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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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No. 5.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Die Vorwerksgebäude lehnten sich mit der Rückseite an den Rand des Fichtengehölzes; sie waren einstöckig, von sehr geringem Umfange, und so alt und verfallen, daß das vorbeischnaubende Dampfroß sie binnen Kurzem nothwendig über den Haufen werfen mußte. Auf der Südseite lag ein Grasgarten, und die Gitterthür in seinem Weißdornzaune führte nach dem Gehölz. Sie war nicht verschlossen – Herr Markus trat ein und schritt auf dem einzigen schmalen Wege, der das von Wiesenblumen strotzende Gras durchschnitt. Ein paar hochwipfeliger Birnbäume und eine schöne Eberesche warfen kühlen Schatten über ihn. Er kam auch an einer Laube vorüber, einer tiefschattigen, von verschränkten Lindenzweigen gewölbten Laube, die einen Steintisch und zwei kunstlos gezimmerte Holzbänke beherbergte. Es war sehr indiscret und keineswegs zu rechtfertigen, daß der neue Herr des Hirschwinkels an den fremden Tisch trat, auf welchem Scheere, Fingerhut und hingeworfene feine Flickwäsche verriethen, daß eine Dame hier zu hausen pflege. Aber es stand auch ein Tintenzeug da, und daneben lag ein aufgeschlagenes, dickes Schreibeheft, und das war des Pudels Kern – in diesem grünen Versteck bestieg Fräulein Gouvernante ohne Zweifel den Pegasus und machte herzbewegende Verse an Luna und Hesperus. Ihr Geist warf sonach einen Schatten vor sich her; er wehte den Indiskreten an, noch bevor er die Dame selbst sah. Im nächsten Augenblicke lachte er leise auf – poetisch war es nicht, was sein scheuer Seitenblick gestreift hatte. „Zwei Paar Tauben nach Tillroda verkauft, ein Schock Eier desgleichen“ etc. Nun, wenn er heute Fräulein Gouvernante mit Tintenfingern fand, so war nur das Wirthschaftsbuch daran schuld.

Er schritt weiter. Der Graswuchs hörte auf, um einigen Gemüsebeeten in der Gartenecke Platz zu machen, und an die Stelle der Hausmauern zur Rechten trat nunmehr ein Zaun, oder eigentlich ein Gebüsch von Himbeersträuchen, das den Garten vom Hofe schied – da war der Grund und Boden, über welchen die Schienen hinlaufen sollten.

Die paar „übriggebliebenen“ Hühner krakelten drüben, und ein Hund schlug an, und jetzt knarrte auch eine Thür in dem Gebüsch, und etwas Weißes kam durch das Gezweig.

Herr Markus zog unwillkürlich den Handschuh straffer über die Rechte und beschleunigte seine Schritte, um der Dame im weißen Kleide entgegenzutreten, aber es war nur die Magd, deren Erscheinen ihn jedesmal so ärgerte, daß ihm das Blut zu Kopfe stieg. Sie hatte eine breite weiße Kochschürze über ihr armseliges Arbeitscostüm gebunden und die langen Hemdärmel hoch aufgerollt; das unförmliche Busentuch fehlte, ebenso das „Scheuleder“.

Der Gutsherr blieb unbeweglich stehen und sie sah ihn nicht; sie ging geradeswegs auf die Gemüsebeete zu und bückte sich, um eine Handvoll Küchenkräuter abzuschneiden. Erst beim Aufrichten wandte sie den Kopf und erblickte den Dastehenden. Eine brennende Röthe jagte über ihr Gesicht hin, und ihre erste Bewegung war, die langen Leinenärmel über die entblößten Arme herabzustreifen.

Es drängte ihn instinctmäßig, fast unwiderstehlich, vor der hochaufgerichteten, schlanken Gestalt den Hut zu ziehen, wie er der vermeintlichen Dame im weißen Kleide gegenüber beabsichtigt, aber sein Groll war stark genug, eine solche Inkonsequenz zu verhindern – dieses dünkelhafte Mädchen wollte er wenigstens nicht in dem Glauben bestärken, als nehme er ihre geborgte Vornehmheit für baare Münze. Er griff deshalb nur flüchtig grüßend an den Hutrand und fragte in kaltem, geschäftsmäßigem Tone nach dem Herrn Amtmann. Dabei sah er ihr in das Gesicht, in die braunen Augen, die sich sichtlich erschreckt, in unverschleierter Beklommenheit auf ihn hefteten – sie mochte wohl meinen, der verhängnißvolle Moment sei gekommen, wo die unrechtmäßige Bewohnerschaft des Vorwerkes auf „den Bettel“ geschickt werden sollte.

In leisem, demüthigem Tone, wie er sich recht wohl für den dienstbaren Geist des Hauses schickte, sagte sie, daß der Herr Amtmann zu Hause sei und es sich jedenfalls zur Ehre schätzen werde, den neuen Gutsherrn zu empfangen.

„Und Fräulein Agnes Franz?“ fragte er.

Sie fuhr empor, als habe er schon mit dieser einen einfachen Frage ihre junge Dame beleidigt. – Die angenommene Demuth war plötzlich vergessen; mit niedergeschlagenen Augen, aber sehr herb und bestimmt sagte sie:

„Die werden Sie nicht sehen.“

„Ei was – ist die Dame verreist?“

Ein halbes Lächeln schlich um ihre Lippen.

„Das Reisen vergeht ihr, wie dem Vogel im Käfig das Fliegen.“

„Aha – das ist wieder die mystische Redeweise, mit welcher Sie das Sein und Wesen Ihrer jungen Dame zu verschleiern lieben!“ – das „Sie“ kam ihm über die Lippen; er wußte selbst nicht wie. „Uebrigens sind Sie mit Ihrer Sibyllenklugheit am Ende – in wenig Augenblicken werde ich in der That mit eigenen Augen sehen, was hinter diesem ‚Bild von Sais‘ steckt –“

„Ganz sicher nicht.“

[74] „Nicht? – Das wissen Sie also ganz genau, so genau, als seien Sie ein Herz und eine Seele mit Ihrer Dame?“

„Genau so.“

Er lächelte in verletzendem Spott.

„Nun, es mag schon so sein – man weiß ja, daß die Zofe sehr oft die Vertraute ist, warum nicht auch für Gouvernanten-Bekenntnisse? – Ob die Damen es aber lieben, wenn mit dieser Intimität renommirt wird?!“

Sie bückte sich, um einige Dillstengel aufzulesen, die dem Kräuterbündel in ihrer Hand entfallen waren, dann aber richtete sie sich rasch und kerzengerade wieder auf, und ihr schönes Auge funkelte ihn feindselig an.

„Ist es nicht immer und überall die selbstverständliche Aufgabe der Zofe, zu wissen, für wen man nicht zu Hause sein will? Und sie –“

Sie stockte plötzlich unter einem glühenden Erröthen und biß sich wie verwirrt auf die Lippen, als könne und wolle sie damit jetzt noch die entschlüpfte scharfe Antwort ungesprochen machen. – Ach ja, sie besann sich wohl in diesem Augenblick mit Schrecken, daß derjenige, für den man nicht zu Hause sein wollte, der Besitzer eben dieses Hauses war und nach Belieben ihrer bettelstolzen Dame das Dach über dem Haupte wegnehmen konnte.

Er weidete sich an ihrer Bestürzung und half ihr nicht mit einem Wort über das Angstgefühl hinweg, das sie sichtlich beklemmte, obwohl dieses schlanke, plötzlich ganz demüthig in sich zusammengeschmiegte Mädchen in diesem peinvollen Moment nichts weniger als die „Aparte“ war, sondern weit eher an ein erschrecktes Reh erinnerte, aber – Strafe mußte sein.

„Sie möchte die Verborgenheit, in der sie lebt, durch keine fremde Erscheinung unterbrochen sehen,“ ergänzte sie nach einem beklommenen Athemholen mit fast bittender Stimme.

„Das glaube ich Ihnen nicht,“ entgegnete er ungerührt. „Das Gouvernantenthum, das um Alles gern in vornehmen Häusern auf dem Strom der Geselligkeit mitschwimmt, qualificirt sich am allerletzten zum menschenscheuen Klosterleben.“

Wieder richtete sie sich empor, und ein bitteres Lächeln flog um ihren Mund.

„Vielleicht ist sie doch nicht so schlimm, wie die Anderen, die Blaustrümpfe, die Genußsüchtigen, denen Sie Ihre genaue Kenntniß des ,Gouvernantenthums’ verdanken. … Uebrigens erinnere ich Sie daran, daß Sie gestern selbst gesagt haben, Sie würden ihr aus dem Wege gehen, wo Sie könnten.“

„Sie weiß das?“

„Wort für Wort!“

„Durch Sie – selbstverständlich! Die Zuträgerei ist ja das Element der Kammerjungfer. Ich habe das allerdings wörtlich gesagt und wiederhole ausdrücklich, daß ich mich durchaus nicht darnach sehne, mit einer Dame jenes Standes, der mir nun einmal den entschiedensten Widerwillen einflößt, in irgend eine Beziehung zu treten – ich bestätige Ihnen das ganz gern noch einmal. … Nun zwingen mich aber seltsame Verhältnisse, Fräulein Agnes Franz trotz alledem um eine halbstündige Besprechung zu ersuchen – indeß, das läßt sich wohl schließlich auch mit der Feder abmachen – ich werde ihr schreiben.“

„Sie glauben wirklich, daß nach Allem, was Sie sagten, eine Zuschrift von Ihrer Hand angenommen und gelesen würde?“ fragte sie mit verächtlich zuckenden Lippen.

„Ei freilich – die Dame wird müssen. Sie wird müssen um ihrer eigenen Existenz willen,“ versetzte er, und seine Augen begannen zu funkeln.

Sie fiel abermals aus ihrer Demuthsrolle und lachte hart auf. „Müssen?“ wiederholte sie. „Wohl, um nicht von dieser armseligen Scholle verjagt zu werden? Sie könnten sich doch irren. Ich glaube, eher wandert sie barfuß in Nacht und Nebel in die Wildniß hinein –“

„Es wird ihr dann auch nichts anderes übrig bleiben.“ Er hielt mühsam an sich.

„Nun ja, das ließ sich von dem neuen Herrn des Hirschwinkels nicht besser erwarten,“ rief sie mit fliegendem Athem. „Wir wußten, daß der Mann, ,der kein Herz hat, wie es einem praktischen Geschäftsmann ziemt’, eines Tages kommen und die schlechten Zahler austreiben würde – wir wußten, daß Sie wirklich und wahrhaftig der mitleidslose Reiche sind, wie er in der Bibel steht

„Und Sie, die Dienende, das Mädchen aus dem Volke, Sie wagen es, diesen ,Reichen’ herauszufordern?“ unterbrach er sie, plötzlich ganz ruhig, fast heiter. – „Besinnen Sie sich! Der Amtmann wird es seiner Magd schwerlich Dank wissen, wenn sie durch aufreizende Reden seine schwierige Lage noch verschlimmert. Zu alledem steht Ihnen der Zorn nicht, schöne Aparte.“

Bei diesen Worten trat er um einen Schritt vor, und sie wandte sich darauf zur Flucht.

„Noch weniger aber paßt diese übertriebene Zimperlichkeit zu Ihrer Stellung,“ setzte er stirnrunzelnd, mit zornigen Augen hinzu. „Thun Sie doch nicht, als sei ich ein Mädchenjäger, weil ich mir einmal erlaubt habe, einen Blick unter Ihren Hutschirm zu werfen! Das hing mit dem seltsamen Zug in der Menschennatur zusammen, nach welchem das Verborgene reizt. Vielleicht hätte mich auch schon das eine oder andere weibliche Wesen meiner Bekanntenkreise lebhafter interessirt, wenn es verstanden, durch Maskirung des Gesichts meine Wißbegierde rege zu machen. … Heute lassen Sie die Sonne ungehindert Ihre Stirn bescheinen und haben somit keine Ursache, mir aus dem Wege zu gehen, wie einem Bilderstürmer oder Gott weiß was für einem Missethäter. … Uebrigens möchte ich wohl wissen, was Sie in Ihrer späteren Stellung mit Ihren angeflogenen Salon-Manieren anfangen wollen.“

Sie war stehen geblieben, und so gereizt sie auch sein mochte, jetzt unterdrückte sie ein Lächeln.

„Lassen Sie das meine Sorge sein – gute Manieren schaden auch einer Dienenden nicht. … Meine spätere Stellung?“ Sie zuckte die Achseln und sah mit einem ruhigen Blicke zu ihm auf. – „Ich meine, seinen Lebensgang macht doch wohl ein Jedes auch ein wenig von innen heraus, nicht allein, wie es vom Schicksal geschoben und gestoßen wird; das wird mir den Muth nicht so leicht sinken lassen – dazu bin ich jung und gesund und für mich selbst innerlich völlig gefaßt auf den Moment, wo wir da hinaus –“ sie zeigte über den Zaun hinweg nach dem Thore in der Hofmauer – „mit dem Stabe in der Hand ziehen müssen –“

„Um in’s Forstwärterhaus überzusiedeln, wo die Stellung der Hausfrau winkt,“ setzte er im Stillen tiefergrimmt hinzu und ballte in der Erinnerung an den unausstehlichen Grünrock die Rechte. Vielleicht wäre er auch so boshaft gewesen, diese Bemerkung auszusprechen, wenn nicht ein plötzlicher Lärm im Hofe das Gespräch unterbrochen hätte. Der Hund bellte wie toll; Tauben flogen erschrocken und geräuschvoll auf die Dächer und eine tiefe, starke Männerstimme rief wiederholt: „Holla, Kind!“ und schalt dann ärgerlich: „Wo sie nur stecken mag!“

Das Mädchen war bereits nach der Gitterthür geflogen und stieß sie auf.

„Ach so – hast Etwas für Deine Küche geholt!“ beruhigte sich die Stimme drüben. „Hör’ ’mal, Kind – da draußen vor dem Thore treibt sich seit mindestens fünf Minuten ein fremder Strolch herum – der Kerl mit seinem polizeiwidrigen Bart irritirt mich. Schneide ihm doch ein Stück Brod ab und gieb ihm diese zwei Pfennige da – mehr wird auf dem Vorwerk in der jetzigen miserablen Zeit nicht verabreicht; das sage ihm, damit er sich endlich trollt!“

Der Gutsherr hatte sich inzwischen auch der Thür im Zaun genähert, war aber doch zögernd für einen Moment in dem dunkelnden Himbeergebüsch stehen geblieben. Er konnte seitwärts die schiefeingesunkene Front des Wohnhauses mit ihren blinden, glanzlosen Fensterscheiben übersehen. Wie entsetzlich und hoffnungslos mußte der Zusammensturz der Franz’schen Vermögensverhältnisse gewesen sein, daß diese klägliche Behausung als rettender Hafen hatte gelten können, und heute erst recht mit einem wahren Verzweiflungstrotze, als letztes Asyl, berechtigten Ansprüchen gegenüber behauptet wurde!

Auf der Schwelle der Hausthür stand ein hochgewachsener, hagerer, alter Herr. In der Rechten hielt er eine lange Pfeife und mit der linken Hand stützte er sich auf einen Gehstock. Er hatte ein kräftig gezeichnetes, edles Profil und mußte als jüngerer Mann auffallend schön gewesen sein. Jetzt freilich legte sich eine faltige, gelbe Haut über das Knochengerüst des Gesichts, und die dunklen Augen lagen wie ausgeglühte Kohlen in den weiten Höhlen. Das mußte er sein, der notorische Spieler und Schlemmer; die verwüstende innere Arbeit der Leidenschaften trat in diesen Zügen klar zu Tage.

[75] Er blieb unter der Thür stehen, während das Mädchen an ihm vorüber in das Haus huschte, um Brod für den Bettler abzuschneiden. Dann und wann that er einen Zug aus seiner Pfeife und blies dicke Dampfwolken in die würzige Morgenluft, während er nach dem Verbleib des „Strolches“ forschte, der sich einstweilen einem Examen des polternden alten Herrn entzogen zu haben schien.

Unter einer aufdämmernden Vermuthung suchte auch Herr Markus nach dem Verdächtigen. Das der Hausthür gegenüberliegende Hofthor stand nur zur Hälfte offen; der Gutsherr konnte von seinem Platze aus ganz gut sehen, wie sich hinter dem einen geschlossenen Thorflügel draußen ein Mensch niederduckte und, das Gesicht an die Bretter gedrückt, unverwandt durch eine der breitklaffenden Spalten des wackeligen Gefüges in den Hof lugte. – Diesen verschabten, ärmlichen Rock, den zerknitterten Hut und die carrirten hellen Beinkleider hatte Herr Markus gestern schon gesehen, und als eben das Mädchen mit einem Stück Brod in der Hand wieder aus dem Hause trat, da fuhr auch der Kopf hinter dem Thorflügel empor, der junge Männerkopf mit dem mächtigen, röthlich blonden Vollbart und der kranken Gesichtsfarbe, den er gestern selbst mit auf das weiche Kopfkissen in der gastlichen Soldatenkammer des Gutshauses gebettet hatte.

Der unglückliche Mensch sah heute noch erbarmungswürdiger aus – er schien sich kaum auf den Füßen halten zu können. Sein Entkommen durch das Fenster mußte eine Riesenanstrengung für ihn gewesen sein, und angesichts dieser augenscheinlichen Schwäche und Hülflosigkeit war es geradezu lächerlich, anzunehmen, der Flüchtende habe erst noch als Dieb die Wohnräume durchstöbert und den Henkelducaten aus der weitabliegenden Stube geholt.

Es war seltsam, daß dieser Verkommene auf Alle, die ihm Näher in das Gesicht sahen, denselben erschütternden Eindruck machte. Das Mädchen hatte rasch den Hof durchschritten und war mit suchendem Blick aus dem Thor getreten – in demselben Moment aber fuhr sie auch zurück; das Brodstück in ihrer Hand flog weit über den draußen vorbeilaufenden Weg hin, und es war ersichtlich, die „Prüde“ streckte ebenfalls unbedenklich, wie Luise, die hübsche, kleine barmherzige Schwester von gestern, die schönen, jungfräulichen Arme aus, um den Schwankenden zu schützen.

Jetzt ärgerte sich Herr Markus ebenso über diesen „fremden Burschen“, der sich so interessant in Mädchenaugen zu machen wußte, wie über den Grünrock mit seiner aufdringlichen Humanität. – Er sah plötzlich die Beiden außerhalb des Thores nicht mehr; sie waren hinter der Mauer verschwunden, wohl aber hörte er, wie der Amtmann seinen Stock hart auf den Steinboden der Hausflur stieß und sich hörbar mühsam nach der Stube zurückzuhelfen suchte.

Drinnen schien ihm Niemand zu Hülfe zu kommen; seine arme Frau konnte nicht – die lag ja krank, und Fräulein Gouvernante, nun, die componirte und malte wahrscheinlich an ihren Blumenstücken, oder war in irgend eine interessante Lectüre vertieft.

Herr Markus verließ schleunigst sein grünes Versteck und eilte über den Hof in das Haus.


8.

Der Amtmann war eben im Begriff, die Hand auf das Thürschloß der Stube zu legen, als er die Schritte hinter sich hören mochte. Er richtete sich schwerfällig aus seiner vorgebeugten Stellung auf und bemühte sich, den Kopf auf dem steifgewordenen Nacken zurückzuwenden. „Holla, was wär’ mir denn das? Kömmt mir der Kerl wohl gar bis in meine vier Pfähle nach?“ brummte er erbost und nicht ohne Schrecken.

In demselben Augenblick stand der Gutsherr mit einem halbunterdrückten Lachen an seiner Seite und nannte, sich vorstellend, seinen Namen.

Der alte Herr reckte und streckte sich sofort in seiner ganzen Gestalt, als sei ihm ein belebender, galvanischer Strom durch die gebrechlichen Glieder gezuckt – und so erschien er wirklich imponirend, und das Cavaliermäßige in der Art seiner Begrüßung wurde kaum beeinträchtigt durch den vielfach geflickten Schlafrock, der seinen hageren Körper umschlotterte.

Die Tabakspfeife polterte in die nächste Ecke, und während er mit der Rechten hastig durch die Luft fuhr, um die nichts weniger als aristokratisch duftenden Rauchwolken vor dem Gesicht des Besuchers zu zerstreuen, sagte er mit vornehmer Lässigkeit: „Muß die leichteste Sorte rauchen, die zu haben ist – die Herren Aerzte sind Tyrannen und fragen viel danach, ob man sich an solch ordinäres Kraut gewöhnen kann, oder nicht.“

Darauf schlug er so feierlich einladend die Stubenthür zurück, als gelte es, ein Prunkgemach oder einen geweihten Raum zu betreten. Das Letztere war die mäßig große Stube auch insofern, als an ihrer tiefen Wand das Lager stand, auf welchem eine unglückliche Frau seit länger als Jahresfrist dulden und leiden mußte. Da waren ja die Gardinen, welche die Magd mit Hülfe der Tannenzapfen aus dem Forstwärterhaus gestern Abend noch geplättet hatte. Sie hingen blüthenweiß und schön gefaltet um das Bett, das mit seinen glänzend frischen Leinbezügen über den schwellenden Kissen und Polstern ganz gut im Schlafzimmer der verwöhntesten vornehmen Dame hätte stehen können.

Es stand auch ein rundes Tischchen neben dem Bett; hübschgebundene Bücher mit Goldschnitt lagen auf der Mahagoniplatte, und ein großer, malerisch geordneter Wald- und Wiesenblumenstrauß hob sich aus einem Krystallkelch. … Nun, so ganz in Elend und Mangel versunken, wie Herr Markus gemeint, war diese Kranke doch nicht. Die biblischen Schwestern walteten an ihrem Lager. Die Starke, Willenskräftige, die er mit dem Fischnetz am Arme zuerst gesehen, sorgte für Speise und Trank und körperliches Behagen, und die andere umgab sie mit den hübschen Tändeleien ihrer feinen, gepflegten Hände; sie ließ sich vermuthlich auch herab, schön frisirt, parfümirt und in guter Toilette am Bett zu sitzen und ihr aus den Miniaturbändchen ausgewählte Dichtungen vorzulesen und so einen schwachen Nachglanz des ehemaligen vornehmen Lebens in die niedrige Stube zu hauchen.

„Herr Markus, unser neuer Nachbar, liebes Herz!“ sagte der Amtmann vorstellend, wobei er seine starke Baßstimme zu einem zärtlich weichen Klange moderirte Mann ignorirte lächerlicher Weise absichtlich die Bezeichnung „Gutsherr“.

Es war ein kleiner Frauenkopf mit einem durchsichtig abgezehrten, alten Gesichtchen und schneeweißen Scheitel unter dem Nachthäubchen, der bei diesen Worten wie entsetzt aus den Kissen auffuhr. „Ach, mein Herr!“ hauchte die alte Dame in schwachem, klagendem Tone und streckte ihm ihre schmale Hand hin, die, wie es schien, von einem nervösen Schauder geschüttelt wurde. Auch in dieser Frauenseele stürmte bei seinem Erscheinen sichtlich das Angstgefühl auf, daß nunmehr die längst gefürchtete Entscheidung gekommen sei.

Der Gutsherr trat an das Bett und zog die gebotene Hand ehrerbietig an seine Lippen. „Nehmen Sie den neuen Nachbar gütig auf, gnädige Frau!“ sagte er, „er wird Ihnen ein treuer Nachbar sein.“

Die Kranke schlug die großen, immer noch schönen Augen so tief erstaunt zu ihm auf, als meine sie, nicht recht gehört zu haben. Aber, das hübsche, ehrliche Männergesicht, um dessen frischen Mund ein gütevolles Lächeln flog, sah nicht nach Heuchelei oder banalen Redensarten aus, die man gedankenlos hinwirft, um sie im nächsten Augenblick zu vergessen. In dieser beglückenden Ueberzeugung umfaßte sie tief aufathmend auch mit der andern Hand die Rechte des jungen Mannes und drückte sie. „Wie lieb von Ihnen, daß Sie die armen Leute“ – sie stockte und sah scheu und hastig nach ihrem Manne, der sich stark räusperte und in ein Hüsteln verfiel – „daß Sie Amtmanns auf dem Vorwerk mit Ihrem Besuch erfreuen!“ setzte sie rasch verbessernd hinzu.

„Ja, und denke Dir nur, Sannchen, was mir dabei passirt ist!“ lachte der Amtmann. „In der Meinung, der Landstreicher draußen vor’m Thor komme mir frecher Weise bis in’s Haus nach, habe ich per Kerl und dergleichen raisonnirt, und derweil steht Herr Markus hinter mir!“

Er ließ sich in einen alten, aufächzenden Lehnstuhl nieder und saß so dem Besuch gegenüber, der auf eine einladende Handbewegung der Kranken hin neben dem Bette Platz genommen hatte. „Auf Gelsungen, der fürstlichen Domäne, die ich viele Jahre hindurch in Pacht gehabt habe, ist mir die Furcht, durch fremdes Gesindel bestohlen zu werden, nie in den Sinn gekommen,“ fuhr er fort und rieb sich unter einer schmerzhaften Grimasse das eine Knie. „Dort hatten wir unsere Appartements in der Beletage und das Herrenhaus wimmelte von unserer zahlreichen Dienerschaft. Hier in der Einsamkeit ist das freilich anders; man hat [76] wenig Menschen um sich, und mit den niedrig gelegenen Fenstern ist nicht zu spaßen. Drüben im Eßzimmer könnten uns die Silberlöffel dutzendweise gestohlen werden, ohne daß man es ahnt – so etwas merkt man oft erst beim späteren Nachzählen oder einer gelegentlichen Inventur.“

Herr Markus biß sich fast verlegen auf die Lippen, indem er an den letzten Silberlöffel dachte, den die Magd gestern so energisch gegen die Verkaufsgelüste ihres „goldtreuen“ Cameraden vertheidigt hatte, und die Frau im Bette sah still auf ihre Hände nieder, die gefaltet auf der Decke lagen, während es fein roth in das blasse Gesicht aufstieg.

„Ich glaube, von dem jungen Mann, der sich draußen am Hofthor aufhielt, haben Sie Derartiges nicht zu befürchten,“ sagtet der Gutsherr. Er erzählte darauf seine Begegnung mit dem Fremden auf der Fahrstraße, und wie derselbe für die Nacht auf dem Gute untergebracht worden sei – dabei verschwieg er nicht die Flucht des Unglücklichen, die Stolz und Ehrgefühl veranlaßt haben mochten. „Er schien mir heute noch hinfälliger als gestern;“ fügte er hinzu; „ich sah, wie Ihre Magd, die ihm ein Strick Brod bringen wollte, dem Taumelnden zu Hülfe kam −“

„Unsere Magd?“ fragte die alte Dame und hob den Kopf aus den Kissen.

„Ja, die Magd ist’s gewesen, Sännchen!“ bestätigte der Amtmann in[WS 1] fast überlautem Ton, der ihr jedes fernere Wort abschnitt. „Ich gab ihr auch ein paar Geldstücke für den Menschen. I nu, das thut mir aber leid,“ sagte er mit wirklichem Bedauern und fuhr sich in das dünne, graue Haar unter dem Sammetkäppchen. „Ich möchte dem armem Kerl auch unter die Arme greifen, und vom Vorwerk soll er ganz gewiß nicht weggejagt werden, wenn er Nahrung und Ruhe für ein paar Tage braucht – das Fortjagen Hilfsbedürftiger ist beim Amtmann Franz nie Mode gewesen – ich werde den armen Teufel hereinholen.“

Er wollte sich erheben, aber Herr Markus kam ihm zuvor. „Lassen Sie mich hinausgehen, Herr Amtmann!“. sagte er.

„Aber, Liebster; ich weiß nicht, was wir heute zu Mittag haben,“ rief die weiche, bebende Frauenstimme ängstlich vom Bette her. „Und denke doch, bester Mann, wir müßten ihm ja ein Bett geben, ein gutes, bequemes Bett –“

„Nun ja doch – ich weiß nicht, was Du willst, Sannchen!“ fiel er ihr unmuthig in’s Wort. „Haben wir das etwa nicht? – Kein gutes Bett bei Amtmanns, wo alle Welt immer entzückt war, in unseren schönen Daunen zu schlafen! Kümmere Dich doch nicht um die Wirtschaft, Herzchen! Du machst Dir immer falsche Vorstellungen von unserem Haushalte, seit Du selbst nicht mehr Nachsehen kannst, mein emsiges, braves Hausmütterchen! Aber es geht Alles seinen guten Weg; Du kannst ganz ruhig sein. Und wenn wir auch an äußerem Glanze einbüßen mußten, die innere Gediegenheit eines guten Hauses ist uns doch geblieben. Freilich“ – er kraute sich auf’s Neue hinter dem Ohre und schob die Hausmütze nach der andern Seite „mit dem Weine wird’s hapern. Da kann ich im Augenblick mit den barmherzigen Leuten auf dem Gute nicht concurriren. Das verflixte Zipperlein hat mich wieder einmal grimmig gepackt, und mit den lahmen Beinen ist es eine absolute Unmöglichkeit für mich, in den Keller hinabzusteigen – eine andere Hand aber lasse ich principiell nicht über meine Weine.“.

So erlauben Sie mir, Ihnen einstweilen aus dem Keller Ihrer heimgegangenen alten Freundin einen Korb Wein zur Verfügung zu stellen!“ sagte Herr Markus, mit dem Thürschloß in der Hand, an der Schwelle stehen bleibend. „Die gnädige Frau ist ja auch in Folge dieser Gründe, für längere Zeit der nöthigen Stärkung beraubt und wird gewiß die kleine Erquickung als Gabe letzter Hand von ihrer Jugendgefährtin nicht zurückweisen.“

Er ging hinaus und durchmaß eiligen Schrittes den Hof. So lange er am Bette gesessen, war er zu seinem Verdrusse eine „dumme“ Vorstellung nicht los geworden. Die Prüde hatte vorhin im Garten ihre langen Leinenärmel über die entblößten Arme herabgerissen, als sei der darauffallende Männerblick eine Befleckung, und gleich darauf war sie ohne Zögern bereit gewesen, diese Arme um die Gestalt eines jungen Bettlers zu legen – dieses Aergerniß stand ihm fortgesetzt vor den Augen und verdroß ihn dermaßen, daß er mit beiden Händen die Gelegenheit ergriff, hinauszugehen und die Hülfeleistung eigenhändig und allein zu übernehmen.

Aber draußen vor dem Thore war weit und breit kein lebendes Wesen zu entdecken. Der Fremde mußte mit seinen zwei Pfennigen Zehrgeld in der Hand schließlich doch weiter gewankt sein, und das Mädchen war jedenfalls ihren häuslichen Geschäften wieder nachgegangen; bei dieser Wahrnehmung athmete er unwillkürlich und tief erleichtert auf – lächerlich! Was ging es denn ihn an, und was hatte er d’rein zu reden, wenn junges Blut, ein Bursch und ein Mädchen aus dem Volke, in der Fremde in Hülfsbereitschaft zu einander traten?

Bei seiner Rückkehr in das Haus überflog sein Blick scharfmusternd die Façade des Wohngebäudes. Fräulein Gouvernante hatte sich jedenfalls vor ihm zurückgezogen, was er ihr keineswegs verdachte, da sie ja erfahren hatte, er beabsichtigte, ihr aus dem Wege zu gehen, wo er könne. Er fühlte auch durchaus kein Verlangen nach ihrem Anblicke, aber eigentlich hatte er ja doch die Verpflichtung, auf jeden Fall sich zu überwinden, um im persönlichen Verkehre zu erfahren, weß Geistes Kind sie sei. Die Idee, ihr zu schreiben, hatte er vorhin nur in Zorn und Widerspruch an den Tag gelegt; ernstlich durfte er das nicht wollen.

Vielleicht entdecke er vorläufig an einem der Fenster ihr Profil, oder die Umrisse ihrer Gestalt – er mußte lächeln angesichts dieser Fenster. Nur drei derselben waren einigermaßen würdig, ein hochmüthiges Damengesicht zu umrahmen; das waren die Fenster der Wohnstube mit ihren hübschen weißen Gardinen, die zur Linken der Hausthür lagen; zur rechten Hand wurde das eine von einem schief in den Angeln hängenden Laden verdeckt, und durch die beiden anderen sah man in einen fast leeren Raum, der nur einen großen Ofen, einen Tisch und einige Stühle von Tannenholz enthielt. Das mochte die Gesindestube sein – das Asyl der Magd, wenn sie einmal Zeit fand, von ihrer Arbeit auszuruhen – oder doch nicht etwa das berühmte Eßzimmer mit seiner ungezählten Schaar silberner Löffel?! –

Ein weißer, bewegter Gegenstand lenkte plötzlich seinen Blick auf das niedrige Dach. Aus dem Mansardenfenster über der Hausthür wehte ein loser Mullvorhang und blähte sich in der Luft; auf dem Simse blühten schöne Rosen, und an der sichtbaren helltapezirten Innenwand der tiefen Fensternische hingen Bilder. Also da residirte Fräulein Gouvernante. – Nun, für heute mochte sie in ihrer Klause bleiben – er war augenblicklich ganz und gar nicht in der Stimmung, Phrasen zu drechseln, wie sie der Umgangston jener Kreise verlangte, in denen Dame Blaustrumpf gelebt und gewirkt hatte.

(Fortsetzung folgt.)


Einer, der nicht viel besser ist, als sein Ruf.

Vielfraß nennt man dieses Thier
Wegen seiner Freßbegier.

Der Vielfraß ist eine der interessantesten Thier-Erscheinungen, aber leider haben nur wenige zoologische Gärten Exemplare dieser Vierfüßler aufzuweisen. Er gehört zu jenen seltenen Thieren, welche ausschließlich die kälteren Regionen des europäischen und amerikanischen Continents bewohnen und höchst selten lebend zu uns kommen. Nicht nur wegen seiner Seltenheit, sondern vor Allem in wissenschaftlicher Beziehung ist dieser Repräsentant der nordischen Fauna ein willkommener Gast in unseren zoologischen Gärten, indem er uns so Gelegenheit bietet, einen Theil seiner Lebensweise sowie seines Gebahrens, über welches ja manches Fabelhafte berichtet worden ist, beobachten zu können.

Der Vielfraß – Gulo borealis – erreicht fast die doppelte Größe unseres gemeinen Dachses. Wie dieser, gehört auch er zu den fleischfressenden Raubthieren und steht als besondere Gattung zwischen den Mardern und den Bären. Die Zahl und Beschaffenheit seiner Zähne reihen ihn den ersteren an, während die plumpere Gestalt seines Körpers, sowie die Form seiner Füße, welche ein Auftreten mit der ganzen Sohle bedingt, eine gewisse Verwandtschaft mit den Bären bekundet. Dagegen zeigt der Kopf mit

[77]

Vielfraße. Nach der Natur aufgenommen von Ludw. Beckmann in Düsseldorf.

[78] seiner breiten, etwas zusammengedrückten Schnauze, der kleinen Nase, den kurzen, abgerundeten Ohren, dem dicken Halse und namentlich den kleinen, schwarzen, frechen Augen, eine gewisse Aehnlichkeit mit der Fischotter und dem ihm sehr nahe stehenden europäischen Nörz. Sein Körper ist mit langen, zottigen Haaren bedeckt, die oben heller, unten dunkler braun sind. Zwischen diesen beiden Farbennüancen zieht sich beim Männchen ein hellbrauner Längsstreifen hin, welcher beim Weibchen in's Weiße übergeht. Das Gesicht zeichnet ein lichtgrauer Streifen, welcher Augen und Stirn verbindet. Der Schwanz ist verhältnismäßig kurz und mit dichten, langen Haaren besetzt, die an seiner Wurzel braun, an seiner Spitze schwarz sind. Die mit fünfzehigen Pfoten versehenen Beine sind kurz und kräftig.

Sehr charakteristisch ist der halb hüpfende, halb galoppirende Gang dieses Thieres. Seine Stimme ähnelt, wenn es, wie beim Füttern und Spielen, aufgeregt ist, dem Knarren der sogenannten Schnarren.

Aeltere Schriftsteller wie Michow, Bischof Olaus Magnus und Conradus Geßner erzählen die wunderlichsten Dinge über den Vielfraß. Auf den Ruf der unersättlichen Freßbegierde dieses Thieres fußend, erzählen sie allen Ernstes, wie Brehm bemerkt. „daß, wenn es ein Aas fände, es so lange daran fräße, bis sein Leib wie eine Trommel strotze“. Ferner wird berichtet, „dieses Thier sei das einzige, welches wegen seiner beständigen Freßlust den Namen ‚Jerf‘, im Deutschen ‚Vielfraß‘ erhalten habe, sein kostbarer und glänzender Pelz werde zur Verfertigung von Luxusmänteln benutzt, deren Anschaffung nur Fürsten möglich sei“; witzig ist die Behauptung, „daß alle die, welche diese Mäntel tragen, von einer unersättlichen Eßlust befallen werden“. Brehm, der den Vielfraß auf seinen Reisen in Skandinavien ein einziges Mal zu Gesicht bekam und dort Gelegenheit hatte, genauere Erkundigungen über denselben einzuziehen, berichtet, „daß das Wort Fjälfräß, mit welchem man das Thier dort bezeichnet, eigentlich nicht ‚Vielfraß‘ sondern ‚Felsenkatze‘ bedeutet, und daß es weder in der schwedischen, noch in der finnischen Sprache Verwandtschaft mit dem Worte Vielfraß hat. Die Finnen nennen das Thier Kampi, bei den Russen heißt es Rosamaka und Jerf bei den Skandinaviern“. Conrad Geßner, welcher so viele fabelhafte und schauerliche Dinge über Thiere geschrieben hat, die er nie gesehen, erzählt unter Anderem: der Vielfraß hätte einen scheußlichen Leib, voller blauer Flecken, seine Augen, welche die Farbe nach Belieben ändern könnten, seien schrecklich, und um all diesem Unsinn die Krone aufzusetzen, behauptet er, die Augen des Vielfraßes verwandelten sich nach seinem Tode in Stein.

Pallas war der Erste, welcher genaue Notizen über den Vielfraß brachte und eine naturgetreue Schilderung desselben gab. Nach ihm soll er in Finnland Fjäljerf heißen, was eigentlich Felsenbewohner bedeutet. Auch ist nach seiner Beschreibung das Thier lange nicht so blutdürstig und gefräßig, wie sein Ruf es glauben macht.

Buffon erhielt einst aus den nördlichen Gegenden Rußlands einen Vielfraß, welcher über anderthalb Jahre in Paris lebte. „Er war so gezähmt,“ sagt er, „daß er gar nichts Scheues an sich hatte und Niemandem etwas zu Leide that. Sein Gang ist ein beständiges Springen. Er frißt viel, wenn er sich aber satt gefressen hat und noch Fleisch übrig geblieben ist, so bringt er dies in seinen Käfig und verbirgt es unter Stroh. Beim Trinken lappt er wie ein Hund, er frißt kein Brod und schreit auch gar nicht. Sobald er getrunken hat, wirft er das übrige Wasser unter sich. Selten sieht man ihn ruhig.“

Auffallend ist es, daß Buffon behauptet, der Vielfraß fresse kein Brod und schreie gar nicht. Nach den im zoologischen Garten zu Köln gemachten Beobachtungen ist er ein rechter Schreihals, frißt auch gern Brod und trinkt nicht weniger gern Wasser. Obgleich zu den Carnivora gehörend, ist er kein absoluter Fleischfresser. Man kann ihn ernähren wie die Waschbären und die eigentlichen Bären; nöthigen Falles genügt ihm auch Milch und Brod.

In früheren Zeiten soll der Vielfraß über ganz Deutschland verbreitet gewesen sein, seit einigen Jahrhunderten aber nur noch die nördlichen Gefilde Skandinaviens und Rußlands, sowie Nordamerikas bewohnen. Dort hält er sich entweder in Wäldern oder wenig bewohnten felsigen Gegenden, vorzugsweise aber in den Abhängen felsiger Hochgebirge aus, wie in den wildesten und verlassensten Gegenden von Fillefields und Dovrefields in Norwegen, wo nur isländisches Moos (Cetraria islandica), ein kurzes weißliches Gras und einige verkümmerte Birken und Nadelhölzer wuchern. Den Tag verbringt er gewöhnlich in Felsenklüften, des Nachts aber wird er thätig und geht auf Beute aus. Nicht nur alle kleineren Säugethiere, wie Ratten, Eichhörnchen, Mäuse etc., dienen ihm zur Nahrung, selbst Renthiere und Elche soll er nach Steller’s Erzählungen, die von Brehm bestätigt werden, überfallen, ihnen die Gurgel zerbeißen, und nachdem sie verblutet sind, sich an ihren Cadavern ergötzen. Im Falle der Noth verschmäht er auch das Aas nicht. Er folgt den Wölfen und Füchsen, um die Ueberbleibsel der von diesen ermordeten Thiere zu verzehren. Auch ist er der Schrecken der Landwirthe in diesen Gegenden, da er Nachts die Ställe überfällt und ohne Erbarmen ganze Heerden von Schafen oder Ziegen mordet und ihnen das Blut aussaugt.

Obgleich sehr rauhhaarig, ist das Fell des Vielfraßes dennoch in den meisten Gegenden Rußlands und Skandinaviens sehr gepriesen. Namentlich gilt dies von den seltener vorkommenden weißgelben Fellen, welche in anderen Ländern weniger geschätzt werden. Trotz seiner geringen Größe ist der Vielfraß kein zu verachtender Gegner, berichtet Brehm. Man versichert, daß selbst Bären und Wölfe ihm aus dem Wege gehen. Gegen den Menschen wehrt er sich nur dann, wenn er nicht mehr ausweichen kann. Obschon er unbeholfen in seinen Bewegungen erscheint, so ist er doch viel flinker, als man vermuthet. Gewandt hüpft er auf Bäumen und Felsen umher und schlägt Purzelbäume mit der größten Leichtigkeit. In Kamschatka soll sein Fell so geschätzt sein, daß nur reiche Leute es als Pelz zu tragen vermögen. Die wohlhabenden Frauen von dort schmücken ihre Haare mit den weißen Pfoten des Vielfraßes.

Einige Reisende behaupten, unser Vierfüßler wage sich auch an Hirsche, deren Fleisch ein Leckerbissen für ihn sei. Zu diesem Zwecke klettere er auf Bäume, unter welchen das Wild zu ruhen oder zu grasen pflegt, springe von hier auf dessen Nacken, halte sich am Geweih fest, kratze seinem Opfer die Augen aus und zerbeiße ihm die Gurgel, ohne daß das Thier sich dagegen wehren könne.

Das Wahre von allen diesen Erzählungen, welche überall, wo Vielfraße vorkommen, als Evangelium gelten, ist schwer von den Fabeln zu trennen, die ältere Schriftsteller über das Thier verbreitet haben. Allein wenn wir auch nur das Wahrscheinliche annehmen, so müssen wir zugeben, daß der Vielfraß ein in jeder Beziehung interessantes Geschöpf ist.

Ueber das sociale Zusammenleben der Vielfraße weiß man bis jetzt nur wenig. Ein glaubwürdiger Augenzeuge erzählte uns kürzlich, daß die Thiere nur beim Eintritte der Nacht ihre Verstecke verlassen, um auf Raub auszugehen; jedes für sich allein. Ihre ungeheure Freßgier scheint sie von einer gemeinsamen Jagd abzuhalten. Auch sind ihre Liebesbeziehungen nichts weniger als zärtlicher und gemüthlicher Natur; wenigstens hat man nur während der Paarungszeit Männchen und Weibchen beisammen gefunden, und letzteres setzt den Liebesbezeigungen des Männchens den größten Widerstand entgegen. Nach Erik gebärt das Weibchen zwei bis drei Junge, welche es nach viermonatlicher Tragzeit in dichten Waldungen oder verborgenen Schluchten zur Welt bringt. Die jungen Vielfraße werden erst im dritten Jahre fortpflanzungsfähig, und bis dahin verbleiben sie im Domicil und unter der Obhut ihrer Mutter. Das erste Auftreten der Vielfraße im zoologischen Garten zu Köln war derart, daß man geneigt war, den Geschichten Glauben zu schenken, welche über dieselben verbreitet sind. Kein Thier hatte bisher bei seinem ersten Erscheinen durch sein ungewöhnliches Wesen und Treiben, welches alle Besucher des Gartens herbeilockte, eine ähnliche allgemeine Ueberraschung hervorgebracht. Unsere Thiere, ein echtes junges Pärchen, zeigten schon, als sie kaum ein Jahr alt waren, alle die Eigenschaften, die Erwachsenen vielfältig zugeschrieben werden. Sie sind frech und trotzig, aber nicht bösartig. Bei Tage sind sie ziemlich geduldig; sie ruhen und schlafen dann zuweilen; bricht aber die Dämmerung herein, so beginnt ihr unruhiges Schalten und Walten. Namentlich bei der Morgens und Abends stattfindenden Fütterung bietet ihr Gebahren ein höchst befremdendes und ergötzliches Schauspiel. Sie laufen alsdann tobend hin und her, springen hüpfen, galoppiren, schlagen Purzelbäume, reißen sich gegenseitig die Bissen aus dem Maule, schreien wie besessen und fallen über einander her, als wollten sie sich zerfleischen - kurz sie geberden sich als wahrhaft wüthende Bestien, ohne sich jedoch irgend welches Leid anzuthun.

[79] Wenn auch sehr viel Uebertriebenes über die Freßbegierde der Vielfraße berichtet worden ist, so können wir nach dem, was wir bis jetzt an den unserigen constatirt haben, nicht umhin zu gestehen, daß jeder Unbefangene sofort von der außergewöhnlichen Gier und Freßlust dieser Thiere überzeugt sein muß, und wenn auch unsere Vielfraße verhältnißmäßig nicht mehr fressen, als andere Raubthiere von gleicher Größe, so geberden sie sich doch stets derart, als wären sie wirklich verhungert oder an Freßsucht leidend. Natürlich können wir aus dem, was ihnen bisher geboten, nicht die Quantität dessen bestimmen, was sie zu fressen vermögen, indessen getrauen wir uns nicht mit ihnen Experimente zu machen, die ihnen zu leicht gefährlich werden könnten. Morgens erhalten sie ein Liter Milch mit Wasser und Brod, gegen elf Uhr jeder ein Viertel Kilogramm Kalbfleisch und Abends ein Kilogramm Pferdefleisch. Wasser trinken sie im allgemeinen wenig; sie spielen und plätschern aber gern damit.

Wir werden später hoffentlich im Stande sein, noch Näheres über das Verhalten dieser interessanten Geschöpfe zu berichten. Hier sei schließlich noch bemerkt, daß der Wärter auf sehr vertrautem Fuße mit ihnen steht. Er spielt mit ihnen, legt sie der Länge nach auf den Rücken, streichelt sie und steckt ihnen die Hand in das Maul, ohne daß ihm jemals ein Leid widerfahren ist.

F.





Wie die Menschen bauen lernten.

Von Paul Wislicenus.

Erst vor wenigen Jahren hat die deutsche Nation das Fest der Einweihung des Hermanns-Denkmals gefeiert, und erst vor wenigen Monaten standen wir bewundernd vor dem vollendeten Kölner Dom. Welch erhabenen Anblick bietet der gewaltige Bau dem Beschauer! Abgesehen von seiner Größe - der Kölner Dom übertrifft an Höhe alle bestehenden Bauwerke der Erde - zeichnet er sich besonders durch die Zartheit seiner Glieder aus. Der gothische Stil, in dessen Spitzbögen, Phialen und Strebepfeilern er ausgeführt ist, hat es dem alten, vor 600 Jahren lebenden Baumeister ermöglicht, hier ein Gebilde zu entwerfen, welches zu den wunderbarsten der Erde gehört. Man denke sich die riesigen Steinmassen in ihrer ganzen Schwere, und man sehe nun mit Erstaunen, wie kunstvoll der Meister sie gefügt hat! Durch die Spitzen der Thürme scheint die Sonne; zwischen dem zierlichen Maßwerk der Pyramiden blickt das Blau des Himmels hindurch. Stehst du in der Kirche, so hast du über dir schwebend in einer Höhe von 150 Fuß ein Dach von Steinen, so sorgsam und klug zusammengesetzt, daß jeder einzelne derselben den andern verhindert, auf dich niederzufallen Und das ganze Gewölbe trägt sich selbst, ohne die Stütze einer Wand; denn wenn du nach den Wänden der Kirche blickst, so kannst du sie nirgends finden. Die Riesenmauern, welche das Gewölbe tragen sollten, sind einfach nicht da. Der ganze Kölner Dom hat überhaupt keine Wände - die Kirche ist statt ihrer von zwei Reihen gewaltiger Glasfenster eingefaßt - das Gewölbe aber ruht nur auf den dünnen, 150 Fuß hohen Pfeilern, welche die Fenster einfassen und von außen durch angemauerte Strebebögen gestützt sind. Wenn man das Glas aus den Fenstern nehmen würde, so wäre das steinerne Gerüste der Kirche in seiner Luftigkeit und zierlichen Leichtigkeit einer aus hölzernen Latten zusammengenagelten Laube zu vergleichen.

Wenn wir vor diesem Dome stehen, rufen wir, von dem Eindruck seiner Größe überwältigt, aus. „Was für Wunder sind das, Wunderwerke von Menschenhand!“ Mit seinem Genie konnte der Mensch derartiges erreichen, ehe er aber Genie dazu besaß – hat er da die ganze Kunst des Bauens nicht erst erlernen müssen? Gewiß – werden wir aus diese Frage erwidern – es ist selbstverständlich, daß die Menschheit nur langsam zu so erhabenen Zielen gelangte; bevor sie gothische Dome bauen konnte, hat sie sich romanischer und byzantinischer Kirchen bedient; vor dem gab es nur Säulentempel und plumpe Königspaläste, und früher hat es gar nur massive Pyramiden, rohe Steinhäuser, Holzhütten und im Anfang sogar lediglich Höhlen gegeben. Ich will es versuchen, die Entstehung der Baukunst im Folgenden zu beleuchten.



1. Die Urzeit.


Jedes Volk der Erde hat seine Urzeit gehabt, und noch heute können wir das Wesen der Urmenschen an den Völkern studiren, welche wir als die „wilden“ bezeichnen: sie bieten uns noch gegenwärtig Urzustände und Urfähigkeiten dar, die uns lebhaft an die vorgeschichtlichen Menschengeschlechter erinnern.

So finden wir z. B. bei den Völkerstämmen, welche das Festland von Neu-Holland bewohnen, die wunderlichsten Zustände und Sitten. In Melbourne haben diese Wilden sich an der Weltausstellung betheiligt. Sie haben jedoch nichts ausgestellt, als – hölzerne Waffen. Außer diesen lieferten sie nur noch ein Erzeugniß: aus Gras geflochtene Beutel, in denen sie ihre Fourage unterbringen. Sonst brachten sie nichts herbei; denn außer hölzernen Waffen (die sie mit Hülfe von scharfen Steinen schnitzen) und den erwähnten Beuteln besitzen sie nichts. Vollständig nackt, nur mit elenden Holzwaffen versehen, schweifen sie in Rudeln in der Wildniß umher, und des Nachts schlafen sie unter freiem Himmel auf dem Haideboden. Thierisch sind ihre Bewegungen; thierisch scheint uns ihre ganze Existenz. Es soll wunderbar genug aussehen wenn sie am Feuer hocken und sich die glühenden Kohlen nicht mit den Händen, sondern mit den Fußzehen herauslangen. Und doch sind die Austral-Neger Menschen; sie sind es nicht nur körperlich, sondern auch geistig; denn sie kennen das Feuer und verfertigen sich Waffen.

Die Kunst zu bauen kennen sie jedoch nicht; sie ahnen kaum die schüchternsten Anfänge derselben. Dies gilt besonders von den im Süden des Erdtheils hausenden Horden; weiter im Norden fängt der Trieb zum Bauen doch schon an. Das nördliche Neu-Holland nämlich gehört bereits zur heißen Zone; es giebt dort also keinen Winter, sondern statt seiner herrscht monatelang die berüchtigte tropische Regenzeit. Unaufhörlich strömt das Wasser vom Himmel herunter, und gegen dieses Wasser verschafft sich der Austral-Neger eine Art Schutz. Er gräbt sich eine Grube und deckt dieselbe mit starkem Reisig zu. Nun könnte man denken, er krieche unter das Reisig, in die Grube hinein. Aber nein, so unpraktisch ist er gar nicht. er setzt sich hübsch mitten auf das Reisig, schmiert sich die bloße Haut tüchtig mit Fett ein und läßt den Regen von seinem Körper hinunter in die Grube laufen. Die Grube hat er nur gegraben, um nicht auf der bloßen Erde in einer Schlammpfütze zu sitzen. Man möchte diese geniale Erfindung beinahe unseren bivouakirenden Soldaten empfehlen.

In unseren nordischen Klimaten, bei Schneegestöber und Winterkälte, reichten jedoch derartige Schlammkellerbauten schon den Urmenschen zu ihrer Existenz nicht aus. Auch sie hatten keine Häuser und verstanden sich keine zu bauen. Da half ihnen gütig die Natur; sie bot ihnen in den deutschen Mittelgebirgen eine Menge Felsenhöhlen, aus denen sie wohl oft genug den Höhlenbär erst vertreiben mußten. Hier wohnten sie nun mit ihren Familien unter einem schützenden Dache, und vielleicht verhängten sie mit einem Fell nothdürftig den Eingang.

Allein die Höhlen, welche die Natur gebildet hatte, reichten auf die Dauer nicht aus, und man war genöthigt, sich solche künstlich zu bilden. Man schweifte also in der Umgegend umher und suchte einen passenden Felsen. Eine denselben durchklaffende Spalte wurde der Einwirkung des Feuers ausgesetzt und gegen den heißen Stein Wasser gegossen, sodaß er barst und Stücke herunterbrachen. So wurde der Spalt weit genug, um eine ganze Familie zu beherbergen.

Ein merkwürdiges Exemplar einer derartigen künstlichen Felsenhöhle fand man im südlichen Württemberg. Dort steht irgendwo ein Stein an einem Bergeshange, der künstlich ausgehöhlt ist. Von dem Felsblock sind nur die Außenseiten stehen geblieben, wie die Schale eines hohlen Eies. Im Vordergrunde, nahe am Eingange (welcher vermuthlich mit einem Fell verhängt war), deuten eine Anzahl geschwärzter Steine den Feuerherd an, der hintere Theil des Raumes dagegen ist hoch und schwer zu erklettern Dort hat vermuthlich die Familie, sicher vor wilden Thieren geschlafen.

Derartige Höhlen in natürlichem Fels finden sich nur in den gebirgigen Theilen von Deutschland. Allein auch in jenen Districten, in welchen es weder Berge noch Felsen giebt – also in dem [80] ebenen Norden unseres Vaterlandes – wußten die wilden Urmenschen sich zu helfen. Sie schleppten dort eine Anzahl gewaltiger Blöcke zusammen, wie man sie als „Feldsteine“ im Freien findet, Steine, welche in der Eiszeit auf schwimmenden Eisschollen von den nordischen Gebirgen herangesegelt kamen und, über den Norden Deutschlands, der damals noch unter der Meeresfläche lag, hintreibend, durch das Zerschmelzen des Eises zu Boden sanken – sogenannte „erratische (verirrte) Blöcke“. Solche Steine wälzten die Urbewohner Germaniens in einen Kreis zusammen und überdachten den dazwischen eingeschlossenen Raum mit flacheren Steinen.

Da man aber an ein Behauen des Steinmaterials damals überhaupt nie gedachte, so paßten die Steine nicht an einander, und zwischen ihnen blieben Lücken offen. Diese füllte man mit kleineren Steinen aus. Gleichwohl fanden Wind und Schnee durch die engen Ritzen Eingang. So warf man denn über dem Steinunterbau einen Hügel von Sand auf. Um aber auch den Eingang gegen Schnee und Wind zu schützen, welche durch das vorgehängte Fell doch noch in das Innere hereinstoben, baute man vor dem Eingänge aus kleinen Steinen bis an die Peripherie des runden Sandberges einen niedrigen Gang, durch den man kriechen mußte. Schon in dem äußeren Ende des Ganges fing sich der Wind, sodaß er das Innere der Höhle, respective das dasselbe beschützende Fell, nicht erreichen konnte.

Solcher Höhlen hat man z. B. mehrere in dem westlichen Schleswig entdeckt. Man hielt dieselben ursprünglich für Heiden- oder Hünengräber; denn sie waren diesen von außen gleich. Von oben in die Tiefe hinuntersteigend, fand man in der ersten Höhle Menschen begraben; dabei aber die Spuren eines Feuerherds; in den anderen dagegen war Niemand bestattet. Man hat also in jener Epoche der Höhlenbauten als Grabstätte offenbar gelegentlich eine menschliche Wohnung benutzt. – Auch heutzutage werden diese Art Höhlenhäuser noch gebaut: die Eskimos leben in solchen Bauten. Doch machen sie dieselben schon geschickter: sie benutzen bereits kleinere Steine dazu, die sie so kunstvoll aufschichten, daß sie keinen Mantel von Erde oder Sand darüber zu werfen brauchen. Befindet sich der Eskimo auf Reisen, so ahmt er behufs Herstellung eines Nachtquartiers seine Höhle in hartem Schnee nach, und in dem Schneehotel zündet er seine Thranlampe an. Die Ähnlichkeit der Eskimohöhlen mit denjenigen in Deutschland kann jedoch nicht etwa beweisen, daß früher Eskimos in unserem Vaterlande gewohnt hätten. Der Mensch wird in gleichen Lebenslagen überall wesentlich auf dieselben Erfindungen verfallen.

Höhlenhäuser findet man auch in Mecklenburg, dort sogar in Massen, in der Form von Dörfern. Allein die mecklenburgischen unterscheiden sich wesentlich von denjenigen, welche ich soeben beschrieben habe. Hier hat man sich zwar auch einen Berg aus Erde – diesmal Lehmerde – gemacht, um darin zu wohnen, allein der feste Unterbau, zu dem der Erdberg nur die Umhüllung bildet, bestand nicht aus Steinen, sondern aus Holz.

Diese hölzernen Höhlen richtete man auf folgende Weise her: Vor Allem grub man eine Grube in den Boden, einige Fuß tief. Dann schleppte man Aeste aus der Wildniß herbei, wie man sie gerade passend bekommen konnte. Diese Aeste wurden rings um die Grube aufgerichtet und aus ihnen Wände sowie aus den horizontal darüber gelegten ein Dach gebildet, welches man mittelst Reisig und Baumzweigen zu einer festen Masse verflocht. Dann verschmierte man die Laube von außen mit einer dicken Lehmschicht, welche Kraft genug besaß, dem Regen Widerstand zu leisten. Man hat vor Jahren diese Niederlassungen in Ruinen gefunden: das Holz ist verfault und die ganze Herrlichkeit in die Gruben hineingestürzt. In den letzteren verlohnt es sich aber, nachzugraben: man findet steinerne Waffen, Handmühlen, Speisereste und allerhand Scherben darin.

Auch solche Holzhöhlen sind heutzutage noch vielfach in Gebrauch. Wenn z. B. die amerikanischen Pioniere in die unbewohnten Distrikte des Landes kommen, wo sie sich niederzulassen und den Boden urbar zu machen gedenken, so bauen sie sich ein solches Haus. Nur machen sie es etwas besser: sie belegen das Gebäude von außen mit Rasen. Erst wenn die Wohnung fertig ist, beginnen sie, ein ordentliches Blockhaus zu zimmern. Ein solches Urhaus nennt man dort „dug out“ („Ausstich“).

Auf einer meiner Reisen in Polen mußte ich einstmals zu Wagen durch einen großen Wald, in dem eine neue Chaussee gebaut wurde. Es war ein schöner klarer Herbsttag; leise fielen die Blätter. Auf den waldigen Hügeln und Schluchten lag duftiger Sonnenschein. Da sah ich in der Waldeinsamkeit eine Anzahl Rauchwölkchen aus dem Boden aufsteigen. Es waren Steineklopfer, beim Chausseebaue beschäftigt; sie hatten sich sammt und sonders in mit Lehm überschmierten Holzgrubenbauten angesiedelt. – In gleicher Weise hausen bekanntlich noch heute die Bauern in Rumänien und der armenischen Türkei. Eine elende, ur-uralte Art zu existiren! Die Armenier bedecken ihre Grubenbauten gar mit Mist.

Aus diesen Höhlenwohnungen von Erde und Stein oder Holz entstanden durch sorgfältigere Aufschichtung der Wände allmählich die Häuser. Man baut solche noch heute aus allen drei Materialien: aus Lehm werden die Bauernhäuser in Nordthüringen errichtet; aus Holz baut der Schweizer seine Alphütten, der Nordländer seine Häuser, und der Stein findet sich, als beliebtestes Baumaterial, überall. Ich werde diese Frage in einem zweiten Artikel beleuchten.


2. Die ältesten Häuser.


In dem vorigen Artikel haben wir auf die Urzeit der Menschheit einen Blick geworfen und gesehen, wie aus dem Bedürfniß der vorgeschichtlichen Menschen in kalten Gegenden zunächst der Höhlenbau entstand. Diese Höhlen waren bereits aus den drei ursprünglichen Baumaterialien: Holz, Lehm und Stein errichtet, und wir verfolgten ihre Entwicklung bis zu dem Punkte, wo sie in den eigentlichen Hausbau übergehen. Auf diesen wollen wir jetzt einen Blick werfen.

Was zunächst das Lehmhaus betrifft, so entsteht dasselbe aus der erdigen Verkleidung der steinernen oder hölzernen Höhlen. Indem man nämlich den Lehm mit Sorgfalt senkrecht aufschichtet und ihn ordentlich mit Stroh untermengt, erhält man eine zwar unförmlich dicke, aber doch so feste Mauer, daß man des hölzernen Unterbaues entbehren kann. Man macht nun die ursprüngliche Höhlengrube zum Keller, deckt denselben mit Holz und wohnt über der Erde in einem mit Stroh überdeckten Hause.

Diesen Fleiß wendete der Mensch jedoch erst sehr spät an seine Wohnung – er that dies nicht, bevor er den Ackerbau betrieb und als ansässiger Bewohner des ihn ernährenden Bodens sich einer verbesserten Lebensweise erfreuete.

Von dem Triebe beseelt, die Form der Steine in Lehm nachzumachen, um auf diese Weise dünnere und schlankere Lehmwände zu gewinnen, formte man später große Backsteine, welche an der Sonne getrocknet wurden. Um sie gegen das Abbröckeln zu schützen, untermengte man den Lehm auch mit Sand. Je heißer die Sonne brannte, desto fester wurden natürlich die Steine, während der Regen ihnen schadete. Deshalb ersetzte man den Sonnenbrand bald durch das Feuer. Man schichtete die Steine zu einem großen hügelartigen Ofen auf, durch welchen in künstlichen Windungen die Feuercanäle hindurchgingen. Von außen verkleidete man den Bau mit einem „Mantel“ von Lehm. Dann steckte man das Holz, welches alle Feuercanäle reichlich erfüllte, am Eingang des Baues an und vermauerte auch diesen. Binnen vierzehn Tagen brennt so ein Ofen aus; darauf schlägt man den Mantel herunter und nimmt den ganzen, Bau aus einander. Die Ziegel sind nun fester als die an der Sonne getrockneten – sie sind hart gebrannt. Diese Art von Ziegelöfen ist noch jetzt in verschiedenen Gegenden Deutschlands in Gebrauch.

Uralt ist bereits diese vorgeschrittene Ziegelbereitung, und frühzeitig sind die Lehmsteine schon zu großen Palast- und Tempelbauten verwendet worden. Doch finden wir die Ziegel nur bei solchen Völkern, welche entweder schon civilisirt oder doch im Begriffe sind, es zu werden. Bekanntlich wurden schon im grauen Alterthum die Juden in Aegypten und Babylonien zur Ziegelbereitung gezwungen. In beiden Ländern war der Ziegelbau auch für große Bauwerke gebräuchlich; ganz besonders blühte er in Babylonien. Dort wurden sogar die Todten in thönernen Särgen bestattet, welche aus einer wohlgebrannten oberen und einer unteren Hälfte (Sarg und Deckel) bestanden. Nachdem man den Todten zwischen beiden eingeschlossen hatte, verschmierte man die Ritze vorsichtig mit Lehm und setzte das Ganze wiederum dem Feuer aus. Einen solchen Sarg konnte man einfach auf das Feld hinstellen. Die Babylonier thaten dies auch: auf ihren Kirchhöfen lagen die Thonsärge unter freiem Himmel.

Weniger großartig konnte sich das eigentliche Holzhaus entwickeln. Allerdings ist dasselbe noch heute bei einer großen Anzahl [81] von Völkern in Gebrauch: die Bauern in Rußland, Polen und Ostpreußen, die Farmer und Goldgräber in Amerika, wie die Aelpler in der Schweiz wohnen in Häusern von Holz. Allein dieses Material ist nicht zu großen Monumentalbauten geeignet. Zwar giebt es zwei intelligente und hoch civilisirte Nationen, die nicht nur ihre ländlichen und theilweise städtischen Wohnhäuser, sondern auch ihre öffentlichen Gebäude aus Holz errichten; es sind die Norweger und die Japanesen Die ersteren erfanden einen wunderlich-seltsamen, aber nicht üblen hölzernen Kirchenbaustil, während bei den letzteren nicht nur die Tempel und selbst die Brücken in den größten Städten von Holz sind, sondern auch die Fürsten in hölzernen Schlössern wohnen.

Gleichwohl konnte das Holz auf dem Gebiete der Baukunst den Lehmstein natürlich ebenso wenig verdrängen wie den Bruchstein; denn eine Wand von Holz kann an Dauerhaftigkeit und Kühnheit sich der eigentlichen Mauer nicht vergleichen. Diese Holzwände entstanden aus dem Unterbau der Grubenhöhle ebenfalls auf einfache Art. Man wollte hier durch Anwendung dickerer Stämme die äußere Lehmverkleidung unnöthig machen und so suchte man sich, schon mit besseren Instrumenten als jene urmenschlichen Höhlenbewohner bewaffnet, glatte und gerade Stämme aus, fällte sie, schleppte sie zur Baustelle und legte – um eine Wand aufzuschichten – je einen Stamm der Länge nach horizontal auf den anderen, bis die auf diese Weise emporgewachsene Wand hoch genug war. Freilich mußte jeder Stamm einen festen Halt haben, damit er nicht von seinen unteren Nachbarn herunterrollte. Um den Stämmen diesen Halt zu geben, baute man die viereckiger Häuser so, daß die beiden Seitenwände die Vorder- und die Hinterwand gleichermaßen an den Enden durchschnitten, sodaß die Balkenköpfe aller vier Wände über die Ecken hinausragten. Durch einfache Verfugung der Balken wurde dieses Ziel erreicht, und jetzt hielt jede Wand ihre Nachbarwände.

So entstand das Blockhaus. Leicht konnte man in der Vorderwand eine Thür aussparren, leicht den ganzen Bau mit Balken decken. Die eigentlichen Dachsparren wurden indessen schräg ausgerichtet, damit das Wasser ablaufen konnte. Auf diese Art – aus rohen unbehauenen Stämmen – errichtet noch heute der Schweizer seine Alpenscheuer.

Ich kann nicht vom Holzbau scheiden, ohne einer Bauweise der Urmenschen zu gedenken, deren Entdeckung viel Aufsehen gemacht hat – ich meine die Pfahlbauten. (Vergl. voriger Jahrrgang, Seite 614!)

Ein gelehrter Alterthumsforscher, Dr. Ferdinand Keller in Zürich, erhielt einstmals von einem Freunde die Nachricht, daß die in dem Orte Meilen am Züricher See wohnenden Fischer an einem bestimmten Punkte des Sees wiederholt dadurch Aergerniß erfuhren, daß ihnen im Wasser die Netze zerrissen. Man hatte nach der Ursache geforscht und eine Menge eigentümlicher Pfahlstümpfe im Boden des Sees wahrgenommen, zwischen denen wunderliche alte Werkzeuge und Waffen von Stein lagen. Keller begab sich nun selbst nach Meilen und stellte die umfassendsten Nachforschungen an. Man fand Reste schlechter irdener Geschirre, theilweise aufgespaltene Knochen von Thieren, welche heutzutage die Schweiz nicht mehr bewohnen, verkohlte Holzäpfel und Holzbirnen, verkohlte Aehren, rohe Gewebe und Netze u. dergl. m.

Es war klar, man hatte es hier mit den Ueberresten einer menschlichen Ansiedelung zu thun, welche in grauer Vorzeit an dieser Stelle des Sees, und zwar auf Pfählen gestanden haben mußte. Ferdinand Keller hielt die hier im Wasser versunkenen Pfahlbauten zunächst für eine Ansiedelung der alten gallischen Helvetier, welche zu Zeiten der Römer die Schweiz bewohnten bis sie in der Völkerwanderung den gewaltsam eindringenden Alamannen, den Vorfahren der heutigen deutschen Schweizer, weichen mußten. Julius Cäsar hat seiner Zeit diese Helvetier genau kennen gelernt. Während er römischer Statthalter in Genf war, wollte das Volk bereits einmal die Schweiz verlassen, und mit Mühe fing es Cäsar auf seiner Wanderung auf und brachte es in seine alte Heimath zurück. Bei Erzählung dieses Ereignisses erwähnt der römische Feldherr zwar, daß die Helvetier, ehe sie ihr Land verließen, ihre Dörfer und Weiler niedergebrannt hätten, allein mit keinem Worte deutet er an, daß diese Dörfer und Weiler im Wasser auf Pfählen gestanden. Ueberdies wissen wir aus der früheren römischen Geschichte, daß zu Cäsar's Zeit die Gallier erst vor circa zweihundert Jahren in Süddeutschland, der Schweiz und Frankreich eingewandert waren, und wir müssen somit jene Bewohner der „Pfahlbauten“ wohl denjenigen Urmenschen zuzählen, welche schon vor der Einwanderung der jetziger europäischer Nationen den Norden von Europa schwach bevölkert haben.

Diese Pfahlbauten waren, wie es scheint, auf folgende Art eingerichtet. Man rammte nähe beim Ufer in seichtes Wasser roh zugespitzte und am Feuer geschwärzte circa zehnzöllige Pfähle, welche mit leidlicher Regelmäßigkeit in Reihen geordnet wurden. Selbstverständlich machte das Einrammen den Wilden viel Mühe; mit Hülfe ihrer aus ausgehöhlten Baumstämmen bestehenden Kähne konnten sie die Rammarbeit schwerlich bewerkstelligen. Sie bedurften dazu wahrscheinlich kleiner Flöße, und es wird richtig sein, wenn man vermuthet, daß sie mit großen Steinen, welche rings um den Pfahl von zahlreichen Händen emporgehoben wurden, die Balken mühsam in den Grund[WS 2] des Sees trieben. Auf den Spitzen dieser Pfähle wurde nun ein ausgedehnter Rost – vielleicht aus Balken, Flechtwerk und Erde bestehend – angebracht. Denselben verband man mit dem Lande durch eine transportable Brücke, auf dem Roste aber errichtete man Häuser (Blockhäuser?) und an der Seeseite der Niederlassung banden die Leute ihre Kähne fest. So waren sie sicher vor der Kraft wilder Thiere und vor der „schlimmeren der Menschen“.

Man hat diese Pfahlbauten in den meisten Seen und auch in Sümpfen der sogenannten „ebenen Schweiz“ gefunden, und die Funde wiederholen sich zahlreich in den schottischen Seen und in Mecklenburg. Sonderbar genug sind einige der neuesten Ansichten gelehrter Forscher über diese Bauten. Danach sollen sie sehr spät und zwar nach der einen Version von wandernden Steinwaffenfabrikanten gegründet, nach der anderen sogar nur eine Art Schutz des am Ufer liegenden Dorfes gegen feindliche Angriffe vom See her gewesen sein.

Die Unhaltbarkeit beider Ansichten liegt auf der Hand. Wandernde Steinwaffenmacher legen sich keine mühsamen Pfahlbauten an. Auch sieht man nicht ein, wie derartige leichtfüßige Gewerbetreibende zu solchen Anlagen genöthigt worden seien. Um aber eine bestimmte Stelle des Ufers gegen Angriffe zu Wasser zu schützen, war eine Reihe von Pfählen bereits ausreichend. Der wahre Grund der Errichtung von Pfahlbauten läßt sich leicht aus der Thatsache erkennen, daß noch heute von wilden Völkerstämmen in beinahe allen Erdtheilen solche Pfahlbauten errichtet werden und zwar aus Furcht vor Feinden. Manche Stämme bauen sie sogar auf’s Land und umgeben sie mit hölzernen Mauern. Der Feind kann da freilich leichter Feuer anlegen, als wenn man die hölzerne Burg in’s Wasser stellt. Friert um eine Pfahlbaute herum das Wasser zu, so kann man sich durch Aufhacken des Eises gegen Angriffe schützen. Auch ragten die Bauten vermutlich ziemlich hoch über das Wasser empor.

(Schluß folgt.)




Von Dessoir zu Döring.

Eine Skizze aus dem Schauspielerleben.

Du lieber Gott, das war eine traurige Zeit! Als armer Schauspieler hatte ich, dem berühmten Syrakuser Spaziergänger nacheifernd, die Reise von Wien nach Berlin zu Fuß zurückgelegt. Mit Wehmuth gedenke ich des Zustandes, in welchem ich meinen Einzug in die nunmehrige Hauptstadt des deutschen Reiches hielt. Meine beinahe sechswöchentliche Wanderung, verbunden mit Hunger und Noth, mit Uebernachten im Freien und tausend sich täglich erneuernden Sorgen, hatte meinem äußeren Menschen den Stempel größter Dürftigkeit aufgedrückt, und der Contrast einer hochmodernen, enganliegenden Hose (wie man solche in Berlin erst später trug) mit meinem sonstigen Habit forderte selbst den ausgelassenen Spott der lieben Straßenjugend heraus.

Unbekümmert um diese „kleinen Seelen“ verfolgte ich jedoch mein hohes künstlerisches Ziel. Ich mietete mir ein Stübchen. Nun schrieb [82] ich zwei gleichlautende Briefe, den einen an Dessoir, den andern an Döring, in welchen ich meinen unbesiegbaren Drang zur Kunst hervorhob, von meiner Reise sprach und um Hülfe bat. Ich wollte von beiden Meistern, nach vorhergegangener Prüfung, die schriftliche Bestätigung haben, daß ich „talentvoll“ sei, um mit dieser Empfehlung meine Carriere zu beginnen. Jedem der Briefe schloß ich ein kleineres Couvert bei, das, mit einer Freimarke versehen, meine Adresse trug. Ich ersuchte „um gütigen Bescheid, um Bezeichnung einer Stunde, in der ich am wenigsten zur Last falle“, und bat, die Antwort „in das beiliegende Couvert zu stecken“. Zwei lange Tage vergingen. Endlich erschien der Briefträger. Sofort erkannte ich an meiner Adresse meine eigene Schrift. Ich öffnete, fand ein Zettelchen, das die wenigen, für mich aber berauschenden Worte enthielt:

„Besuchen Sie mich morgen zwischen elf bis zwölf Uhr!

Ergebenst Dessoir.“

Wer war glücklicher als ich? Im Hause, wo ich logirte, wohnte auch ein Dr. B., dessen drei erwachsene Söhne studirten. Der älteste, jetzt in Berlin als Arzt thätig, bettelte mir sofort das verheißungsvolle Zettelchen als einen hochinteressanten Beitrag zu seiner Autographensammlung ab. Die Zukunftsdoctoren luden mich nun ein, ihnen in ihren Zimmern etwas vorzudeclamiren; es mußte dasselbe sein, was ich Dessoir vorzutragen gedachte.

Als ich Schiller’s liebeglühenden, schwärmerischen „Mortimer“ zum Besten gab, war meine Zuhörerschaft sofort überzeugt, der morgige Tag werde entscheiden, ich werde mit Hülfe Dessoir’s eine glänzende Carriere machen. Nach einer unruhig verbrachten Nacht erhob ich mich am nächsten Morgen zeitig, unternahm einige Gedächtnißauffrischungen durch Recitirung einiger Scenen aus dem „Don Carlos“; feurig forderte ich ferner „von meinem Vater, daß er mir Etwas zu zerstören gebe, da es heftig in meinen Adern braust, da ich sogar schon dreiundzwanzig Jahre alt sei und noch immer nichts für die Unsterblichkeit gethan habe.“ Aber der alte, wackelige Großvaterstuhl in meinem Zimmer, an den ich meine Worte richtete, blieb kalt und ungerührt, wie die meisten Darsteller des eisigen Philipp bei dem anfängerischen Lallen der unbeholfenen Don Carlosse auf den deutschen Bühnen. Indem ich dem undankbaren Lehnstuhl noch nach vieler Wortverschwendung mitgetheilt, „daß mein Geschäft aus sei“, begab ich mich frisch und fröhlich an die Vollendung meiner Toilette, um mich dann dem berühmten Dessoir vorzustellen.

Am folgenden Tage gegen halb zwölf Uhr stand ich pochenden Herzens vor einem Hausthore auf dem Leipziger Platze. In meiner Todesangst empfahl ich meine Seele Gott, schritt in das Haus, machte eine Wendung links, stolperte einige Stufen aufwärts und zog leise, mit hörbarem Herzklopfen, die Klingel, die zu Dessoir’s im Hofparterre gelegener Wohnung führte. Ein Mädchen ließ mich eintreten, fragte nach meinem Namen und verschwand in einer Thür rechts. Nach einer peinvollen Minute erschien der große Schauspieler aus derselben Thür. Forschend betrachtete er mich eine Secunde. „Sie sind also der junge Mann, der mein Urtheil wünscht?“ begann der anscheinend kranke Dessoir mit leisem, umflortem Tone. Ich verbeugte mich stumm, verlegen zur Erde blickend. „Treten Sie näher!“ ermunterte er mich, da ich noch immer in der Nähe der Thür stand, durch die ich eingetreten war. Meine Befangenheit begann zu schwinden, als ich in das stillernste Antlitz dieses leidenden Mannes schaute. Er ermuthigte mich zum Sprechen, als er meine Verlegenheit bemerkte. Nach einigen Fragen und Antworten, während deren Austausch ich ungefähr in der Mitte des Salons stand, in welchem wir uns befanden, lud mich der ernste Mann ein, an einem breiten Fenster Platz zu nehmen. Ein großes Trittbrett vor demselben gewährte Raum für zwei sich gegenüberstehende Fauteuils.

Nachdem Dessoir sich gesetzt hatte und ich ihm gegenüber Platz genommen, redete er mich, mit verschränkten Armen sich zurücklehnend und mich ruhig betrachtend, also an:

„Ich habe Ihnen blos deshalb geschrieben, daß Sie mich heute besuchen mögen, um Ihnen zu sagen, daß die Erfüllung Ihrer Bitte eine absolute Unmöglichkeit ist. Kein Mensch auf dieser bewohnten Erde kann Ihnen sagen, daß Sie talentvoll sind, kein Mensch, daß Sie nicht talentvoll sind.“

„Aber,“ erlaubte ich mir bescheiden einzuwenden, „sobald Sie mich ‚sprechen‘ gehört, können Sie sich ja über den Grad meiner Begabung ein Urtheil bilden. Gestatten Sie, daß ich Ihnen Etwas vordeclamire!“

„Behalten Sie Platz!“ sagte Dessoir, leise lächelnd, ohne seine Stellung nur irgendwie zu verändern, als ich mein Fauteuil verlassen wollte. „Sie können hier im Zimmer declamiren wie ein Gott und werden auf der Bühne stets ein Stümper bleiben, wenn es Ihnen an Darstellungstalent fehlt. Es ist das Urtheilen eine eigenthümliche Sache. Wenn ich zum Beispiel die Hantirungen, die Tüchtigkeit eines Tischlers zu beurtheilen habe – wo werde ich ihn aufsuchen? In seiner Werkstatt! Umgeben von seinen Geräthen und Werkzeugen, von seinen Hobelspähnen und Materialien, die er be- und verarbeitet, wird er mir durch sich selbst und durch das unter seinen Händen werdende Werk ein anschauliches Bild von seiner Tüchtigkeit geben. Ich werde den Tischler in seinem eigentlichen Elemente zu beobachten haben, und dann erst über ihn und sein Werk urtheilen. Um wie viel mehr ist es einleuchtend, daß ich einen Schauspieler nur da, wo er in seinem eigentlichen Elemente ist, nur auf der Bühne, werde richtig beurtheilen können, da ich überdies sein Werk, seine Darstellung, nicht festhalten, nicht als greifbaren Gegenstand meiner Kritik unterwerfen kann, wie das Erzeugniß des Tischlers. Ich werde ihn, nicht umgeben von all den Erfordernissen der Bühnentäuschung, nur halb verstehen können. Woran soll ich mich also halten, wenn ich mir hier im Zimmer ein Urtheil über Sie bilden soll? Sie können unglücklicher Weise ein herzlich schlechter Rhetoriker sein. Ist es darum schon ausgemacht, daß Sie auch ein recht schlechter Schauspieler werden? Und ist denn das auch nur annähernd etwas ‚Schauspielerisches‘, was Sie mir hier vorsprechen könnten? Sie kennen ja noch gar nichts. Woher sollten Sie das auch, der Sie noch nie auf einer Bühne gestanden! Und wieder muß ich Sie auf den Tischler verweisen. Zuerst war er einige Jahre Lehrling, dann Geselle und später erst Meister. Ihr jungen Leute hingegen denkt mit einem kühnen Sprunge aus dem Privatleben in’s Künstlerthum hinüber zu voltigiren, und ein ehrlicher Mann soll Euch jetzt schon anhören und ansehen, ob Ihr auf der Bühne reussiren werdet. Wer das kann, leistet Unmögliches oder betrügt wissentlich.“

„Aber wenn Sie mich sprechen hörten,“ warf ich ein und fühlte dabei einen unangenehmen Druck auf den Kehlkopf, als wenn ich einen Aerger unterdrückte, „dann könnten Sie mir doch wenigstens sagen, ob meine Mittel ausreichen.“

Und wieder wollte ich aufspringen, um sofort zu beginnen, Dessoir aber hielt mich zurück, seine beiden Hände auf meine Schulten: legend, mich sanft in das Fauteuil drückend.

„Die Mittel! Die Mittel!“ erwiderte er in etwas lebhafterem Tempo, und seine Züge, die bis dahin fast unbeweglich geblieben, bewegten sich leicht und fingen an, jedem seiner nun lauter gesprochenen Worte charakteristische Färbung zu verleihen: „Lieber Herr, wenn alle Diejenigen, welche Mittel haben, auch den dazu erforderlichen Verstand hätten, dieselben auf der Bühne richtig anzuwenden, so hätten wir keinen Mangel an guten Schauspielern. Der Geist muß die Materie zu durchdrängen wissen; er muß das Fehlen der Mittel unsichtbar machen; er muß, mit dem Gemüthe vereint, das Herz des Hörers gefangen nehmen und Diejenigen aus dem Felde schlagen, die nur zum Ohre sprechen.“

Einen Augenblick umgab uns feierliche Stille. Dessoir blickte zum Fenster hinaus. Die mit Nachdruck gesprochenen letzten Worte wirkten mächtig auf mich. Der Meister richtete seine Augen wieder auf mich.

„Und was nützt Ihnen auch eine Vorhersagung,“ fuhr er fort, „die doch nicht eintrifft?“ Dabei stützte er gedankenvoll das Haupt in seine Rechte, die mit ihrem Ellbogen auf dem Fensterkissen ruhte. „Sehen Sie mich an, junger Mann!“ setzte er hinzu. „Als ich mich der Bühne widmete, waren es gerade die Wohlmeinenden, die mir den ehrlichen Rath ertheilten, doch diesem unseligen Berufe zu entsagen, für den ich nun einmal ,gar nichts‘ hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren und strebte mit rastlosem Eifer meinem Ziele zu – und ich bin zufrieden. Andere, die mit mir zugleich ‚angefangen‘, haben mit den glänzendsten Vorhersagungen den Weg zum Ruhme betreten; man prophezeite ihnen goldene Berge; sie sollten phänomenale Erscheinungen am deutschen Kunsthimmel werden – – und heute kommen die vor Jahren Vielgepriesenen zu mir, um ‚Collecte‘ zu machen. Wer will etwas voraussagen!? Die Zeit, lieber Herr, straft uns Lügen.“

[83] Schon vorher hörte ich unruhige Schritte vor der Thür, die zu den anderen Zimmern führte. Jetzt wurde dieselbe leise ein wenig geöffnet ein Frauenkopf wurde sichtbar. „Wir wollen essen, Dessoir,“ sagte die Dame und verschwand nach kurzer bejahender Antwort des Angeredeten. Sobald sich die Thür geöffnet hatten war ich von meinem Platze aufgestanden. Wir verließen das Trittbrett und standen wieder in der Mitte des anheimelnden Salons. Stehend besprachen wir das Weitere schnell. Mit sich steigernder Theilnahme redete der Meister.

Ich sollte, meinte er, durch seine Empfehlung in nächster Zeit auf dem Liebhabertheater „Urania“ auftreten, und nachdem er mich dort werde gesehen haben, wollte er, so weit dies möglich, ein Urtheil abgeben und mir auch sonst behülflich sein. Mit einem warmen Händedruck erwiderte der berühmte Schauspieler meine stammelnde Danksagung, gab mir das Geleite bis zur Thür, die auf den Treppenflur führte, öffnete und schloß dieselbe – und wie aus einem Traume erwachend, fand ich mich vor dem bereits erwähnten Hausthor wieder, die helle Mittagssonne und das frische Grün der Anpflanzungen des Leipziger Platzes freudig begrüßend und tief Athem holend.

Am Nachmittag desselben Tages ließ es mir keine Ruhe, nun auch Meister Döring’s Meinung zu hören. In einem dunkelgrau angestrichenen Hause der Charlottenstraße, gegenüber dem königlichen Schauspielhause, befand sich damals des Altmeisters Wohnung. Bald hatte ich die Treppen erklommen und läutete. Eine Dame öffnete, fragte nach meinem Namen und meinem Begehren, ersuchte mich zu warten, schloß die Thür und überließ mich eine Minute lang auf dem Corridor meinen Gedanken. Bald öffnete die Dame wieder und forderte mich auf, ihr zu folgen. Ein dunkler, länglicher Gang führte zu zwei hellen Zimmern, von denen das zweite anscheinend das Arbeitszimmer des großen Mimen war; denn geschäftig kam er nur aus demselben entgegen, eine Feder in der Hand, in langem grauem Schlafrock, sonst aber sorgfältig frisirt und völlig toilettirt.

„Sie sehen, wie viel ich zu thun habe,“ sagte der lebhafte Herr, mich mit seinen leuchtenden Augen musternd. „Ich konnte Ihnen nicht schreiben, habe zu viel der Arbeitslast. Auch wußte ich, daß Sie ohnedies kommen würden. Da! Nehmen Sie vor Allem Ihr Dings da zurück!

Und dabei überreichte er mir, es mit dem Daumen und Zeigefinger von der Oberfläche seines Schreibsecretärs nehmend, das kleine Couvert, das mit meiner Adresse versehen war.

„Kostet ja Geld, das Zeugs! Die Marke können Sie noch mal benutzen. Stecken Sie’s ein! So! Und nun, was soll ich für Sie thun? Was thu’ ich mit dem Declamiren“ fuhr er fort, als er meinen Wunsch hörte, ihm Etwas Vorsprechen zu dürfen. „Wenn Sie reden können, können Sie noch lange keine Komödie spielen; es ist zweierlei reden und spielen. – Und wie stehen Sie da!“ eiferte er in komischer Hast weiter; „wenn Sie zum Theater gehen wollen, dürfen Sie nicht so bucklig dastehen. Ist das ’ne Haltung! Sehen Sie mich an!“ rief er, sich kerzengerade dicht an meine rechte Seite stehend, „ich bin ein alter, Sie sind ein junger Mensch. Nun sehen Sie selbst! Sie sind ja jetzt schon hin. Wo wollen Sie die Kraft zu den Strapazen der Komödie hernehmen? Glauben Sie, das ist so leicht? Da! Sehen Sie her! Das Repertoire! Vorgestern hatt’ ich zu thun, gestern, heute, morgen. Das greift an. Sie sind ja nur so ein schwächliches Männchen – keine Figur! Kein Mark! Gehen ja zu Grunde, bevor Sie was geworden.“

Dabei wandte er sich schnell, nahm vom Schreibtisch eine goldene Dose und führte seiner scharfgeschnittenen Charakternase eine gehörige Prise zu. Ich wagte auf meine Entbehrungen während der langen Fußreise hinzudeuten und hinzuzufügen, daß ich mich gegenwärtig beinahe krank fühle.

Des Meisters Züge veränderten sich zusehends, seine angenommene Strenge wich dem Mitgefühl.

„Nun ja! Will’s glauben!“ sagte er mit einigermaßen gerührtem Tone. „Aber ich kann Ihnen keine Empfehlung geben, wenn ich keine Komödie von Ihnen gesehen,“ setzte er strenger hinzu „Auf die Rhetorik allein geb’ ich nichts,“ vollendete er, mit einer kurzen Bewegung sich wieder umwendend und die Dose mit hörbarem Schlag aus ihren früheren Platz stellend.

Zögernd theilte ich nun dem Altmeister den Plan mit, daß ich in der „Urania“ auftreten möchte. Unrühig hörte er zu.

„Also sind wir fertig,“ begann er plötzlich. „Bevor Sie auftreten, sagen Sie’s mir! Ich komme hin und wenn ich sehe, daß Sie ’was taugen, bin ich immer für Sie da. Dann läßt sich weiter reden – jetzt ist jeder Ton zu viel.“ Und als ob er mich hinauscomplimentiren wollte, ergriff der bewegliche Mann wieder die Feder, mit der Linken hastig einige Papiere auf dem Schreibtische ordnend. Ich empfahl mich also; rasch folgte mir der Meister. „Abgemacht! Ich komme,“ rief er mir noch nach, sich wieder in sein Arbeitszimmer begebend. Im dunklen Gange schien die Dame von vorhin auf Beendigung meiner Audienz schon gewartet zu haben; sie öffnete mir zuvorkommend die Corridorthür und nahm noch von meinen letzten Verlegenheitsbücklingen nachsichtig Notiz. Wie ich später erfuhr, war diese gewissenhafte Pförtnerin Döring’s Schwägerin.

Ich habe die Bühne der „Urania“ nie betreten, da ich in Berlin keine Subsistenzmittel erlangen konnte. Ich fing mit „Chor und kleinen Rollen“ in der Provinz an und arbeitete mich nach und nach aus eigener Kraft empor.

Dessoir sah ich nur noch einmal, und zwar bei Gelegenheit eines Gastspiels in Meiningen, als er zum Geburtstage des kunstsinnigen Herzogs im Winter 1869 den Brutus in „Julius Cäsar“ darstellte. Ich war dort für kleine komische Rollen engagirt, und hatte nicht den Muth, mich dem sinnigen Dessoir in Erinnerung zu bringen. Ich wollte mir diese Freude für spätere Jahre aufsparen. Leider starb Dessoir, ehe ich wieder nach Berlin kam.

Altmeister Döring hatte ich noch oft das Glück zu sehen. Oft, wenn ich ihn in der bekannten Berliner Weinstube bei Lutter und Wegener begrüßte, fixirte er mich scharf; denn trotz der Veränderung, welche die letzten zehn Jahre an mir vollzogen, schien ihm doch mein Gesicht bekannt vorzukommen. Ihn abermals zu sprechen hatte ich nie Gelegenheit. Heute ruhen diese beiden Zierden der deutschen Bühne in kalter Erde eingebettet; sie weilen vereint in jenen Regionen, in denen es nun einmal kein Rollenmonopol giebt.

A. H.




Salviati, der Glaskünstler von Venedig.

Wie mit dem wachsenden Wohlstand eines Volkes die Lust am Schönen allmählich erwacht, so schläft sie auch mit der Verarmung wieder ein, und mit dem Stern der alten glänzenden Republik Venedig mußten auch seine glorreichen Künste und Kunstindustrien verbleichen und untergehen. Die Kunstfertigkeit vererbte sich wohl als köstliches Gut auf spätere Geschlechter, doch es gebrach an ebenbürtigen Nachkommen jener großen Kaufherren, welche die Aecker der Künste mit Gold düngen konnten.

Für die alten Meister der venetianischen Bildermosaik, die so große Werke hinterlassen, war mit dem letzten Palastbau auch die Existenz unmöglich geworden. Sie starben aus und nahmen die technischen Geheimnisse, die Mischung und Färbung ihrer Glaspasten mit in’s Grab, und nicht viel besser erging es den hochberühmten Glasbläsern aus Murano, jener „Glasinsel“ bei Venedig. Ihre ausgedehnten kunstgewerblichen Anlagen waren zusammengeschmolzen bis auf einige kümmerliche Glashütten, und von den edlen altvenetianischen Formen, die sich mit unwiderstehlicher Anmuth in jedes Auge schmeicheln, hatten sich nur noch geringe Spuren erhalten; das Bedürfniß forderte größere Materialfülle, vor Allem einen billigen Markt, und drückte damit das herrliche Kunstgewerbe zum Handwerk herab. Aber auch als solches konnte es nur eine beklagenswerthe Existenz fristen; die überaus betriebsamen böhmischen und englischen Glasindustrien verdrängten mit leichter Mühe die Glashändler aus Murano von den Märkten ihres Vaterlandes. Die Folge davon war Armuth und Hunger unter den 12,000 Seelen der einst so lebensfrohen Insel.

Ein „großer Laie“ sollte als Erlöser dieser Bedrängten als Wiederbeleber dieser verlorenen Künste auferstehen

Dr. Salviati, in Vicenza geboren, studirte in Padua die Rechte und erfreute sich schon seit zwanzig langen Jahren einer ausgedehnten

[84]

Zur Untersuchung.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Eduard Schulz-Briesen.

[85] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [86] advocatischen Praxis in der Stadt Venedig. Da fiel ihm eines Tages ein Roman der George Sand „Les maîtres mosaïstes“ in die Hand, der von den alten glanzvollen Tagen jener venetianischen Werkstätten der Bildermosaik erzählt, und diese Anregung sollte von ungemeiner Tragweite werden.

Bekanntlich sind die fünf Kuppeln der Marcus-Kirche im Innern mit großartigen Mosaikbildern auf Goldgrund geschmückt.

An sich sind diese Bilder fast unzerstörbar, aber der märchenhafte Bau ist leider nur auf Rost gegründet; sein Flötz gleicht heute einem wogenden Meere, und natürlich haben sich die Gewölbe erst recht gesenkt, wodurch Theile der Mosaiken ausgebröckelt sind. Schon unter den Oesterreichern war die Reparatur angeregt worden, es hatte sich aber keine Hand gefunden, die das Wagniß unternommen.

Um 1859, als Salviati den erwähnten Sand’schen Roman gelesen, erhoben sich die Klagen über den Verfall auf’s Neue, und in der Ueberzeugung, daß auch die Kunstfertigkeit erblich sei, durchblätterte er die goldenen Bücher der alten Republik, in welche man einst, die besten Meister eingetragen. Er hielt Umfrage in Venedig und auf Murano und hatte die Freude, Nachkommen von zwei berühmten Familien, Namens Radi und Bonviero, aufzufinden, die noch immer der Glasbranche angehörten. Salviati schloß sich mit ihnen in die „schwarze Küche“ ein, und das Experimentiren begann. Es galt zunächst die Mischungen, die Farbengeheimnisse der Glaspasten wieder zu entschleiern.

Der Grundstoff dieser Pasten, aus denen die Würfel der Mosaikbilder geschnitten sind, ist stets das Glas, die Farbengebung aber erschöpft so ziemlich die ganze Hexenküche der Chemie, und vor der fabelhaften Menge der jetzt erfundenen Tönungen möchte Einem der Verstand still stehn. Man sieht in den Salviati’schen Niederlagen die sieben Regenbogenfarben in 22,000 Nüancen zerlegt, und die Fleischfarben, die vom Leichengrau bis zur Wangenblüthe einer spanischen Madonna hinüberspielen, beanspruchen allein 200 Fächer.

Schwere Irrwege sind dem chemisch experimentirenden Juristen selbstredend nicht erspart geblieben, aber der Laie hat wieder den Vortheil, daß er im Hergebrachten nicht befangen ist, er stößt leichter auf Neues und Originelles, wie es ja im Allgemeinen die Geschichte der Erfindungen bestätigt. Die Goldpaste, die fast immer den schimmernden Hintergrund darstellt, sollte nach dem Urtheil der Fachleute besonders schwer nachzubilden sein. Salviati löste das Räthsel auf die einfachste Weise. Er legte Goldplättchen auf eine Glasplatte, deckte diese mit einem sehr dünnen Glasplättchen zu und verschmolz die drei Körper zu einem, aber mit dem Silber hat dieses Experiment nicht gelingen wollen, und die Silberpaste ist noch nicht erfunden.

Wenige Jahre nach Beginn der Arbeit konnte die Akademie der schönen Künste in Venedig in einem Erlaß an Salviati erklären, daß er die Alten in Farbenschmelz, Leben und Wärme erreicht, ja zum Theil übertroffen, und daß er die Nüancen um mehr als das Doppelte bereichert habe.

So war das rohe Material geschaffen, aus welchem nun die schimmernden Kunstwerke hergestellt werden konnten. Aber das Zusammensetzen der Bilder bot ungeahnte Schwierigkeiten. Die alten Meister hatten die nachzubildenden Cartons neben sich und setzten Würfel um Würfel direct in die Wand ein, die das Bildwerk schmücken sollte; es war das eine Art Handzeichnen nach Vorlagen, ein freies Copiren mit farbigen Steinen statt mit dem Pinsel. Dieses Verfahren beanspruchte wirkliche Künstler mit eminenter Uebung, und diese lassen sich nicht aus der Erde stampfen, auch in Italien nicht, wo die Kunst im Blute liegen soll.

In seiner Noth erfand Salviati eine Methode, die unendliche Vorzüge vor der alten hat; sie garantirt die genaueste Nachbildung des Originals, da die Arbeit nicht an Ort und Stelle auf schwankendem Gerüste zu geschehen braucht, erfordert nur technische Fertigkeit, ist viel billiger und ermöglicht dadurch dem schönen Kunstgewerbe eine größere Popularität; auch der unnatürliche Umstand ist gefallen, daß der Reproducent fast ein größerer Künstler, sein mußte, als der Maler, der die Vorlage geschaffen.

Der moderne Mosaikarbeiter legt den Carton flach auf eine Tafel mit dem Bilde nach oben. Mit scharfem Hammer auf scharfkantigem Ambos zerschneidet er nun die eierkuchenförmigen Glaspasten in kleine Würfel von der Größe eines Cubikcentimeters und umgiebt sich mit den Tausenden von Nüancen, die auf dem Carton vorkommen. Jetzt reiht er Würfel an Würfel und deckt jede Stelle des Bildes genau mit der betreffenden Farbe; ist es völlig mit Würfeln überdeckt, dann gießt er eine feine Cementmasse von großer Bindekraft darüber aus, welche in die engen Zwischenräume eindringt und das Mosaikgefüge zu einem Körper zusammenkittet.

Ein flacher Zinkkasten nimmt das Bildwerk auf; man wäscht den Carton herunter und das Bild selber tritt, festgehalten in einem unvergänglichen Stoff, mit größerer Wärme als das Original dem Beschauer entgegen.

Der lebendige, echt künstlerische Effect dieser Mosaiken und ihre Dauer und Unverwüstlichkeit haben ihnen schnell die Anerkennung der Welt verschafft. Noch hat dieses Kunstgewerbe kaum seine zwanzigjährige Auferstehungsfeier hinter sich und schon prangen Werke davon an vielen der größten öffentlichen Gebäude der civilisirten Welt. Genannt seien hier die neue Oper zu Paris, das Parlamentsgebäude zu Washington, das Kensington-Museum, die Windsorcapelle, die Kathedralen zu Aachen und Torcello, die Berliner Siegessäule, die Rotunde der Wiener Weltausstellung. Privatpaläste mit neuvenetianischen Mosaiken sind zu finden in Paris, London, Berlin, Wien, Petersburg, Rom, Alexandrien, Cairo und in den Riesenstädten der neuen Welt.

Der überraschende Erfolg brachte Salviati 1862 auf den glücklichen Gedanken, auch die Glasbläsereien auf Murano in ihrer künstlerischen Hoheit wieder von den Todten auferstehen zu lassen, und so fahndete er vor Allem in Schlössern, Kirchen, Museen, Trödelbuden etc. auf classische und altvenetianische Muster. Die erste Bedingung war, die Augen der Glasbläser wieder an schöne Formen zu gewöhnen; die Kunstfertigkeit mußte sich dann von selbst wiederfinden – so rechnete Salviati. Die Glasmasse selber hatte sich in den Jahrhunderten nicht geändert; sie war noch immer so zähflüssig, harzartig und äußerst bildsam in glühendem Zustande, wie sie es zur Zeit des Dogen Dandolo gewesen.

Es ist hier zu bemerken, daß die venetianische Glasindustrie völlig anders geartet ist, als die böhmische und englische; das Glasschleifen, mit welchem in Böhmen und England die Hauptdecoration der Glaswaaren hergestellt wird, ist auf Murano unbekannt, auch das Glasmalen und Vergolden kennt man dort nicht. Der venetianische Glasbläser modellirt sein Stück in feuerflüssigem Zustande völlig aus, und nach dem Erkalten hat er nichts mehr damit zu schaffen. Die Farben trägt er niemals auf; er verschmilzt sie stets mit der Glasmasse und muß die schwierigsten Stücke in wenigen Minuten gebildet haben; jede Secunde ist kostbar; die Glasmasse würde sonst spröde werden, wenn man sie zu lange dem Kühlofen vorenthält. Ferner muß er sein Augenmaß und seine Hand zu einer maschinellen Präcision heranbilden. Es ist nicht sonderlich schwer, ein Dutzend Kelche von gleicher Höhe und gleichem Durchmesser nach dem Augenmaß herzustellen, aber die zarten geschwungenen Linien gleichmäßig und schnell hervorzubringen, dazu bedarf es neben dem Kunstinstinct einer außerordentlichen Fertigkeit.

Böhmen und England wählen für ihr Krystallglas entschiedene Färbungen. Diese verträgt das venetianische Glas gar nicht; denn seine papierene Leichtigkeit, seine Zartheit und Eleganz erfordert auch größeren Duft in den Farbentönen; Form und Farbe wollen vermählt sein, wie Form und Seele in der Dichtkunst. Jeder Glasofen auf Murano steht inmitten eines förmlichen Laboratoriums. Die Farbenästhetik ist hier eine tadellose, und man ist betroffen über diese unerschöpfliche gläserne Blüthenpracht, wenn man die Salviati’schen Lager im Palazzo Swift durchschreitet. Unendlicher Prunk und doch so wohlthuend! Ueberall leuchtet es, aber nirgends schreit es, und selbst das Rubinglas, das dem Goldzusatze eine seltene Brillanz verdankt, schimmert in abgemilderter Gluth. Einzelne Nüancen haben freilich unendliche Experimente veranlaßt, so das Opalglas der alten Venetianer, das nur dann geschätzt wird, wenn es mit einem Schein – nein, das ist zu viel gesagt – mit einer Ahnung in’s Roth hinüberspielt. Natürlich muß auch die Stärke des Glases genau abgemessen sein, denn sie regulirt die Lichtwirkung, die Seele der Farbe, die uns oft mit völlig fremden selbst der Blume nicht eigenen Zaubern überrascht.

In der Formengebung schießt Salviati dann und wann noch über das Ziel hinaus. Besonders macht sich in einigen Trinkglasformen unseres Meisters eine gewisse Hyperdelicatesse bemerkbar – die Zerbrechlichkeit wird zum Gebrechen; man fühlt sich beunruhigt in [87] der Nähe eines so überempfindlichen Gegenstandes, und auch die prunkenden gläsernen Kronleuchter sind häufig mit Blumen- und Blätterwerk überladen, wie ein deutsches Dorfwirthshaus zur Kirchweih. Ein sehr unbehaglicher Zimmerschmuck sind die venetianischen Spiegel, die jetzt, nebenbei gesagt, aus Belgien kommen und auf Murano nur mit Blättern und Blumen umkränzt werden. Der Gedanke an das arme Stubenmädchen, das diesen Plunder rein halten soll, will Einen nicht verlassen, und man sieht schon im Geiste, wie das Wischtuch hängen bleiben und der ganze stachlige Plunder auf das Parquet niederprasseln wird.

Das Modelliren selbst läßt sich schwer beschreiben. Der Arbeiter taucht sein eisernes Blasrohr in die feuerflüssige Masse; er wickelt ein zähes Klümpchen auf und mit ein wenig Athem und einigen Handgriffen hat er ein allerliebstes Seepferdchen geschaffen, einen Kelch ausgeformt und gemeistert, eine Filigranglasarbeit scheinbar geflochten oder eine Cotillonspielerei hergestellt. Größere Stücke müssen im hellen Feuer immer wieder neu erwärmt werden, was minutiöse Aufmerksamkeit erfordert, wenn die bereits gegebene Form nicht wieder verloren sein soll.

Technisch interessant ist die Herstellung des sogenannten Flechtglases. Ein scheinbar geflochtener Teller wird auf folgende Weise gemacht. Auf einer Gypsplatte liegen eine Anzahl gleichlange bunte Glasstäbchen, die man einen Augenblick dem Feuer nähert und an den Enden leicht verschmilzt. Ein Arbeiter hebt indeß am Blasrohr einen Glasballon aus dem Ofen; durch Drehungen des Rohres formt dieser sich rund; der Arbeiter rollt ihn über die Gypsplatten hin und wickelt die Stäbchen damit auf. Jetzt sieht das Ding aus wie ein Becher aus Glasstäbchen. Durch scharfes Drehen und weiteres Erhitzen erweichen sich die Stäbchen und schmiegen und biegen sich zu eleganten Windungen. Ein anderer Arbeiter hat indessen eine gleiche Anzahl Stäbchen in derselben Weise bearbeitet; nur ziehen sich die Windungen in entgegengesetzter Richtung hin. Man drückt nunmehr die beiden angelförmigen, halbflüssigen Gebilde in einander und formt nun unter weiteren Drehungen am Rohr, das hier eigentlich nur die Handhabe darstellt, den Teller völlig aus. Die Stäbchen bilden jetzt ein Geflecht, dessen gewundene Linien sich mit mathematischer Genauigkeit kreuzen. Frappant ist es auch, wenn man im Augenblick aus einer Handvoll elender Glasscherben und einigen Erden und Farben die prächtigsten Achate und Malachite entstehen sieht. Auf Murano werden so ziemlich alle Edel- und Halbedelsteine der Welt nachgebildet. Sympathien freilich kann dieser Theil der Industrie nicht erwecken. Die pfiffigen Araber sind die Besteller, und sie pflegen mit den Fälschungen die naiven Negervölker des Sudan über’s Ohr zu hauen.

Am schwersten fiel dem wackeren Doctor juris die geschäftliche Fundirung der jungen Kunstindustrie; denn Salviati ist kein Kaufmann, und das ist vielleicht gut. Hätte er kaufmännisch gerechnet, so würde ihm wahrscheinlich sein Unternehmen sehr bald zum Schaden des Ganzen als thörichtes Unterfangen erschienen sein. Er rechnete aber gar nicht; er experimentirte nur, und so kam es, daß er 1866 sein ansehnliches Vermögen „vergläsert“ hatte. John Bull, dem das Geld ja zu den Hosentaschen herauskollert, vernahm seinen Hülferuf etwa mit der vergnügten Miene, mit der ein Geldverleiher einen jungen reichen Cavalier anhört, der in momentane Finanznoth gerathen. In aller Eile bildete sich eine englisch-venetianische Glas- und Mosaikindustriegesellschaft, und Salviati wurde ihr technischer Director. Mit englischer Energie bemächtigten sich die kaufmännischen Leiter des Weltmarktes, was zweifellos für das arme geschäftlich unbeholfene Murano ein großer Segen gewesen ist. Salviati aber, der Erfinder, sah die enormsten Früchte seines persönlichen Talentes und seiner Opfer in Form von Ueberschüssen nach England wandern. Es kam zu Mißhelligkeiten, und der technische Director trat aus, gründete 1877 wieder ein eigenes Geschäft und eröffnete in fast allen europäischen Hauptstädten Niederlagen. Mit Freuden wendeten sich nun eine Anzahl aller Arbeiter ihrem Herrn und Meister wieder zu, mit dem sie schon früher Leid und Freud getheilt und getragen. Eine namhafte Zahl Arbeiter machte sich ebenfalls selbstständig, und Murano ist wieder das alte arbeitsame und lebensfrohe Murano geworden und das ist wohl das Schönste an der Sache.

Ein kleines Ereigniß, das sich während der jüngsten Pariser Weltausstellung zutrug, gewährt einen Blick in die Seele des rastlosen Mannes, wie er an nichts denkt, als an seine Kunst. Salviati zeigt der anwesenden Königin von England ein größeres Mosaikbildwerk aus seinen Werkstätten. Sei es nun, daß ihn die Königin nicht wohl verstanden, oder daß sie sich nicht sonderlich geschickt anstellt in der Betrachtung des Werkes - Salviati sieht sich veranlaßt, sie wiederholt und dringender zu bitten, daß sie sich besser placire. Es bleibt ohne Erfolg. Da ergreift der Glaskünstler von Venedig die Beherrscherin der halben Welt bei der Hand, dirigirt sie an den gewünschten Platz und will sich eben darüber machen, auch ihrem Kopfe eine entsprechende Richtung zu geben, als die erschreckten Höflinge zur Abwehr herbeieilen. Die Königin aber lächelt und weist sie zurück mit den Worten: „Sein Eifer ist gut, meine Herren.“

An Auszeichnungen hat es dem Manne nicht gefehlt. Wann auch er einmal im schwarzen Trauerschiffe hinüber nach der Kirchhofinsel San Michele gerudert werden wird, dann kann man für seine Orden nur gleich eine Gondel besonders ausrüsten und seine Gruft wird man mit Medaillen pflastern und mit Diplomen austapeziren können.

Um so bemerkenswerther sind seine eigenen Worte: „Diese Ehren erfreuen mich, aber daß ich den Verlassenen auf Murano die alte Kunst und neues Brod wiedergeben konnte, das beglückt mich.“ Ich weiß den Lesern am Schlusse nichts Besseres zuzurufen, als was die Königin von England ihrer Umgebung zurief: „Sein Eifer ist gut, meine Herren.“

Th. Gampe.




Blätter und Blüthen.


Der Geschichtsunterricht für Frauen und Mädchen.[1] Wenn man die Prospecte, Programme, Stundenpläne so mancher unserer weiblichen Erziehungsanstalten, „Höheren Töchterschulen“, Cyclen für Frauen und Mädchen etc. ansieht, so sollte man meinen, die dort gebildeten jungen Damen müßten förmliche kleine Geschichtsprofessoren werden, müßten in Rom und Athen, ja, in Babylon und Indien ebenso zu Hause sein wie in Deutschland, in den ältesten und urältesten Zeiten ebenso gut wie in der Gegenwart. Wer freilich Gelegenheit hat, genau zu verfolgen was selbst von dem Geschichtsunterricht auf höheren Schulen für die männliche Jugend bei einem großen Theil der Zöglinge zu bleibendem Gewinne für’s Leben aufbewahrt wird, wie viel dagegen gänzlich aus dem Gedächtniß schwindet oder nur in verschwommenen Umrissen hin- und herflattert, wer dies beobachtet hat, der wird zu jenen Prospecten, Programme, Lehrplänen, ja auch zu den Jahresprüfungen solcher Anstalten mit ihren oft so brillanten Resultaten doch nur ungläubig den Kopf schütteln, und die armen Mädchen beklagen, in deren Köpfe so viel hinein gepfropft wird, lediglich um wieder daraus zu entschlüpfen oder sich zu verflüchtigen.

„Die Geschichte der vielen Völkerschaften des Alterthums, des Mittelalters, der Neuzeit“ – so spricht sich ein Fachkundiger, der Culturhistoriker Prof. K. Biedermann, in der neuen Auflage seines „Frauenbrevier, culturgeschichtliche Vorlesungen für Frauen“, über dieses wichtige Thema aus – „diese Geschichte mit ihrer unendlichen Menge von Namen und Daten, von Kriegen und Schlachten, von Friedensschlüssen und Verträgen, von Königen, Feldherren und Staatsmännern, von Revolutionen oder Reformen ihrer inneren Zustände etc. – diese ganze ungeheure Masse geschichtlichen Stoffes in sich aufzunehmen, zu verarbeiten und in klarem, wohlgeordnetem Bilde festzuhalten, ist selbst von den Männern, soweit es nicht zu ihrem Berufe gehört, nur wenigen möglich, geschweige denn Frauen und Mädchen. Nur durch die strengste Beschränkung auf das Allerwichtigste und damit zugleich auf dasjenige Maß des Erfassens und Verarbeitens, welches allein von Frauen und Mädchen erwartet werden darf, kann möglicher Weise erreicht werden, daß das Mitgetheilte zu bleibendem Nutzen aufbewahrt werde.“

„Unserem Herzensinteresse“, fährt Biedermannn fort, „und somit auch unserer thätigen Antheilnahme steht jedenfalls die Neuzeit näher, als eine weit abliegende Vergangenheit, das Vaterland näher, als das Ausland. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht vom allgemein menschlichen Standpunkte aus – und dieser ist in der Regel vorzugsweise [88] derjenige der Frauen – manche Vorgänge und manche hervorragende Persönlichkeiten der alten oder mittelalterlichen Geschichte ebenso warme und lebhafte Sympathien einflößen können, wie solche der neueren Zeiten. Glücklicher Weise kommt, wenn es gilt, aus der älteren Geschichte dasjenige auszuwählen, was auch von Frauen erfaßt und aufbewahrt zu werden verdient, der Wissenschaft die Kunst zu Hülfe, die bildende wie die Dichtkunst. Ihr erhabener Beruf ist es ja, aus allen Zeiten dasjenige durch ihre verklärenden Schilderungen herauszuheben und zu verewigen, was mehr als eine blos zeitliche, vorübergehende, was eine bleibende, weil allgemein menschliche Bedeutung hat. Wenn sie daher aus der früheren Geschichte (soweit es nicht die unseres eigenen Vaterlandes ist) vorzugsweise das zu bleibendem Besitz sich anzueignen suchen, was Gegenstand entweder der bildenden oder der Dichtkunst geworden ist, so werden sie im Ganzen nicht irre gehen.“

Vor nun fünfundzwanzig Jahren veranstalteten zwei Leipziger Gelehrte, der verewigte getreue Mitarbeiter der „Gartenlaube“, Professor Bock und Professor K. Biedermann, gemeinsam einen Cyclus von Vorlesungen für Frauen und Mädchen – damals noch etwas ganz Neues. Bock sprach über Diätetik und Körperpflege, besonders auch der Kinder, Biedermann über Frauenbildung und was dazu gehört. Der Inhalt dieser damals vor nahezu dreihundert Frauen und Mädchen gehaltenen Vorträge findet sich theilweise aufbewahrt in dem bekannten, vielverbreiteten Buche von Bock „Das Buch vom gesunden und kranken Menschen“ (Leipzig, Ernst Keil) und in dem von Biedermann herausgegebenen „Frauenbrevier“ (Leipzig, J. J. Weber). Ersteres ist seitdem oftmals wieder aufgelegt worden, letzteres war gleichfalls rasch vergriffen, allein der Verfasser, mit andern Arbeiten beschäftigt, fand lange keine Zeit zu der nöthigen Umarbeitung.

Jetzt ist eine neue Auflage des „Frauenbrevier“ erschienen, und zwar eine wesentlich veränderte und verbesserte. Insbesondere hat der Verfasser gewisse Materien, welche gebildeten Frauen und Mädchen nicht ganz fremd bleiben dürfen und deren Verständniß gleichwohl für solche nicht ganz leicht ist, z. B. die sociale Frage und Aehnliches, in zweckentsprechender Weise behandelt. Neu ist insbesondere darin auch die Behandlung der Geschichte. Biedermann hat aus der alten und neuen Geschichte Das herausgehoben, was gebildeten Frauen nicht unbekannt sein sollte, was sie aber auch recht wohl fassen und behalten können, wenn sie übrigens mit dem Ballast von Namen und Zahlen verschont werden, womit man nur zu oft in Mädcheninstituten und sonst die jungen Köpfe überfüllt, ohne daß viel davon haften bleibt. Ferner ist, was hier aus der Geschichte hervorgehoben wird, so weit möglich, mit bildlichen oder dichterischen Darstellungen solcher Geschichtsstoffe dergestalt in Verbindung gebracht, daß Bild oder Dichtung dem Geschichtsstoffe, und umgekehrt dieser jenem zur Erläuterung und gleichsam Führung dient.




Ein Denkmal für Friedrich Rückert in seiner Geburtsstadt. Aus Schweinfurt geht uns folgender Aufruf zu:

„In wenigen Jahren (1888) vollendet sich ein Jahrhundert, seit dem deutschen Volke einer seiner begabtesten Dichter, Friedrich Rückert, geboren wurde.

Noch ein Kind des alten Reiches, dessen schmachvolle Auflösung er mit durchlebte, trat er als ein deutscher Tyrtäus für des Vaterlandes Freiheit ein und zeichnete in seinen geharnischten Sonetten die Bahnen, in welchen nunmehr die deutsche Nation zu Ehre und Größe gelangt ist. Aber Friedrich Rückert ist auch ein Sänger der echten deutschen Liebe, ein Lehrer der Weisheit, wie ihn wenige Völker aufzuweisen haben: sein Liebesfrühling ist ein Muster deutscher Lyrik, wie seine Weisheit des Brahmanen ein Meisterwerk der didaktischen Poesie. Als Gelehrter endlich hat Rückert den Geist orientalischer Sprachen in vollendeter Formengewandtheit unserm deutschen Sprachgeiste zu vermählen gewußt. So ist es eine Ehrenpflicht der deutschen Nation, diesem ihrem ruhmgekrönten Sohne als Liebes- und Dankesopfer ein würdiges Denkmal zu errichten.

Wenn wir als den Standort desselben des Dichters Geburtsstadt Schweinfurt am Main vorschlagen, leitet uns nicht nur der Gedanke, daß zwischen dem Genius des Menschen und der Stätte seiner Geburt ein innerer Zusammenhang besteht, sondern wir haben auch urkundliche Zeugnisse aufzuweisen, wie tief Rückert den geistigen Bezug seiner Heimath zu seinem Dichtergeiste fühlte und wie er sich freute, ihr immer verbunden zu bleiben. Er pries in schönem Liede ‚Berg und Strom‘ in der Umgebung seiner Vaterstadt, und als die Stadt Schweinfurt ihm das Ehrenbürgerrecht ertheilte, schrieb er in seinen Dankesworten:

 ‚Von allen Ehren mir am meisten werth
Ist die, womit die Vaterstadt mich ehrt.‘

So richten wir an die Deutschen aller Stämme die Bitte: All Ihr Männer und Jünglinge, die Ihr je durch des Dichters Gesänge begeistert und erhoben wurdet, all Ihr Frauen und Jungfrauen, deren Herzen je durch seine Lieder entzückt und gerührt wurden, vereinigt Euch im Geben, legt durch reiche Spenden ein Zeugniß ab von Eurer Verehrung und Dankbarkeit und schafft in edlem Wetteifer der Liebe ein würdiges Denkmal für Friedrich Rückert!

Berthold Auerbach (Berlin). Dr. E. Beyer (Stuttgart). Felix Dahn (Königsberg in Pr.). Freiherr v. Dingelstedt (Wien). Georg Ebers (Leipzig). J. G. Fischer (Stuttgart). Dr. Gustav Freytag (Siebleben bei Gotha). Emanuel Geibel (Lübeck). Dr. Gerok (Stuttgart). Dr. Paul Heyse (München). Dr. Fr. Hofmann (Leipzig). Laube (Wien). Dr. Hermann Lingg (München). Dr. Oscar Freiherr v. Redwitz (Meran). Dr. W. H. Riehl (München). Emil Rittershaus (Barmen). Otto Roquette (Darmstadt). Dr. J. Victor v. Scheffel (Radolfzell). Professor J. Schrott (München). Albert Traeger (Nordhausen), Dr. Ernst Ziel (Leipzig).

Zur Ausführung eines solchen Denkmals für Friedrich Rückert hat sich an des Dichters Geburtsorte, wo dasselbe unter werkthätiger Mithülfe der Bürgerschaft seiner Geburtsstadt aufgestellt werden soll, ein Comité gebildet. Geldsendungen und Zuschriften bitten wir an dasselbe zu Händen des mitunterzeichneten Bürgermeisters Karl v. Schultes in Schweinfurt zu richten.

Schweinfurt im October 1880.

Das Comité für dasselbe:

von Schultes,   Dr. Stein,

rechtskund. Bürgermeister.   Vorstand des Gemeindecollegiums.“

Allen unseren Lesern möchten wir obigen Aufruf warm an’s Herz legen. Eine Nation, welche nicht nur den Dichtern ihrer classischen Periode, Goethe und Schiller, Lessing und Jean Paul, Herder und Wieland, sondern auch den Sängern der Befreiungskriege, Körner und Arndt, sowie später Uhland und Platen Denkmäler aus Erz errichtete, kann dem Dichter, welcher die Reihe unserer Classiker schließt und zugleich diejenige der Sänger der Befreiungskriege und des Morgenlandes eröffnet, unmöglich das wohlverdiente Denkmal versagen. – Im Jahre 1863 konnte die „Gartenlaube“ noch von dem Lebenden rühmen: „Wenn er am Fenster seiner ländlichen Wohnung in Neuseß steht und auf die Landstraße hinüberblickt, die der rege Verkehr der Welt belebt, so kann er sagen. ‚Dort zieht Keiner vorüber, der nicht eine Gabe von mir empfangen hätte. Ich gab den Jünglingen Lieder der Ehre, ich gab den Jungfrauen Lieder der Liebe, den Männern und Frauen gab ich Sprüche der Weisheit, ich habe die Greise nicht mit Gebeten voll Trost und Erhebung vergessen, und den Kindern schenkte ich die Märchen zum Spiel.‘“ Ja, so war es: er streute mit beiden Händen seine Schätze aus. Sollte es unter den Tausenden von Beschenkten wirklich Viele geben, welche undankbar zur Seite treten, wenn der Opferstock zur Ehre des Dichters eröffnet wird? Wir freuen uns der Hoffnung, recht bald von den glücklichen Erfolgen des Schweinfurter Comités berichten zu können.

In Schweinfurt also steht der Opferstock. – Dorthin die Sendungen! –
Die Redaction der „Gartenlaube“.




Ein Bild von E. Schulz-Briesen. (S. 84 und 85.) Das große und wohlverdiente Aufsehen, welches das heute von uns reproducirte Bild auf den jüngsten Kunstausstellungen, namentlich auf der Düsseldorfer, hervorgerufen, rechtfertigt wohl die nachfolgende Wiedergabe der Hauptdaten aus dem Leben des talentvollen Künstlers, während die frappante Anschaulichkeit des in Situation und geistigem Inhalt für sich selbst sprechenden Bildes uns von jedem Eingehen auf dasselbe dispensiren dürfte. – Eduard Schulz-Briesen wurde am 11. Mai 1831 auf Haus Anstel bei Neuß in der Rheinprovinz geboren. Bis zu seinem elften Jahre blieb er im elterlichen Hause, wo er von seiner Mutter, einer vielseitig gebildeten und namentlich musikalisch hochbegabten Frau, den ersten Unterricht erhielt. Sein Vater, ein ehemaliger Officier, hatte ihn für den Soldatenstand bestimmt und schickte den kaum herangewachsenen Knaben in’s Cadettenhaus zu Bensberg. Die erste Anregung zu seinem gegenwärtigen Berufe empfing der junge Cadett in Berlin, wo sein Sinn für die bildende Kunst derart geweckt wurde, daß er, achtzehn Jahre alt, die Akademie zu Düsseldorf bezog. Nach zweieinhalbjährigem Aufenthalte daselbst ging er nach Antwerpen, um dort seine Studien fortzusetzen. Mit besonderer Vorliebe wandte er sich hier der Portraitmalerei zu, welcher Specialität er sich lange Jahre hindurch mit besonderem Eifer widmete. Ein längerer Aufenthalt in Paris und Berlin bot ihm Gelegenheit, sich nach der technischen Seite seiner Kunst hin zu vervollkommnen, während er gleichzeitig ein scharfer Beobachter der Situationen des menschlichen Lebens wurde. Schulz-Briesen gehört zu den Wenigen, welche sich ganz aus sich selbst in individueller Eigenart entwickelten, seine Bilder „Verlorene Ehre“, „Die Copistin“, „Im Herrenstübchen“ (welches in einer der nächsten Nummern unseres Blattes im Holzschnitte reproducirt werden wird), „Differenzen“, „Streit auf dem Tanzboden“, „Der Leckerbissen“, „Jugendfreundschaft“ und „Zur Untersuchung“ (unser heutiges Bild) geben vor anderen Werken des Meisters ein beredtes Zeugniß von dessen bedeutender Begabung und hoher Kunstfertigkeit.


Kleiner Briefkasten.

A. v. M. in Esthland. Tragopaneneier! Wie uns Dr. Bodinus, der hochverdiente Director des zoologischen Gartens in Berlin, der die Tragopane direct aus Ostindien bezogen hat, in zuvorkommender Weise mittheilt, kostet ein Paar dieser Vögel mit unausgefärbtem Gefieder, das heißt im ersten Lebensjahre, 300 Mark, während Eier bei so kostbaren und nicht reichlich legenden Vögeln nicht abgegeben werden.

H. H. in Leipzig, W. W. in W. Wiederholen Sie gütigst Ihr Anliegen unter Angabe Ihrer vollen Adresse! Directe Correspondenzen per Postbrief ziehen wir stets vor.

W. S. in München. Als ungeeignet vernichtet.

A. D. in Kappel. Gedichte über Miramare finden Sie im Jahrgang 1869, Seite 439 (von F. Poppe) und Seite 257 (von A. Traeger).

J. V. 22, Breslau. Wir bitten um Ihre Adresse. Anonyme Zusendungen gehören dem Papierkorb.

Mr. D. in Kg. K. S. Commissionsrath Adolf Henze, Redacteur und Director des Central-Bureaus für gerichtliche Handschrift-Vergleichungen, Neustadt bei Leipzig.

Langjährige treue Abonnentin in Schlesien. Ein notorischer Schwindler, wie die „Gartenlaube“ früher öffentlich erklärt hat.

Verein zur Hebung des Gemeinsinnes in Oberammergau. Wenden Sie sich an das Curatorium der Pfennigsparcasse in Darmstadt! Glück auf!

M. U. in Leipzig und M. Ed. in Königsberg. Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Haben wir in den letzten Jahren die Besprechung literarischer Erzeugnisse grundsätzlich aus dem Rahmen unseres Feuilletons („Blätter und Blüthen“) ausgeschlossen, so modificiren wir, von inneren Rücksichten gedrängt, unser Princip nunmehr dahin, daß wir fortan von den hervorragenderen wissenschaftlichen Erscheinungen des Büchermarkts in zwangloser Weise Notiz nehmen werden, während die Kritik der rein belletristischen Novitäten nach wie vor hier keinen Platz finden kann.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ist
  2. Vorlage: Schwund