibt gewiß, daß er vor dem Ersten noch aufbricht. Nein, wie gut Ihr ausseht, Signor Gustavo! Wahrhaftig, so stolz und so vornehm – aber im Leinwandkittel und vollends in der betreßten Sammetjacke gefallt Ihr mir doch hundertmal besser, als so im Herren-Costüm, – und das meint auch die Mutter.“

„Sehr verbunden,“ lachte der Däne, nach der mittelgroßen Männergestalt umschauend, die hinter ihm aus dem Kahne getreten war. „Einstweilen – hier, mein lieber Cesari, das ist Giulietta, die Tochter unserer gütigen Wirthin – matre pulchra filia pulchrior – also, was ich bemerken wollte: wie steht’s, Giulietta? Kann dieser Herr – ein Freund von mir – im Haus Deiner Mutter für acht Tage Logis bekommen? Er ist Avvocato am königlichen Gerichtshofe von Neapel und hat sich während der letzten Monate etwas zuviel gethan. Im Albergo zu wohnen, wäre ihm unerwünscht.“

„O, das wird sich schon machen,“ versetzte Giulietta. „Wenn der Herr fürlieb nehmen will ... Zunächst haben wir ja das Stübchen des Signor Frederik, – und wenn der wirklich in Kürze von Palermo zurückkehrt, so räum’ ich dem Signor Avvocato das meinige ein: ich wohne dann in der Küche.“

„Ihr seht,“ wandte sich Gustav an seinen Begleiter, „daß hier durchaus die Idylle herrscht. Procul negotiis – das läßt sich im Hause der braven Pamela auskosten, wie nirgends im Bereiche der Insel. Ihr sollt’s mir noch danken! Wahrhaftig, Ihr seht blaß aus, Signor Cesari, recht angegriffen und blaß! Und wenn man obendrein sich nun sagen muß, daß Euch die letzte Affaire mit der vermeintlichen Giftmischerin keine durchlöcherte Uncia eingetragen, sondern im Gegentheil Euch noch gutes, gemünztes Gold dazu gekostet, so wäre man wirklich versucht, Euch einen Thoren zu nennen, erlaubte dies die Bewunderung, die Eure Selbstlosigkeit einflößt.“

Antonio Cesari wiegte langsam den Kopf. Ein schmerzliches Lächeln spielte um die geschlossenen Lippen.

„Ihr wißt ja ...“ sagte er leise.

Giulietta war inzwischen vorausgeschritten. Die zwei Männer folgten ihr, von einem halbwüchsigen Burschen begleitet, der das geringe Gepäck trug.

„Ja, ich weiß,“ versetzte der Däne, an der Biegung des steilen Weges Halt machend und sich mit dem Taschentuche über die Stirn fahrend – „ich weiß, was Ihr damals schon in Pisa Euch zugeschworen! – Ein hochherziges Gelöbniß – einzig in seiner Art. Dennoch – das sind jetzt beinahe zwölf Jahre her, und ich dachte –“

„Was?“ fragte Cesari.

„Nun, die überschwängliche Jugend gelobt so Vieles ... Ich war dennoch erstaunt, als ich jetzt in Erfahrung brachte, wie eifrig und rückhaltslos Ihr erfüllt, was Ihr Euch vorgeuommen.“

„Ihr habt Euren Vater niemals gekannt,“ sagte Cesari – und seine Stimme zitterte. „So könnt Ihr, trotz aller Lebhaftigkeit Eurer Phantasie, nicht vollständig nachfühlen, was das Herz des Sohnes bewegt, der den verehrtesten und geliebtesten Mann unschuldig leiden sieht, – verurtheilt zu schmachvoller, entsetzlicher Strafe und jener Verzweiflung überantwortet, die da Hand an sich selbst legt! Ich war fast noch ein Kind, aber Nichts von alledem, was uns damals durchwühlt und erschüttert hat, ist mir im Lauf der Jahre verblaßt! Jede Minute dieser entsetzlichen Zeit schwebt mir noch vor, als hätt’ ich sie eben jetzt erst durchlebt ... Und damals schon, da Alle an dem Verrathenen zweifelten, nur ich nicht, der ich ihn kannte wie mich selbst, – damals schon leistete ich mir den Schwur: wenn seine Unschuld dennoch an’s Tageslicht käme, solle mein ganzes zukünftiges Leben Denen geweiht sein, die das Gesetz mit seinem Zorne verfolgt, den Verlornen, die – man sage mir, was man wolle – fast ohne Ausnahme den Haß und die Entrüstung der Gesellschaft in geringerem Grade verdienen, als die Pharisäer sich träumen lassen!“

„Aber Ihr erzähltet mir doch ...“

„Ich verstehe Euch,“ gab Antonio Cesari zurück. „Jenes Gelöbniß war wie ein Opfer, das ich dem Himmel anbot, wenn er den Beschuldigten retten wolle! Späterhin – seht Ihr, Signor Gustavo ... ich dachte: in so heiligen Dingen soll der Mensch nicht drehen und deuteln! Die Unschuld kam ja wirklich zu Tage, wenn auch erst, nachdem das Fürchterliche geschehen war ... Ja, ja, ich mußte da Wort halten ... Oder – daß ich’s ehrlich bekenne: als nun das Schicksal uns so grausam zermalmt hatte, da war es für mich kein Opfer mehr; – im Gegentheil: mein einziger Trost! Ich wollte Rache nehmen an der bethörten Gesellschaft, und die Rache sollte des Mannes, den es zu rächen galt, würdig sein. Nichts aber fand ich, was mir höher erschienen wäre und edler ...“

„Ihr regt Euch auf, theurer Freund,“ sagte der Däne. „Verzeiht, daß ich so unbedacht war, diesen Punkt gerade jetzt zu berühren, da Ihr im Begriff steht, Euch zu erholen. Blickt lieber hinaus über den lechtenden Golf, oder zerstreut Euch im Genuß des farbigen Bildes, das da unten am Strande wimmelt! Wahrhaftig, diese capresischen Fischer sind noch echte Naturmenschen, – trotz der goldverstreuenden Briten, die von Jahr zu Jahr zahlreicher über die Bucht schwimmen. Und die Mädchen sind so frisch und so blühend – halb hellenischer Typus, wahre Perlen für Unsereinen. Nach Giulietta freilich müßt Ihr nicht urtheilen: die gleicht mehr den Napoletanerinnen. Aber saht Ihr nicht, als wir ausstiegen, rechts in der Gruppe die Dunkeläugige mit der Rose im Haar? Zingarella heißt sie bei ihren Gespielinnen – ein Prachtgeschöpf, tadellos, wie ein Werk des griechischen Meißels! Wenn ich ausführe, was mir seit lange schon vorschwebt – eine große Composition: Persephone an der Seite ihres Gemahls – dämonische Beleuchtung – symbolisirede Darstellung alles Dessen, was an verhaltener Leidenschaft in der Brust des Weibes glühen und lodern kann – beim Leibe des Bacchus, dann muß mir die schöne Zingarella Modell stehen, koste es, was es wolle! Da, seht Ihr, Signor Antonio, da kommt sie an der Seite ihres Apuliers den Pfad herauf! Wie ernst und schweigsam die Beiden dahin wandeln, – recht, als kämen sie vom Begräbniß! Und doch giebt’s kein zweites Paar auf der Insel, das so rasend in einander verliebt wäre, wie Salvatore und die Zigeunerin. Ich war ’mal Zeuge einer unglaublichen Scene, – drüben am Südgestade. Er war außer sich, nannte sie eine Schlange, eine ehrlose Heuchlerin und drohte sie von der Klippe in’s Meer zu stoßen. Irgend ein Streit: Gott mag wissen, üm was es sich handelte. Ich saß unten, fast in der Brandung, und malte. Ich sag’ Euch: es war ein gewaltiger Anblick – die stolze Jünglingsgestalt mit den flammensprüheden Augen, Zorn und dennoch Anmuth in jeder Bewegung, und neben ihm das herrliche Weib, zaghaft, flehend und völlig zur Unterwerfung gezwungen, – sie, [227] die sonst doch dreinschaut wie eine Königin! Sie sank ihm zu Füßen – und dann küßten sie sich, – ein unbeschreibliches Bild menschlicher Leidenschaft in der Einöde der wildzerklüfteten Felswände! Seitdem habe ich die Zingarella auf’s Korn genommen.“

Antonio Cesari hatte sich umgekehrt. Nun die Wanderung fortsetzend, sagte er zu dem Dänen:

„Ihr habt Recht! Ein überraschendes Paar! Beide wie von unterirdischem Feuer durchglüht – zumal er in seiner dämonisch-geistvollen Schönheit. Aus solchem Thone formt das Schicksal die Helden, die Abenteurer und die großen Verbrecher. In den ersten Stadien ihrer Entwickelung sehn sich die drei Kategorien oft zum Verwechseln ähnlich. Ja, ich behaupte: das Fatum weiß zu Anfang oft selber nicht, wo es hinaus will, und erst die Umstände vollenden die Prägung.“

„Der Rechtsgelehrte!“ rief Gustav Nyborg. „Laßt uns nicht wieder auf das alte Thema gerathen, Signor Cesari! Natur und glückseliges Nichtsthun – auch im Punkt der Gedanken – das sei die Parole! Seht Ihr das duftige Lichtwölkchen über dem Aschenkegel? Das bedeutet sonniges Wetter und Meeresstille, auf lange hinaus! Wir wollen’s genießen, Antonio! Ich will Euer Führer sein bei den Wanderungen über die Wunderinsel. Kommt nur: Giulietta wird ungeduldig.“

Sie folgten ihr geradeaus.

Maria indeß bog mit Salvatore nach rechts ab. Ohne ein Wort zu sprechen, schritten sie die hundert Stufen hinan, die zu den westlichen Ausläufern des vignen-umblühten Städtchens führten. Hier wohnte Bertalda, Maria’s Muhme und Pflegemutter. Das Häuschen, nur aus einem Erdgeschosse bestehend, war in zwei ungleiche Theile gesondert; links von der Thür befand sich ein einziges schmales Viereck: das Stübchen Maria’s; rechts davon ein größeres Zimmer und eine Küche: die Räume Bertalda’s. Hier, in der Stube der Pflegemutter, sollte nun Salvatore während der Ferien, die auch ihm zu Gewinn kamen – denn er schrieb ausschließlich für einen Collegen Signor Cesari’s – Station machen.

Als Maria mit ihrem Verlobten eintrat, stand die Muhme just im Begriff, das Haus zu verlassen, um ihre spärlichen Einkäufe für den kommenden Festtag zu bewerkstelligen. Sie begrüßte den jungen Apulier mit einer ehrfürchtigen Scheu, die das Echo war der mannigfachen Erzählungen und Betheuerungen Maria’s. Die Zingarella mußte es wissen: dieser schwarzlockige Salvatore mit der hohen, leuchtenden Stirn und den flammensprühenden Augen war zu was Besserm geboren als zur Tagesarbeit im Bureau des Avvocato Pezzini. Wenn das Schicksal ihm nach Verdienst entgegenkam, so fuhr er demnächst in goldbeschlagner Carrosse über die Chiaja und erstand eine glänzende Villa unter den Feigenbäumen des Posilipp.

Nachdem sich Bertalda entfernt hatte – die Verlegung ihres Ausgangs auf diese Stunde geschah aus guter Berechnung, denn sie wollte die Beiden zunächst allein lassen – trug Maria ihrem Verlobten eine Foglietta mit Landwein und etwas Brod auf und hieß ihn zulangen, – Alles in kurzer, hastig hingeworfener Rede. Salvatore goß sich ein Glas voll, trank es auf einen Zug aus und setzte es dann mit leichtem Stirnrunzeln neben die Flasche.

„Schmeckt’s Dir nicht?“ fragte Maria.

„Muß wohl!“ gab Salvatore zurück. „Wenigstens vorläufig.“

„Vorläufig!“ seufzte Maria. „Ach, Salvatore, wenn Du doch lernen wolltest ... wenn Du begriffest ...! Aber nein! Sei nicht böse! Ich seh’ ja vollkommen ein, daß Du Recht hast! Ein Mann wie Du – es ist eine Schmach, daß Du so im Niedrigen und Gemeinen Dich abquälen sollst, während Dir’s zukäme, frei und reich und glänzend wie ein Fürst durch das Leben zu wandeln. Wär’s nur um meinetwillen – Gott, ich wollte zufrieden sein auch mit Wenigem: Du aber, – nein Du kannst, Du darfst nicht entsagen; Du mußt’s erstreben mit aller Kraft – das bist Du Dir schuldig, Geliebter!“

„Mir und Dir!“ sagte der junge Mann, schwer aufathmend. „Aber der Himmel weiß es: die Sache ist leichter geredet, als zum Ziele geführt. Bei Gott, Zingarella - Du kennst nicht die Welt, und wie feindlich sie uns entgegentritt! Was hab’ ich nicht Alles versucht in den letzten Wochen!“

„Harre nur aus!“ meinte sie schmeichlerisch. „Mit der Zeit wirst Du die Hindernisse schon aus dem Wege räumen – und wir sind ja noch jung!“

„Harren und Hoffen – das sind die Köder, an denen das Schicksal die Narren fängt. Ich mühe und martre mich, – aber da fehlt’s am Nothwendigsten. Find’ ich etwa die Goldstücke im Grunde des Tintenfasses? Oder bin ich ein Zaubrer, der Actenpapier in bedruckte Bankscheine umwandelt? Das mit der Herberge droben am Aschenkegel war eine schöne Idee, und fast schon hatt’ ich den reichen Catone –: da kömmt der Ausbruch, geringfügig zwar, aber doch polternd genug, um den Alten stutzig zu machen. Lächerlich! Als wenn die Häuser in Torre del Greco und Annunziata nicht ganz ebenso von der Lava bedroht wären! Und Hunderttausende hätt’ es uns eingebracht!“

„Unzweifelhaft – aber es ging nicht, und da mußt Du nicht weiter um die Sache den Kopf hängen. Tag und Nacht hast Du dem Alten im Ohr gelegen – gut! Mehr kannst Du nicht leisten! War Catone zu seinem eignen Schaden so kurzsichtig – so laß ihn fahren, und erwäge was anders!“

Voll unendlicher Zärtlichkeit weilte ihr Blick auf seinem sorgenumflorten Antlitz. Da ging ein Leuchten über die ernsten Züge; ein Strahl heißester Liebe brach ihm unter den Wimpern hervor.

„Du hast Recht!“ sprach er aufstehend. „Reden wir nicht weiter davon! Besseres und Größeres hab’ ich seitdem in Aussicht genommen – ich schrieb Dir’s ja! Ueberhaupt – wir verderben uns die Freude des Wiedersehns! Zingarella, ist’s möglich, daß wir seit fünf Minuten allein sind, ohne daß die süße Maria ihren Salvatore umarmt hat?“

Sie warf sich an seine Brust. Mit einem seligen Lächeln bot sie ihm den schwellenden Mund. Er küßte sie stürmisch, und hielt dann ihr schönes Haupt eine Weile wie traumverloren mit beiden Händen. Dann plötzlich drängte sich ihm ein schwerer Seufzer auf die halbgeöffneten Lippen.

„Wie schön Du bist, Maria, wie unbeschrerblich schön!“ sagte er schwermuthsvoll. „Ein Gott dürfte mich um Deine Liebe beneiden, und dennoch, – ich kann nicht glücklich sein, wenn mir der Stachel der Verbitterung im Herzen sitzt! Es ist mein Fluch, – ich leide darunter, – aber ich vermag’s nicht zu ändern! Wie beneide ich Deine Jugendgespielen! Sie alle sind zufrieden mit dem, was das Schicksal ihnen bescheert hat, – denn sie kennen Nichts von dem Glanz dieser Welt; sie wissen und ahnen nicht, was Leben heißt und Genießen, und wie Du, die Herrliche, nicht geschaffen bist für dies kärgliche Alltagsloos! Ich aber weiß es, und keine Stunde vergeht, daß ich nicht Pläne schmiede, Pläne ...“

„Vielleicht suchst Du das Gelingen zu weit,“ sagte Maria. „Kannst Du denn nicht von der Stelle aus, wo Du stehst, zu Besserm hinaufreichen?“

Der Apulier lachte.

„Wenn Du wüßtest ...!“ versetzte er ingrimmig. „Bis zur Stunde verdien’ ich kaum genug für mich selbst – und wenn ich ausharre auf dem betretenen Wege, so kann’s in zehn oder zwölf Jahren wohl zulangen, daß wir gemeinsam das Leben fristen. Ja, wenn’s noch glückte, unter dem Porticus des Carlo- Theaters einen Tisch zu erobern! Aber die Posten der Volksschreiber werden nicht so blindlings vertheilt; es kostet heillose Mühe, die Concession zu bekommen. Schließlich ist auch das nur ein Bettelbrod! Nein, Maria, ich betrachte meinen Beruf nur als Uebergang; ich schäme mich seiner, – und nicht eher will ich ruhen und rasten, bis ich ihn von mir geworfen! Ich habe jetzt eine neue Idee – und dann noch eine ...“

„Nun?“ fragte das Mädchen.

Salvatore blickte sich ängstlich um.

„Die eine – die könnt’ ich Dir gleich erzählen – aber die andere – Ich fürchte die Lauscher, und stehst Du, Maria, wenn die Sache nicht so geheim bliebe, wie ein Bekentniß im Beichtstuhl ... dann ... dann wäre Alles, Alles verloren, – jetzt und für immer! Dir sogar darf ich nur andeuten ... und Du mußt mir schwören bei der Madonna ...“

„Mein Gott, Du erschreckst mich ...“

„Weißt Du was, Maria? Laß uns hinaus in die See rudern! Ich habe ein wahres Verlangen darnach, allein mit Dir und dem blauen Himmel zu sein, wo keine Stimme der Menschen an unser Ohr schlägt! Das wird mich erquicken und aufrichten nach all’ dieser Drangsal. Aber nicht hier in den Golf will ich steuern, sondern in’s offene Meer! Komm nach dem Südgestade!

[228]

„Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.“
Mittelbild aus C. Röhli[ng]’s gleichnamiger Composition.

[229] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [230] Dort im Angesichte der unermeßlichen Felswände, wenn mein heißes Blut sich gekühlt hat – Du ahnst nicht, Maria, wie mir’s hier in den Schläfen hämmert! – dort sollst Du erfahren, was ich Dir sagen kann!“

Sein Mund zuckte, als er so sprach; die Augen dunkelten wie eine schwüle Gewitternacht. Da er, bei Seite tretend, sich zum zweiten Mal das Glas füllte, zitterte seine Hand heftig, sodaß er eine breite röthliche Weinlache über den Tisch goß.

Maria war zu beklommen, um Zeit zu der Erwägung zu finden, daß die einzige Barke, die am Südgestade zu haben war, ihrem Vetter Alberto Petagna gehörte und daß es grausam sei, den ehrlichen Jungen, der zu vergessen bemüht war, in seiner Einsamkeit aufzustören.

„Gut!“ versetzte sie, als der Apulier ihr jetzt voll in’s Gesicht sah. „Auch mir ist’s seltsam bänglich und dumpf hier in der niedrigen Stube! Was hast Du nur, Salvatore? Wie schaust Du mich an? Bei Gott, Du führst Größeres im Schilde als den Albergo am Aschenkegel!“

Sie trat zur Bettstatt, wo unter dem Bildniß der Gottesmutter zwei Palmen gekreuzt über einander hingen.

„Der Erzbischof selber hat sie geweiht,“ sagte sie, von der größern die Spitze abbrechend. „Hier, hefte das an die Brust: das wird uns Glück bringen und gute Gedanken! Und nun komm, damit wir vor Dunkelheit wieder zurück sind!“

Sie hing sich an seinen Arm. So verließen die Beiden das Haus.

(Fortsetzung folgt.)

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.

Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten.

VI.

Harry ist bei den Engländern der familiäre Namen Derjenigen, welche Henri heißen, und er entspricht ganz meinem deutschen Taufnamen „Heinrich“. Die familiären Benennungen des letztern sind in dem Dialekte meiner Heimath äußerst mißklingend, ja fast scurril, z. B. Heinz, Heinzchen, Hinz. Heinzchen werden oft auch die kleinen Hauskobolde genannt und der gestiefelte Kater im Puppenspiel und überhaupt der Kater in der Volksfabel heißt „Hinze“.

Aber nicht um solcher Mißlichkeit abzuhelfen, sondern um einen seiner besten Freunde in England zu ehren, ward von meinem Vater mein Name anglisirt. Mr. Harry war meines Vaters Geschäftsführer (Korrespondent) in Liverpool; er kannte dort die besten Fabriken, wo Velveteen fabrizirt wurde, ein Handelsartikel, der meinem Vater sehr am Herzen lag, mehr aus Ambizion als aus Eigennutz, denn obgleich er behauptete, daß er viel Geld an jenem Artikel verdiene, so blieb solches doch sehr problematisch, und mein Vater hätte vielleicht noch Geld zugesetzt, wenn es darauf ankam, die Velveteens in besserer Qualität und in größerer Quantität abzusetzen als seine Kompetitoren.[1] Wie denn überhaupt mein Vater eigentlich keinen berechnenden Kaufmannsgeist hatte, obgleich er immer rechnete, und der Handel für ihn vielmehr ein Spiel war, wie die Kinder Soldaten oder Kochen spielen.

Seine Thätigkeit war eigentlich nur eine unaufhörliche Geschäftigkeit. Der Velveteen war ganz besonders seine Puppe, und er war glücklich, wenn die großen Frachtkarren abgeladen wurden, und schon beim Abpacken alle Handelsjuden der benachbarten Gegend die Hausflur füllten; denn letztere waren seine besten Kunden und bei ihnen fand sein Velveteen nicht bloß den größten Absatz sondern ehrenhafte Anerkennung.

Da Du, theurer Leser, vielleicht nicht weißt, was „Velveteen“ ist, so erlaube ich mir, Dir zu erklären, daß dieses ein englisches Wort ist, welches sammtartig bedeutet, und man benennt damit eine Art Sammt von Baumwolle, woraus sehr schöne Hosen, Westen und sogar Kamisöle verfertigt werden. Es trägt dieser Kleidungsstoff auch den Namen „Manchester“, nach der gleichnamigen Fabrikstadt, wo derselbe zuerst fabrizirt wurde.

Weil nun der Freund meines Vaters, der sich auf den Einkauf der Velveteens am besten verstand, den Namen Harry führte, erhielt auch ich diesen Namen, und Harry ward ich genannt in der Familie und bey Hausfreunden und Nachbarn.

Ich höre mich noch jetzt sehr gern bei diesem Namen nennen, obgleich ich demselben auch viel Verdruß, vielleicht den empfindlichsten Verdruß meiner Kindheit verdanke. Erst jetzt, wo ich nicht mehr unter den Lebenden lebe und folglich alle gesellschaftliche Eitelkeit in meiner Seele erlischt, kann ich ohne Befangenheit davon sprechen.[2]

Hier in Frankreich ist mir gleich nach meiner Ankunft in Paris mein deutscher Namen „Heinrich“ in „Henri“ übersetzt worden, und ich mußte mich darin schicken und auch endlich hier zu Lande selbst so nennen, da das Wort Heinrich dem französischen Ohr nicht zusagte, und überhaupt die Franzosen sich alle Dinge in der Welt recht bequem machen. Auch den Namen Henri Heine haben sie nie recht aussprechen können und bei den meisten heiße ich Mr. Enri Enn; von vielen wird dieses in ein Enrienne zusammengezogen, und einige nannten mich Mr. Un rien.

Das schadet mir in mancherley literärischer Beziehung, gewährt aber auch wieder einigen Vortheil. Z. B. unter meinen edlen Landsleuten, welche nach Paris kommen, sind manche, die mich gern hier verlästern möchten, aber da sie immer meinen Namen deutsch aussprechen, so kommt es den Franzosen nicht in den Sinn, daß der Bösewicht und Unschuldbrunnenvergifter, über den so schrecklich geschimpft ward, kein andrer als ihr Freund Monsieur Enrienne sey, und jene edlen Seelen haben vergebens ihrem Tugendeifer die Zügel schießen lassen; die Franzosen wissen nicht, daß von diesem die Rede ist, und die transrhenanische Tugend hat vergebens alle Bolzen der Verleumdung abgeschossen.

Es hat aber, wie gesagt, etwas mißliches, wenn man unsern Namen schlecht ausspricht. Es giebt Menschen, die in solchen Fällen eine große Empfindlichkeit an den Tag legen. Ich machte mir mal den Spaß, den alten Cherubini zu befragen, ob es wahr sei, daß der Kaiser Napoleon seinen Namen immer wie Scherubini und nicht wie Kerubini ausgesprochen, obgleich der Kaiser des Italienischen genugsam kundig war, um zu wissen, wo das italienische ch wie ein que oder k ausgesprochen wird. Bei dieser Anfrage expektorirte sich der alte Maestro mit höchst komischer Wuth.

Ich habe dergleichen nie empfunden.

Heinrich, Harry, Henri – alle diese Namen klingen gut, wenn sie von schönen Lippen gleiten. Am besten freylich klingt Signor Enrico. So hieß ich in jenen hellblauen mit großen silbernen Sternen gestickten Sommernächten jenes edlen und unglücklichen [231] Landes, das die Heimath der Schönheit ist und Raphael Sanzio von Urbino, Joachimo Rossini und die Principessa Christina Belgiojoso hervorgebracht hat.

Da mein körperlicher Zustand mir alle Hoffnung raubt, jemals wieder in der Gesellschaft zu leben, und letztere wirklich nicht mehr für mich existirt, so habe ich auch die Fessel jener persönlichen Eitelkeit abgestreift,[3] die jeden behaftet, der unter den Menschen, in der sogenannten Welt sich herumtreiben muß.

Ich kann daher jetzt hier mit unbefangenem Sinn von dem Mißgeschick sprechen, das mit meinem Namen „Harry“ verbunden war und mir die schönsten Frühlingsjahre des Lebens vergällte und vergiftete.

Es hat damit folgende Bewandniß.

In meiner Vaterstadt wohnte ein Mann, welcher „der Dreckmichel“ hieß, weil er jeden Morgen mit einem Karren, woran ein Esel gespannt war, die Straßen der Stadt durchzog und vor jedem Hause still hielt, um den Kehricht, welchen die Mädchen in zierlichen Haufen zusammengekehrt, aufzuladen und aus der Stadt nach dem Mistfelde zu transportiren. Der Mann sah aus wie sein Gewerbe, und der Esel, welcher seinerseits wie sein Herr aussah, hielt still vor den Häusern oder setzte sich in Trab, je nachdem die Modulazion war, womit der Michel ihm das Wort „Haarüh!“ zurief.

War solches sein wirklicher Name oder nur ein Stichwort? Ich weiß nicht, doch so viel ist gewiß, daß ich durch die Aehnlichkeit jenes Wortes mit meinem Namen Harry außerordentlich viel Leid von Schulkameraden und Nachbarskindern auszustehen hatte. Um mich zu nergeln sprachen sie ihn ganz so aus, wie der Dreckmichel seinen Esel rief, und ward ich darob erbost, so nahmen die Schälke manchmal eine ganz unschuldige Miene an und verlangten, um jene Verwechselung zu vermeiden, ich sollte sie lehren, wie mein Name und der des Esels ausgesprochen werden müßten, stellten sich aber dabei sehr ungelehrig, meinten, der Michel pflege die erste Silbe immer sehr lang anzuziehen, während er die zweite Silbe immer schnell abschnappen lasse; zu anderen Zeiten geschähe das Gegentheil, wodurch der Ruf wieder ganz meinem eigenen Namen gleichlaute, und indem die Buben in der unsinnigsten Weise alle Begriffe und mich mit dem Esel und wieder diesen mit mir verwechselten, gab es tolle coq-à l’âne,[4] über die jeder andere lachen, aber ich selbst weinen mußte.

Als ich mich bey meiner Mutter beklagte, meinte sie, ich solle nur suchen, viel zu lernen und gescheut zu werden, und man werde mich dann nie mit einem Esel verwechseln.

Aber meine Homonymität[5] mit dem schäbigen Langohr blieb mein Alp. Die großen Buben gingen vorbei und grüßten: „Haarüh!“ die kleineren riefen mir denselben Gruß zu, aber in einiger Entfernung. In der Schule ward dasselbe Thema mit raffinirter Grausamkeit ausgebeutet; wenn nur irgend von einem Esel die Rede war, schielte man nach mir, der ich immer erröthete, und es ist unglaublich, wie Schulknaben überall Anzüglichkeiten hervorzuheben oder zu erfinden wissen.

Z. B. der Eine frug den Andern: Wie unterscheidet sich das Zebra von dem Esel des Barlaam Sohn Boers?

Die Antwort lautete: der Eine spricht zebräisch und der andre sprach hebräisch.

Dann kam die Frage: Wie unterscheidet sich aber der Esel des Dreckmichels von seinem Namensvetter? und die impertinente Antwort war: den Unterschied wissen wir nicht.

Ich wollte dann zuschlagen, aber man beschwichtigte mich, und mein Freund Dietrich, der außerordentlich schöne Heiligenbildchen zu verfertigen wußte und auch später ein berühmter Maler wurde, suchte mich einst bei einer solchen Gelegenheit zu trösten, indem er mir ein Bild versprach. Er malte für mich einen heiligen Michael – aber der Bösewicht hatte mich schändlich verhöhnt. Der Erzengel hatte die Züge des Dreckmichels, sein Roß sah ganz aus wie dessen Esel, und statt einen Drachen durchstach die Lanze das Aas einer todten Katze.

Sogar der blondlockigte sanfte, mädchenhafte Franz,[6] den ich so sehr liebte, verrieth mich einst: er schloß mich in seine Arme, lehnte seine Wange zärtlich an die meinige, blieb lange sentimental an meiner Brust und – rief mir plötzlich ins Ohr ein lachendes Haarüh! – das schnöde Wort im Davonlaufen beständig modulirend, daß es weithin durch die Kreuzgänge des Klosters wiederhallte.

Noch roher behandelten mich einige Nachbarskinder jener niedrigsten Klasse, welche wir in Düsseldorf „Haluten“ nannten, ein Wort welches Etymologienjäger gewiß von den Heloten der Spartaner ableiten würden.

Ein solcher Halut war der kleine Jupp, welches Joseph heißt, und den ich auch mit seinem Vatersnamen Flader benennen will, damit er bei Leibe nicht mit dem Jupp Rörsch verwechselt werde, welcher ein gar artiges Nachbarskind war und, wie ich zufällig erfahren, jetzt als Postbeamter in Bonn lebt.

Der Jupp Flader trug immer einen langen Fischerstecken, womit er nach mir schlug, wenn er mir begegnete. Er pflegte mir auch gern Roßäpfel an den Kopf zu werfen, die er von der Straße aufraffte. Aber nie unterließ er dann auch das fatale Haarüh! zu rufen und zwar in allen Modulazionen.

Der böse Bub war der Enkel der alten Frau Flader, welche zu den Klientinnen meines Vaters gehörte. So böse der Bub war, so gutmüthig war die arme Großmutter, ein Bild der Armuth und des Elends, aber nicht abstoßend, sondern nur herzzerreißend. Sie war wohl über 80 Jahre alt, eine große Schlottergestalt, ein weißes Ledergesicht mit blassen Kummeraugen, eine weiche, röchelnde, wimmernde Stimme und bettelnd ganz ohne Phrase, was immer furchtbar klingt.

Mein Vater gab ihr immer einen Stuhl, wenn sie kam, ihr Monatsgeld abzuholen an den Tagen, wo er als Armenpfleger seine Sitzungen hielt.

Von diesen Sitzungen meines Vaters als Armenpfleger blieben mir nur diejenigen im Gedächtniß, welche im Winter stattfanden, in der Frühe des Morgens, wenns noch dunkel war. Mein Vater saß dann an einem großen Tische, der mit Geldtüten jeder Größe bedeckt war; statt der silbernen Leuchter mit Wachskerzen, deren sich mein Vater gewöhnlich bediente und womit er, dessen Herz so viel Takt besaß, vor der Armuth nicht prunken wollte, standen jetzt auf dem Tische zwey kupferne Leuchter mit Talglichtern, die mit der rothen Flamme des dicken, schwarzgebrannten Dochtes gar traurig die anwesende Gesellschaft beleuchteten.

[232]

Heinrich Heine.
Nach einem von M. Oppenheim im Jahre 1831 gemalten Portrait.
Original im Besitz von Julius Campe in Hamburg.

Das waren arme Leute jedes Alters, die bis in den Vorsaal Queue machten. Einer nach dem andern kam seine Tüte in Empfang zu nehmen, und mancher erhielt zwey: die große Tüte enthielt das Privatalmosen meines Vaters, die kleinere das Geld der Armenkasse.

Ich saß auf einem hohen Stuhle neben meinem Vater und reichte ihm die Tüten. Mein Vater wollte nemlich, ich sollte lernen, wie man giebt, und in diesem Fache konnte man bey meinem Vater etwas tüchtiges lernen.[7]

Viele Menschen haben das Herz auf dem rechten Fleck, aber sie verstehen nicht zu geben, und es dauert lange, ehe der Wille des Herzens den Weg bis zur Tasche macht; zwischen dem guten Vorsatz und der Vollstreckung vergeht langsam die Zeit wie bey einer Postschnecke. Zwischen dem Herzen meines Vaters und seiner Tasche war gleichsam schon eine Eisenbahn eingerichtet. Daß er durch die Akzionen[8] solcher Eisenbahn nicht reich wurde, versteht sich von selbst. Bei der Nord- oder Lyon-Bahn ist mehr verdient worden.

(Fortsetzung folgt.)



  1. „Concurrenten“, um ein bekannteres Fremdwort zu gebrauchen.
  2. Diese Stelle wird später in breiterer Ausführung wiederholt, wie denn unser Manuscript an manchen Stellen zeigt, daß der Verfasser es keiner ordnenden, abgleichenden Durchsicht unterzogen. Sonst hätte er ja auch die wohl auf einem Schreibfehler beruhende Verwechselung der Großväter Goethe’s von väterlicher und mütterlicher Seite (vergl. Nr. 11, S. 180) bemerken müssen. Goethe’s Mutter war bekanntlich die Tochter des Frankfurter Stadtschultheißen J. W. Textor, sein Vater Dr. jur. J. K. Goethe der Sohn des als Schneidergeselle in Frankfurt eingewanderten, späteren Gastwirths F. G. Goethe.
  3. Um ein Beispiel zu geben von der Sorgsamkeit, mit welcher Heine nach dem passendsten Ausdruck suchte, folge hier der Wortlaut des Manuskripts ohne Rücksicht auf Durchstreichungen: „– – so bin ich von aller Eitelkeit befreyt“ … „die persönliche Eitelkeit“ … „seit Jahren nicht mehr von jener Eitelkeit behaftet“ … „alle jene Eitelkeit abgestreift, die“ … „genas ich seit längst von jener Eitelkeit“ … „so giebt es für mich auch nicht mehr jene Rücksichten der Eitelkeit, womit“.
    All diese Ansätze hat Heine wieder durchgestrichen und statt derselben den im Text gedruckten gewählt.
    Er gehörte zu der geringen Zahl jener Schriftsteller, die nach Voltaire’s Ausspruch sich das Schreiben unendlich schwer machen, um dem Publicum das Lesen unendlich leicht zu machen.
  4. Wortspielender Unsinn.
  5. Gleichnamigkeit.
  6. Franz von Zuccalmaglio, an welchen das erste Gedicht Heine’s gerichtet ist: „Es zieht mich nach Nordland ein gold’ner Stern“ (vergl. Heine’s Gesammelte Werke, Band XV, S. 286).
  7. Alfred Meißner erzählt in seinen „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Hamburg, Campe, 1856) aus genauer Kenntniß: „Zahllose Flüchtlinge haben seine wohlthätige Hand empfunden, ohne daß er gefragt hätte, welcher Partei sie angehörten, wenn sie sogar aus einem Lager kamen, dessen Fahne er verspottete und in dessen Reihen ihm feindliche Kämpfer nisteten. Zu jeder Geldsammlung für irgend ein edles oder unverschuldetes Unglück steuerte er mit, beinahe mehr als seine Mittel es gestatteten, und sagte dabei lächelnd und wie zur Entschuldigung: ‚Ich liebe von Zeit zu Zeit meine Visitenkarte bei dem lieben Herrgott abzugeben.‘“ (S. 213.)
  8. Gallicismus anstatt „Aktien“ – wie denn überhaupt in diesen Memoiren, gleichwie in Heine’s sämmtlichen späteren Prosaschriften, der Einfluß der täglich und stündlich gehörten fremden Landessprache sich fühlbar macht. In seiner Schrift über Börne sagt Heine von dieser sprachlichen Verbannung: „Glücklich sind die, welche in den Kerkern der Heimath ruhig hinmodern, denn diese Kerker sind eine Heimath mit eisernen Stangen, und deutsche Luft weht hindurch, und der Schlüsselmeister, wenn er nicht ganz stumm ist, spricht er die deutsche Sprache! – Es sind heute über sechs Monde, daß kein deutscher Laut an mein Ohr klang, und Alles, was ich dichte und trachte, kleidet sich mühsam in ausländische Redensarten. – Ihr habt vielleicht einen Begriff vom leiblichen Exil, jedoch vom geistigen Exil kann nur ein deutscher Dichter sich eine Vorstellung machen, der sich gezwungen sähe, den ganzen Tag französisch zu sprechen, zu schreiben. Auch meine Gedanken sind exiliert, exiliert in eine fremde Sprache.“ (Werke XII, S. 227.)
    Auch in dem erwähnten Buche Meißner’s wird eine Aeußerung Heine’s über dasselbe Elend wiedergegeben: „Ich deutscher Waldvogel, gewohnt sein Nest aus dem buntesten und einfachsten Material zusammenzubauen – ich niste da in der Allongeperüque Voltaire’s.“

[233]

Der deutsche Reichsadler und die deutsche Kaiserkrone.

Eine historisch-politische Plauderei von Karl Braun-Wiesbaden.
Erstes Capitel.

Nachdem das deutsche Reich an die Stelle des Norddeutschen Bundes getreten war und der König von Preußen, der bisherige Schirmherr des Norddeutschen Bundes, von den Regierungen und der Volksvertretung des neu geeinigteu Deutschland als „deutscher Kaiser“ proclamirt worden war, wurde durch kaiserlichen Erlaß vom 3. August 1871 das kaiserliche Wappen und die kaiserliche Standarte festgestellt. Der deutsche Reichsadler wurde neu geboren. Da aber die Heraldik und die Wappen-Wissenschaft heutzutage nur noch von einer geringen Anzahl deutscher Reichsbürger cultivirt wird, so bestehen bei vielen, sonst wohl unterrichteten Deutschen noch mancherlei Irrthümer hinsichtlich des Reichsadlers und des kaiserlichen Wappens, und diese Irrthümer führen zuweilen sogar zu Collisionen.

Ich erinnere mich, daß alsbald nach Aufrichtung des deutschen Reichs in Berlin einige Geschäftsleute, welche den Titel „Königl. Hof-Lieferant“ oder „Königl. Hof-Photograph“ etc. führten, und mit Recht führten, in einen Rechtsirrthum bezüglich der nunmehrigen Qualification dieses Prädicats verfielen und in Folge dessen sich „Kaiserlich und Königlich“ nannten und den preußischen Adler mit dem Reichsadler vertauschten. Sie wurden gezwungen, diesen Schritt rückgängig zu machen und den früheren Zustand ihrer Geschäftsschilder wiederherzustellen.

Auch in der Gegenwart sind einem neuen Theater in Berlin, welches, da es sich als „Deutsches Theater“ bezeichnet, es für zweckmäßig hielt, sich auch des deutschen Reichsadlers zu bedienen, daraus Schwierigkeiten entstanden, und es schweben, so viel ich weiß, heute noch Verhandlungen darüber, ob und inwieweit dieser Musentempel berechtigt ist, das Reichswappen oder den Reichsadler zu führen.

An diese praktischen Streitfragen reihen sich theoretische Irrthümer.

Der deutsche Reichsadler.

Viele glauben, die Erhebung des Königs von Preußen zum „deutschen Kaiser“ komme einer Wiederherstellung des alten „heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ gleich, wie solches bis zum 6. August 1806 bestand, an welchem Tage Kaiser Franz II. durch eine feierliche Abdicationsacte die „Römisch-Deutsche“ Kaiserkrone niederlegte, das Band, welches ihn bisher an den Staatskörper des Reichs gebunden, für gelöst und die reichsoberhauptliche Würde nebst all ihren öffentlichen Befugnissen und Verpflichtungen für erloschen erklärte, und alle Kurfürsten, Fürsten und sonstigen Reichsstände, sowie alle Reichsangehörigen, die Richter der Reichsgerichte mit inbegriffen, von ihren Pflichten gegen das Reichsoberhaupt entband, indem er zugleich mit seinen sämmtlichen deutschen Erblanden, mit welchen er bisher dem deutschen Reichsverbande angehört hatte, aus demselben ausschied.

Ja, es sind sogar seiner Zeit Stimmen laut geworden, welche verlangten, Oesterreich solle die alten Reichs-Insignien, welche sich seit 1796 noch in seiner Bewahrung befinden, an das jetzige deutsche Reich herausgeben, und eine diplomatische Action in diesem Sinne begehrten, die aber, wie mir scheint mit Recht unterblieben ist.

Endlich kennen auch Viele nicht den Unterschied zwischen dem jetzigen Reichswappen und dem alten – ein Unterschied, welcher keineswegs nur auf heraldische Spitzfindigkeiten hinausläuft, sondern seine historisch-politische Bedeutung hat.

Unter diesen Umständen dürfte es nicht unzweckmäßig erscheinen, das Capitel vom deutschen Reichsadler und von der deutschen Kaiserkrone, welches bisher nur in staatsrechtlichen und heraldischen Fachblättern behandelt worden ist, in einer in den weitesten Kreisen verbreiteten volksthümlichen Wochenschrift, wie die „Gartenlaube“, zu erörtern, um den Sachverhalt aufzuklären, Irrthümer zu widerlegen und Mißverständnisse zu beseitigen.

Zu diesem Zwecke geben wir zunächst eine genaue bildliche Darstellung des „Reichsadlers“, wie solcher durch kaiserlichen Erlaß vom 3. August 1871 festgestellt worden ist. Zur Erläuterung des Bildes fügen wir hinzu:

Während der alte Reichsadler zwei Köpfe hatte, von welchen der eine nach rechts und der andere nach links sah, hat der neue nur einen Kopf, und dieser Kopf sieht nach rechts. Die Doppelköpfigkeit des alten Reichsadlers ist erst in späteren Zeiten entstanden. Ursprünglich war auch der alte nur einköpfig. Später aber scheint man zwei Köpfe für schöner und majestätischer gehalten zu haben. Denn auch den russischen Adler hat man mit zwei Köpfen ausgestattet. Alle alten Reichs-Publicisten haben die Doppelköpfigkeit entweder damit erklärt, daß der eine Kopf das römische Regiment, das Imperium Romanum, der andere das deutsche Regiment, das Imperium Germanicum, bedeute; oder sie haben die zwei Köpfe als ein Symbol der Wachsamkeit gepriesen, indem der Adler ausschaue nach allen Seite. Böswillige meinten, der Hauptkopf sehe nach dem österreichischen Haus- und der andere nur so ganz beiläufig nach dem Reichs-Interesse, Jener schaue donauabwärts, nach Belgrad, indem er die Rathschläge des Prinzen Eugen von Savoyen, des edlen Ritters, befolge, Dieser schaue donauaufwärts und rheinwärts, nach Frankfurt am Main, indem er die Rathschläge des Fürsten Metternich befolge. Doch das gehört für uns heutige deutsche Reichsbürger der Vergangenheit an. Wir sind zufrieden, wenn unser jetziger Reichsadler nur einen Kopf hat. Wir halten das für richtig, nicht nur in zoologischer, sondern auch in politischer Hinsicht.

Der jetzige einköpfige rechtsblickende schwarze Reichsadler hat rothen Schnabel, rothe Zunge und rothe Klauen oder „Fänge“. Man nennt das die „Waffen“ des Wappenthieres.

Der alte Reichsadler war (an beiden Köpfen) roth gezunget. Dagegen hatte er goldene Schnäbel, goldene Kronen und goldene „Fänge“. Der russische Adler dagegen ist wie der unserige roth geschnäbelt, roth gezunget und roth gefänget.

Der jetzige Reichsadler hat nicht auf seinem Kopfe eine goldene Krone sitzen, sondern es schwebt über dem Ganzen die sogenannte „Krone Karl’s des Großen“, gegen welche man antiquarische und heraldische Einwendungen erhebt, welche ich für meine Person für begründet halte. Ich will dieselben jedoch hier [234] nicht aus einander setzen. Sie haben für die Mehrzahl der Leser schwerlich Interesse, und selbst wenn die Wissenschaft Recht hat, vermag sie an der staatlichen Feststellung des neuen Wappens doch nichts zu ändern.

Der alte Reichsadler hält mit dem rechten Fange (vulgo Klaue) den Reichsscepter, in dem linken Fange den Reichsapfel. Der neue Adler hält nichts in den Fängen, sondern streckt dieselben aus einander.

Dagegen trägt er auf dem Brustschilde den gekrönten preußischen Adler, und dieser, der preußische Adler, hat in der rechten Klaue den Scepter und in der linken den Apfel, und auf der Brust trägt er das Wappenschild der Grafen von Hohenzollern, das mit Silber und Schwarz geviert ist, das heißt oben links und unten rechts Silber, und unten links und oben rechts Schwarz. So ist denn der jetzige Reichsadler zugleich eine Art bildliche Darstellung der Geschichte des preußische Herrscherhauses während der Stadien der Grafen von Hohenzollern, der Könige von Preußen und der deutschen Kaiser. Um das Wappen schlingt sich die Kette des Schwarzen Adlerordens. Aus der Kaiserkrone quellen unten zwei breite, mit Arabesken verzierte goldene Bänder hervor, welche nach rechts und links ab- oder herausfliegen.

Alles Uebrige ist aus der Zeichnung zu ersehen.

Damit sind denn die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Adler des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation und dem des gegenwärtigen „Deutschen Reiches“ nachgewiesen.

Zur Vervollständigung muß ich noch etwas über die deutsche Krone und über die deutschen Reichsinsignien sagen.

Was Kaiser Karl den Großen anlangt, so trägt derselbe auf gegenwärtig noch vorhandenen und als echt beglaubigten Siegeln, Münzen und Medaillen nicht eine Krone, sondern einen Lorbeerkranz, und dies stimmt überein mit der geschichtlichen Ueberlieferung, daß der Papst Leo, welcher im Jahre 800 Karl den Großen zu Rom als Imperator Romanus krönte, ihm hierbei eine römische Lorbeerkrone aus Gold auf das Haupt gesetzt hat. Unter den späteren Reichskleinodien hat sich jedoch diese Lorbeerkrone nicht vorgefunden.

Das „heilige römische Reich deutscher Nation“ ist erst im Jahre 962 unter Otto dem Großen gegründet worden. In demselben hat es, wie uns die goldene Bulle Kaisers Karl IV. (1356) belehrt, dreierlei verschiedene Kronen gegeben, nämlich:

1) die goldene,
2) die silberne und
3) die eiserne Krone.

Die erste war die eigentliche Reichskrone und wurde deshalb auch die römische oder die kaiserliche Krone genannt, die „Corona Romana“ oder „Corona Imperii“. Die zweite ist die Krone des deutschen Königs, wie das Reichsoberhaupt hieß, so lange es der Papst noch nicht gekrönt hatte. Sie wird die „Corona Regni“, die Krone des Königreichs oder die „Corona Aquensis“, die Krone von Aachen, genannt. Denn in der That wird sie seit 1262 bis heute in dem Aachener Stift aufbewahrt. Die dritte, die eiserne Krone, bedeutet die Herrschaft über Mailand und über das lombardische Königreich, dessen Schicksale ja bekannt sind. Sie wird die Mailänder Krone (Corona Mediolanensis) oder die Lombardenkrone (Corona Lombardica) genannt. Oesterreich hat heute noch einen Orden, welcher nach dieser „Corona di Ferro“ genannt wird, obgleich der Besitz der Stadt und des Landes, als dessen Emblem die eiserne Krone gilt, seit 1859 auf Italien übergegangen.

Die goldene Kaiserkrone, sowie die übrigen Reichskleinodien und Insignien befinden sich zur Zeit, das heißt seit 1796, im Besitze von Oesterreich.

Früher war die freie Reichsstadt Nürnberg mit deren Aufbewahrung betraut. Da das heilige römische Reich deutscher Nation eine Wahlmonarchie war und es daher keine unabänderliche kaiserliche Residenz gab, da ferner auch der jeweilige Kaiser eigentlich kein festes Domicil hatte, sondern bald da und bald dort Residenz hielt, da endlich auch der Sitz des Reichstags zum Oefteren wechselte (Ende des 15. Jahrhunderts z. B. tagte er am Bodensee in der damaligen freien Reichsstadt Lindau, wo er die Reichsjustizgesetze zu Stande brachte, die leider nur sehr unvollständig zum Vollzuge gelangten): so war es nöthig, für die Reichskleinodien einen unabänderlichen und permanenten Bewahrer, einen vertrauten und getreuen Inhaber, einen „Trustee“, wie die Engländer sagen, zu haben, welcher erhaben war über den Wechsel der Zeiten und der Personen. Und das war die allergetreueste Stadt Nürnberg.

Sie bewahrte nicht nur die Krönungsinsignien, die Krone, den Kaisermantel, den Reichsapfel, das Reichsschwert (das „gladium Caroli Magni“) etc., sondern auch die dazu gehörigen heiligen Schriften, die mit kostbaren Miniaturen versehenen Meßbücher und die Reliquien, welche sich theils auf die Kreuzigung Christi, theils auf das Martyrthum der Apostel bezogen, namentlich also die Kerkerketten von Johannes, Paulus und Petrus, sowie das Fragment von der Krippe des Heilands, den hölzernen Spahn des Kreuzes und die Marterwerkzeuge der Kreuzigung, wie Nagel, Lanze etc.

Jährlich am zweiten Feiertage nach Ostern, schreibt Herr von Weech, wurde dem Volke auf dem Marktplatze das „Heilthum“ gewiesen, das heißt die Reichskleinodien wurden vorgezeigt, welche seit dem Jahre 1424 der Stadt zur Aufbewahrung anvertraut waren. Das war ein großes Fest, zu dem auch von auswärts die Massen des andächtigen und neugierigen Volkes herbeiströmten, um so mehr, als die mit dem Feste verbundene Messe der Landbevölkerung zu mancherlei Einkauf erwünschte Gelegenheit bot. Man weiß, daß im Jahre 1463 an jenem Tage 1266 Wagen und Karren die Stadtthore passirten. (Man ersieht daraus, daß man damals schon eine Art von Verkehrsstatistik hatte; freilich wurde ihre Grundlage durch Thor- und Brückenpassagezölle gebildet.) Da waren denn auch große Vorbereitungen nöthig. Die Straßen wurden sorgfältig gereinigt, jene in der Nähe des Marktes mit Ketten abgesperrt, um keinem Fuhrwerk den Durchgang durch die gedrängten Massen zu gestatte; ein großes Schaugerüste ward aufgeschlagen, auf dem unter freiem Himmel die Kostbarkeiten ausgestellt wurden.

Was mag da das Volk hin- und hergewogt sein auf dem weiten Marktplatze, wenn der Zug sich langsam von der Heilig-Geist-Kirche her bewegte, und wie feierlich mag der Anblick gewesen sein, wenn die Priester in ihren kostbaren Gewändern das Gerüste bestiegen, während alle Glocken erklangen, und wenn dann ein Bischof, der dazu gebeten war, oder gar ein päpstlicher Legat, der etwa eben durchreiste, die Messe sang! Da hob wohl ein alter Großvater den neugierigen Enkel hoch empor, um ihm alle die Herrlichkeit zu zeigen und zu erklären, den Nagel, die Lanze und den Spahn vom Kreuze des Herrn, das Stück von der Krippe Christi, Glieder von den Ketten, mit denen Petrus, Paulus und Johannes einst gefesselt waren, das Schwert Karl’s des Großen, seine Krone, sein Scepter, seine Kleider und andere heilige und kostbare Gegenstände. Aber nicht allein die Freude an den frommen Spielereien durchdrang und beherrschte diese Massen, sondern ihnen trat bei dieser feierlichen Scene doppelt kräftig das Gefühl vor die Seele, daß sie Glieder eines großen staatlichen Ganzen seien, und das weitere: daß ihrer Stadt vor allen Gemeinwesen des deutschen Reichs die Ehre zugetheilt sei, die Hüterin der Insignien dieses Reichs zu sein.

So schreibt der verdiente deutsche Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber Geheime Archivrath von Weech in Karlsruhe; dessen ebenso gelehrtes als volksthümliches Werk „Die Deutschen seit der Reformation, mit besonderer Berücksichtigung der Culturgeschichte“ (Leipzig, B. G. Teubner) dem deutschen Volke auf das Angelegentlichste empfohlen zu werden verdient. Neben seinen inneren Vorzügen genießt es auch äußere, nämlich unter Anderem auch den, sehr schön ausgestattet und namentlich mit zahlreichen Portraits nach geschichtlich beglaubigten Originalen und mit Bildern nach bewährten Meistern der Gegenwart illustrirt zu sein. Dies nur beiläufig.

Man würde aber irren, wenn man annehmen wollte, die alte Kaiserkrone habe sich stets ruhig in Nürnberg befunden, wo auf der die monumentale Stadt überragenden Höhe nicht nur jene kaiserliche Burg, in der so Mancher der alten Kaiser zeitweise residirte, sondern auch die Burg der Burggrafen emporragt, von der das Geschlecht der Hohenzollern, die jetzige kaiserliche Dynastie, ihren Ausgang genommen.

Wie die alten Kaiser kaum eine feste Residenz hatten, sondern fast immer auf Reisen und auf Kriegszügen waren, so ging auch die alte Kaiserkrone zuweilen auf Reisen. Einen sehr interessanten Beleg hierfür hat der alte Freiherr von Aufseß, der Stifter des „Germanischen Museums“ in Nürnberg, aufgefunden.

[235] Es ist ein vom 28. März 1434 datirtes Schreiben des hohen Rathes der freien Reichsstadt Nürnberg an die nicht minder freie Reichsstadt Buchhorn am Bodensee, welches Schreiben von dieser Krone und einem dazu gehörigen Meßbuche handelt und lautet, wie folgt:

„Lieben Freunde! Der allergnädigste Fürst und Herr Sigmund, Römischer Kaiser etc. etc. etc., unser Gnädigster Herr, hat uns kürzlich geschrieben und uns geheißen, seine Kaiserliche Krone, die Seine Durchlaucht jeder Jahre in unserer Stadt gelassen hat, Euer Weisheit zu überschicken und auszuantworten. So meint Seine Kaiserliche Gnaden Euch eine Freudenbotschaft zu thun und Euch zu unterweisen, wie Ihr ihm die Krone fürbaß schicken sollt. Also nach söllichem (solchem) Geheiße schicken wir Euch diese Krone mitsammt einem Meßbuch, als Euch gegenwärtiger unser Knecht, Ausantworter dieses Briefes, wohl unterweisen wird, wo und wie Ihr deren bedürft, Euch derselben Dinge zu unterwinden und Seiner Kaiserlichen Majestät nach Seinem Geheiß und Wohlgefallen fürbaß zuzufügen, denn wo wir Euer Ehrsamkeit etc.“

Die Stadt, an welche dieser Brief gerichtet ist, die freie Reichsstadt Buchhorn, wird man heute selbst auf der großen Specialkarte des Bodensees und seiner Ufer vergeblich suchen. Gleichwohl ist dieselbe nicht von dem See verschlungen worden und nicht durch ein Erdbeben oder sonstwie von der Erdoberfläche verschwunden. Sie steht noch, aber sie verbirgt sich unter einem andern Namen. Als während der französischen Fremdherrschaft die einzelnen Theile des deutschen Gebiets vertheilt und hin und her geworfen wurden, wie es Napoleon I., dem mächtigen und gewaltthätigen Protector des rheinischen Bundes, beliebte, wurde die freie Reichsstadt Buchhorn, die allerdings sehr heruntergekommen war und nur noch 700 Einwohner, aber hunderttausend Gulden Schulden hatte, zuerst 1802 Baiern und dann 1810 Württemberg zugetheilt; und da dem König Friedrich von Württemberg auch das in der Nähe gelegene Kloster Hofen zugefallen war, so verwandelte er das Letztere in ein königliches Lustschloß und befahl am 17. Juni 1811, daß nunmehr das Ganze, Buchhorn und Hofen, zu einer Gemeinde vereinigt, den Namen „Stadt und Schloß Friedrichshafen“ führen sollten. So ist der Name der freien Reichsstadt zuerst aus der officiellen Topographie, und dann aus dem Gedächtniß der Menschen verschwunden.

An diese freie Reichsstadt also war das Nürnberger Schreiben vom 28. März 1434 gerichtet. In dem Briefe steht nicht, was Buchhorn mit der Krone und dem Meßbuche anfangen soll; vielmehr wird es lediglich auf die mündliche Botschaft des freireichsstädtisch-nürnberger Knechts verwiesen, der mit dem Transport der Krone betraut war.

Der Kaiser Sigismund verweilte damals in Constanz, etwas später in Ulm, wohin der Reichstag einberufen war. Warum man die Krone nebst Zubehör nicht direct nach Constanz, oder direct nach Ulm, sondern nach Buchhorn gesandt, warum man das Meßbuch beigegeben hat – nach Alledem fragen wir zur Zeit noch vergebens.

Aber wir haben wenigstens einen Anhaltspunkt zu einer kleinen neuen historischen Episode:

Die deutsche Kaiserkrone auf Reisen“.

Nur das wissen wir gewiß, daß sie nach Nürnberg zurück gelangt ist.

Im nächsten (und letzten) Capitel wollen wir ihre Schicksale bis zum heutigen Tage verfolgen.




Deutsche Selbstsucht und französische Großmuth.

Von Max Nordau.

In einem Buche, das gegenwärtig in Frankreich und über dessen Grenzen hinaus einen, ich muß sagen nicht ganz berechtigten, Lärm macht, in „Les Allemands“ (die Deutschen) vom Dominikaner Pater Didon, findet sich über den französischen und deutschen Nationalgeist folgende Stelle: „Obwohl die Selbstlosigkeit unter den Individuen häufiger ist, als unter den Völkern, giebt es doch auch unter diesen wie unter jenen eine Ehrlichkeit und Moral. Die Geschichte eines Volkes muß nicht nothwendig ein Gewebe von Verbrechen, der Nationalgeist eine ungezügelte Gewalt sein. Von allen Völkern der Welt ist das französische vielleicht das einzige, das in gewissen feierlichen Stunden seinem Nationalgeiste durch Gerechtigkeit und Hingebung Ehre zu machen gewußt hat. Gewisse Länder haben ihren höchsten Ruhm im Kampfe für ihre Unabhängigkeit gesucht; die französische Nation hat das Blut ihrer Söhne für den Triumph der Wahrheit und die Unabhängigkeit der befreundeten Nationen zu vergießen vermocht. Dagegen ist es der Vortheil, der persönliche Vortheil, der ausschließliche Vortheil, der die militärische Gewalt lenkt, welche Deutschland zum ersten Bestandtheil seines Volksgeistes gemacht hat. Ich habe niemals bei den heutigen Deutschen selbst in dem Alter, in welchem man den ritterlichen Ideen am zugänglichsten ist, eine schwungvolle Regung überraschen können, die über den Gesichtskreis des deutschen Vaterlandes hinausreichen würde. Diese Grenze zwängt den Germanen ganz und gar ein. Das Interesse ist sein oberstes Gesetz. Seine großen Staatsmänner sind blos geniale Utilitarier. Ihre selbstsüchtige Politik, die mehr nach Nutzen, als nach Ruhm gierig ist, hat niemals die leiseste Mißbilligung des Landes erfahren, welches widerstandslos und blind deren Orakel annimmt. Die Deutschen schaffen sich Bundesgenossen, aber keine Freunde. Die, welche sie an sich ketten, lassen sich nur durch das Interesse oder die Furcht packen, da sie an die ihrer harrende Zukunft denken müssen. Wie sollte man keine Furcht haben, wenn man der Gnade einer Macht überliefert ist, die nicht von Gerechtigkeit beseelt wird, und wenn die selbstsüchtige Kraft unbeschränkt herrscht? ... Deutschlands Uebergewicht in Europa bedeutet den allgemeinen Militarismus, die Herrschaft des Schreckens, der Gewalt, der Selbstsucht. Ich habe unzählige Male versucht, beim Deutschen irgend eine Sympathie für andere Nationen zu entdecken, es ist mir nicht geglückt.“

Soweit der Pater Didon. Die Behauptung, daß der Deutsche ein kalter Egoist und keiner Neigung zu einem fremden Volke fähig, der Franzose dagegen ein selbstloser Enthusiast und voll hingebender Liebe für die ganze Menschheit sei, ist der Ausdruck einer Vorstellung, die das französische Volk und die französische Literatur beherrscht, von der sie auf die ganze romanische Welt übergegangen ist, welche sie nun wie einen grundlegenden, unanfechtbaren Glaubensartikel bei jeder Gelegenheit ausspricht. Nun denn, diese Vorstellung ist mehr als eine alberne Ungerechtigkeit, sie ist eine empörende, himmelschreiende Undankbarkeit. Wie Fürst Bismarck einmal von sich im deutschen Reichstage behauptete, so kann auch das deutsche Volk von sich sagen, es sei das bestgehaßte in Europa. Man gönnt ihm nirgends seine Einheit, ja nur das nackte Bischen Leben. Diesen Haß können wir ertragen, denn wenn wir bitter werden wollen, so trösten wir uns mit unserem guten alten Sprüchworte: Besser beneidet als bemitleidet. Wenn die Nachbarn uns Ehrlichkeit und Offenheit, Muth und Treue absprechen, wenn sie uns schwerfällig und geistlos, unser Denken nebelhaft und verschwommen nennen, so beweisen sie nur, daß sie uns entweder nicht kennen oder uns nicht gerecht werden wollen, also entweder unwissend oder unwahr sind. Wenn sie aber sagen, der Deutsche sei ein Selbstling und keiner Sympathie für ein fremdes Volk fähig, so begehen sie eine Handlung, die viel schlechter ist, als Unwissenheit und selbst Unwahrheit: sie vergelten Liebe mit Verleumdung und schlagen die Hand, die sie so oft gestreichelt hat.

Das gerade Gegenteil der Behauptung des Paters Didon ist wahr. Man kann ruhig sagen, daß kein Volk auf Erden für Leid und Freud fremder Völker ein so offenes Herz hat wie das deutsche, daß kein Volk auch nur entfernt mit solcher Begeisterung, mit so überströmender Liebe an den Geschicken anderer Nationen Antheil genommen hat wie das deutsche, und ich bin gar nicht weit entfernt, zu behaupten, daß dies geradezu eine Schwäche des deutschen Nationalcharakters, daß der Deutsche mit seiner Sympathie viel zu rasch bei der Hand ist, daß er in seiner kosmopolitischen Sentimentalität seine Theilnahme selbst an Völker wegwirft, die nicht werth sind, daß er seinen Kopf nach ihnen umwende oder auch nur die Thatsache ihres Daseins auf Erden zur Kenntniß nehme.

[236] Ehe ich dies an Beispielen nachweise, habe ich eine Vorfrage zu beantworten: Wie giebt sich eine nationale Sympathie für ein fremdes Volk kund? Sollen etwa blos amtliche Handlungen der Regierung als Maßstab gelten? Das ist ein Maßstab, den zurückzuweisen Pater Didon der Allererste sein sollte, und zwar im Interesse seines eigenen Volkes. Denn die Eingriffe der französischen Regierung in die Geschicke benachbarter Länder waren nicht von Sympathien, sondern von Rücksichten einer egoistischen Politik bedingt. König Ludwig Philipp ließ Antwerpen belagern, nicht weil er die Belgier liebte und sich für ihre Unabhängigkeit begeisterte, sondern weil König Leopold I. sein Schwiegersohn war und weil diese harmlose Action seinen jungen Thron befestigte. Der Prinz-Regent Louis Napoleon schritt gegen die römische Republik ein, weil er sich die Unterstützung der Clericalen zu dem schon damals von ihm geplanten Staatsstreiche in Frankreich sichern wollte. Als Kaiser erklärte Napoleon III. wohl anscheinend im Interesse Italiens Oesterreich den Krieg, aber nicht um den Traum der italienischen Patrioten und Bluzeugen zu verwirklichen, sondern um Oesterreich zu demüthigen, das damals für mächtig galt, und um die Hegemonie Frankreichs in Europa endgültig zu begründen. Als Oesterreich einige Niederlagen erlitten hatte, beeilte sich Napoleon III. denn auch, Frieden zu schließen, ohne seinen Verbündeten Victor Emanuel auch nur zu Rathe zu ziehen; er ließ sich seine Intervention durch die Abtretung von Nizza und Savoyen bezahlen und widersetzte sich, so viel an ihm lag, bis 1870 der Vollendung des italienischen Einheitswerkes durch die Besetzung Roms. Mit all diesen politischen Actionen hatten die nationalen Sympathien nichts zu thun. Es ist wahr, zur Zeit der ersten Republik fielen französische Truppen in fremde Länder unter dem Vorwande ein, sie von ihren einheimischen Tyrannen zu befreien. So überschwemmten sie die Schweiz, Italien, Westdeutschland, die österreichischen Niederlande und Holland. Die Befreiung bestand aber in der Aneignung der überfallenen Länder, die ausgesogen, ihrer Sprache, ihres Volksthums, ihrer geschichtlichen Individualität beraubt wurden und die denn auch ihren „Befreiern“ so wenig Dank wußten, daß sie sich bei der ersten Gelegenheit mit dem Schwerte wider sie erhoben.

Allegorische Seitenfigur
aus Röhling’s Composition „Wein, Weib und Gesang“.

Deutschland hat nie in die Geschicke eines fremden Volkes eingegriffen, wenn es dazu nicht durch das Interesse seiner Selbsterhaltung genöthigt war; das ist richtig; doch sei nicht vergessen, daß Deutschland als ein Factor, mit dem gerechnet wird, erst seit gestern existirt und daß in Momenten, wo starke deutsche Sympathien für ausländische Nationalbestrebungen bestanden, die öffentliche Meinung Deutschlands kein Mittel besaß, die Handlungen der deutschen Regierungen zu bestimmen.

Von Regierungsactionen muß also abgesehen werden, denn in diesen ist bisher alles Andere eher zum Ausdrucke gekommen, als nationale Sympathie oder Antipathie. Die Dolmetscher der Gefühle des Volkes finden wir außerhalb des kleinen Kreises der Minister und vortragenden Räthe. Bei seinen Dichtern, seinen Schriftstellern müssen wir Umfrage halten, wenn wir wissen wollen, was zu gegebenen Zeiten seine Seele bewegt hat. Die flüchtigste Wanderung durch das deutsche Schriftthum genügt nun aber, um die Ueberzeugung zu erwecken, daß seit einem Jahrhundert jede noch so leise Regung eines fremden Volksthums im deutschen Herzen ein lautes, oft sogar überlautes Echo erweckt, daß in diesem Zeitraume die häufig leidenschaftliche und unverhältnißmäßige Sympathie der Deutschen jedes Volk begleitet hat, das nach Licht und Luft rang, das sich sein Dasein und einen Platz unter der Sonne, das sich Freiheit und Menschenrechte erkämpfen wollte. Weiter als um ein Jahrhundert zurückzugreifen ist nicht thunlich. Wie ein Individuum, so muß auch ein Volk zuerst sich seiner selbst bewußt werden, ehe es für andere etwas fühlen kann; das Nationalbewußtsein hat sich aber bei keinem der großen Völker Europas vor viel mehr als hundert Jahren von einer unbestimmten ahnenden Empfindung zur Klarheit emporgerungen.

Der erste Beweis, daß man sich für ein fremdes Volk interessirt, daß man dafür Sympathie empfindet, ist doch wohl, [237] daß man sich die Mühe nimmt, es kennen zu lernen. Diesen Beweis für seine Landsleute zu erbringen, dürfte dem Pater Didon schwer werden. Dagegen ist es allbekannt, daß es kein Volk auf Erden giebt, welches sich so viel um Wesen und Eigenart fremder Nationen kümmert, wie das deutsche. In England kamen Percy und Andere zuerst auf den Gedanken, die Lieder zu sammeln, die das Volk sang, jedoch wohlgemerkt nur die des eigenen Volkes. Aber der Deutsche Herder war es, der in seiner höhern und selbstlosern Anschauung mit seinem Interesse alle Völker gleichmäßig umfaßte und in seinen „Stimmen der Völker“ alle in ihrer charakteristischen Weise zu Worte kommen ließ.

Allegorische Seitenfigur
aus Röhling’s Composition „Wein, Weib und Gesang“.

Der Gedanke einer Weltliteratur, welche die bedeutendsten Hervorbringungen des Genius aller Culturvölker wie in einem Ehrensaale der gesammten Menschheit vereinigt, keimte im Gehirne des größten Dichters der Deutschen, Goethe’s, wenn es etwa nöthig ist, ihn zu nennen. Das deutsche Volk ist das einzige in Europa, das wahllos alle fremdeu Bücher übersetzt, selbst solche, welche in ihrem Ursprungslande weder Beachtung noch Leser finden. Dieser Drang, das Schriftthum der übrigen Nationen zu kennen, hat uns poetische Uebersetzungen eingetragen, wie sie keine andere Literatur so herrlich und vollkommen besitzt, und durch diese Meisterwerke der Uebertragung ist es uns möglich geworden, die größten Dichter aller Zeiten und Völker, Shakespeare, Dante, Tegnér, Cervantes, Molière, von den alten Classikern nicht zu sprechen, gleichsam als unsere Nationaldichter zu adoptiren. – Allerdings hat das Interesse an den fremden Literaturen auch zu dem Uebelstande geführt, den man drastisch als „Uebersetzungsseuche“ bezeichnen konnte. Immerhin aber ist es eine dem deutschen Volke zur Ehre gereichende Thatsache, daß unsere Literatur weitaus die gastfreundlichste der Welt ist. Wir nehmen Alles freundlich auf, was an unsere Thür klopft; an unserem schlichten Tische wissen wir einen Platz für Alle zu finden, die einen solchen verlangen; wir haben zahlreiche kleine Nationen zu ständigen Clienten, die nur durch unsere Vermittelung aus der sehr beschränkten Oeffentlichkeit, welche ihre unbekannte Sprache ihren literarischen Erzeugnissen gewähren kann, zur wirklichen weltweiten Bekanntheit gelangen. Die meisten skandinavischen, slavischen, magyarischen Schriftsteller werden außerhalb ihrer Heimath nur durch deutsche Uebersetzungen bekannt. In ihrem Nationalcostüm können sie sich nirgends sehen lassen. Wir leihen ihnen das deutsche Kleid und machen sie dadurch in der Versammlung der großen Culturvölker salonfähig. Natürlich könnten wir diese großmüthig selbstlose Vermittlerrolle, für die wir noch nie einen Dank gehabt haben, nicht spielen, wenn wir nicht sprachenkundig wären. Auch in diesem Punkte vermag sich kein anderes Volk mit dem deutschen zu vergleichen. Nirgends kann ein so großer Procentsatz der Bevölkerung fremde Sprachen sprechen oder doch wenigstens lesen, wie in Deutschland.

Das sind, sollte ich meinen, Beweise einer thatkräftigen, ernste Prüfung vertragenden und nicht blos in leeren Phrasen bestehenden Sympathie für fremde Völker. Aber auch mit anderen Beweisen, solchen gemüthlicher Art, können wir in größerer Menge dienen als irgend ein zweites Culturvolk. Unsere Dichter und Schriftsteller haben es immer für ihre heilige Aufgabe gehalten, fremde Volksthaten zu preisen und zu verherrlichen. Ich denke da nicht an Gelegenheitsreimereien, welche irgend ein ausländisches Tagesereigniß sensationeller Natur poetisch glossiren, sondern an Werke unserer besten und vornehmsten Geister, an Dichtungen, die eine weite und tiefe Popularität erlangt und dadurch bewiesen haben, daß sie eine im ganzen deutschen Volke verbreitete vorbestehende Stimmung ausdrückten. Gerade dem französischen Volke ist die deutsche Literatur in Vers und Prosa mehr als gerecht geworden. Seine große Revolution begrüßte Klopstock in einer Ode, Georg Forster in Schriften von flammender Begeisterung. Der hochbegabte frühverstorbene Georg Büchner nahm „Danton’s Tod“ zum Vorwurfe einer großartigen Tragödie, Griepenkerl versuchte seine dichterische Kraft an Robespierre. Napoleon, der doch Deutschland so bitteres Leid zugefügt, wurde zu einem Heros der deutschen Dichtung, kaum daß die Hochfluth [238] des vaterländischen Aufschwunges der Befreiungskriege vorübergerauscht war. Grabbe schrieb seinen formlosen, aber genialen „Napoleon oder die hundert Tage“, Zedlitz widmete dem großen Krieger und noch größern Tyrannen einige „Todtenkränze“ und dichtete die „Mitternächtige Heerschau“, aus welcher eine abergläubische, mit Grauen vermischte Bewunderung Napoleon’s spricht, und Heine schrieb das Buch vom Tambour Le Grand in den „Reisebildern“ und „Die beiden Grenadiere“, ein so schönes Gedicht, wie es die napoleonische Legende keinem französischen Poeten eingegeben hat. Und noch in der letzten Zeit war es das Buch eines Deutschen, „Gambetta und seine Heere“ von v. d. Goltz, das einem Franzosen die Gerechtigkeit zu Theil werden ließ, welche er bei seinen Landsleuten weder im Leben noch nach seinem Tode gefunden hat.

Die kleinen Völker werden über den großen nicht vernachlässigt. Die Serben erheben sich unter Karageorgiewitsch wider die Türken. Europa weiß damals von ihnen ungefähr so viel, wie heute von den hamitischen Stämmen des Sudans. Goethe lernt aber ein Gedicht dieses kleinen unbekannten Barbarenvolks kennen, er spürt den menschlichen Herzschlag unter der wildfremden Tracht, er interessirt sich für die Serben, schreibt den ergreifenden „Klagegesang von den edeln Frauen des Asan Aga“ und bringt damit die „hinten, weit in der Türkei“ auf einander schlagenden Volksstämme der Phantasie und dem Mitgefühle des deutsche Volkes nahe.

Die Griechen beginnen ihren Unabhängigkeitskampf. Das Philhellenenthum reißt alte, ehrbare Professoren zu Thaten jugendlichster Ueberschwenglichkeit fort. Wilhelm Müller singt seine „Griechenlieder“ und kommt damit einer so weit verbreiteten Volksstimmung entgegen, daß er über Nacht zum berühmten Dichter wird. In allen deutschen Gauen declamirt Jung und Alt „Bobolina, Bobolina, Königin der Meeresfluth“ und „Heil! Heil! Nie wird Thermopylä den Sieg der Sclaven sehn!“ und man hört selbst dann nicht auf, für die Neohellenen zu schwärmen, als Fallmereyer sein unerbittliches Buch geschrieben hat, das alle romantischen und classischen Illusionen über sie zerstören mußte. Der Polenaufstand rief einen neuen Ausbruch deutscher Begeisterung hervor. Mosen besang „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“:

„In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen,
Kein Schuß im heiligen Kampfe sei gethan“,

ein Gedicht, das noch heute eins der volksthümlichsten unserer Literatur ist und in keiner Liedersammlung fehlt, und er feierte in einem zweiten Gedichte, „Polonia“, den Heldenmuth einer polnischen Mutter. Platen beweinte „Warschaus Fall“:

„Ihr edlen Schläfer unterm Sand, o laßt den Kampf euch nicht gereun,
Es wird der spätste Pilger einst auf eure Gräber Rosen streun.
Und auch der Dichter eilt herbei, von keiner ird’schen Furcht besiegt,
Wo rings um Warschau hingestreckt die große Hekatombe liegt.
Einst kommen wird ein freies Volk und pflanzen eine Siegstrophä’
Für euch, und ein Simonides besingen dies Thermopylä.“

Im „Vermächtniß der sterbenden Polen an die Deutschen“ („Wir gehn zu Grab erschöpft und laß – Nach manchem kühnen Straus, – Und athmen unsern Russenhaß – In eure Seelen aus“) suchte er ein Band geistiger Verwandtschaft zwischen den besiegten Polen und seinem eigenen Volke zu knüpfen. Lenau’s „Polenflüchtling“ ist das ergreifendste Gemälde tragischer Vaterlandslosigkeit, das sich in irgend einer Literatur findet; namentlich die polnische selbst hat nichts, was sie diesem Gedichte an die Seite stellen kann.

Das Jahr 1848 brachte den Magyarenaufstand, dem der Tag von Vilagos ein blutiges Ende machte. Heine rief da sein „Wenn ich den Namen Ungar hör, – Wird mir mein deutsches Wams zu enge“; Moritz Hartmann widmete Kossuth herrliche Strophen:

„So hat nicht Capistran,
Nicht Irlands Dan gesprochen,
Wie jener blasse Mann,
Von Kerkerpein gebrochen,
Mit blassem Angesicht,
Mit Augen, welche blauen
Im Schatten dunkler Brauen
Gleich Veilchen zarter Frauen –
Wie der zum Volke spricht.“

Die Schweizer streiten im Sonderbundkriege um die Gewissensfreiheit; Georg Herwegh schmettert ihnen die anfeuernden Fanfaren seiner schlachttrompetengleichen Poesie entgegen. Die Irländer werden von den Engländern bedrückt; Ferdinand Freiligrath wirbt mit den rührenden Terzinen der „Irischen Wittwe“ um deutsches Mitleid für sie. Und nicht nur für das fremde Volksleben der Gegenwart, auch für das in der fernen Vergangenheit begeistert sich die deutsche Dichtung und an ihr das deutsche Volk. Derselbe edle Freiligrath setzt in der „Geusenwacht“ dem Unabhängigkeitskampfe der Niederländer ein prächtiges Denkmal. Alfred Meißner findet selbst an den blutigen Hussiten rührende und heroische Züge, und ohne sich bei der Erwägung aufzuhalten, daß sie nicht blos für eine religiöse Idee, sondern auch für ihre czechische Nationalität gegen das Deutschthum gestritten haben, umgiebt er das struppige Haupt des „Ziska“ mit dem Glorienscheine der Halbgötter.

Wo giebt es noch eine poetische Literatur, in der sich so viele und von so großen Dichtern herrührende Zeugnisse der Theilnahme, der Liebe, der Begeisterung für fremde Völker finden? Wir müssen aber gar nicht einmal auf den idealen Höhen der Dichtung verweilen; wir können in die platte, praktische Alltäglichkeit niedersteigen und werden auch da auf Schritt und Tritt den Beweis antreffen, daß das deutsche Volk wie kein zweites ein warmes und offenes Herz für andere Nationen, den Willen und die Fähigkeit, sie zu verstehen, Bewunderung für ihre Vorzüge, Nachsicht mit ihren Schwächen hat. Der einzelne Ausländer ist überall – und in Paris am meisten – eine verdächtige und abstoßende Figur, die Mißtrauen, Geringschätzung und Spott erweckt. In Deutschland allein wird er wie ein vornehmeres Wesen angestaunt, findet man ihn interessant, wird ihm im gesellschaftlichen Verkehr ein gewisses Prestige zuerkannt. Den Verunglückten von Chio, den Ueberschwemmten von Szegedin, den Opfern von Ischia kam Deutschland rascher und reichlicher zu Hülfe, als irgend ein anderes Land, und das in der deutschen schlicht bescheidenen Art, ohne große Worte, ohne Lärm und Selbstberühmen und namentlich ohne das Almosen später den Beschenkten bei jeder Aufwallung übler Laune vorzuhalten. Scenen, wie die Verfolgung der italienischen Arbeiter in Marseille, sind in Deutschland noch nie vorgekommen, und obwohl der deutsche Arbeiter mit der Noth des Lebens hart zu kämpfen hat, ist es ihm noch niemals eingefallen, von seiner Regierung die Nichtzulassung ausländischer Concurrenten zu verlangen, wie es die Pariser Arbeiter in den letzten zwei Jahren dutzendmale gethan haben.

Die deutsche Sympathie für fremde Völker ist um so verdienstlicher, als sie nicht ein gnädiger Lohn für dargebrachte Huldigungen ist. Dem französischen Volke wird von den Nationen, die es „sympathique“ nennt, lange und aufdringlich der Hof gemacht; sie müsse sich erst um seine Huld bewerben, sie müssen sich derselben, durch Complimente, ausdauernde Anschwärmung und treuen Minnedienst würdig erweisen, dann wird sie ihnen vielleicht gewährt. Dem deutschen Volke aber macht Niemand den Hof; Niemand bittet es um seine Sympathie, und wenn es sie in seiner selbstlosen Warmherzigkeit verschenkt, so hält man sich dafür weder zu einer Rücksicht noch zur Dankbarkeit verpflichtet, ja man nimmt kaum Notiz davon. So ist das deutsche Volk geradezu der Toggenburg unter den Nationen, wozu ich es nicht eben beglückwünschen kann. Gewiß, die Gestalt des Toggenburg hat ihre rührende Seite; aber ich fürchte sehr, daß die unfreiwillig komische denn doch überwiegt.




Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Man hatte im Stift Logirstuben. Das Gasthaus des kleinen Ortes war sehr primitiv, und eine oder die andere Mama sah doch immer einmal im Vorüberreisen nach dem Töchterlein. Auch Elsen hatte man eines der Zimmer geöffnet und daneben das schönste dieser bescheidenen Gemächer für Frau von Ratenow gerüstet.

Um neun Uhr sollte der Zug kommen, und die Vorsteherin war selbst an den Bahnhof gegangen, um die gestrenge Tante zu [239] empfangen. Else saß inzwischen in ihrem Stübchen und schaute mit unendlicher Bangigkeit in die ziehenden Wolken, die den Mond bald verdeckten, bald einen Augenblick sein rundes volles Antlitz freigaben, für welch neckisches Spiel er ihre Contouren mit zartem Silbersaum umrandete. Was sollte nun werden? Schwester Beate hatte endlich alle Details erfahren und sie sagte sich auch, daß das arme Kind keine Wahl gehabt hatte. Sie kannte Frau von Ratenow genugsam aus ihren kernfesten Briefen, um nicht genau zu wissen, daß es noch einen schweren Kampf geben werde.

Nach Else’s Meinung mußte man schon vor einem Weilchen zurücksein vom Bahnhofe. Nun saßen gewiß die Beiden, die ihres Schicksals Fäden in der Hand hielten, in dem traulichen Stübchen und fochten für ihr sogenanntes Glück.

„Else! Else!“ rief da eine leise Stimme, „bist Du hier, oder nicht?“

Sie fuhr herum, und ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen die kleine Mädchengestalt dort in der Thür und erkannten das kokette Frühjahrshütchen und das schmale aristokratische Gesicht unter demselben.

„Lili?“ fragte sie verwundert.

„Nun, Herr Gott ja, ich bin’s!“ lautete die Antwort; „ich hab mir’s just so ausgemalt Dich zu treffen, wie ich Dich treffe, in den Mond sehend, natürlich!

Mond, du bist glücklicher als ich,
Du siehst ihn, und ich seh’ ihn nicht!“

fuhr sie fort und riß das Hütchen vom Kopfe. „Lieber Himmel, giebt’s denn hier nicht ein Sopha? Ich bin zum Sterben müde. O Else, es ist eine haarsträubende Idee von Dir gewesen, die Flucht zu ergreifen.“

„Du hast Tante Ratenow begleitet, Lili? sie – ist sie da?“

„Na gewiß!“ Und die zierliche Gestalt warf sich auf das weiße Linnen des Bettes und streckte sich nach Herzenslust. „Das heißt, sie wäre natürlich mit allem Glanze in Halle sitzen geblieben ohne mich; Moritz hat das wohl gewußt, sonst hätte er mich mit dieser Reise gewiß verschont. Das ganze Coupé voll Mütter, Ammen und Babies, und dazwischen stets wie ein indischer Pagode, die Tante auf Deiner Fährte, und ich –. O Else, warum hast Du mir das gethan? Heute Abend ist Souper bei Cramms, und ich esse so gern Krebsragout mit Spargel!“

Else antwortete nicht; sie setzte sich stumm neben das Bett, auf welchem Lili ruhte, und sah ihr angstvoll in das Gesicht, aus dem die großen Augen trotz aller Klage höchst vergnügt blickten.

„Höre, Elschen, Du sorgst doch eigentlich sehr ausgiebig für interessanten Stadtklatsch,“ fuhr die Kleine fort. „Ich muß Dir gestehen, als Moritz heute Morgen die Alarmnachricht brachte und zugleich den Befehl für mich, Tante auf der Verfolgung des Flüchtlings zu begleiten, da hatte ich weiter keinen Wunsch, als heute Mittag im Officierscasino mitznessen; ich bin überzeugt, der Wirth macht ein Geschäft, man trinkt in der Aufregung ein Glas nach dem andern. Und Rost wird Dich sicher schon gezeichnet haben, so etwa als Nonne hinter dem Sprachgitter, und den Bennewitzer davor knieend, mit gerungenen Händen, mit Federbusch, Wams und Schwert, und darunter steht: ‚Ritter, treue Schwesterliebe widmet Euch dies Herz!‘ – Es ist ja g’rad’ hochmodern, das Altdeutsche. Wie Du aber nun auf diese Idee gekommen bist, das möchte ich gern wissen süßes Kind.“

Sie bekam keine Antwort; Else stand schon wieder am Fenster.

„Ich begreife Dich nicht,“ fuhr die kleine Schwätzerin fort, „ich finde den Bennewitzer zum Heirathen ganz wunderbar chic; ich versichere Dich, wenn er mich gewollt hätte – au moment! obgleich ich auch eine sogenannte Herzensliebe – hier –“ sie zeigte auf die Brust – „sitzen habe. Man muß sie haben, weißt Du, Else; an wen soll man sonst denken, wenn man Gedichte liest, zum Beispiel Geibel oder Strachwitz? Dazu ist sie höchst nothwendig; aber gleichviel, ich hätte den Bennewitzer doch geheirathet. Wie reizend, wenn Er uns nachher wiedersieht, gefesselt an einen Andern; es muß ihm ganz ‚heinisch‘ zu Muthe werden; ‚ewig verlornes Lieb – ich grolle nicht!‘. Man braucht darum noch lange nicht elend zu sein, das ist nur bei den Poeten so – aber interessant ist es, höchst interessant, Else! – Else, sei mir nicht böse,“ schmeichelte dann plötzlich die flüsternde Mädchenstimme, und zwei weiche Arme umschlangen sie; „ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe, und wenn Du mir versprichst, nicht mehr zu weinen – Du denkst, ich sähe es Dir nicht an? Ich sage Dir, wie die Hexenaugen hast Du Dir Deine schönen lieben Gucken geweint – so erzähle ich Dir etwas, das Dich riesig freut.“

„Mich freut nichts mehr, Lili,“ klang es traurig zurück, und die Stirn preßte sich an die Fensterscheiben.

„Ich habe ihn gesehen, Else,“ flüsterte es noch leiser, „leibhaftig und in Lebensgröße!“

„Den – den Onkel?“ stöhnte das geängstigte Mädchen. Es war ihr entsetzlich, nun hören zu müssen, wie er diesen Schlag in’s Gesicht, von ihrer Hand geführt, aufgenommen. Sie sah ihn vor sich, so deutlich, wie er neben ihr gestanden am Grabe des Vaters und sie so gütig, so mitleidig angesehen. Da hatte sie schon die Hand erhoben zu diesem Schlage, und hatte sie dann kraftlos wieder sinken lassen.

„Den Bennewitzer? Den armen abgesetzten Toggenburger? Den meine ich nicht,“ fuhr die Kleine fort und schmiegte sich enger an die zitternde Gestalt. „Ihn nennen wir Mädchen doch nur Einen, den einzig Einen! Else, geh’, stell’ Dich nicht so kindisch an, Du bist ja neunzehn Jahre alt und warst in Pension. Ja so,“ kicherte sie, „bei den Herrnhutern, das vergesse ich immer; da lernt man so etwas nicht, da sind wohl die Pensionsmädel bis zum achtzehnten Jahre lauter kleine frischgewaschene Unschuldsengel? Ich war in G. und konnte von unserem Schulzimmer just auf den Casernenhof sehen, und Jede von uns nannte Einen dort unten Ihn. – Also, ihn habe ich in Halle gesehen – Else, begreifst Du es? Den Geigenkasten hatte er in der Hand und Civil trug er, na – nicht just das Allermodernste, aber darüber drückt man bei den Herren vom Militär ein Auge zu; es ist praktischer für eine große Stadt, sie können darin zum Beispiel Omnibus fahren ohne aufzufallen durch Eleganz – na Else, was sagst Du?“

Else rührte sich nicht.

„Und gesprochen habe ich ihn – fahre nicht so erschreckt herum, Else, Tante hat’s nicht gesehen, sie conferirte schon mit dem Packträger auf dem jenseitigen Perron. Ich löste die Billets – da stand er im Gewühle –; hübsch ist er, Else, wirklich. Ich kannte ihn zu wenig, um ihn anzusprechen, hatte nur einmal flüchtig mit ihm getanzt, aber – man weiß sich doch zu helfen. Bums! lag mein Regenschirm zu seinen Füßen, im Vorübergehen; natürlich hob er ihn auf. ‚O, ich danke tausendmal, Lieutenant Bernardi!‘ – Er stutzte. ‚Ich habe große Eile,‘ sprach ich, und nannte meinen Namen: ‚Lili Teesfelde, reise mit Tante Ratenow nach D., Else Hegebach wieder einzufangen, sie will absolut in’s Kloster gehen!‘. Du hättest ’mal sein Gesicht sehen sollen! ‚Ja ja, in’s Kloster,‘ nickte ich, ‚weil sie ihren Onkel nicht heirathen will. Leben Sie wohl, Lieutenant Bernardi!‘ – Ich ließ ihn stehen und drängte mich heldenmüthig durch das schreckliche Gewimmel der Billethalle, aber wie ich eben in das Damencoupé schweben will, da steht er auch an unserem Zuge und steigt in das Nebencoupé. Ein Glück, daß Tante am jenseitigen Fenster saß. Ich mußte sehr oft Luft schöpfen, er auch; auf den Stationen nämlich. Tante fragte unterweilen über die Ammen und Babies hinweg: ‚Sprichst Du da, Lili?‘ Worauf ich dann – na, ich kann verwundert aussehen, sage ich Dir – kurz und gut, er weiß tout und – ich sollte doch recht gut, recht herzensgut mit Dir sein! Das sagte er noch, als ich vorhin ausstieg; er fuhr weiter. Und wenn ich Dir nun noch erzähle, daß er einen Kranz geschickt auf Deines Papa’s Grab, und daß er jetzt auf Urlaub nach Hause geht, so habe ich Dir Alles gesagt.“

Else hatte aufgehört zu weinen. Wie ein goldner Schleier war es auf sie herabgesunken; sie riß das Fenster auf und bog sich hinaus und schaute in den silberübergossenen Frühjahrsgarten hinunter; eine Nachtigall schlug süß und voll im Lindenbaume, und ihr Herz pochte zum Zerspringen. Er dachte ihrer! Er hatte von ihr gesprochen am elendesten Tage ihres jungen Lebens! O, des großen, allzu großen Glückes!

Und dann fuhr sie zurück, klirrend stieß sie das Fenster zu und schlug aufweinend die Hände vor das Gesicht. Was half es ihr? Sie war ja doch nur ein armes Mädchen!




[240] Die kleine Herrnhuterin saß der stattlichen Dame gegenüber in dem einfachen Zimmer. Sie hatten Beide rothe Gesichter, sie konnten sich nicht einigen. Frau von Ratenow hatte geglaubt Hülfstruppen anzuwerben, und stieß, wenn auch nicht auf einen Feind, so doch auf eine Macht, die gesonnen schien, völlig neutral bleiben zu wollen, und die, obgleich sie Manches, was die alte Dame in ihrer unentwegten Meinung betonte, als recht anerkannte, dennoch bedenklich zu Gunsten Else’s plaidirte. Als ob sie Moritz hörte, so antwortete ihr die kleine ruhige Person dort, nur vielleicht ein Bischen salbungsvoller.

„Nun hören Sie nur auf, Liebste,“ unterbrach sie endlich ungeduldig das sanfte Sprechen der Schwester, „wir verstehen uns doch nicht, das sehe ich ein. Sie mögen Recht haben von Ihrem Standpunkte aus, und Sie können ja auch schließlich meine und des Kindes Lage nicht beurtheilen. Sie drehen sich hier im ewigen Rundgange um Ihre einfachen Interessen, wir leben in der Welt, und die will ihr Recht, auch von Else.“

„Aber um den Preis des Friedens, der höher ist als alle Vernunft!“ wurde ihr erwidert.

Frau von Ratenow erhob sich.

„Ich möchte schlafen gehen,“ sagte sie, „ich hoffe, daß Sie wenigstens nichts gegen mein Vorhaben thun. Else muß morgen mit heim, sie muß.“

„Gewiß, Frau Baronin, Else soll selbst entscheiden.“

„Ich denke; ich werde den Trotzkopf wohl unterkriegen,“ setzte die alte Dame noch hinzu. „Aber, sagen Sie, meine Beste, haben Sie Arzt und Apotheker im Orte?“

„Gewiß! Fühlen Sie sich unwohl, Frau Baronin?“

„Eh, es wird vorübergehen, ’s ist nur für alle Fälle; zuweilen kommt ’mal ein Hexenschuß und macht mich unfähig zu jeder Bewegung, und es war ein gräßlicher Zug in dem Coupé. Na, wollen ’s Beste hoffen.“

„Aber da will ich doch gleich ein wenig flüchtiges Liniment –“

„Ja nicht, meine Beste, erst im Nothfall. Ich gebe nichts auf solche Mittel – zu Hause darf kein Doctor an mich heran, mein Schäfer ist mir zuverlässiger; er kann böten und streichen und besprechen. – Was gucken Sie mich denn so erstaunt an? ’s ist so, Liebste! – Die Else will ich nicht mehr sehen, ich habe gerade genug Aufregung heute. Sagen Sie ihr, daß sie morgen in mein Zimmer kommt – die andere Kleine ist ja wohl bei ihr? Na, denn gute Nacht.“

Sie waren an der Schlafkammer der alten Dame angelangt, und diese machte bei den letzten Worten ohne Weiteres die Thür vor der Nase der kleinen Herrnhuterin zu. Schwester Beate hörte sie nur noch einmal aufstöhnen, als habe sie Schmerzen und recke die Glieder. Sie schüttelte den Kopf und ging eine Thür weiter.

Fräulein Lili hatte am Tischchen zwischen den Fenstern Platz genommen, aß Butterbrod und weiche Eier und trank ein Glas Milch mit dem ganzen köstlichen Appetit der Jugend. Else saß mit verweinten Augen daneben und betrachtete, ohne an der Mahlzeit theilzunehmen, die Mücke, die so gar eilfertig war, sich die Flügel an der bescheidenen Stearinkerze zu verbrennen. Das zierliche Figürchen Lili’s war elastisch vom Stuhle emporgesprungen, als Schwester Beate eintrat, und sie machte einen Knix vor der einfachen ernsten Frau dort, als stehe sie vor einer regierenden Fürstin.

„Ich komme, um den Damen eine gute Nacht zu wünschen,“ sagte diese. „Morgen früh will Deine Tante Dich sprechen, Elisabeth; sie hofft, Du begleitest sie heim. Ich lege Dir nochmals an das Herz, überlege Deinen Entschluß mit Beten. Gute Nacht, meine lieben Kinder, der Herr behüte Euch!“

Lili sah ihr nach mit großen Augen, dann wandte sie sich zu Else, die noch trüber als vorhin ausschaute.

„Du, Else, ist es wahr – giebt es hier ein Gebäck, das man Bruder- und Schwesterherzen nennt und, wenn der Teig extra gut, sogar gerührte Bruder- und Schwesterherzen?“ Und sie setzte sich hin und aß seelenvergnügt weiter. „Bitte, bitte, laß mir morgen früh ein Paar zum Kaffee bringen, und zwar ‚gerührte‘; es fiel mir eben so ein.“

Ueber das traurige Gesicht Elsens huschte ein Lächeln. „Du bist unverbesserlich, Lili!“ sagte sie.

„Ach, Gott sei Dank,“ rief das kleine bewegliche Mädchen, „Du kannst noch lachen! Ach, Else, Else,“ und sie knieete vor dem Mädchen nieder, „Ihr seid Alle so fromme Leute und habt nicht ein Bischen fröhliches Gottvertrauen! Und ich weiß es doch, es muß noch gut werden mit Dir, ich weiß es zu genau.“

„Du weißt es?“ fragte Else.

„Ja.“

„Woher denn?“

„Das kann ich nicht definiren; es liegt in der Luft, in der Frühlingsluft vielleicht, in dem Blühen und Wachsen da draußen, die Vögel singen es und das Wasser rauscht’s. Nun, armes Herz, vergiß die Qual, es muß sich Alles, Alles wenden!“

Else schüttelte den Kopf und sah in das frische Mädchengesicht, dessen dunkle Augen in Thränen schimmerten.

„Du wunderst Dich über mich, Else? Ich bin Dir immer so oberflächlich erschienen? Ich sage Dir ganz offen, ich gab mir keine Mühe um Dich; Du warst so bodenlos langweilig in Deinem Schmerz um den Ewiggeliebten, längst Verlornen, endlich – und so weiter; Du warst so schrecklich passiv. Wie ich Dich aber so blaß sah und so vergrämt trotz des bräutlichen Glückes, das sie Alle so bis in den Himmel priesen, da dauertest Dü mich, und wie Du gestern davon gelaufen bist, da hattest Du auf einmal mein ganzes Herz gewonnen – das ist doch noch Etwas, Else, das thut nicht eine Jede; hundert Andere hätten sich ruhig die Schlinge zuziehen lassen und wären Frau von Hegebach geworden. Aber nun verlaß Dich auf mich, Else, ich helfe Dir – und Moritz hilft Dir, sogar Frieda ist Dir nicht mehr ganz so böse.“

„War sie es überhaupt?“ fragte Else ganz erstaunt.

„Aber Kind,“ rief Lili, „hast Du denn ein Brett vor dem Kopfe gehabt? Böse! – Rasend war sie, rasend eifersüchtig auf Dich, sobald Moritz nur Deinen Namen nannte. Der Arme hat schlimme Zeiten gehabt.“

Else’s blasses Gesicht war purpurn erglüht. Mit einem Schlage stand das Benehmen der jungen Frau, das ihr immer so räthselhaft gewesen, in grellem Lichte vor den Augen, und auch Moritzens scheues Ausweichen. Sie stöhnte schmerzlich auf: „Auch das noch!“

„Beruhige Dich, süßes Kind, es war eine rührende Versöhnungsscene gestern zwischen dem Ehepaare; Frieda weinte wie ein Schulkind, und Moritz hat immerzu gefragt: ‚Siehst Du es ein, Frieda, daß Du thöricht warst?‘ Und sie hat pater peccavi gesagt, so sanft, wie ich es ihr nie zugetraut hätte. Und, nicht wahr, Else, Du kommst mit morgen, Du bleibst nicht hier? es muß ja schauerlich langweilig sein zwischen all den gerührten Bruder- und Schwesterherzen! Sieh, ich denke so: Der Bennewitzer hat’s nun schon gemerkt, und Moritz wird ihm, wenn er fragt, die volle Wahrheit sagen, und dann ist das Verhältniß unhaltbar. Komm mit, Else, liebe Else.“

„Nein,“ sagte das Mädchen sich erhebend, „niemals! Ich kann nicht.“

Lili wollte antworten, da kam krachend ein schwerer Gegenstand an die Nebenthür geflogen.

„Alte Leute wollen schlafen!“ rief Frau von Ratenow mit Donnerstimme, „hört auf zu schwatzen, ich bin todmüde!“

Else ging schweigend zu Bett; Lili kicherte noch fort und fort. Das resolute Wesen der Tante war ein unerschöpflicher Quell der Heiterkeit für sie.

In der Nacht fuhr sie empor; der Mond schien hell in’s Zimmer und aus dem Bette nebenan drang leises Schluchzen herüber. Sie berührte mit der Hand die weichen blonden Haare, die über das weiße Kissen verstreut lagen. „Else, Else, weinst Du?“ fragte sie leise. Da ward es still. –

Frau von Ratenow war gerade aufgewacht am andern Morgen, da kam ein expresser Brief; die kleine Vorsteherin legte ihn selbst in ihre Hände.

„Barmherziger, des Bennewitzers Handschrift!“ Woher wußte er, daß sie hier? Ach Gott, und ihr war so schwer in allen Gliedern; mühsam setzte sie sich ein wenig hoch. „Bitte, Schwester Beate, meine Brille – ich kann mich nicht rühren.“

Die kleine Herrnhuterin überreichte ihr das Gewünschte und ließ sie allein. Es wurde still im Zimmer, man hörte nur das leise Knistern des Papiers in der Hand der alten Dame.

Es waren nur wenige Worte, die sie las, aber sie machten das Gesicht der Lesenden blaß bis in die Lippen. Sie hielt plötzlich die Hand vor die Augen, ihr schwindelte. Alles umsonst! Alles vorüber! –

„Lili!“ rief sie, ihre Stimme klang wie ein Aechzen. Das junge Mädchen kam eilig, noch im Frisirmantel mit aufgelöstem [241] Haar. „Gieb das Else, und mach’ Dich dann zurecht.“ Sie schob ihr den Brief hin.

„Willst Du gleich reisen, Tante? Soll ich es Else sagen?“

„Else?“ Sie fuhr aus den Kissen empor. „Was geht mich Else an!“ rief sie mit lauter Stimme. „Wer Wind säet, wird Sturm ernten! Undankbarkeit und Starrsinn hasse ich bis in den Grund meiner Seele!“

„Tante!“ schrie Lili auf, zum Tode erschrocken über den Ausdruck des Frauengesichtes.

„Geh’!“ rief die alte Dame, „in einer Stunde reisen wir!“

Das Mädchen stand zitternd vor Else, die eben ihre blonden Zöpfe aufsteckte. „Lies,“ sagte sie, „o mein Gott, Tante ist so böse, so böse.“

Die kleine Mädchenhand ließ die schweren Flechten fallen und griff nach dem Papier.

 „Meine gnädige Frau!

In aller Eile; — der Brief soll noch mit dem Postzuge gehen. Ich bitte Sie, meiner Nichte in meinem Namen die Freiheit zurückzugeben. Das Andere mündlich — später.
 Ihr ergebenster
 H. von Hegebach.“

Einen Moment hob sich des Mädchens Brust wie befreit von einem furchtbaren Druck. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, und ein Zittern lief über ihre Gestalt.

„Else! Else!“ rief Lili, und umschlang sie; aber sie machte sich los und faßte die Klinke zu Frau von Ratenow’s Zimmer. Da war die Thür verschlossen.

„Bist Du es, Lili?“[1] fragte die alte Dame.

„Nein, Else ist es, Tante!“ rief sie flehend.

Es blieb still drinnen.

„Tante!“ schluchzte das Mädchen halb erstickt.

Wieder keine Antwort. Man hörte nur Schritte und das eilfertige Rüsten zur Abreise.

„Tante, ein Wort!“ Ihre Hand zerrte und riß an der Thür wie in Todesangst. Vergebens. Da wandte sie sich um, einen Augenblick verharrte sie regungslos, die starren Augen zum Fenster gewandt; dann sah sie Lili an; es war, als wollte sie lächeln, aber die Thränen stürzten ihr dabei aus den Augen; die ganze Wucht des Verlassenseins überkam sie in diesem Augenblick. Nun hatte sie wirklich nichts mehr auf der Welt. —

Eine Stunde später schritt Frau von Ratenow an Lili’s Arm, den Zug erwartend, auf dem Perron des Bahnhofes mühsam auf und ab. Die alte Dame hatte Schmerzen, man sah es an dem fest zusammengepreßten Munde; es war ihr nicht gut, sie hätte weinen mögen, wenn sie allerwege zu weinen überhaupt im Stande war. Sie hatte nur einmal geweint; das war nicht, als sie ihren Mann in die Grube legte, das war, als sie einst ein kleines schreiendes Kindchen von der todten Mutter hinweg in ihre Arme nahm. „Ach was, es hat noch niemals Dankbarkeit gegeben in der Welt!“ Und sie begann zu schelten auf den Zug, der so lange blieb, auf den Kellnerjungen, der sie so angaffte, auf den niederträchtigen Kaffee in der Pension und auf ihren schmerzenden Kopf, und Lili ging still neben ihr mit einem jammervollen Gesicht und verweinten Augen, und sie wandte sich so oft als möglich nach dem spitzen Giebelhause zurück hinter den maigrünen Bäumen, als müsse sich dort ein Fenster öffnen und ein Mädchenkopf herauslugen, um mit sehnsüchtigen Augen herüberzuschauen.

„Nichts weiter mehr hab’ ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann —.“

Die Worte, die Else einst gesungen, sie wollten Lili nicht aus dem Sinn heute. Und dann kam der Zug. —

(Fortsetzung folgt.)

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Die neuenthüllten Wunder der Meerestiefe.

In den letzten vier Jahren zogen Kriegsschiffe der französischen Marine auf Eroberungen aus, um welche sie die ganze civilisirte Welt beneidete, denn sie sollten Gebiete aufschließen, in welche bis jetzt kein Sterblicher gedrungen war und welche seit uralten Zeiten die Mythologien der Völker und die Phantasie der Dichter mit den Wundern und Ungeheuern der Sage bevölkerten. Unter der Leitung Gelehrter steuerte viermal ein Dampfer in die weite See hinaus, um die Tiefen des Oceans zu ergründen, das Geheimniß zu erforschen, welches die See birgt auf ihrem tiefsten Grunde.

Die von der „Talisman“-Expedition gefundene Tiefe des Meeres, verglichen mit der Höhe des Brocken und des Kölner Domes.

Der berühmte Zoologe Alph. Milne-Edwards hat diese Expeditionen in’s Leben gerufen. Mit dem kleinen Raddampfer „Le Travailleur“ durchquerte er in den Jahren 1880, 1881 und 1882 den Meerbusen von Biscaya, einen Theil des Mittelländischen Meeres und den offenen Ocean von Frankreichs Gestaden bis zu den Canarischen Inseln. Ueberall warf er seine Netze aus und hob ungeahnte Schätze, neue Thierformen, welche Niemand kannte. Der Erfolg seiner Untersuchungen war so überraschend, daß die französische Regierung kein Bedenken trug, dem ausgezeichneten Forscher und seinen Freunden im vorigen Jahr Mittel an die Hand zu geben, mit welchen sie eine neue großartige Expedition ausrüsten konnten.

Ein vorzüglicher Schraubendampfer, der „Talisman“, wurde den Gelehrten zur Verfügung gestellt und mit allen den Apparaten versehen, welche zur Tiefseeforschung nach den gesammelten Erfahrungen nöthig erschien. An Stelle der alten Hanfseile zum Aufziehen der Schleppnetze traten starke biegsame Stahlkabel, welche ein Gewicht von circa 4500 Kilogramm tragen konnten, Dampfmaschinen wurden zum Niederlassen und Heraufziehen der Netze eingerichtet, besondere Apparate für Lothungen und Messungen der Temperatur der Tiefe construirt; eine elektro-dynamische Maschine befand sich an Bord, mit deren Hülfe die Edisonlampen unter den Wogen des Meeres den Grund erhellen sollten.

Macrurus australis.
Gefischt in der Tiefe von 4500 Metern.

So ausgerüstet, stach der „Talisman“ am 1. Juni 1883 in See, um diesmal das Meer längs der afrikanischen Küste bis zum Senegal, dann die Gewässer bei den Capverdischen und Canarischen Inseln und bei den Azoren zu untersuchen. Drei Monate lang dauerte die Reise, und wiederum war ihr Erfolg geradezu überraschend.

Ueber die ungeheueren Tiefen des Meeres herrschen unter den Laien die wunderbarsten Begriffe. Versuchen wir dieselben ein wenig zu klären und unsern Lesern gleichzeitig eine Vorstellung zu ermöglichen von den großen Schwierigkeiten, mit welchen die Tiefseeforschung verbunden ist.

Es klingt so unverständlich die Mittheilung, daß die Forscher eine Tiefe von 6000 Metern ergründet, oder daß sie Schleppnetze in Tiefen von 4000 bis 5000 Metern ausgeworfen haben, denn schwer nur kann man sich diese Zahlen verkörpern. Ein Blick auf die Zeichnung an der Spitze unseres Artikels wird Jedem die Bedeutung dieser Zahlen verständlich machen. Links am Rande des Bildchens erbebt sich ein schematisch gezeichneter Bergkegel, er soll die bekannteste Bergspitze Deutschlands, den Brocken, darstellen, dessen Höhe bekanntlich 1143 Meter beträgt. Wie klein ist aber diese Höhe im Vergleiche zu der angedeuteten Meerestiefe von 6265 Metern, welche das Loth des „Talisman“ unter dem 25° nördlicher

[242] Breite erreichte! Und der Kölner Dom mit seinen 156 Meter hohen Thürmen, der Stolz der deutschen Baukünstler! Er konnte auf unserer Zeichnung nur durch einen kleinen schwarzen Strich von anderthalb Millimeter Höhe rechts von dem Berge, zwischen demselben und dem Dampfer, angedeutet werden.

Doch rufen wir unsere Phantasie zur Hülfe und steigen wir hinab in diese Tiefen!

Melanocetus Johnsoni.
Gefischt in der Tiefe von 4000 Metern.

Kochen und brausen dort die Strudel der Charybdis, von der uns der Dichter sang? Mit Nichten! Ewige Ruhe herrscht im Schooße der See. Die gewaltige Macht der sturmgepeitschten Wogen, die mit unbändiger Wuth thurmhoch an den Felsen der Küsten branden, dringt nicht in diese Tiefe; schon in der Entfernung von 150 Metern unter dem Meeresspiegel ist ihre Wirkung gänzlich gebrochen. Und nicht weiter reicht auch die lebenerweckende Kraft des Lichtes. Die „grüne“ und die „purpurne Finsterniß“ weicht bald dem völligsten Dunkel, und schon in der Tiefe von 50 Metern bleiben die empfindlichsten photographischen Platten unverändert. In den „Thälern des Meeresgrundes“ bleibt auch die Temperatur ewig gleichmäßig, denn der Kampf zwischen den wärmeren und kälteren Strömungen ist dort in der Regel ausgeglichen; naturgemäß sinken die specifisch schwersten Wasserschichten, das heißt diejenigen, welche die Wärme von 4° Celsius besitzen, auf den Grund, und so herrscht auch dieselbe gleichmäßige kühle Temperatur in allen bedeutenderen Meerestiefen. Das sind sonderbare Bedingungen für das Gedeihen lebender Wesen, und zu ihnen gesellt sich der ungeheuere Druck, den die Wassermassen ausüben, denn schon in der Tiefe von 1000 Metern lastet auf der Fläche von einem Quadratcentimeter eine Wassersäule, deren Gewicht 100 Kilogramm beträgt.

Aus diesem Grunde sehen wir das Pflanzenreich in einer Entfernung von 250 Metern unter dem Wasserspiegel verschwinden, und man dachte früher, daß auch für das Thierreich dort unten eine Grenze gezogen sei. Aber aus den Tiefen von 4000 und 5000 Metern förderten die Netze der Forscher zahllose Thiere zu Tage, wunderbare, oft gänzlich unbekannte Formen.

Da fand man zunächst eigenthümlich geformte Fische. Manche von ihnen haben Augen, und ihr Körper ist mit selbstleuchtenden, phosphorescirenden Flecken bedeckt, das sind die Laternen, mit deren mattem Licht die Bewohner der ewigen Finsterniß ihre Umgebung erleuchten! Die andern sind blind, und darum mit eigenartigen Tastorganen ausgestattet, und von einer Art könnte man sagen, daß sie über dem Maule einen regelrechten Finger besitzt. Unsere Abbildungen führen uns zwei der vielen Arten vor. Den eigenthümlich gebauten Macrurus australis, der in einer Tiefe von 4500 Metern gefischt wurde, und den noch sonderbareren Melanocetus Johnsoni. An den gewaltigen Rachen dieses Fisches schließt sich eine zur vorläufigen Aufnahme der Nahrung bestimmte Ausbuchtung, die viel größer ist, als der gesammte übrige Körper.

Holtenia Carpenteri.
Gefischt in der Tiefe von 5000 Metern.

Unter den Schwämmen finden sich seltene Exemplare, deren kieseliges Skelet mit Fäden von Asbest oder feinstem Glase durchwebt zu sein scheint. Die nebenstehende Abbildung zeigt uns eine Holtenia, die aus der Tiefe von 5000 Metern gehoben wurde. Wir sehen auf derselben die „Mundöffnung“, das osculum, bewaffnet mit zahlreichen Wimperorganen, durch die das Seewasser in die inneren Canäle des Thieres eingeleitet wird, um dieselben, der Nahrungsstoffe beraubt, durch die sogenannten Schornsteine zu verlassen.

Ungemein reichhaltig ist namentlich die niedere Thierwelt in den Tiefen vertreten! Bei glücklichem Fang waren die unermüdlichen Forscher an Bord des „Talisman“ kaum im Stande, die gehobenen Schätze zu classificiren, und bis heute sind die wissenschaftlichen Arbeiten noch lange nicht beendigt. Nur vorläufige Berichte sind erschienen, aus denen wir die kurzen Andeutungen schöpfen. Manche unter diesen Bewohnern der finsteren Abgründe sind oft mit bunten Farben geschmückt, die Krabben, die Seesterne und anderes Gethier schillerte dem staunenden Auge des Forschers bald in rothen, bald in grünen oder orangefarbigen und violetten Tönen entgegen.

Doch wir werden noch später, wenn ausführlichere Berichte erscheinen, Gelegenheit finden, unsere Leser über die Geheimnisse dieser Thierwelt zu unterrichten.

Für heute nur noch einige Worte über sonderbare mineralogische Funde auf dem Grunde des südlichen Meeres! Ueberraschend war das Auffinden von Steingeschieben in einer Entfernung von 700 Seemeilen von der Küste Europas. Die aus der Tiefe gehobenen Steine sind geschliffen und gerillt, und zwar in so ausgeprägter Form, daß man die Rillen unmöglich auf die Wirkung der Strömungen zurückführen kann. Man muß annehmen, daß in grauer Vorzeit Eisberge diese Steine hierher transportirt haben. Sie nahmen dieselben von den Gletschern Europas mit, von denen sie sich ablösten, und als die Eisberge hier im Atlantischen Ocean geschmolzen waren, sanken die Steine zu Boden. Nach Tausenden von Jahren hob sie der Mensch aus der Tiefe, und sie erzählen ihm heute ein Stücklein aus der Geschichte der Erde, aus der wunderbaren Eiszeit unseres Welttheiles.

Nach beendeter Expedition gingen ihre Mitglieder sofort an die wissenschaftliche Bearbeitung des gewonnenen Materials, und nachdem die Sammlung geordnet war, faßten sie den glücklichen Entschluß, dieselbe dem großen Publicum in einer Ausstellung vor Augen zu führen. Und sie ward von Erfolg gekrönt, diese seltene Tiefsee-Ausstellung. Aus Bescheidenheit wählten die Arrangeure nur einen kleineren Saal in dem Museum der Naturgeschichte zu Paris, aber das Publicum strömte dennoch in solchen Massen herbei, daß es, um Eintritt zu erlangen, eine Kette vor der Thür bilden mußte.

Doch mit den oben geschilderten Errungenschaften ist die Tiefseeforschung der französischen Gelehrten noch nicht abgeschlossen. Es werden Vorbereitungen getroffen, um in diesem Jahre wiederum eine neue Expedition auszurüsten.


Blätter und Blüthen.

Ludwig Spohr. Die Wiederkehr des hundertsten Geburtstages Nicolo Paganini’s hat die Erinnerung an diesen Wundermann auf der G-Saite von Neuem belebt. In der Gedächtnißskizze, die wir unlängst in der „Gartenlaube“ (1884, Nr. 7) dem großen Künstler widmeten, wurde hervorgehoben, welche Begeisterung Paganini überall in Europa durch seine unbegreifliche Kunstfertigkeit erregte, wie man unaufhörlich Gold und Lorbeeren an das Piedestal dieses „Gottes der Violine“ heranschleppte, um mit Castelli zu reden, und wie er zuweilen an einem einzigen Concertabende eine Summe einnahm, die dem Jahresgehalte eines Ministers gleich kommt. Sicherlich war es ein kühnes Wagniß für einen einfachen deutschen, mit der Kunst der Reclame und mit der halsbrecherischen Geigengymnastik des bewunderten Italieners unbekannten Künstler, sich mit Paganini zu messen, eine Concertreise Paganini’s in dessen eigenem Vaterlande zu durchkreuzen und sogar mit dem großen Virtuosen in Mailand in dem nämlichen Concerte aufzutreten. Und wer war dieser deutsche Künstler, welcher der blendenden Anziehungskraft des Italieners Paganini gegenüber den Ruhm der deutschen Kunst aufrecht erhielt? Wer war es, der durch die wunderbare Kraft und Seele seiner Bogenführung, durch die Würde, Innigkeit und klassische Hoheit seines Vortrages sich ruhmvoll neben der glänzenden Virtuosität Paganini’s behauptete? Es war Ludwig Spohr, dessen hundertjährigen Geburtstag die musikalische Welt am 5. April feiert.

Ludwig Spohr stand damals, als er sich im Jahre 1817 neben Paganini in Mailand hören ließ, im dreiunddreißigsten Lebensjahre und war ebenso alt wie sein großer italienischer College. In diesem für den Ruhm noch so jugendlichen Alter galten beide Künstler schon für die hervorragendsten Meister der Violine; aber freilich hatten sie Beide auch gleich früh angefangen zu lernen und zu üben, und die Geige war ihnen ein vertrautes Instrument schon zu einer Zeit, in welcher andere Knaben noch kaum den hölzernen Säbel regieren können, den man ihnen zum Spielen gegeben. Wie Paganini, so war auch Spohr die Liebe zur Musik angeboren, oder sie war ihm wenigstens anerzogen worden; sein Vater, der als Arzt in Braunschweig prakticirte, aber bald nach der Geburt seines [243] Sohnes nach Seesen zog, spielte vortrefflich Flöte, während die Mutter eine schöne Gesangstimme besaß, und wenn die Eltern am Abende mit einander musicirten, so lauschte der junge Ludwig andächtig den harmonischen Klängen. Auf einer kleinen, werthlosen Geige, die ihm der Vater auf einem Jahrmarkte gekauft, machte der künftige Meister seine ersten musikalischen Versuche, und als er größer geworden und einige Jahre der Braunschweiger Hofcapelle angehört, konnte er bereits im Jahre 1804, dank seinen durch eine geniale und rasche Auffassung unterstützten Studien, seine erste größere Kunstreise durch Deutschland unternehmen. Leipzig, die Metropole der deutschen Concertmusik, wurde die Wiege seines Ruhmes. Die Blicke der Welt wurden auf ihn gelenkt durch die glänzende Kritik der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ in Leipzig, in welcher der tonangebende aller damaligen Musikkenner, Rochlitz, über Spohr schrieb:

„Herr Spohr kann Alles! Was vorerst Richtigkeit des Spiels in weitester Bedeutung heißt, ist hier, gleichsam als sicheres Fundament, nur vorausgesetzt; vollkommene Reinheit, Sicherheit, Präcision, die ausgezeichnetste Fertigkeit, alle Arten des Bogenstrichs, alle Verschiedenheiten des Geigentons, die ungezwungenste Leichtigkeit in der Handhabung von diesem Allem, selbst bei den größten Schwierigkeiten – das macht ihn zu einem der geschicktesten Virtuosen. Aber die Seele, die er seinem Spiele einhaucht, der Flug der Phantasie, das Feuer, die Zartheit, die Innigkeit des Gefühls, der feine Geschmack, und nun seine Einsicht in den Geist der verschiedensten Compositionen und seine Kunst, jede in diesem ihren Geiste darzustellen, das macht ihn zum wahren Künstler.“

Das war der Virtuose Spohr. Ebenso früh aber wie das Talent der Reproduction regte sich in Spohr das selbstschöpferische Talent, der Schaffenstrieb, und das ist diejenige Seite seines Wesens, mit welcher er weit über Paganini hinausreicht. Paganini theilte das tragische Geschick aller großen Virtuosen, die nichts Anderes sein können als Virtuosen; Spohr’s Compositionen auf dem Gebiete der Symphonie und des Oratoriums, seine Concerte für Violine und seine Opern haben ihn überlebt, und von den letzteren steht die im Jahre 1823 erschienene „Jessonda“ noch heute auf dem Repertoire fast aller Opernbühnen. Man hat Spohr als Componist eine gewisse Weichlichkeit zum Vorwurf gemacht, die ihre Ursache in einer reichlichen Anwendung chromatischer Fortschreitungen findet; im Leben, in seinem Charakter war ihm dafür jeder Ansatz zur Weichlichkeit um so fremder, und was uns den Menschen Spohr zu einer fast noch sympathischeren Figur macht als den Künstler und Componisten, das ist die ehrliche Geradheit seines Wesens, seine kühne Ueberzeugungstreue auch in politischen Dingen. Mit dem vollen sittlichen Ernst des deutschen Mannes trat er überall für die Wahrheit und Freiheit ein, unbekümmert darum, ob seine Offenheit an „höherer Stelle“ Anstoß errege; alles Kleinliche war ihm dabei verhaßt, und seine Bescheidenheit war so groß wie seine Verdienste.

In Kassel, wo Spohr seit 1822 als Capellmeister thätig war, lebt im Gedächtniß der Bevölkerung noch manche charakteristische Aeußerung des alten Spohr. An einem heißen Sommerabend schritt der Meister mit einem Wintermantel bekleidet über die Straße.

„Sind Sie krank, lieber Capellmeister?“ erkundigte sich ein ihm begegnender Bekannter theilnehmend.

„Gott sei Dank, nein,“ lächelte Spohr, „weshalb fragen Sie?“

„Weil Sie sich derartig eingehüllt haben.“

„Ach so,“ erwiderte der Componist. „Ja, sehen Sie, ich gehe zum Theater, um die Festoper zum Geburtstag des Kurfürsten zu dirigiren, und ich nehme Anstand, mich so“ – dabei schlug er den Mantel zurück und zeigte seine mit Orden bedeckte Brust – „öffentlich auf der Straße zu zeigen.“

Unter den Orden aber, die seine Brust schmückten, befanden sich einige, die den höchsten Ehrgeiz hätten befriedigen müssen, wie der preußische Orden pour le mérite. – Solche freimüthige Aeußerungen erregten oft in Hofkreisen Entsetzen, und Spohr’s entschiedene liberale Gesinnung brachte ihn in der kleinen von einem reactionären Geist durchwehten Residenz in manche Collision, die von einer mißgünstig gesinnten Hofclique ausgebeutet wurde. Auf dem blanken Schild seiner Mannes- und Künstlerehre vermochten seine Gegner keinen Flecken zu erspähen, aber die Verleumdung ruhte nicht und sie erreichte es endlich, daß der Mann, der die hervorragendste Zierde der Kasseler Künstlerwelt bildete, im Jahre 1857 plötzlich pensionirt wurde – gegen seinen Willen und, was dieser Maßregel ein besonders häßliches Gepräge giebt, mit einer geringeren Pensionssumme, als ihm contractlich zustand.

Das Bild dieses edlen deutschen Mannes heute in die Erinnerung unserer Leser zurückzurufen, erschien uns als eine Ehrenpflicht gegen Ludwig Spohr, wenn die „Gartenlaube“ auch schon in einem früheren Jahrgange (1861, Nr. 6) den Lebensgang und die Verdienste Spohr’s in einem anschaulichen Charakterbilde dargestellt hat. Indem wir die älteren Anhänger der „Gartenlaube“ auf den damals veröffentlichten, mit Spohr’s wohlgetroffenem Portrait geschmückten Artikel verweisen, glauben wir diese Skizze nicht besser abschließen zu können als mit den Worten, in denen jener Artikel Spohr’s Person und Wirken kennzeichnete: „Er hat in seinem ganzen Leben keine einzige gemeine Notenzeile hingeschrieben und keine einzige gemeine Handlung begangen.“


Wein, Weib und Gesang. (Mit Illustrationen Seite 228 und 229, 236 und 237.) Die sonnige, Lebensfreude und heitere Sinnlichkeit athmende Composition C. Röhling’s, die wir den Lesern der „Gartenlaube“ im Holzschnitt heute vorführen, knüpft an einen Kernspruch Martin Luther’s an. Der große Reformator hatte bekanntlich trotz seiner überstrengen Erziehung, trotz der harten Seelenkämpfe im Erfurter Kloster und bei seiner ernsten und schweren Reformationsarbeit nie die volle gesunde Freude am Leben und die kräftige Empfänglichkeit für die Annehmlichkeiten des Daseins verlernt; er hatte sich stets den offenen Weltsinn zu erhalten gewußt, ohne welchen seine Bibelübersetzung unmöglich ihre unvergleichliche Frische und Volksthümlichkeit im Ausdruck hätte gewinnen können. Leider kommt diese, die menschlich interessanteste Seite von Luther’s Person selten recht zur Geltung, weil das Leben und Wirken des großen Mannes dem deutschen Volke zumeist in Darstellungen geistlicher Verfasser vorgeführt wird, die aus einer gewissen Scheu den Menschen Luther gegenüber dem Reformator zurückzudrängen suchen. Aber es ist wohl bekannt, daß Martin Luther fröhlichen Herzens war, wie ein zielbewußtes und gutes Streben zumeist die Seele zuversichtlich und heiter stimmt; er erwähnt selbst des Oefteren, daß ein guter Trunk mit seinem Freunde Philippo ihm wohl gemundet habe; eine gute Hausmusik war der Sonnenschein im Heim des Doctor Martin, und was ein züchtig und lieblich Weib für ein köstliches Ding sei, darüber ist uns mancher gute Spruch von ihm erhalten geblieben. So wies er die drei Freuden des Daseins, Wein, Weib und Gesang, durchaus nicht in ascetischer Einseitigkeit von sich, sondern erklärte vielmehr den für einen Narren, der dies thäte.

Der Berliner Künstler Carl Röhling hat es nun unternommen, das Luther’sche Kernsprüchlein zum Gegenstand einer großen bildlichen Composition zu machen, und der Leser kann sich selbst davon überzeugen, wie prächtig ihm seine Absicht gelungen ist. Die beiden allegorischen Figuren des Gesangs und der Weiblichkeit, welche der Leser auf S. 236 und 237 findet, und die bei Röhling das große auf S. 228 und 229 dargestellte Mittelbild flankiren, sind Gestalten von sinniger, charakteristischer Auffassung, während das große Gruppenbild sich durch eine effectvolle Anordnung auszeichnet. Verstehen wir den Künstler recht, so ist es die Wirkung des Weines, welche dieses Mittelbild zum Gegenstande hat. Die Geister des Weines und des Lautenspieles haben die Gemüther heiter und harmonisch gestimmt, eine ungezwungene Fröhlichkeit herrscht in dem geselligen Kreise. Dem Ritter und der zärtlich zu ihm aufblickenden Edeldame ist es zu eng geworden in dem vom Weindufte durchzogenen Gemach; sie sind im Begriffe, an die Balustrade hinauszutreten, von wo sich ein weiter Blick aufthut auf die Stadt mit ihrer alterthümlichen Architektonik, auf den blauen Fluß und das lachende Gelände. Ihnen hat Gott Amor das Herz gerührt; der alte dicke Rathsherr dort an der Tafel lacht herzlich über den Streich, den der lustige Gott da wieder begangen hat, aber vielleicht besitzt er zum Spott am allerwenigsten ein Recht, denn seine Nachbarin zur Linken sieht ihm so überaus freundlich in das vom Weine und vom Lachen geröthete gutmüthige Gesicht, daß er sich wohl selbst bald von der „Linken umgarnen“ läßt. Das ihm gegenübersitzende Paar, das ganz in die süße Weise eines Volksliedes versunken scheint, und der übermüthige Gesell, welcher die Schenkin keck um die Hüfte faßt, illustriren in anderer Weise die Wirkung des Weines.

Für den eigenthümlichen Entwickelungsgang Carl Röhling’s ist diese Composition entschieden charakteristisch. Der im Jahre 1849 zu Berlin geborene Künstler fühlte von jeher den Drang in sich, in großen Zügen zu gestalten; so übte er sich schon, als er zu zeichnen begann, mit Vorliebe im Entwerfen und machte seine Studien auf der Berliner Akademie (während der Jahre 1865 bis 1868) als Bildhauer. Besonders wandte er sein Interesse der Reliefcomposition zu. Obgleich aber verschiedene Preise, die er auf der Akademie davontrug, ihn eigentlich hätten bestärken sollen, auf dem betretenen Wege weiter zu schreiten, entsagte Röhling nach Beendigung seiner Studienzeit der Bildhauerei ganz. Angeregt durch die damals eben erschienenen Grote’schen Classiker-Ausgaben, widmete er sich der rasch aufblühenden Bücher-Illustration, später erst der Malerei, dem decorativen Gemälde. Ein außerordentlich vielseitiges Talent, hat Röhling sich seit einigen Jahren mit großer Begeisterung der so vornehmen und interessanten Technik der Kupferradirung zugewandt und beabsichtigt sogar, in derselben künftig ausschließlich thätig zu sein. Wir wollen bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, die im Verlag von Rudolf Schuster in Berlin erschienene Kupferradirung der Composition: „Wein, Weib und Gesang“ unseren kunstverständigen Lesern angelegentlich als künstlerisch werthvollen Zimmerschmuck zu empfehlen.


Neue Liste der Vermißten.

1) Johann Wilhelm Müller, geboren zu Heerlen 1861. Als Koch im Hotel „Palmengarten“ zu Frankfurt am Main, reiste er im Mai 1882 nach Nürnberg, um in der damaligen Ausstellung daselbst in seinem Fach Stellung zu finden, verließ jedoch Nürnberg schon am 1. Juni wieder, und seitdem sind alle Nachforschungen nach ihm vergeblich gewesen. Die tief betrübten Eltern hoffen auf eine Nachricht.

2) Am 26. März 1866 hat sich Ernst Faßhauer, ehemals Weinwirth in Kassel, von da entfernt, um eine Stelle in Potsdam anzutreten. Es ist sicher, daß derselbe von da nach Berlin übersiedelte, wo er spurlos verschwunden ist.

3) Joseph Weber aus Nußberg bei Ossiach in Kärnthen, geboren am 5. Februar 1855, Buchhändler. Er wollte im März 1881 von Hannover nach Nußberg zurückkehren, um seine Mutter zu besuchen und gleichzeitig dort ihm gehörende Gelder zu erheben. Auf der Hinreise besuchte derselbe seine Schwiegermutter in Schönebeck bei Magdeburg, begab sich dann weiter nach Leipzig und ist von da an jede Spur von ihm verwischt.

4) Der Kaufmann Julius Franz Luft aus Oelsnitz im Vogtlande, war bis Mai 1877 in Wien in Stellung. Er schrieb von dort am 25. Mai an die Seinen, daß er Heimreisen und einige Wochen bei ihnen in Oelsnitz verleben wolle. Mit einem Brief vom 12. Juni sandte er auch mehrere Kisten und Koffer voraus, er selbst wollte die Heimfahrt über Passau einschlagen und sich unterwegs ordentlich umsehen. Er kam jedoch nicht in der Heimath an und fehlt noch bis heute jede Spur über seinen Verbleib. Der Vater ist seitdem aus Gram gestorben, Mutter und Geschwister hoffen aber noch, durch diesen Aufruf wenigstens etwas über sein Schicksal zu erfahren.

[244] 5) Philipp Jost aus Offenbach, Metzger und verheirathet, ging nach Australien, betrieb dort sein Geschäft in Brisbane, dem Hauptorte der Colonie Queensland, gab es aber auf und erwarb sich dort in der Nähe eine Farm. Seit 1878 gab derselbe den Seinen in der Heimath kein Lebenszeichen, und mindestens zehn Briefe kamen als unbestellbar wieder von dort zurück.

6) Der Feldmesser Wilhelm Schüster, geboren zu Dercum bei Köln am Rhein im Jahre 1833, verließ, um Arbeit zu suchen, im Jahre 1870 Breslau, wendete sich nach Hannover und Westfalen und war zuletzt in Lübeck. Im Jahre 1876 verließ er die Stadt, und fehlt von da an jede Spur von ihm. Seine beklagenswerthe Frau, welche frühzeitig von Armuth und Unglück heimgesucht war, hofft auf eine Nachricht von ihrem Manne auf diesem Wege.

7) Martin Bernhard Höfer aus Eisfeld in Thüringen, geboren im Jahre 1853. Derselbe ging im Jahre 1876 als Schuhmacher auf die Wanderschaft, arbeitete zuerst in Mügeln bei Pirna (Sachsen), dann in Burgdorf bei Hannover, woher auch sein letzter Brief datirt. Im Jahre 1880 hat er in Kiel die Manöverübung mitgemacht – aber seine trauernden Eltern seit zweieinhalb Jahren ganz ohne Nachricht gelassen.

8) Der im Jahre 1860 in Hannover geborene Kaufmann Friedrich Eikermann war 1881 in Hamburg, begab sich von dort auf Reisen und schrieb zu Anfang des Jahres 1882 von Penig in Sachsen (aus der Herberge zur Garküche) an seine Eltern. Dieselben antworteten ihm sogleich. Da sich aber der Adressat inzwischen nach Glogau gewendet haben sollte, so kam der Brief wieder zurück. Seitdem haben seine Eltern keine Nachricht von ihm und sind in großer Betrübniß über das Schicksal ihres Sohnes.

9) Der Seemann Adolph Heinrich Wolff aus Kappeln in Schleswig-Holstein, geboren 1829, ist nach Australien gegangen, woselbst er noch im Jahre 1861 in einer Goldmine gearbeitet haben soll. In drei Jahren haben die Seinen nur einen Brief von ihm erhalten. Der Vater ist todt, die Mutter lebt noch, ist fast 90 Jahre alt und hofft noch sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen ihrer Söhne, denn auch ein zweiter, Capitain John Wolff in Portland, hat seit 17 Jahren keine Zeile an seine alte Mutter geschrieben.

10) Johann Karl Zergiebel, geboren 1828 in Miltitz bei Leipzig, ehemals 16 Jahre lang als Plombirer auf dem Magdeburger Bahnhofe beschäftigt, verließ am 30. März 1873 seine Wohnung, um seine in Quasnitz jetzt noch lebende Mutter zu besuchen, ist aber von da an nicht wieder gesehen worden. Seine Familie, welche sich kümmerlich durchhelfen muß, möchte gern wissen, ob der Vater noch am Leben ist.

11) Gottlob Töpfer, geboren 12. November 1858 zu Rockendorf, Kreis Merseburg, arbeitete in Berlin als Bäcker; 1876 ging er nach London, von da nach Australien. Im Jahre 1878 war er in Bathurst. Sein letzter Brief von 1879 datirt aus Manly bei Sidney, wo er Kellner in einem Hôtel war; er gedachte baldigst heimzukehren, doch kam er bis jetzt nicht und sandte auch seiner Mutter kein Lebenszeichen.

12) Karl Koch, Sohn des in Großlinden (Hessen) verstorbenen Pfarrers Koch, früher in Chicago, ging vor circa 10 Jahren von dort nach dem Süden (Brasilien). Sein Curator sucht ihn wegen der Erbtheilung.

13) Wittwe Golze in Brandenburg sucht ihren Sohn Albert Golze, geboren 1858 zu Brandenburg. Zuletzt arbeitete derselbe als Schuhmachergehülfe in Bonn, sandte seiner Mutter dann noch eine Postkarte aus Heidelberg am 11. December 1881, und seitdem fehlt jede Nachricht von ihm. Der betrübten Mutter einzige Hoffnung ist noch die „Gartenlaube“.

14) Von dem Monteur Franz Schmoz, im Jahre 1841 zu Pobershau bei Zöblitz im Königreich Sachsen geboren, ist seit dem Jahre 1874 keine Nachricht in seine Heimath gelangt. Sein letzter Brief ist abgesandt aus der „Hauptwerkstätte der Ungarischen Nord-Ostbahn zu Satovallya-Ujhely, Szemliner Comitat“. Franz Schmoz wird gebeten, seiner Mutter, welche ganz allein ist, mit einer kurzen Nachricht eine große Freude zu bereiten.

15) Der Kaufmann Erdmann Hermann Hartmann, 1851 zu Breslau geboren, war Reisender für eine Tapetenfabrik in Dresden. Im Jahre 1880, 31. August, reiste derselbe, nachdem er sich seinen Militärpaß ausstellen ließ, nach Brüssel, und hat seitdem seiner zurückgelassenen Frau und zwei Kindern keine Nachricht zukommen lassen. Dieselben sind hülflos und in trauriger Lage, und hoffen sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen vom Gatten und Vater. Der Verschollene hat manchmal geäußert, daß er in’s Ausland gehen wolle.

16) Theodor Peschel, Ledergalanterie-Arbeiter, geboren zu Wien im Jahre 1852 und ebendaselbst in Arbeit, ist seit November 1880 verschollen.

17) Ein armer Vater sucht seine verschwundene Tochter, Wilhelmine Wilkens, geboren in Hamburg 1840. Dieselbe war zuletzt im Jahre 1881 bei Pastor Dipmer in Wandsbeck bei Hamburg in Dienst, hat diese Stelle aber verlassen und ließ bis jetzt nichts mehr von sich hören.

18) Otto Lipfert, Gelbgießer aus Leipzig, hat seit dem 28. September 1882 aus Mexico zuletzt an seine hier lebende Frau geschrieben. Später hatte er eine Stellung in Texas.

19) Vermißt wird seit dem Jahre 1882 der Conditor Vincent Nel (auch Nella), ein Italiener, und dessen Frau Katinka, geborene Burmeister, nebst einem Knaben von sieben bis acht Jahren. Der Mann war bis Anfang 1882 in Glasgow beschäftigt, doch kamen an ihn gesandte Briefe von dort zurück. Er soll sich nach Belfast (Irland) begeben haben – doch sind bis jetzt alle Mittel zur Auffindung der Familie vergeblich gewesen.

(Fortsetzung folgt.)



Allerlei Kurzweil.


Schach.
Problem Nr. 4.
Von
Charles Kondelik
in Paris.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.


Briefwechsel.

J. St. in Wien. In dem Schachprobleme Nr. 1 würde auf 1.…., c 7 n. S d 6 durch Abzug des Thurmes (T e 4 – h 4) das Matt schon im zweiten Zuge erfolgen! – Zur Correctheit einer Schachaufgabe ist erforderlich, daß nur ein Weg zum Ziele führt und daß das Matt unbedingt innerhalb der angegebenen Zahl der Züge erreicht wird; Schwarz wird daher stets die besten, das heißt solche Gegenzüge machen, welche zur Abwehr der drohenden Gefahr am geeignetsten erscheinen. Näheres finden Sie in den meisten Schachlehrbuchern, z. B. im „ABC des Schachspieles“ von J. Minckwitz, Verlag von Veit und Co. in Leipzig.


Auflösung des magischen Tableaus: „Die Fahne“ in Nr. 13.

Die auf den dicken Querstreifen der Standarte stehenden Sterne entsprechen dem bei den Querlinien stehenden Buchstaben, während die feinen senkrechten die Reihenfolge angeben, in welcher die statt der Sterne zu setzenden Buchstaben zum Satze zu verbinden sind.

Der Satz heißt: „Mahdi, der falsche Profet.“[2]


  1. WS: In der Vorlage fehlt das Hochkomma
  2. Der Verfasser, der diese hübsche Aufgabe mit dem Pseudonym S. Atanas unterzeichnete, hat bei dem Worte „Prophet“ die obige ungewöhnliche Orthographie angewandt. Obwohl wir dieselbe in dem „magischen“ Tableau stehen ließen, so können wir sie als die unsrige nicht anerkennen. D. Red.     

Auflösung des Königszugs in Nr. 13:
Aus einem Armeebefehl.[1]

„Wir dürfen mit dem stolzen Bewußtsein auf diese Zeit zurückblicken, daß noch nie ein ruhmreicherer Krieg geführt worden ist, und Ich spreche es Euch gern aus, daß Ihr Eures Ruhmes würdig seid. Ihr habt alle die Tugenden bewährt, die den Soldaten besonders zieren, den höchsten Muth im Gefecht, Gehorsam, Ausdauer, Selbstverleugnung bei Krankheit und Entbehrung.“



  1. 28. October 1870. An die Soldaten der verbündeten deutschen Armeen.

Auflösung des magischen Tableaus: „Die Halskette“ in Nr. 13.

Die Anzahl der an den einzelnen Halbmonden hängenden Tropfen zeigt die Reihenfolge an, in welcher die Worte jeder Tropfengruppe zum Satze zu verbinden sind.

Der Satz heißt: „Die Sitten sind der Schmuck des Weibes.“


Kleiner Briefkasten.

Eine Freundin der „Gartenlaube“. Die beiden geistvollen und fesselnden cultur-geschichtlichen Novellen von Stefanie Keyser „Der Krieg um die Haube“ und „Glockenstimmen“, welche bereits bei ihrem ersten Abdruck in der „Gartenlaube“ allgemein mit Beifall aufgenommen wurden, sind soeben im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolgern in Leipzig als Buch erschienen.

Lehrerin in Warschau. Unseres Wissens bildet in den höheren Töchterschulen und feinen Pensionaten Deutschlands die Haushaltungskunde keinen besonderen Unterrichtszweig. In Süddeutschland findet sie aber in den Fortbildungs- und Winterabendschulen Beachtung. Als ein recht praktisches Buch empfehlen wir Ihnen: Marie Rabe. „Die Haushaltungskunde in der Dorfschule und ihre Stellung zu dem Unterrichte in den weiblichen Handarbeiten“. Gotha. Fr. Andr. Perthes.

Mehrere Jagdliebhaber in Crefeld. Besten Dank für Ihre freundliche Zuschrift! Es liegt uns durchaus fern, die beliebte Rubrik „Wild-, Wald- und Waidmannsbilder“ zu vernachlässigen. Wir werden vielmehr noch im Laufe dieses Quartals waidmännische Illustrationen und Artikel bringen, die hoffentlich Ihren Beifall finden.

B. H. in Berlin. Ueber die Cultur der eßbaren Pilze hat die „Gartenlaube“ bereits in Nr. 14 des Jahrg. 1883 einen ausführlichen Artikel gebracht.

J. J.M. L.B. D. in Z.0 E. K. in H. Leider ungeeignet!


Inhalt: [ verzeichnet den Inhalt von Heft 14/1884, z. Zt. nicht transkribiert. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.