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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[809]

No. 49.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


„Sie klagen wegen baulicher Mängel,“ sagte Curt zum Lehrer, „Sie sollen alles Nöthige in Kürze haben.“

„O mein gnädiger Gönner, wenn Sie Alles dem Herrn Radmacher anzuvertrauen geruhen wollten –“

„Meinethalben – ich will im Vorbeireiten mit ihm reden.“

Nun mußte Curt in die Classe folgen, mußte singen hören und an die Schüler ein paar Fragen richten; er sprach auch einige kräftige, ermahnende Worte. Die Schweinstallruine hatte ihn amüsirt, und er ließ sich dieselbe zeigen. Zum Schluß fragte er Frau Mederow, wieviel Geld sie wohl gebrauche, um die sämmtlichen Kinder mit Kaffee und Kuchen zu bewirthen, und zog nach erhaltener Antwort seine Börse; er gab ihr die bezeichnete Summe.

„Das ist ein Mann, liebes Weib!“ sagte Herr Mederow, als Curt fortgeritten war. „Wie ein Gesandter des Herrn trat er in unser Haus. O, du gesegnetes Pelchow, wahrlich dein Stern ist aufgegangen über dir.“

„Geh nur nachher zum Radmacher,“ mahnte die praktische Frau, „und frage, ob der junge Herr ihm wirklich den Auftrag gegeben hat. Große Herren haben ein kurzes Gedächtniß.“

Curt hielt in der That beim Radmacher an: er und der Maurer sollten umgehend im Schulhause repariren. Als er daheim das Pferd abgegeben hatte und in die Thür treten wollte, kam Anne-Marie aus dem Garten. Sie schwankte sichtlich, ob sie weitergehen oder umkehren sollte; schließlich that sie keines von beiden, sondern neigte auf Curt’s Gruß sehr gemessen den Kopf und wandte sich um, dem Fluge einer Krähe mit den Augen folgend.

„Ihre Schülerin hat leider schlecht bestanden, Cousine,“ rief er gutmüthig hinüber. Er war froh, ihr etwas sagen zu können. Hätte er nur nicht jenen fatalen Tonfall an sich gehabt, welcher allem, was er sagte, eine sarkastische Färbung gab!

Anne-Marie blickte starr nach der Krähe; die erste Wirkung dieser Worte durfte er auf keinen Fall bemerken.

„Welche Schülerin, wenn ich fragen darf?“ gab sie gleichgültig zurück.

„Die kleine Radmachertochter. Ich komme eben vom festlichen Schulempfange her.“

„Nun,“ fuhr sie fort, noch immer hochroth im Gesicht, mit blitzenden Augen, „wenn irgend Jemand die Tactlosigkeit gehabt hat, Ihnen zu sagen, daß ich hinsichtlich der Verse die Hand im Spiele habe, Herr von Boddin, dann sollten Sie wenigstens nicht den traurigen Muth haben, Capital daraus zu schlagen, um mich zu demüthigen. Sie dürfen aber versichert sein, mein Herr, daß Sie es nicht waren, dem zu Liebe ich dem Kinde die Verse einstudirt habe.“

Das war doch zu stark.

„Wenn Sie darauf bestehen, Gift in Alles zu gießen, was ich Ihnen sage, mein gnädiges Fräulein, so werde ich verzichten, Ihnen noch weiterhin Gelegenheit dazu zu bieten. Ich habe den Fehler begangen, Sie vierundzwanzig Stunden lang für naiv zu halten; jetzt bin ich von diesem Irrthum gründlich curirt. Aber eines will ich Ihnen nicht verhehlen: um Ihr Herz und Ihre Gemüthsart beneide ich Sie nicht.“

Er schloß ziemlich heftig die Thür hinter sich; das Zorngefühl schnürte ihm fast die Kehle zusammen. Es war wohl tactlos von ihm gewesen, ihr zu zeigen, daß er um ihr Geheimniß wisse, aber die Abfertigung, welche ihm darauf geworden, war so bissig, herzlos, vergiftet, boshaft – es durchschauerte ihn vor Erregung, und er schleuderte seinen Strohhut weit in sein Zimmer hinein.

Draußen weinte Anne-Marie von Lebzow. Sie legte die Arme über dem Zaun zusammen und die Hände hinein. Er hatte sie zu tief gekränkt.

Sie ging in den Garten zurück, zur Laube hin; im Gesichtskreise seiner Fenster schritt sie stolz aufgerichtet, aber hinten, da, wo Niemand sie sah, flog sie hügelauf, und in der Laube nahm sie ihr Taschentuch und preßte es auf ihre Augen. Warum hatte sie sich doch verleiten lassen, mit ihm zu sprechen! Nun hielt er sie für ein herzloses Geschöpf. Was hatte er für ein Recht dazu? Hatte sie nicht ein Recht, sich zu wehren, wenn sie verhöhnt wurde? Oder hatte er sie etwa nicht verhöhnt? Wie gut kannte sie diesen Ton seiner Stimme! Hätte sie ihm vielleicht noch obendrein zugestehen sollen, daß sie seinethalben sich mit dem Radmacherskinde bemüht hatte?

„Was haben sie Beide für ein Recht, daß ich sie hier dulde, um mich von ihnen mißhandeln zu lassen?“ fragte sich Curt.

„Wenn doch der Onkel fortziehen wollte!“ dachte Anne-Marie schluchzend und starrte mit den schwimmenden, gerötheten Augen in’s Feld hinaus, indeß ihr um den Mund die Wehmuth wie Wetterleuchten zuckte. „Ach, ihr friedlichen Tage – ein kleines krankes Stück Erde, wo ich euch wieder finde! Ich habe nie gewußt, was Angst und Groll und Haß ist. Aber nun weiß ich es. In vierzehn Tagen habe ich es gelernt“ – – –

„Ich will arbeiten; ich muß mich zerstreuen,“ meinte Curt eine halbe Stunde später. „Ich werde jetzt die Maurer und Zimmerleute controliren, dem Drewes entgegen gehen und unterwegs [810] wegen der Grenzbestände weiter mit ihm verhandeln. Es liegt ja in meiner Macht, mich den Ausbrüchen von Weiberleuten zu entziehen.“

Anne-Marie von Lebzow sah ihn später vom Garten aus über’s Feld gehen; ihre Augen waren wieder trocken.

„Jetzt bin ich hoffentlich für lange Zeit von ihm befreit – das ist das Gute an dem Rencontre. Wir werden endlich in Wahrheit Luft für einander sein. Verstehen würden wir uns doch niemals.“

Und sie athmete tief aus und sprang empor; denn sie hörte über der Mauer drüben das Pferd des Onkels, und dann sein Gespräch mit Jemand. Es klang rauh und unfreundlich. War auch er übler Laune? Das war ja ein schrecklicher Tag heute.

Der Onkel stand mit dem Dorfkrämer vor seinem Fenster; sie bemerkte es, als sie in ihr Zimmer gelangt war.

„Den Teufel – was? Bin ich Dir nicht gut genug dafür, mein Sohn? Es wäre mir denn doch lieber, wenn Du Dir ’ne Wendung nach der andern Seite gäbest, indem daß Du dann richtig auf den Weg nach Hause kämst.“

„Aber, Herr Baron, ich habe es doch nicht dazu, halten zu Gnaden. Liptauer in Demmin will auch sein Geld von mir.“

„Liptauer – das ist auch so ’n Demminer Judenbengel –“

Das Fenster schurrte empor, und der Alte stieg in sein Zimmer, während der Krämer draußen wartete, die Hand voll Zettel vor sich haltend.

„Nun soll Onkel zahlen und hat sich um nichts gekümmert,“ sprach Anne-Marie bei sich. „Aber – er hat ja doch jene zweihundert Thaler, die er mir geschenkt hat.“

Sie klopfte an die Thür.

„Darf ich, Onkelchen?“

„Ja wohl, Döchting.“

Der Baron hatte die Hände über den grünen Rockschößen zusammengelegt, und als er sich herum wandte, sah er sorgenvoll und fast schüchtern aus.

„Siehst Du, mein Anne-Marieken, so ist mir das mein Leben noch nicht gegangen. Lüchting kommt nun und will Geld für die Zettel haben – und ich weiß doch nicht, wo ich das gleich hernehme.“

„Du hast ja aber das meine, lieber Onkel.“

„Wo werd’ ich Dein Eigentum angreifen, mein Döchting! Das wäre ja nicht recht von mir.“

Er sah aber dabei aus, als wäre ihm heimlich nichts lieber gewesen als dies thun zu dürfen.

„Ich borge Dir’s aber, Onkelchen. Das darf ich doch, wenn es mein Eigentum ist?“

„Sieh mal, sieh – nein, was Du für ’n gutes Mädchen bist! Sie will das für ihren Onkel thun. Ich spare mir das ab, wenn ich das Meinige ausbezahlt kriege. Ich brauche ja nicht viel für mich – da lege ich die fünfzig Thaler wieder dazu.“

Er bezahlte den Krämer. Dann setzte er sich an den Tisch, stemmte den Arm auf und legte den Kopf in die Hand, wehmütig vor sich hinblinzelnd.

„Ach, mein liebes Anne-Marieken, was für ’n armer Kerl bin ich geworden!“




7.

Der Eintritt der rauhen Jahreszeit ging diesmal ungemein langsam vor sich. Erst gegen Mitte November trat stürmisches Wetter, erst vierzehn Tage vor Weihnachten dauernder Frost mit Schneefall ein.

Curt von Boddin hatte Glück.

Als Maurer und Zimmerleute „auf Wiedersehen im Frühjahr!“ sagten, waren die Ställe sauber und hell und der meiste Schaden an Holzwerk bereits gebessert. Die Knechte schliefen in ihren Stallkojen, die Mägde in ihrer Bodenkammer, und Curt hatte zwei hübsche Zimmer. Der Salon war sogar parquetirt, die Decke von Stucksims getragen und mit Stuck verziert, während die Tapete ein warmes Brokatmuster zeigte. Rothe Wollgardinen und ein riesiger Smyrnateppich, dazu völlig überzogene Polstersitzmöbel ergaben den Eindruck der behaglichsten Eleganz. Der Ofen mit Kaminuntersatz, in welchem schon beständig Holzfeuer glühte, glich fast demjenigen in Anne-Marie’s Zimmer, das Merkwürdigste für die Gutsbewohnerschaft war aber ein Flügel. Man erwartete, daß „der junge Herr“ ihn spielen würde; allein ein paar Läufe abgerechnet, die er wie zur Probe gethan, ob sein altes Instrument ihm nicht fremd geworden, hörte man nichts. Der Schreibtisch, ein Bücherschrank, eine beschlagene Cassette waren alte geschnitzte Stücke, die das Zimmer besonders zierten. Alle die Kleinigkeiten, welche Curt theils von seiner früheren Einrichtung her sich hatte schicken lassen, theils dazu gekauft. sprachen für bewußten Geschmack. Das Schlafzimmer war einfacher; eine spanische Wand trennte zwei Schlafstellen; denn Curt mußte darauf rechnen, einen Gast bei sich unterbringen zu können, und der Feldmesser war der erste, welcher die Gelegenheit für längere Zeit benutzte, bis er mit Eintritt des Frostes verschwand.

Eines Tages, als Curt nach Branitz gefahren, schlich Anne-Marie in diese Räume – Dürten begleitete sie. Mit Diebesangst trippelte sie von einem zum andern, was da ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie wagte sogar den Flügel zu öffnen und ein paar Tasten anzuschlagen – als Kind hatte sie auch angefangen, Unterricht zu genießen – wie lange war das her! Als Dürten auf einen Moment hinaus gerufen wurde, warf sie sich in einen Fauteuil und betrachtete, den Kopf aufstützend, unverwandt das große Kreideportrait Curt’s, welches über dem Schreibtische hing, und indem sie dabei seufzte, den Kopf auf die Seite geneigt, sah sie recht wie ein Kind aus, dem ein Wunsch fehlgeschlagen ist.

Einen Todesschrecken bekam sie, als sie das Photographie-Album da auf dem Nipptische aufschlug.

Der Blick fiel auf ihr eigenes Portrait.

„Mein Gott, woher hat er das? Was thut er damit?“

Sie war in Versuchung, es an sich zu nehmen. Aber dann glühte ihr Gesicht wieder. Nicht ahnen durfte er, daß sie hier gewesen. Wie um sich vor sich selbst zu schützen schlug sie eilig das Album zu, und nun zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie er zu dem Bilde gekommen. Irgend woher aus der Verwandtschaft? Aus Branitz? Die Mädchen dort hatten zwei Exemplare. Darüber mußte sie doch Gewißheit erhalten.

Da saß sie und träumte und lächelte vor sich hin: nur die Oberlippe hob sich, daß es weiß dazwischen schimmerte. Endlich stand sie auf; es war ihr, als schwebe draußen ein Schatten bei den Fenstern vorüber.

„Du Lieber!“ sagte sie, mit einer Hand zu dem Bilde über den Schreibtisch hin winkend, indem sie sich an der Thür noch einmal zurück bog. Und plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus und lehnte sich leichenblaß, die Hand aus das Herz gedrückt, gegen die Wand; sie war einer Ohnmacht nahe.

Draußen ging die Hausthür auf, und Männerschritte kamen in den Flur herein. Aber es war der Statthalter Drewes, der Dürten fragte, ob der junge Herr zu Hause sei. Wie thöricht war sie! Curt konnte es ja unmöglich sein – dann eilte sie aber doch hinaus.

„Nie wieder!“ gelobte sich die schwer Bestrafte. Der Traum war zerstoben. – –

Für den Sommer gingen Curt Baupläne in größerem Maßstabe durch den Kopf. Das Haus vertrug recht gut einen Oberstock. Er dachte selbst an ein Gesindehaus. Mit der Ernte und den Vorarbeiten für das nächste Jahr war er gut fertig geworden – dank den Nachbarn und dem langen Zögern des Frostes. Seine Getreide-Einfuhr konnte er recht wohl in der Winterszeit ausdreschen; mehr trug der Vorrath nicht aus.

Der alte Baron hatte keine Freude mehr an seiner Compagnie, ausgenommen Sonnabends, wo man ihm die Zahlung für dieselbe von verschiedenen Seiten her schickte. Dann ließ er sie antreten und vertheilte das Geld unter die Leute. Er lief den ganzen Tag auf der Jagd herum, und Curt tat keine Einsprache. Wiederholt wurde der Alte zu größeren Jagden geladen, ging aber nur, wenn er vorher wußte, daß Curt nicht hingehen würde; er machte auch sein Spielchen wie sonst mit, und was er mehr verspielte, als er bei sich hatte, versprach er, später zu bezahlen; man war indessen überein gekommen, ihn nie daran zu mahnen, ja die Schuld in Abrede zu nehmen, indem man mit seinem unsicheren Gedächtnisse rechnete. Was er erübrigte, legte er in Anne-Marie’s Casse – das machte ihm die größte Freude, und er wurde ordentlich geizig darum.

Niemand war glücklicher, als der Schulmeister Mederow. Der Radmacher und der Ortsmaurer stellten ihm her, was sein Herz nur begehrte, und täglich pries er vor dem neuen Schweinestalle die Gnade des jungen Herrn.

[811] Der Baron und sein Neffe waren für einander nicht da. Der Baron benahm sich dabei so unbefangen, daß es auch Curt nicht schwer wurde. Zwischen diesem und Anne-Marie war die gleiche Art Nebeneinanderleben nur ein paar Tage hindurch versucht worden; dann kam man stillschweigend überein, sich wortlos zu grüßen. Die Begegnung war zuvor dermaßen peinlich für beide Theile gewesen, daß man vor Sorge, einander zu treffen, zu keinem ruhigen Ab- und Zugehen mehr kam. Man mußte auch auf ein Zusammentreffen bei Pannewitzens rechnen. Daß Anne-Marie von Lebzow sich um des Onkels willen von Curt fern hielt, würde man wohl begreifen; eine offenkundige Feindschaft aber mußte zu Muthmaßungen Anlaß geben, und die wollte sie auf jeden Fall verhindern.

Da war nun der Winter. Ganz Pelchow war verschneit, im Walde jeder Ast wie mit Watte belegt. Die Dreschflegel klopften im Tacte auf der Tenne, weiter war nichts zu thun, die Viehwirthschaft ausgenommen.

In der Compagnie wurde gemurrt; denn die täglichen Gänge auf die Nachbargüter waren im harten Froste eine Gefahr für Leib und Leben. Man machte dem alten Herrn Vorstellungen: er wollte sich’s überlegen, antwortete er; die Leute sollten aber Amerika nicht vergessen. Gut, man wollte ja auch treu bleiben, aber jeden Tag womöglich zwei Stunden hin und wieder zwei Stunden zurück durch dicken Schnee waten, und das bei zehn Grad Kälte und mehr! Man steckte sich hinter Anne-Marie, und sie bestimmte den Onkel, die Schwächlichsten, welche die Leute selbst aussuchen würden, ganz feiern zu lasten. Sie „borgte“ ja!

Weihnachten war da. Curt hatte für das Eßzimmer zwei Riesenbäume schmücken lassen und bescherte den Leuten. Das war etwas Außerordentliches; der alte Herr hatte nie daran gedacht, Christbäume aufstelle zu lasse; er hatte eine lebhafte Abneigung gegen dieselben, seit ihn in der Kindheit ein umfallender Baum in Lebensgefahr gebracht hatte. Er ließ sich auch nie beschenken, selbst von Anne-Marie nicht. Aber diese selbst beschenkte er, und die Branitzer besorgten ihm das.

Branitzer Fuhrwerk hielt heute schon seit dem Einbruche der Dunkelheit vor dem Gutsthore. Anne-Marie nahm ihren Pelz um, setzte die Kapuze auf und ging hinaus in den stille verschneiten Garten. Die Fensterläden des Eßzimmers waren nicht geschlossen: da war doch Christbaumglanz! Die Leute bewegte sich hin und her, Curt unter ihnen. Punschgläser klirrten. Das war weihnachtlich. Ihr ward wehmüthig in dem bleichen Schnee, unter den flimmernden Sternen; der Nachthauch schnitt ihr über das Gesicht, und es war ihr, als käme er aus einer weiten, weiten Stille und frage sie, ob sie nicht dahin folgen wolle. Schauernd ging sie in ihre Stube zurück.

Das Feuer im Kamine loderte; ihre Lampe brannte, und sie sah das Buch liegen, in dem sie gelesen, Fritz Reuter’s lustige Weihnachtsgeschichte „Was bei einer Ueberraschung herauskommt“! Das Alles machte es ihr wieder heimlich im Herzen. Sie dachte in halber Reue an eine gewisse Ueberraschung, welche – aber nein, nicht einmal daran denken – ein dichter Schleier darüber!

In des Onkels Zimmer durfte sie noch nicht gehen; vor seinem Eingangsfenster knisterte und knackte es, und in der Stube raschelten Papiere und arbeitete der Hammer an Kistendeckeln. Sie las nicht mehr; im Schaukelstuhle saß sie am Kamine und wiegte sich leise auf und nieder. Das Flammenspiel machte so reizend die Gedanken überflüssig.

Sie sprang ordentlich erschrocken auf, als der Onkel die Thür öffnete. Das alte wunderliche Gesicht schmunzelte vergnüglich; die kleine Augen verschwanden fast in den Falten umher und in dem Schatten der Brauen.

„Na, nu komm mal ’rein, Döchting!“

Der Baron hatte einen alten silbernen Armleuchter mit fünf Kerzen besteckt; das war doch auch festlich. Und im Scheine der Kerzen war der ganze Tisch mit Geschenke bedeckt: das Strahlendste war ein Anzug von lichtviolettem Sammet mit Schwanbesatz, ganz vollständig, selbst ein Jäckchen, Muff, Kapuze dazu. Himmlisch! Dazu mancherlei Kleinigkeiten der weiblichen Toilette und Bücher, sowie auch ein Paar Schlittschuhe. Anne-Marie war außer sich vor Freude.

„Aber Onkel, das kostet ja furchtbares Geld.“ „Ich habe ja auf Langsdorf viel gewonnen, Herzensdöchting, auf der letzten Treibjagd. Aber das hab’ ich nun mal nicht gespart.“ Er mußte sich küssen lassen, was er nicht gern that, Draußen klingelte es heran; ein Schlitten fuhr vor. „Wer ist das?“

Beide traten an die Scheiben; man sah im Dunklen nur den Schlitten, von dem die Pferde losgespannt wurden.

„Julklapp!“ rief eine Stimme, und der Rufende lief mit den klingelnden Pferden davon.

„Was der Teufel!“ sagte der alle Baron und zog das Fenster auf. Er stieg hinaus und betrachtete den Schlitten. „Der scheint mir ja neu zu sein.“ Damit ging er an das Küchenfenster und ließ sich von Dürten eine Laterne geben: „Wahrhaftig, ein neuer Schlitten! Eine Pantherfelldecke; darunter ein Fußsack.“ Der Baron gab Anne-Marie den Fußsack durch das Fenster hinein: „Untersuch mal das, Döchting!“

Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie das Couvert, welches sie da gefunden, zum Licht trug. „Fräulein von Lebzow“ stand darauf. Das mußte die Schriftzüge des Herrn von Pannewitz sein; nur waren sie ein wenig verstellt.

„Ich trage Dich durch Feld und Wald,
Wenn’s winterkalt;
Bei treuen Freunden mach ich Halt –
Nun brauch mich bald!“

So sagte ein Zettel. Die Poesie war mäßig – aber ein Schlitten! Ihr größter Wunsch war erfüllt – und durch wen?

„Onkel, hat das Herr von Pannewitz geschrieben?“ fragte Anne-Marie mit unterdrücktem Jubel; um liebsten hätte sie mit dem alten Baron einen Galopp getanzt.

„Ja wohl, das scheint mir so. Ist das ’n Kerl! Wie kommt der dazu, Dir ’nen Schlitten zu schicken? Was zugelegt hat er auf alle Fälle; denn so viel Geld, daß er den auch noch hätte kaufen können, hab’ ich ihm nicht gegeben. Auf den Kostenpreis von diesen weiblichen Gegenständen verstehe ich mich freilich nicht.“

„Julklapp!“ Es flog etwas zu dem noch offenen Fenster herein auf die Diele, in der Verpackung einer Riesenwurst ähnlich.

„‚Hier komm ich!‘ sagt Cantor Wolf, da fiel er aus der Lucke,“ lachte der Baron; „nun regnet das ja wohl Geschenke für Dich!“

Er half das Packet öffnen. Aus einer Strohumhüllung fiel zuerst ein Briefchen: „Anne-Marie von Lebzow,“ war die Adresse. „Von Hedwig!“ rief Anne-Marie. Sie wickelte weiter – zwei Sonnenschirme kamen zum Vorschein, ein einfacherer und ein prachtvoller, dieser in schwarzer Seide, das Futter gestickt aus Weiß, echte kostbare Spitze daran, der Griff mit schöner Perlmuttereinlage.

„Entzückend!“

„Julklapp!“ Wieder ein Päckchen.

„Wie sie mich beschämen, Onkel! Ich habe ihnen nur Kleinigkeiten hinüber geschickt. Das ist sicher von Leonore!“

„Für Anne-Marie von Lebzow.“ Ein paar Dutzend Glacéhandschuhe in den verschiedensten Farben.

Anne-Marie war betreten. Eine dunkle Erinnerung kam ihr. Sie öffnete klopfenden Herzens die Couverts.

„Wie kann eine Dame dreiviertel Stunden Weges hin und zurück am lichten Tage ohne Schirm gehen?“ schrieb Hedwig. – „Sie sollten auch Ihre Hände mehr schonen!“ stand auf dem anderen Zettel, in den Schriftzügen von Leonore von Pannewitz.

Anne-Marie ließ die Zettel aus der Hand fallen; sie war bleich und so starr, daß der Baron sie erschrocken ansah.

„Was ist Dir, Döchting?“

„Laß mich einen Augenblick allein, Onkel!“ stammelte sie und flüchtete in ihr Zimmer.

Am Schaukelstuhl sank sie in die Kniee, legte einen Arm über die Lehne, faltete die Hände und schluchzte – das war wie ein Mehlthau auf die Weihnachtsfreude – Alles verdorben, verstört, besudelt! Eine Bitterkeit kam über sie, eine Herzensnoth, als ab sie sterben müsse. Das ging von ihm aus, von ihm – und sie, sie Thörin hatte – – das war eine so ausgesuchte Kränkung, so raffinirt, um ihr klar zu machen, wie bettelhaft tief sie in seinen Augen stehe, um sich für immer von ihr zu scheiden; das war ein Fußtritt am schönsten Feste der Welt, der Liebe, des Beglückens. Und dazu hatten die Beiden sich hergegeben die ihre liebsten Freundinnen waren! So intim stand er schon mit ihnen! Die Vertrauten seiner Geheimnisse, Gehülfinnnen seiner Beleidigungen waren sie geworden! O, gewiß: was war sie, das arme, verbauerte Mädchen an der Seite des bankrotten Verschwenders, gegen Leonore, gegen Hedwig [812] von Pannewitz! Ein Gänseblümchen, ein Nichts – „Mein Gott, mein Gott – –“

Der Flammenschein des Kamins lief geschäftig über das hübsche bleiche, weinende Gesicht; wie die braunen Augen in die lodernde Gluth starrten, lag eine Trost- und Hoffnungslosigkeit in ihnen, als gäbe es für dieses junge Herz keinen Himmel mehr, weder hier noch drüben.

„Julklapp!“

Die Stube Curt von Boddin’s war von seiner Arbeitslampe erhellt; er saß, die Hände in den Schooß gelegt, lächelnd vor dem Schreibpult und schien heimlich durch die Nachbarwände horchen zu wollen. Der Wurf durch die nur handbreit geöffnete Thür störte ihn auf. Was war doch das für eine Stimme? Die Hausthür mußte offen stehen; denn schwere Schritte flüchteten ohne Anstand auf den Hof hinaus und verhallten nach dem Garten zu. Auf das Kommen dieser Schritte hatte er nicht geachtet; die Leute, welche drüben nach seiner Entfernung noch weiter getrunken hatten, waren seither noch heraus und hinein gegangen.

Er hob das zierliche Päckchen auf; wer hatte seiner gedacht? Die Scheere schnitt den Faden durch, und aus dem ganzen Dutzend von Papierhüllen kam ein Photographierahmen zum Vorschein.

Aber ein reizender Rahmen, und eine weibliche Handarbeit dazu: schwarzer Sammet, von sehr kunstfertiger Nadel mit Edelweiß und Vergißmeinnicht bestickt. Er lachte in sich hinein.

„Diese Schelme von Branitz! Sie haben doch gemerkt, daß ich ihnen die Photographie entführt habe, und da habe ich den Wink mit dem Zaunpfahl – nein, nicht! das ist häßlich gesagt. Dafür ist dieser Rahmen zu allerliebst und die Idee zu sinnig. Ich muß mich revanchieren; ich werde ein Vielliebchen mit ihnen essen, und sie werden es gewinnen. Das ist ja eine süperbe Arbeit!“

Er nahm eine Photographie aus seinem Album und steckte sie in den Rahmen.

„So!“ sagte er, „man muß seinen Feind immer im Auge haben.“

Es klopfte. Rasch legte er den Rahmen umgekehrt auf den Tisch. Dürten kam herein.

„Das schickt das gnädige Fräulein.“ „Bleiben Sie, Dürten!“

Es waren die Sonnenschirme, die Handschuhe, auch die beiden Zettel, welche dazu gehörten. Sie fielen aus einem Briefbogen, auf dem von Anne-Marie’s Hand geschrieben war:

„Mein Herr!

Sie werden nicht den Muth haben, die Zurücknahme dieser Gegenstände und ihre Aushändigung an Leonore und Hedwig von Pannewitz zu verweigern. Thäten Sie es, so würde ich die Sachen einfach verbrennen. Was Sie einst über mein Herz und meine Gemüthsart äußerten, gebe ich Ihnen zurück; wir sind quitt.

Anne-Marie von Lebzow.“

Curt las – einmal, zweimal. Endlich hob er das Gesicht zu Dürten auf:

„Sie können gehen.“

Er legte den Brief hin; er las die Zettel.

„Nun,“ kam – es bitter zwischen den zusammengepreßten Lippen hervor, „das muß ich sagen: geschickter hätten diese jungen Damen die Sache nicht angreifen können. Sie sollten nichts thun, als Rahmen sticken.“

Bei Anne-Marie drüben saß der alte Baron auf dem Phantasiestuhl mit der goldgezierten Lehne, und vor ihm kniete Anne-Marie; sie hatte den Arm auf sein Knie gelegt, und darauf den strohblonden Kopf, der noch immer thränenmüde in die Flamme blickte. Zuweilen schluchzte sie leise auf. Der alte Herr machte ein halb wüthendes, halb verlegenes Gesicht; manchmal strich er ihr über den Kopf und sagte dazu mitleidig: „Mein armes Anne-Marieken! Na so’n verfluchter Kerl!“

Plötzlich fing der Flügel in Curt von Boddin’s Zimmer zu klingen an; leise, aber durch die Zwischenwand doch vollkommen verständlich, ertönte jenes zauberhafte As-Dur-Nokturno von Chopin, aus dem ein süßes, weinendes Mädchengesicht taucht mit einer unsäglich rührenden Trauer. Nie hat stilles, hoffnungsloses Weinen einen erschütternderen und herzzereißenderen Ausdruck in Tönen gefunden, als hier. So keusch ist diese Klage, so jugendlich weich; sie steigt von tränenfeuchtem blüthenweißen, spitzenbesetzten Kissen; der Mond scheint in das stille Zimmerchen, und draußen singt eine Nachtigall. Diese weißen Röckchen da haben vielleicht erst ihren dritten Ball mitgemacht. Ein „Warum?“ für das Schicksal ist der Anfang und Ausgang, und dazwischen steht eine kleine rührende Geschichte, die sehr, sehr traurig ist. Aber man stirbt nicht an ihr

Der alte Baron knurrte, und dann polterte er auf:

„Was hat der Kerl auch noch Musik zu machen? Morgen laß ich Jochen nach Demmin fahren, er soll mir eine Harmonika kaufen –“

Zwei weiche Mädchenhände schlossen ihm den Mund.

„Still! ach still!“

Er murrte noch leise einen Moment; dann schwieg er. Anne-Marie’s Kopf lag regungslos auf seinem Knie, und regungslos saß auch der Baron. Der Geist des Schönen schwebte mit sanftem Flügel über der Gruppe, und Anne-Marie van Lebzow fühlte sein Wehen kühlend auf den heißen Wangen und bis in das heiße Herz hinein. –

Das war der Christabend auf Pelchow.

Am ersten Feiertag fuhren der Baron und Anne-Marie zur Kirche, diesmal nicht, wie sonst, auf dem alten Wägelchen. Der Schnee war so dicht und fest, und der hübsche Schlitten so verlockend; er sah weiß aus, mit blauen, goldgefaßten Streifen und einem Schwanenbug, und Herr von Pannewitz konnte ja nichts für das, was Leonore und Hedwig gethan. Sie wollte ihm aber schreiben, daß sie nicht kommen könne, um sich zu bedanken; denn diese Beiden hätten sie zu tief gekränkt; sie würden wohl selber nicht erwarten, daß sie käme. Aber voll tiefsten Dankes wären sie für den Schlitten und für die Mühe, welche die gnädige Frau mit dem Besorgen der Geschenke sich gegeben. Sie beide würde sie immer lieb behalten.

Curt fuhr nicht zur Kirche; er verschob es bis aus den andern Festtag, wie er es denn überhaupt vermied, gleichzeitig mit Onkel und Cousine in Langsdorf zu sein.

Aber er fuhr auch aus – nach Branitz. Nach Tische probirte Anne-Marie den neuen Anzug an; sie errötete vor dem Spiegel; denn sie hatte ein Gefühl, als sei sie allzu hübsch darin. Das da war eine Prinzessin, aber nicht Anne-Marie von Lebzow. Und doch wuchs sie dann hinein. Sie war gerade in der Stimmung, in ihrem Stolz einen Halt zu suchen; so nahm sie denn ihre Schlittschuhe und ging auf den Teich vor dem Gutstorweg hinaus. Dort war eine glatte, wenn auch nur mäßig große Bahn, und auf der Bahn wußte sie Jochen mit einem Stuhl. Kinder standen in der Nähe, und sie vernahm Ausrufe kindlichen Entzückens über ihren Anzug. Selbst Jochen verzog sein apathisches Gesicht zu einem Schmunzeln. „Ist ’ne Pracht!“ sagte er.

Sie ließ sich melancholisch lächelnd die Riemen zuziehen und fuhr nun. Bald sammelten sich Dorfleute am Ufer, welche ihr zusahen. Da kam es ihr plötzlich vor, als nähere sich fernes Schellengeläut, und sie lauschte betroffen. „Nur nicht die Branitzer!“ sprach sie für sich. „Nur um Gotteswillen nicht Leonore und Hedwig, etwa weil ich ihnen eine Kleinigkeit als Julklapp habe werfen lassen. Aber das können sie nicht wagen.“ Sie hatte eine Todesangst vor peinlichen Scenen. Ein Wagen und ein Schlitten bogen um die Holzung drüben; nur ein Blick darauf, und das Blut drängte sich ihr zum Herzen: Hedwig und Leonore saßen im Schlitten, Heer von Pannewitz mit Curt im Wagen. Es schwindelte sie.

„Halt!“ rief es drüben. Und: „Wir fahren mit, Anne-Marie!“ scholl es vom Schlitten her.

Herr von Pannewitz und Curt stiegen aus; die Mädchen hielten die Schlittschuhe hoch und sprangen in den Schnee. Anne-Marie aber nahm alle Kraft zusammen, fuhr zu Jochen und sank auf den Stuhl.

„Mein Gott, warum kommen sie?“ hauchte sie mit geschlossenen Augen. „Ich mochte sie nicht wieder sehen!“

Die Schritte der Mädchen waren dicht bei ihr. „Gehe mal ein Ende bei Seite, Jochen!“ commandirte Hedwig. „Anne-Marie, bist Du uns wirklich böse? Dein Vetter Curt hat uns die bittersten Vorwürfe gemacht Es war doch nur ein Scherz von uns.“

„Ein sehr bittrer,“ sagte Anne-Marie trübe.

„Aber so höre doch: wir haben ihn einmal gefragt, warum Ihr Beide so gespannt mit einander wäret, und da hat er uns gebeichtet.“

[813]

Mutterfreuden.
Nach dem Oelgemälde von Robert Beyschlag.

[814] „Alles?“ fragte Anne-Marie entsetzt. Sie meinte das Tragen aus der Kleebrache.

„Was denn sonst noch?“ meinte Leonore verwundert. „Was wir Dir abgeschrieben haben – ja doch: er hat Dir auch gesagt, Du dürftest nicht allein in den Wald gehen.“

„Wie dumm!“ ergänzte Hedwig. „Wir haben ihm die Leviten gründlich gelesen und haben ihn schließlich zur Abbitte verurtheilt. Er ist aber starrköpfig und wollte davon nichts wissen; er berief sich auf seine Manneswürde. Da gaben wir ihm auf, Dir durch die Blume abzubitten, aber sogar das Schreiben mußten wir selber besorgen.“

„Ich danke,“ kam es mühsam von Anne-Marie’s Lippen. „Ihr hättet Euch nicht bemühen sollen. Euer Gefühl mußte Euch sagen, daß ich diese Geschenke höchstens annehmen konnte, um sie in’s Feuer zu werfen.“

„Aber Anne-Marie, sei doch nicht so rabiat –“

„Da ist ja Dein Onkel!“

Der Baron war aus dem Thore gestiefelt, um Anne-Marie Schlittschuh laufen zu sehen, und er lief Herrn von Pannewitz in die Hände.

„Hoho – vergnügte Weihnacht, Franz!“

„Unsinn! Mach’ keine Redensarten, Fritz!“ knurrte der alte Herr. „Aber ’n verflucht feiner Schlitten ist das. Den hast Du doch nicht auch von meinem Gelde gekauft?“

„Nein,“ sagte Heer von Pannewitz und zwinkerte mit den Augen seitwärts. „Das ist ’n eigen Ding mit dem Schlitten, den habe ich so durch ’ne Gelegenheit gekriegt. – Was ich sagen wollte, Franz: willst Du Dich nicht mit Deinem Neffen da aussöhnen? Es ist ja Weihnachten. Ich hab’ es nun mal übernommen, daß ich Dich frage – kommen Sie heran, Herr von Boddin! Er ist ja ’n närrischer Kerl, aber im Grunde eine gute Seele.“

„Der Teufel bin ich!“ brauste der Baron auf und sah Herrn von Pannewitz wüthend an. „Du willst mich ja wohl hier überrumpeln als ’nen tauben Fuchs. Kuchen, sagte Sjölk – da lebte er noch. Und wenn mir der Kerl zu nahe kommt – mein armes Anne-Marieken hat gestern Abend erst geweint über das, was er ihr angethan hat – was hast Du mir zu sagen?“

Curt stand vor ihm und wies auf den Teich hinüber.

„Das beruhte auf einem Mißverständnisse, das dort drüben aufgeklärt wird, Onkel. Ich biete Ihnen die Friedenshand; ich habe nicht die Absicht, Ihnen das Leben hier zu verbittern; ich arbeite hier ja nur für Sie, in Ihrem Interesse. Sie schädigen sich selbst, wenn Sie dem Gute die Arbeiter entziehen, und Sie haben keine anderweite Arbeit und keinen anderweiten Verdienst jetzt für sie und können es nicht durchführen, sie aus Ihrer Privatcasse zu bezahlen –“

Er hatte es gut gemeint, aber er hatte wieder Unglück. Das Letzte war das Schlimmste, was er dem alten Herrn sagen konnte.

„So, mein Sohn?“ sagte er beißenden Tones; „nun will ich Dir was sagen: Wenn meine Leute keine Arbeit haben, dann lasse ich sie hier auf dem Eise im Tagelohne tanzen, und wo ich das Geld dazu her kriege, das ist meine Sache. Das thue ich, so wahr ich Boddin heiße. Jochen!“

„Ja, Herr!“

„Spann mal drinnen meinen Wagen an und fahr gleich nach Demmin! Hier hast Du etwas Geld. Da sagst Du dem Stadtpfeifer Sallin, er soll mir vier oder fünf Kerle schicken auf ein paar Tage, daß sie hier Musik machen. – Steffens, mach Dich mal hierher, und Du auch, Lünnemann! Sagt mal zu meiner Compagnie: ich ließe euch nun drei Tage hier auf dem offenbaren Eise tanzen und zwar im Tagelohn, und ich gebe euch auch was Schnaps dazu.“

„Und ich sage Ihnen ebenso laut und vernehmlich, Heer Baron von Boddin,“ fiel Curt ihm in’s Wort, „wenn Sie das ausführen was Sie soeben ausgesprochen haben – und ich werde Sie daran nicht hindern, obwohl das Recht, über diesen Teich zu verfügen, jetzt in meiner Hand liegt – wenn Sie also ausführen, was Sie angekündigt haben, so werden Sie vom ersten April nächsten Jahres ab nicht mehr in Pelchow wohnen, so wahr ich Boddin heiße.“

Curt stand mit flammenden Augen da, den Arm gegen den alten Baron ausgestreckt. Diese offene Verhöhnung im Angesichte der Branitzer Gäste und der in der Nähe stehenden Dorfleute hatte sein Blut fast zum Sieden gebracht und die Zügel seiner Geduld zerrissen. Boddin gegen Boddin! Vergebens hatte Herr von Pannewitz ihm beschwichtigend die Hand aus die Schulter gelegt, ihn zu unterbrechen versucht: wie ein Sturzbach prasselte die entscheidende Absage über den Baron, der sie mit spöttischem Kopfnicken aufnahm.

Der Rubikon war überschritten.

Curt hatte den Baron zur Genüge kennen gelernt, um zu wissen, daß dieser von seinem Entschlusse nicht zurücktreten würde. Ebenso selbstverständlich war ihm, daß er an dem seinen festhielt – trotz der anmuthigen violetten Mädchenblume dort! Ein unseliges Verhängniß hatte es so gewollt. Nun war sie wohl unwiderruflich für ihn verloren; denn das würde ihre Pietät gegen den Onkel nie verwinden, daß er ihn aus seinem Eigenthume stieß, an dem er mit solcher Zähigkeit hing; sie war ja ein Mädchen, welche der stärkeren Empfindung nachgab, und das war ihre Neigung für ihn sicher nicht – gesetzt auch, daß jener reizende kleine Rahmen voll Edelweiß und Vergißmeinnicht, von ihr kam, wie die Pannewitzischen Töchter behaupten wollten. Wollte er sich über den neuesten Affront um ihretwillen hinwegsetzen – er gewönne nichts damit; denn er hätte ihre Achtung doch verscherzt. Er wollte wenigstens nicht als Schwächling vor ihr stehen.

Die Arme über der Brust gekreuzt, blickte er zu den Mädchen hinüber. Was er da sah, war ein reizendes Bild, und doch eine beredte Anklage für ihn. Anne-Marie stand mit gefalteten Händen da; die Freundinnen bewegten sich in lebhaftem, ernstem Zureden neben ihr. Das blasse, entsetzte Gesicht Anne-Marie’s konnte er nicht sehen, bis er den Zwicker absetzte; dann ließ er ihn rasch wieder fallen. Es mußte ertragen werden. –

„Anne-Marie, sprich doch mit dem Onkel! Er darf es nicht auf’s Aeußerste kommen lasten; thue doch Alles, um das zu vermeiden!“

„Nein. Nicht die Lippe beweg’ ich dazu.“

„Aber weshalb nicht – um Gotteswillen?“

„Wenn er das Herz hat, dem Onkel das anzuthun, so ist es ein Glück für uns, daß wir von hier fortkommen.“

„Aber er kann ja doch kaum anders handeln; Du hörst, was Dein Onkel ihm bietet; das läßt sich kein Mann gefallen.“

„Nein, nein, und abermals nein! Das ist gegen einen gereizten alten Mann eine Rohheit. Ich will mit dem Onkel das Brod der Fremde essen und dann zusehen, was aus mir werden wird. Wäre er nicht so dünkelhaft und hochfahrend, wäre er auf des Onkels Art eingegangen, so wäre der gewiß des Widerstandes müde geworden.“

„Aber Du bist ungerecht gegen Deinen Vetter, Anne-Marie.“

„Gleichviel! Ich will Gott danken, wenn dieser Zustand auf Pelchow ein Ende nimmt, mich zerreibt dieser Unfriede innerlich. Keinen ruhigen Schritt kann ich mehr thun, aus Furcht, ihm zu begegnen; jeden Tag wache ich mit der Angst auf: es giebt neue Aufregungen. Möge es entschieden sein und mögen diese Wochen bis Ostern Flügel haben! Ruhe, nur Ruhe!“

„Liebe, gute Anne-Marie: wenn er nun ein tieferes Interesse für Dich hätte – –“

„Still, um Gottes willen, Hedwig kein Wort davon!“ Mit flehender Angst streckte sie beide Hände aus. „Sage das nie, nie wieder!“

Schweigend glitten sie weiter.

„Du bist wie’n störrischer Ochs, Franz,“ sagte Herr von Pannewitz, „nimm mir das nicht übel! Du rennst so lange gegen die Wand, bis sie Dir auf den Kopf fällt. Wie ist Dir das ’ne Schande, wenn Du vernünftig bist und Dich giebst?“

„Das ist meine Sache, Pannewitz, und solche Grobheiten verbitt’ ich mir, daß Du mich für ’nen Ochsen titulirst. Er soll mich nur ’rauswerfen! Ich will die ganze Verwandtschaft dazu einladen, aber meine ganze Compagnie auch, und dann wollen wir mal sehen, wer oben bleibt, ich oder die Pogge; denn eine Pogge bleibt er doch, und wenn er heute auch schwarz geht als ein Predigtamtscandidat. – Und morgen ist Tanz, sag’ ich Dir, Fritz, und ich lade Dich dazu ein, und Deine Mädchen auch.“

„Ich danke – ich bin kein so ’n alter Esel, daß ich auf dem Eise tanzen möchte.“

„Hoho, Fritz, das hast Du gut gesagt. Und nun laß mich machen und bemenge Dich nicht mit der Sache zwischen mir und dem da! Was ’n Boddin ist, der besteht auf seinem Kopf und wir bleiben gute Freunde.“ –

Eine halbe Stunde später sauste der Branitzer Schlitten über den Schnee, an dem stillen, verschneiten Walde hin. Krähen [815] spazierten seitwärts im dämmernden Schneefelde, schwarz und gravitätisch, das Trauergefolge der erstorbenen Natur. Herr von Pannewitz saß hinten und handhabte die schwere Schlittenpeitsche; vorn drückten die Schwestern sich fröstelnd an einander.

„Es war gut, daß wir Anne-Marie nicht gesagt haben, von wem der entzückende Schlitten eigentlich stammt,“ sprach es aus dem einen der blauen Schleier. „Sie hätte ihn nie wieder benutzt.“

„Wer weiß, ob es gut war? Denn daß er Absichten hat, daran hätte sie dann so wenig gezweifelt wie wir. Man verschenkt keine solche Schlitten auf’s Gerathewohl. Meinst Du nicht, Papa?“ fragte es aus dem anderen Schleier.

„Meinetwegen: ja, Kinder! Laßt mich aus dem Spiel! Ich habe Aerger genug mit der Sache.“

„Klatsch!“ sagte die Peitsche, und es klang so mißmuthig, wie die Rede des Herrn von Pannewitz.

„Aber der Rahmen ist Anne-Mariens Arbeit; darauf verwette ich Kopf und Kragen. Ich glaube bestimmt, daß sie den Vetter liebt – gerade, weil sie nichts davon hören wollte.“

Und wieder ein paar Stunden später saß Curt von Boddin am Schreibtisch; er hatte den Rahmen vor sich mit Anne-Mariens Bild darin. Wer weiß, wie lange er schon davor gesessen! Er betrachtete die Edelweißblumen und die Vergißmeinnicht.

„Ich wollte, mein Leven schlösse sich, um Deines herum, Cousine Lebzow,“ sagte er seufzend. „Aber es geht nicht an. Lebe wohl, reizende Anne-Marie!“

Nun nahm er den Rahmen, zog unten am Schreibtische eine Schublade auf und legte das Ganze hinein. Kreischend fuhr der Schlüssel um. Dann beschien die Arbeitslampe eine Weile sein unbewegtes, ernstes Gesicht, das er in die Hand stützte.

(Fortsetzung folgt.)


Johann Caspar Bluntschli.

Ein Streiter für die Wohlfahrt der Menschheit.

In unserer Zeit, welche mit so souverainer Gewalt über die Naturkräfte verfügt, daß in ihr Zeichen und Wunder in voller Leibhaftigkeit geschehen, scheint auch das alte Gesetz aufgehoben zu sein, das der Schaffenskraft des Mannes mit den Jahren des Alters immer engere Schranken zieht und ihn endlich zur Unthätigkeit verurtheilt.

So war es denn auch nur ein Beispiel unter vielen, das der am 21. October dieses Jahres in seinem dreiundsiebenzigsten Jahre verstorbene Geheimrath und Professor Johann Caspar Bluntschli wieder für die Wahrheit dieses eigenthümlichen Satzes lieferte.

Es war kein Greis, der da starb, wenn ihn auch die Jahre äußerlich dazu stempelten; es war ein Mann, der nicht von geborgener Warte in ruhiger Beschaulichkeit auf das tausendfältige Getriebe der Zeit hinabsah, sondern noch mit klarem Kopfe und fester Hand in dasselbe mit eingriff, ordnend, richtend, mahnend und fördernd. Vielleicht war es aber doch die ungewöhnliche Expansion der Kräfte, welche den Faden seines Lebens so rasch wie mit einem Rucke zerriß; denn der Umfang seines Tätigkeitskreises war mit den Jahren beständig gewachsen.

Das moderne Princip der Arbeitstheilung, das die „Specialität“ geschaffen hat, fand vor Bluntschli keine Beachtung, und ein mächtiger Drang nach universeller Thätigkeit hat sein Leben von Anbeginn beherrscht. Es war nicht blos ein Professor des Staats- und Völkerrechts, den sie an der örtlichen Heimath seines Wirkens, im schönen Heidelberg, jüngst begruben – Bluntschli war mehr, weit mehr. Der Raum einer Visitenkarte wäre zu klein gewesen, hätte er unter seinen Namen alle die Titel, Würden, Aemter und Ehrenposten setzen wollen, welche die Ausstrahlungen seiner Thätigkeit markirten. Und wenn es gälte seinen Ruhm und sein Andenken in Beschlag zu nehmen, so würden sich neben der Rechtswissenschaft auch die Philosophien die Theologie, die Geschichte, die Politik, das Vaterland und nicht zuletzt die Menschheit selbst, deren Liebesapostel er war wie kaum ein Anderer, gegenseitig den Rang streitig machen.

Bluntschli war von Geburt ein Schweizer, der am 7. März 1808 geborene Sohn schlichter alteingesessener Züricher Bürgersleute. Er ist auch seinem Schweizerlande treu geblieben bis hinaus in die Mitte seines Alters; nur als sie ihn dort verkannten und nicht mehr verstanden, ist er ein Deutscher geworden, aber auch der ist er nicht geblieben; er wuchs mehr und mehr heran zu einem internationalen Charakter; er ward ein „Abgeordneter der Menschheit“, wie alle die, welche, um weiter mit dem Marquis Posa zu reden, „der Menschheit Glück aus ihrem Füllhorn strömen“.

Als die Eltern den begabten Jüngling für die Wissenschaft zu erziehen trachteten, sandten sie ihn auf deutsche Universitäten; denn die Schweiz besaß damals noch keine Hochschulen in unserm Sinne. Von Haus aus für die Theologie bestimmt, aber das Beengende der Schranken bald empfindend, welche diese Wissenschaft dem weiten und hohen Fluge seines Schaffensdranges anwies, wandte er sich frühzeitig dem Studium der Rechtswissenschaft zu, hörte aber schon in Berlin neben Savigny noch Schleiermacher und in Bonn neben Hasse noch Niebuhr. In diesem Streben nach Vielseitigkeit hat er zeitlebens beharrt.

In seiner Heimath Zürich hielt er neben seiner Amtirung beim Bezirksgericht noch Vorlesungen an dem Polytechnischen Institute und trieb außerdem schweizerische Politik. Dazu regten ihn die damaligen Schweizer Verhältnisse, besonders auch in Zürich, lebhaft an. Es war ein Zustand des Gährens und Werdens. Gegenüber dem aus dem Mittelalter überkommenen aristokratischen Stadtregimente strebte das unterdrückte Land nach einer größeren Selbstständigkeit. Die jüngeren, aus deutschen Universitäten gebildeten Kräfte einten sich, unter Führung von Bluntschli’s früherem Lehrer, Ludwig Zeller, zu einer „wissenschaftlichen Reformpartei“. Ihnen schloß sich Bluntschli an, und eine Frucht dieser Anschauungen waren seine ersten Schriften: „Das Volk und der Souverain“ und „Die Verfassung der Stadt Zürich“. Darin werden unter Anderen Gleichstellung von Stadt und Land, Unabhängigkeit der Gerichte, Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, Aufhebung der halbgeistlichen Ehegerichte verlangt. Der Ausbruch der Schweizer Revolutionskämpfe Ende der dreißiger Jahre brachte eine Spaltung in die Partei, welche in eine radicale und eine conservative Hälfte zerfiel. Bluntschli, der sich bereits in seinen Schriften als einen entschiedenen Feind alles Revolutionären, das „beim geringsten Mißbehagen sogleich den Einsturz des Bestehenden fordert“, bekannt hatte, wandte sich der letzteren zu. Er übernahm sogar die Führerschaft der städtischen Partei und bekämpfte somit das eigene Princip. Er gelangte dort rasch zu Ehren. Erst Mitglied des Großen Rathes, wurde er 1837 dessen Präsident. Als aber die radicale Strömung wieder die Oberhand gewann und er bei der Bewerbung um das Bürgermeisteramt dem radicalen Gegenkandidaten unterlag, zog er sich vom politischen Leben ganz zurück und suchte die Kränkung seines Ehrgeizes durch Erfolge in der Wissenschaft vergessen zu machen. Er war indessen Professor des Staatsrechtes an der neugegründeten Universität Zürich geworden.

Wenn wir zunächst sein politisches Wirken weiter verfolgen, so begegnen wir hier der eigenthümlichen Thatsache, daß, während sonst unsere Politiker mit dem zunehmenden Alter aus der liberalen Strömung vielfach in ein mehr konservatives Fahrwasser hinüberlenken, bei Bluntschli der Proceß sich in umgekehrter Weise vollzog. Diese Umkehr nach links trat aber erst ein mit seiner Uebersiedelung nach Deutschland. Die Verhältnisse in Zürich erwiesen sich für seinen Thatendrang aussichtslos, für seinen Charakter empfindlich. So kam ihm seine von ihm selbst angeregte Berufung an die Universität München als Lehrer des Staats- und Völkerrechts ganz erwünscht. Mit seinen „Stimmen eines Schweizers über die Bundesreform“ rief er seinem angestammten Vaterlande gleichsam noch ein politisches Abschiedswort zu und verließ es (1848) dann aus immer.

In Baiern waren namentlich seine freundschaftlichen Beziehungen zu den liberalen Kammermitgliedern Breten und Bühlen für seine politische Stellungnahme entscheidend. Nur zu bald aber wurde er der Hemmungen inne, die sich dort vielseitig einer freieren Entfaltung der Kräfte entgegenstellten. Es waren nicht blos die Anfeindungen des Ultramontanismus, mit denen er, mehr auf dem wissenschaftlichen, als politischen Gebiete, zu kämpfen [816] hatte, sondern noch besonders die auf der Pflege eines engherzigen Particularismus gegründete Abneigung der Münchener Kreise gegen die geistige Fremdencolonie, die ein hochdenkender König in dem Athen der Isar um sich gesammelt hatte. Sein vorwärts strebender Geist brach auch diese Fessel und ließ ihn eine dritte Heimath suchen in einem Lande, in dem von jeher eine frische, freie Lust geweht hatte, in Baden.

Mit dieser Uebersiedlung nach Heidelberg beginnt die schaffensreichste Epoche in Bluntschli’s Leben, die gewaltige Entfaltung der Schwingen seiner reichen Thatkraft in’s Hohe, Mächtige, Weite. Freilich nahm die politische Entwickelung von da ab bei uns überhaupt einen neuen gewaltigen Flug. Aber Bluntschli faßte nicht blos auf jeder Etappe dieses freien Emporstiegs Posten; er war es selbst auch, der oft den ersten kühnen Schritt zu einem Neuen Vorwärts that. So regte er, Pfingsten 1861, die Gründung des deutschen Abgeordnetentags mit an, der dazu auserlesen war, in den zerstreuten deutschen Kammern eine gemeinsame Verständigung über die zeitbewegenden Fragen und eine einheitliche Behandlung derselben herbeizuführen und somit den Mangel eines deutschen Parlaments gewissermaßen künstlich zu ersetzen. So nahm er Theil an dem Ausschusse der Sechsunddreißig, der es sich zum Ziele gesetzt hatte, die Sache Schleswig-Holsteins gegenüber der hemmenden Eifersucht der deutschen Großmächte, der Ohnmacht des Bundes und der Schlauheit der dänischen Regierung im Wege der gesetzlichen Agitation zu Gunsten des „verlassenen Bruderstammes“ zu verfechten. So war er in gleicher Weise mit thätig bei der Gründung des „Nationalvereins“, der sich mit Förderung der „deutschen Frage“ beschäftigte. Seine hohe amtliche Stellung hatte ihm die Mitgliedschaft der ersten badischen Kammer zugeführt, und auch in diese stillstehenden Elemente trug er neues Leben hinein. Er brachte Anträge auf zeitgemäße Reform dort ein, welche die Kammer nach längerer Berathung in ihren Grundsätzen annahm. Es geschah somit das in der Geschichte des parlamentarischen Lebens fast Unerhörte, daß eine aristokratisch gegliederte, auf ein eisernes Personeninventar gestützte Körperschaft ohne Antrag der Regierung oder eine Nöthigung vom Volke her sich zeitgemäß selbst reformirte. Endlich kam Bluntschli im Jahre 1867 durch die Wahl des Kreises Bretten-Sinsheim in’s Zollparlament. Mitglied des deutschen Parlaments ist er nicht geworden.

Die Pflege der mannigfachen andern Interessen, die sein Leben erfüllten, mag ihn wohl von der Bewerbung um einen Sitz im Reichstage abgehalten haben. Den im Reichstage discutirten Fragen trat aber Bluntschli, besonders soweit sie sich auf den von ihm beherrschten Gebieten der Religions- und Rechtsfragen bewegten, auf literarischem Wege näher, und insoweit war er vielfach, wenn auch nicht ein stimmführendes, so doch ein mit berathendes Mitglied.

Wenn er mit ihr auch nicht den anfangs beabsichtigten Lebensbund schloß, die Theologie ist Bluntschli doch niemals ganz los geworden. Er hat sich auf ihrem Terrain sogar mit weit mehr Klarheit und Sicherheit bewegt als auf dem der Politik. Die philosophische Schule, durch die er schon früh gegangen, und sein klarer, durch die Lehren der Rechtswissenschaft noch logisch geschärfter und dialektisch geschulter Geist haben seine religiösen Anschauungen vor Einseitigkeit und Verdüsterung bewahrt. Seine Weise, Alles was er innerlich verarbeitet hatte, auch nach außen hin und zwar nicht blos in Schrift, sondern auch in fruchtbringende That umzusetzen, schaffte sich auch hier Geltung. Schon in der Schweiz war er bemüht gewesen, den confessionellen Hader, der sein Vaterland durchtobte, durch eine zeitgemäße Bundesreform zu ertödten, und als die Berufung der Jesuiten alle Vermittelungsversuche zu vereiteln drohte, wandte er seinen ganzen Einfluß daran, die Rücknahme des Berufungsbeschlusses zu erreichen. Er, der Protestant, ging sogar soweit, in einem Briefe unmittelbar vom Papst Pius dem Neunten die Abberufung der staatsgefährlichen Körperschaft zu erbitten – natürlich ohne Erfolg!

Und als sich nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges die deutsche Regierung vor dieselbe Frage gestellt sah, nahm er auch den Kampf gegen die alten Feinde des staatlichen und nationalen Lebens wieder auf. Damals schrieb er in einer Broschüre aus der Sammlung der Virchow-Holtzendorff’schen Zeit- und Streitschriften: „Wir verlangen also, daß das Urtheil der Weltgeschichte an dem Jesuitenorden vollzogen und daß die Nation von demselben befreit werde. Wir verlangen das im Namen der bürgerlichen Freiheit und der nationalen Geistesfreiheit, der sittlichen Weltordnung und des natürlichen Rechts, im Interesse des confessionellen Friedens und um der Einheit, Macht und Herrlichkeit des deutschen Reiches willen.“

Energisch verwahrte er sich gegen den von der Kirche vollzogenen Raub der Erkenntniß, welche die moderne Wissenschaft dem menschlichen Geiste gebracht hatte, und hob die geistige Ueberlegenheit der Wissenschaft über die kirchliche Tradition und die Ueberlegenheit des heutigen Staates über die mittelalterliche Kirche hervor. „Der wissenschaftliche Mensch von heute,“ schrieb er einst, „schaut von der sonnenbeglänzten Höhe eines Berggipfels herab auf die dunklen nebelumhüllten Schluchten, in denen der römische Clerus von seiner Größe träumt.“ Weit davon entfernt, sich von der Kirche loszusagen, verlangte er nur, daß dieselbe die Resultate der wissenschaftlichen Forschung anerkenne und mit ihnen rechne. Dies wurde für ihn Veranlassung, die Stiftung des „Protestantenvereins“ anzuregen, der eine „Wiederbelebung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklange mit der modernen Cultur“ erstrebte. Die Gründung desselben erfolgte bekanntlich im Jahre 1865 zu Eisenach, und seitdem hat Bluntschli sowohl in den literarischen Organen des Vereins wie auch auf den jährlichen Protestantentagen unentwegt für dessen Grundsätze, die Grundsätze der freisinnigen deutschen Theologie, gekämpft und gestritten.

Schon in seinen staatsrechtlichen Schriften hatte er das Verhältniß zwischen Staat und Kirche festzustellen gesucht. Beide Begriffe wollte er streng geschieden sehen. Das Christenthum, behauptete Bluntschli, sei schon dem Willen seines Stifters nach keine Staatsreligion. Die Religion sei vom Staate ganz unabhängig; der Staat habe die Freiheit des Bekenntnisses nicht blos zu gewähren, sondern auch zu schützen, er sei andererseits aber auch berechtigt, eine Form des steten Bekenntnisses, welche die öffentliche Wohlfahrt schädige und gemeingefährlich erscheine, zu untersagen. Andernfalls gäbe er sich selbst auf. Die Sonderung des Staates von der Kirche oder, wie der große italienische Staatsmann Cavour es ausdrückt, die freie Kirche im freien Staate sei modernes Princip. Wie Jedes, Staat wie Kirche, seinen eigenen Geist habe, so müsse es auch einen eigenen Körper (Verfassung) haben. „Der Staat im Großen,“ sagt er in einem eigenartigen Gleichnisse, „ist die Menschheit (das Volk) als selbstbewußter, willenskräftiger und thatmächtiger Mann; die Kirche ist die Menschheit (die gläubige) als fromme, gottergebene, moralisch wirkende Frau.“ Der Kirche bleibe nur die innere Disciplin; die Bestimmung der Bedingungen und Grenzen der kirchlichen Autonomie falle dem Staate zu. In seiner schon 1852 erschienenen, dann wiederholt aufgelegten Staatsrechtslehre betonte Bluntschli bereits die Nothwendigkeit der Civilehe.

Bluntschli’s Produktivität auf dem Gebiete seiner eigentlichen Fachwissenschaft war eine fast unglaublich große. Sie umfaßte gleichmäßig alle Disciplinen, mit besonderer Vorliebe aber diejenigen des Staats- und Völkerrechts. Auch hier begnügte sich Bluntschli nicht mit dem Lehren allein, sondern er strebte auch nach praktischer Geltendmachung der erforschten Resultate. Diese erreichte er großentheils durch seine veröffentlichten Rechtsgutachten, zu denen seine Autorität vielfach aufgerufen wurde und von denen besonders dasjenige, das er zur schiedsrichterlichen Beseitigung der Alabamafrage abgab, zur Berühmtheit gelangt ist, weil es einen bis zum kriegerischen Austrage vorgeschobenen Conflict zwischen England und Nordamerika friedlich beseitigte.

Es ist nicht unsere Aufgabe, auf die streng rechtswissenschaftliche Thätigkeit Bluntschli’s näher einzugehen; nur die eine Seite derselben können wir nicht außer Acht lassen, und zwar um deswillen nicht, weil hier nicht blos der Jurist, sondern auch der Mensch in hervorragender Weise das Wort führt. Es sind dies die Verdienste Bluntschli’s um die Gewinnung fester Normen für das Völkerrecht. Hier waren es große humanistische Absichten, welche das Wort, die Feder und die Thatkraft des ausgezeichneten Gelehrten in Bewegung setzten und zu greifbaren Erfolgen führten. Galt es doch nichts Geringeres, als die Abschaffung jenes letzten Rechts, das auf dem Schwerte steht, die Beseitigung des Kriegs und die Creirung des einst von Kant verkündeten ewigen Friedens durch die Anbahnung einer internationalen Rechtsanschauung, die ihre feste Basis in einer unerschüttlichen Rechtsüberzeugung im Schooße des Volkes gewinnen sollte. Auch hier wurde für bessere Förderung die Gründung eines Instituts für internationales Recht (Institut de droit international) in’s

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Johann Caspar Bluntschli.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Leben gerufen, welches hervorragende Rechtslehrer und Publicisten verschiedener Länder zu seinen Mitgliedern zählte. Die erste Idee dieses Instituts ging zwar nicht von Bluntschli selbst aus, aber er, der Verfasser des damals (1872) eben erschienenen „Modernen Völkerrechts“, hatte immerhin all deren Realisirung wesentlichen Antheil und führte all den fährlich abgehaltenen Conferenzen öfter, so erst noch im vorigen Jahre, in Zürich, den Vorsitz. Unter den verschiedenen Editionen dieser gelehrten Körperschaft befindet sich auch ein abgearbeitetes „Handbuch des Kriegsrechts“, das den bekannten schriftlichen Dialog zwischen Bluntschli und Graf Moltke herbeiführte. Der Altmeister der modernen Kriegskunst hatte Bluntschli, der ihm das Gesetzbuch übersandte, seine Bedenken an der praktischen Brauchbarkeit dieser Kriegsgesetze nicht verhehlt, da es all der Autorität einer ihre Einhaltung bewachenden Gewalt fehle, worauf Bluntschli in seiner Erwiderung daraus hinwies, daß nach einer in dem völkerrechtlichen Institute gemachten tröstenden Wahrnehmung sich immer entschiedener eine allgemeine, alle Culturvölker einigende Rechtsüberzeugung herausbilde, welche es noch ermöglichen lasse, ein von dem Rechtsbewußtsein aller civilisirten Völker getragenes Kriegsvölkerrecht festzusetzen

Daß diese völkerrechtlichen Bestrebungen nicht bloße Utopien waren, hatte ja bereits die Abfassung der aus den Schatz der Verwundeten und eine Minderung der Leiden des Krieges überhaupt abzielenden Genfer Convention mit ihren bereits so segensreichen Folgen gezeigt. Daß auch die Regierungen den gegebenen Anregungen nicht fremd blieben, das bewies die weitere Conferenz von Regierungs-Delegierten in Brüssel zur Feststellung der Rechte und Pflichten der kriegführenden Parteien, an welcher Conferenz Bluntschli als Delegirter des deutschen Reichs theilnahm und die hauptsächlich wegen der Abneigung Englands zur Annahme des ausgearbeiteten Entwurfs resultatlos blieb.

In der vorjährigen Versammlung des völkerrechtlichen Instituts zu Oxford hatte Blunschli ein Specialgutachten über die Auslieferung politischer Verbrecher ausgearbeitet und dargelegt. Er beantwortete in demselben die wichtige, neuerdings durch das rassische Attentat wieder in den Vordergrund getretene Frage dahin, daß die Auslieferung eines solchen Flüchtlings zwar an sich nicht zu verlangen sei; etwas Anderes sei es aber, wenn nicht nur die Ordnung eines bestimmten Staates, sondern auch die gesetzliche und öffentliche Ordnung aller civilisirten Staaten dabei in verbrecherischer Weise angegriffen werde, wie dies hinsichtlich der communistischen und nihilistischen Verschwörungen der Fall sei; dann sei es Pflicht des Völkerrechts, sich gegenseitige Unterstützung zu leisten; gegen internationale Krankheiten bedürfe es internationaler Heilmittel.

[818] Bluntschli’s zahlreiche Schriften, wohl mit die zahlreichsten, welche je ein schriftstellerisches Einzelleben geschaffen, bekunden trotz der Zersplitterung seiner Thätigkeit nach verschiedenen Richtungen hin eine gründliche Beherrschung und Durchdringung des einzelnen Stoffgebiets. Fast überall zeigt sich in ihnen eine Verschwisterung von Geschichte und Philosophie. Jene verfolgt das Thema in seiner geschichtlichen Entwickelung, und diese gewinnt die letzten bleibenden Wahrheiten. Eine geschmackvolle Form, der Reichthum des Inhalts und die Klarheit der Darstellung machen sie auch für den Laien zu einer interessanten Lectüre.

Ein Meister des gesprochenen Wortes, war Bluntschli auch ein gesuchter und gefeierter Lehrer der akademischen Jugend und noch darüber hinaus deren Freund und Berather. Von mittelgroßer Statur, behäbiger Corpulenz, gemessen in Ausdruck und Bewegung, entsprach sein Aeußeres ganz der ruhigen Klarheit seines Innern. Der sanfte Blick der tiefblauen Augen erzählte von dem Reichthume seines Gemüths, und das wetterharte, von einem weißen Barte buschig umrahmte Gesicht von der Festigkeit und Energie seines Wollens.

Der letzte Thätigkeitsausfluß Bluntschli’s war seine Theilnahme an der in Karlsruhe im Beginn des letzten Herbstes tagenden Generalsynode und die Führung des Vorsitzes derselben. Auf dem Wege nach einer Audienz beim Großherzog von Baden, welcher im Begriff stand, Bluntschli das Großkreuz seines Hausordens zu verleihen, umfingen diesen die neidischen Gewalten des Todes; er hat nicht mehr den Orden seines Landesherrn, aber dafür den höchsten Orden der Menschheit empfangen, den sie, in’s Erz der Unsterblichkeit gegraben, an alle Jene vergiebt, hie ihr Leben opfernd ihrem Dienste geweiht.

Fr. Helbig.





Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXVII.

Wiederum, verehrte Freundin, brausen des Nordens Stürme um Ihr Schloß und jagen die Wogen des Baltischen Meeres in hocherregter Brandung an’s Gestade. Sie lauschen dem Gesang der Okeaniden, aber die Meerjungfrauen singen recht eintönig dasselbe Lied, und ich fürchte, es langweilt Sie mit der Zeit; denn auch das Erhabenste verliert durch ewige Wiederholung. Sie flüchten sich in Ihr Cabinet, um die wechselvollen Bilder an Ihrer Seele vorüberziehen zu lassen, welche die Phantasie der Dichter ausgemalt hat. Und diese sind unermüdlich in ihrem Schaffen: das sagt Ihnen der Büchertisch, auf welchem die neuesten Romane deutscher Autoren sich häufen; man sieht es den gleichförmigen, meistens mattfarbigen Umschlägen nicht an, wie verschiedenartig die Physiognomie der Poeten ist, welche sich hinter dieser schlichten Hülle versteckt.

Alle productiven Kräfte, Lyriker, Dramatiker, Novellisten, wenden sich jetzt dem Roman zu. Lyrik und höheres Drama werden von dem Publicum so stiefmütterlich behandelt, daß mit den seltensten Ausnahmen buchhändlerische Erfolge nur auf dem Gebiete des Romans möglich sind. Und der Erfolg ist doch der Lebensathem jeder Muse! Darf man’s den Schriftstellern verdenken, wenn sie sich danach sehnen, gleichsam auch unter Menschen zu kommen, nicht immer allein zu hausen in der „schrecklichen Einsamkeit“, allein mit ihrem Genius und mit dem von diesem ausgestellten Wechsel auf Unsterblichkeit, welcher von der Mitwelt meistens nicht acceptirt wird?

Auch die Novellisten wenden sich dem Roman zu, der ihrer bereits bewährten Erzählungsgabe ein größeres Feld erschließt. So hat Ernst Eckstein zum ersten Male einen mehrbändigen Roman verfaßt: „Die Claudier“, und Sie werden das Werk eines so formgewandten Poeten gewiß zuerst und mit besonderem Interesse zur Hand nehmen. Der Stoff des Romans ist dem römischen Alterthum, der Kaiserzeit entnommen. Auch das wird Sie wundern: Sie gedenken jener leichtgeflügelten Humoresken aus dem Gebiete der Gymnasialpädagogik, welche ihren buchhändlerischen Flug recht oft wiederholen mußten und den Namen des Verfassers in weitesten Kreisen bekannt machten. Man konnte ihnen eine gewisse Pietätlosigkeit gegenüber den classischen Studien zum Vorwurf machen; denn der geistige Vater dieser ungezogenen Primaner kümmerte sich ja nur um die Großthaten der Schulstuben, nicht um diejenigen der antiken Musen. Und jetzt liegen von Eckstein’s Feder drei Bände eines Romans vor, der nicht blos von genauer Kenntniß des Alterthums Zeugniß ablegt, sondern auch dieselbe in einer Fülle gelehrter Noten zur Schau stellt. Der Roman ist eine Ehrenrettung der Eckstein’schein Muse gegenüber den Gymnasialprofessoren, die zum Theil schlecht auf sie zu sprechen waren.

Die Romane aus dem Alterthume sind, wie Sie wissen, besonders durch Georg Ebers Mode geworden. Die Aegyptologie in der Leihbibliothek: das bezeichnet die neueste Phase unserer literarischen Entwickelung. In den letzten Romanen des beliebten Autors spielten indeß die Römer bereits eine ebenso hervorragende Rolle, wie die Aegypter. Wenn ein Kaiser, der zufällig sich in Aegypten aufhält, zum Helden eines Romans gewählt wird, warum nicht auch ein Anderer, der nie seinen Fuß in die alten Königsstädte gesetzt hat? Und ist römisches Leben nicht unserer Denk- und Empfindungsweise verwandter, als das ägyptische? Merkwürdiger Weise, verehrte Freundin, ist dies für den Zeitgeschmack so wenig entscheidend, daß, je entlegener und fremdartiger eine Geschichtsepoche ist, desto größeres Interesse die Romanleser ihr zuzuwenden pflegen. Es ist dies der haut-goût des Aparten, der gegenwärtig einen fast bedenklichen Höhepunkt erreicht hat. Mit den Römern sind wir schon allzu vertraut, theils von den Schulbänken her, theils aus den Römertragödien, in denen man sich an Toga und Tunica, an Tricots und Sandalen satt sehen kann. Der alte Römer ist ein alter Bekannter; leben doch sogar Abkömmlinge derselben in unserer Mitte wie Otto von Corvin, der seinen Stammbaum von den römischen Corvinern herleitet und selbst die übelberufene Messalina zu seinen Ahnfrauen zählt. Doch der alte Aegypter – das war etwas Neues.

Das Rom der Kaiserzeit ist von dramatischen Dichtern und lyrischen Epikern oft genug zum Hintergrunde ihrer Gemälde gemacht worden, aber der historische Roman hat sich weniger damit befaßt. Felix Dahn’s „Kampf um Rom“ spielt bereits in der Epoche der Völkerwanderung. Ernst Eckstein hat sich die Zeit des Imperators Domitian als historischen Rahmen für seine freierfundenen Bilder ausersehen; in der That hat dieser Träger des Cäsarenwahnsinns den Reiz der Neuheit für sich, während „Nero“ bereits in allen seinen Attitüden von den poetisch-historischen Photographen auf die Bildfläche ihrer Dichtungen gezaubert worden ist. Freilich hat Nero vor Domitian eine eigenartige Färbung des Cäsarenwahnsinns voraus, die ästhetische, und gerade der gekrönte Schöngeist übt auf die ungekrönten eine besondere Anziehungskraft aus. Domitian ist in Ernst Eckstein’s Roman vor allem Anderen ein Wollüstling, der sich einer schönen reizenden Römerin Cornelia um jeden Preis zu bemächtigen sucht, anfangs mit Hülfe eines Isis-Priesters, in dessen magischen Geheimcultus er als Gott Osiris mit der Maske des Thierkopfes eingreift und in dieser Gestalt die abergläubische Schönheit in die Arme schließt, dann indem er sie unter dem Vorwand milderer Haft in das Palatium bringen läßt, doch auch hier stößt er auf unbesiegbaren Widerstand. Domitianus erscheint in diesem Roman als eine nur von niedrigster Sinnlichkeit beherrschte „Bestie auf dem Thron“.

Der eigentliche Held des Romans ist der Sohn des reichen und angesehenen Pontifex Maximus, ein junger Römer, der sich der Secte der Nazarener anschließt und zum Tode verurtheilt wird. Dieser Quintus Claudius ist von dem Dichter mit besonderer Vorliebe behandelt: der Kampf mit seinem Vater, gegen dessen Amt er durch Hingabe an den neuen Glauben frevelt, seine Beziehungen zur Cornelia, die sich zuletzt durch ihren ausdauernden Heldenmuth seiner werth erweist, seine eigene Unerschrockenheit in den auf ihn anstürmenden Gefahren – all das hat Eckstein mit sichtlicher Sorgfalt gezeichnet. Weniger tritt der Bataver Cajus Aurelius hervor, welcher die am Anfang des Romans erregte Erwartung, er sei der eigentliche Held desselben, täuscht, und nur eine sympathische, aber wenig bedeutende Figur bleibt. Auch [819] die beiden Schwestern des Quintus Claudius, so niedlich die muntere Lucina gezeichnet ist, sind etwas schablonenhaft gehalten und flößen kein tieferes Interesse ein; dagegen hat der Charakter der Cäsarin Domitia, sowie derjenige ihres Majordomus Stephanus dämonische Züge; leider erlischt der erstere zu sehr gegen den Schluß hin. Im Ganzen gewinnt der Roman in der zweiten Hälfte wesentlich an Spannung, die sich besonders nach dem Ende zu steigert, während früher die culturgeschichtlichen Schilderungen oft mit einer Breite, die sie fast als Selbstzweck erscheinen lassen, ausgeführt sind.

Ernst Eckstein ist ein hervorragender Stilist; das Stilgepräge des Romans ist durchweg correct und vornehm. Mit großer Anschaulichkeit sind die Volksbilder ausgeführt, während die Beleuchtung, in welche das fashionable Bad Bajae gerückt wird, sehr stimmungsvoll ist; die Schilderungen aus Rom sind durchaus lebendig, nur hier und dort von zu großer topographischer Genauigkeit; auch die Marienbilder müssen als wohlgelungen bezeichnet werden; ebenso diejenigen aus dem häuslichen Leben, obschon man hier und dort allzulebhaft an die Capitel des Gallus erinnert wird. Glanzpunkte des Romans sind die Scenen im Isis-Tempel, mit denen dem „ägyptischen Geschmack“ ein kleines Zugeständniß gemacht wird, und diejenigen im Circus, die freilich zum Theil in’s wild Grausame übergehen. Sie werden, verehrte Freundin, dem Darstellungstalent des Dichters warme Anerkennung schenken.

Wenn Sie sich aber aus dem römischen Alterthum der Gegenwart zuwenden wollen, so werden Sie, durch den Namen des Autors angelockt, gewiß zuerst Friedrich Spielhagen’s „Angela“ zur Hand nehmen. Sie lieben ganz wie ich diesen geistreichen Autor, der soviel Feuer in seinen Schilderungen, soviel Feinheit in seinen psychologischen Entwicklungen besitzt und, wo er ein größeres Zeitgemälde entwirft, wie in „Sturmfluth“, einen von bedeutenden Gedanken getragenen architektonischen Aufbau abzuführen versteht. Gleichwohl wird Sie „Angela“ kaum so befriedigen, wie viele früheren Romane des Autors: in dieser Erzählung ist ein erhitzter Pulsschlag, eine fast durchgängige Exaltation der Schilderung. Auch der Stil wird davon beeinflußt; denn ihm fehlt oft die epische Ruhe; die häufigen Ineinanderschachtelungen und Einklammerungen beweisen, daß er zersetzt ist durch die Aufgeregtheit der Darstellung. Einige der Charaktere haben einen grotesken Zug, so die Lady Bellycastle mit ihrem riesigen Fächer und Lexma, dieser Schatten von einem Menschen; beide haben die Erinnerung an eine dunkle, verbrecherische Lebensepoche gemein und sterben in dem Roman rasch nach einander. Und Angela selbst, werden Sie fragen, verehrte Freundin? Was ist’s mit dieser Heldin? Nun, sie ist eine Gouvernante zu Pferd, eine junge Dame, welche als Gesellschafterin in Irland etwas von high-life profitirt und in der Reitkunst besonders gründliche Studien gemacht hat. Ihr Herz gehört einem verheiratheten Maler Namens Arnold, mit dem sie früher ein Liebesverhältniß hatte. Sie treffen sich wieder am Ufer des Genfersees, und die alte Leidenschaft flammt wieder empor: Angela entschließt sich, den Sohn der Lady Bellycastle zu heirathen, der weit hergekommen ist, um sie wiederzufinden, nachdem sie aus Irland spurlos verschwunden war, um seiner Bewerbung zu entgehen; die Mutter aber haßt Angela und will den Sohn enterben, dessen wirklicher Vater jener schattenhafte Brasilianer ist.

Das ist die schwüle Atmosphäre der Situation, welche die Blüthenkelche großer Leidenschaften erschließt und die Wellenschläge einer tragischen Katastrophe entfesselt. Der psychologisch nicht ohne Feinheit durchgeführte Kampf im Herzen Angela’s bildet den eigentlichen Angelpunkt des Romans: der Ausgang ist ein trauriger. Angela sucht den Tod und findet ihn, indem sie einem Kinde bei dem Durchbruch unterwühlender Fluthen des Sees das Leben rettet. Das Schlußtableau erinnert etwas an die „Sturmfluth“; es zeigt große Genauigkeit der Schilderung, leidet aber unter den Kunstausdrücken der Bautechnik, wie „Futterungsmauer“ und „Brüstungsmauer“, die dem Uneingeweihten kein anschauliches Bild geben, und den Stil mit prosaischen Wendungen beschweren.

Wohl zeigt sich das eigenartige Talent des Autors in den leidenschaftlichen Pulsen der Handlung und in den prächtigen Naturbildern des Genfer Sees, die mit großem poetischem Zauber gezeichnet sind. Daneben geht aber das Groteske, das einen reinen ästhetischen Genuß ausschließt, und das Triviale: die eingehenden Schilderungen des Schweizer Hôtellebens, die beiden Gouvernanten mit ihrem abschreckenden Charakter und vieles sehr prosaische und zum Theil überflüssige Detail. Grelle Sensationsbilder, durch welche die halbverrückte Lady, die anfangs mehr als eine Lustspielcharge erscheint, sich in eine Gattenmörderin und eine hochtragische Person verwandelt, häufen sich besonders gegen den Schluß hin, und auch an anstößigen Situationen fehlt es nicht welche überdies gesucht und wenig motivirt erscheinen, wie die Toilettenscene zwischen Nanny und Angela, in deren Raffinement man den Einfluß der neuesten französischen Autoren zu erkennen glaubt. Der Roman, verehrte Freundin, hat, wie Sie finden werden, etwas Forcirtes; der ruhige, epische Stil zittert hin und her in einer, ich möchte sagen, bisweilen gallertartigen Bewegung; nirgends überzeugt uns eine stillwaltende Nothwendigkeit; wir sehen überall nur die Willkür des Dichters.

Einen sehr ruhigen, epischen Fortgang hat dagegen der neueste Roman Robert Schweichel’s: „Der Falkner von St. Vigil“. Sie kennen gewiß den „Bildhauer vom Achensee“, das frühere Hauptwerk dieses vom Ufer des Pregels stammenden Autors, dessen Muse am liebsten mit dem Alpenstocke in’s Hochgebirge wandert, mit frischem Sinn und offenem Auge. Die Localitäten, in denen die Handlung spielt, schildert Schweichel mit einer Genauigkeit, die vielleicht anfangs oft zu breit erscheinen mag; doch man begreift allmählich die Vorzüge derselben, da sie der Handlung die solideste Grundlage giebt. Es ist gleichsam die topographische Abnahme, welche alle Bewegungen der Truppen verständlich macht. Hierzu kommt das Anheimelnde, das stets durch lange Gewöhnung hervorgerufen wird; wie mit den Oertlichkeiten werden nur mit allen Personen so vertraut, daß unser Interesse für ihr Schicksal wächst. Freilich, für ungeduldige Leser ist solche Darstellungsweise wenig genug wert, aber sie hat viele Vorzüge des epischen Stils.

Den Hintergrund der Handlung bildet der Aufstand der Tiroler gegen das baierische Regiment, welches sie besonders in ihrem Glauben kränkte, doch obgleich uns schon die Introductionsscene Kämpfe zwischen den Baiern und Tirolern zeigt, so bleibt doch die bei weitem größere Hälfte des Werkes innerhalb des Rahmens dorfgeschichtlicher Familienbilder. Erst dann zeigen sich Hofer, Speckbacher und andere Führer, und in die stillen Alpenthäler tritt historische Bewegung. Vorher sehen wir nur, wie der baierische Druck besonders auf dem Clerus lastet, wie aufgeklärte Beamte mit durchgreifender Energie gegen die aufsätzigen Geistlichen vorgehen, wie dagegen der Volkshaß sich gegen die im Dorfe lebenden Baiern wendet, wie gegen den Schmied Wolf, den Bräutigam der Tochter des Klosterbauers, obschon dieser, eine jener schroffen, energischen Figuren, wie sie in den Dorfgeschichten beliebt sind, zu dem Ehebande durchaus nicht seine Zustimmung geben will.

Der eigentliche Held des Romans ist Ambros, der junge Falkner von St. Vigil, eine feurige, leidenschaftliche Natur. Er heiratet gegen den Willen des Vaters, doch ist er in seiner Ehe nicht glücklich und liebt die schöne Müllerin Afra, die Frau eines alten Mannes, und erschlägt später ihren Stiefsohn Jerg, das böse Princip im Thal von St. Vigil; denn er sitzt im Rathe der Spötter und erbittert alle gegen sich, indem er mit ebenso scharfem Verstand, wie liebloser Gesinnung ihre Schwäche aufdeckt und verhöhnt. Nur der Heldenmut, den Ambros im Kampfe bewährt söhnt uns mit den Irrungen seines ungezügelten Temperamentes aus.

Der Roman, verehrte Freundin, enthält nicht nur anmuthende Bilder aus dem Tiroler Volksleben, sondern auch ebenso anschaulicht wie stimmungsvoll bewegte Landschaftsbilder aus dem Hochgebirge. Der Stil ist schlicht, tüchtig und markig, während die Entwickelung der Haupthandlung allerdings hier und dort etwas verschleppt erscheint durch das allzu große Behagen der epischen Muse.

Sie sehen, wie wenig unserer modernen Romandichtung der Vorwurf der Einförmigkeit gemacht werde darf. Die drei Romane, über die ich mich mit Ihnen unterhielt, sind grundverschieden in Bezug auf ihre ganze Physiognomie: zuerst ein Römerroman mit antiker Toga, mit den grellen Situationsbildern der Kaiserzeit reich ausgestattet, aber von durchweg edler, stilvoller Handlung; dann ein moderner fashionabler Roman, der in einem internationalen Schweizer Hôtel spielt, oft von hinreißender Leidenschaftlichkeit [820] beseelt, voll Poesie in den Naturschilderungen, dann wieder grotesk, phantastisch, sogar raffiniert; zuletzt eine umfangreiche Tiroler Dorfgeschichte von tüchtiger, schlichter Haltung.

Sie selbst, verehrte Freundin, werden all allen diesen Werken Genuß haben: so aufgeschlossen ist Ihr Sinn, so vielseitig Ihre Bildung. Das große Lesepublicum hat die Wahl; denn die Muse unseres modernen Romans ruft ihm zu. „Wer vieles bringt, wird allen etwas bringen!“[1]




Der Regenwürmer Thun und Treiben.

Nach den Beobachtungen von Charles Darwin.

Wenn ein Redner die Nichtigkeit des irdischen Daseins mit seinem höchsten Pathos kennzeichnen will, so pflegt er den Menschen als Erdenwurm zu bezeichnen, das heißt ihn mit dem niedrigsten und elendesten Thiere seines Gesichtskreises auf eine Linie zu stellen Blind in der Erde wühlend, Staub fressend, und zwar „mit Luft“ - wie es, nebenbei bemerkt, des Mephistopheles Muhme, „die berühmte Schlange“ nicht thut – mag das verachtete Thier dem oberflächlichen Blicke wirklich als eines der erbärmlichsten Glieder in der großen Stufenleiter des Lebens erscheinen. Und doch ist der Regenwurm, wie Charles Darwin in seinem neuesten, vor wenigen Wochen erschienenen Buche[2] gezeigt hat, einer der unermüdlichsten Arbeiter bei der Umgestaltung des Erdballs, einer der erfolgreichsten Culturkämpfer, so weit es sich darum handelt, die Culturfähigkeit des Bodens zu befördern, und endlich noch einer der eindringlichsten Zeugen für die Macht des Kleinen im Weltall.

Schon vor einem halben Jahrhundert hatte der große britische Naturforscher dem Wirken und Schaffen der Regenwürmer seine volle Aufmerksamkeit zugewendet und im Jahre 1887 der Londoner „Geologischen Gesellschaft“ eine kurze Arbeit vorgelegt, in welcher dargelegt wurde, daß die obere Decke des fruchttragenden Bodens, die meist schwärzlich gefärbte Acker- oder Dammerde, welche wegen ihrer Lockerheit auch Ackerkrume genannt wird, im Wesentlichen ein Erzeugniß der Regenwürmer sei. Darwin zeigte schon damals, wie diese Erddecke von diesen unscheinbaren Thieren, deren Körper sie immer von Neuem passirt, von den Steinen befreit und immer neu gemischt, zerrieben und gelockert wird, sodaß der pflügende Landmann in ihnen seit undenklichen Zeiten einen Vorgänger gefunden hat, dem der unbeackerte Boden seine andauernde Fruchtbarkeit verdankt und dem es größtenteils zuzuschreiben sein dürfte, daß die Pflanzenwelt auf unserem Erdball zu einer solchen Ausbreitung und Entwickelung gelangen konnte, wie sie dieselbe heute zum Nutzen und zur Freude der Erdbewohner zeigt. Darwin war bei seinen Studien von der Beobachtung ausgegangen, daß Schichten von gebranntem Mergel oder Kalk, von kleingeschlagenen Holzkohlen oder Ziegelsteinen, die auf einem unbeackerten Weideplatz oder Anger ausgebreitet werden, allmählich, und zwar an Oertlichkeiten, wo es so gut wie gar nicht staubt von einer mit den Jahren wachsenden Decke schwarzer Erde bedeckt werden, sodaß sie immer tiefer sinken und nach einigen Jahrzehnten an den Wänden einer auf diesem Felde ausgehobenen Grube als zusammenhängende Streifen erscheinen, die je nach den obwaltenden Verhältnissen und der inzwischen verflossenen Zeit vier bis sechs und zwölf Zoll tief unter der Oberfläche liegen. Diese gleichmäßige Versenkung der kleineren, auf die Oberfläche verstreuten oder verlorenen Gegenstände ist das Werk der Regenwürmer, welche ihre Auswürfe an die Oberfläche bringen, wo sie kleinere Steine u. dergl. m. bald überdecken, während der von ihnen unterminirte Boden unter denselben allmählich, sobald die alten Gänge verlassen werden, zusammensinkt. Sie bringen also fortwährend neue Erde von unten in die Höhe und erhalten so die Ackerkrume in einer beständigen, den Pflanzen wohltätigen Bewegung und Verjüngung.

Da diese Angaben und die daran geknüpften Betrachtungen über die wichtige Rolle der Regenwürmer im großen Naturhaushalte mehrfach bezweifelt und abfällig beurtheilt wurden, so hat Darwin seit dieser Zeit die Thätigkeit der Regenwürmer beständig im Auge behalten, und auf seinem Landsitze zu Down, unweit London, auf seinem eigenen Grund und Boden eine Reihe von zum Theil Jahrzehnte dauernden Versuchen über jene Versenkungen unternommen, die Menge der von den Regenwürmern aus verschiedenen Gebieten emporgebrachten Erde ermittelt und endlich ihr Leben und Treiben, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten mit jener liebevollen Sorgfalt untersucht, wie sie unter Anderen Sir John Lubbock in London seit Jahren den Ameisen gewidmet hat, wobei auch bei den Regenwürmern sehr überraschende Fähigkeiten wahrgenommen wurden. Die Beobachtung dieser niederen Thiere wurde, wie sich Darwin vor längerer Zeit in einem an den Schreiber dieser Zeiten gerichteten Briefe ausdrückte, geradezu zu seinem Steckenpferde, und wir werden bald sehen, daß sie diese besondere Aufmerksamkeit von Seiten eines der größten Beobachter aller Zeiten vollauf verdienten.

Auch in Deutschland sind in neuerer Zeit einige ausgezeichnete Arbeiten über Fähigkeiten und Wirksamkeit der Regenwürmer erschienen, und es werden besonders die Arbeiten von Hoffmeister (1845) und Hensen (1877) über diesen Gegenstand von Darwin mit Bewunderung erwähnt; ihm blieb, außer der Aufhebung zahlreicher Einzelpunkte, vor Allem die auf vielen Versuchen, Beobachtungen und Rechnungen basirte Würdigung ihrer geologischen Wirksamkeit übrig. Um zunächst ihre Fähigkeiten genauer zu untersuchen, hielt sich Darwin in mit feuchter Erde gefüllten Blumentöpfen eine Anzahl von Regenwürmern in seinem Arbeitszimmer, wo er sie in ihrer nächtlichen Thätigkeit bequem beobachten konnte. Es zeigte sich hierbei bald, daß diese Thiere eine strenge Ordnung in ihre Lebensweise eingeführt haben; denn obwohl die Töpfe zugedeckt waren, sodaß es in ihnen ziemlich dunkel blieb, kamen sie lange Zeit hindurch, als ob sie eine Uhr im Leibe hätten, auch hier, wie im Freien, nur des Nachts aus ihrer Gängen heraus. Draußen ist dies bei der großer Zahl von Feinden, die sogar des Nachts ihr Leben bedrohen, und die sich am Tage stark vervielfältigen würde, jedenfalls eine sehr nützliche Vorsicht.

Sie sind überhaupt sehr vorsichtig, und wenn sie nur die Umgebung ihrer Gangöffnung nach abgefallenen Blättern und dergleichen absuchen wollen, so lassen sie ihr Hinterende in dem Gange stecken, um sich bei drohender Gefahr schleunigst rückwärts hineinziehen zu können. Nur nach stärkerem Regen treten sie weitere nächtliche Wanderungen an, um sich an anderen Stellen einzubohren; man findet dann am Morgen ihre nach allen Richtungen sich kreuzenden Spuren im Schlamme. Des Morgens liegen sie im Frühjahr und Herbst, den Jahreszeiten ihrer Hauptthätigkeit, dicht an der Mündung ihrer Gänge und werden darauf vielfach durch Amseln und Drosseln, welche die Felder absuchen, hervorgezogen.

Obwohl sie keine Spur von Augen besitzen, empfinden sie den Schein eines künstlichen Lichtes ebensowohl, wie den der Morgendämmerung, der sie in ihre Löcher zurückscheucht, jedoch nur, wenn er das Mundende trifft, das heißt denjenigen Körpertheil, in welchem ihre Hauptnervenknoten oder kleinen Gehirne in einem den Schlund umgürtenden Nervenringe liegen. Sie bewegen dann dieses Vorderende tastend hin und her, zum Zeichen, daß ihre Aufmerksamkeit erregt ist, und ziehen sich langsamer oder schneller, bisweilen blitzschnell in ihre Gänge zurück. Bleibt dagegen das Mundende beschattet oder steckt es in einem Loche, so kann der übrige Körper beliebig beleuchtet werden, ohne daß das Thier die Flucht ergreift. Wurde das künstliche Licht mittelst einer Glaslinse auf ihr Vorderende verdichtet, so zogen sie sich

[821]

Im Herrenstübchen. Nach dem Oelgemälde von E. Schulze-Briesen.

[822] meistens eilig zurück, doch nahmen sie unter Umständen auch von einem solchen verstärkten Lichtreize weniger Notiz, wenn sie nämlich gerade damit beschäftigt waren, Blätter zu verzehren oder in ihre Löcher zu ziehen; sie scheinen also, wie Darwin bemerkt, ähnlich wie höhere Thiere, der Aufmerksamkeit oder Vertiefung in eine bestimmte Beschäftigung in dem Maße fähig, daß sie darüber gewisse Störungen – wenn man bei ihnen von solchen reden darf – übersehen.

Der Gehörsinn scheint den Regenwürmern vollständig abzugehen. Weder die hohen Töne einer schrillenden Pfeife noch die tiefen eines Fagotts, weder lautes Sprechen noch Clavierspiel in ihrer Nähe störten sie in ihrer überirdischen Thätigkeit; dagegen zeigten sie sich sehr empfänglich für die Erschütterungen fester Körper, und sobald der Topf, in welchem sie sich befanden, auf den Clavierdeckel gesetzt war, genügte das Anschlagen eines höheren oder tieferen Tones, um sie zum eiligen Verschwinden von der Oberfläche zu veranlassen. Offenbar entgehen sie durch diese Fähigkeit bisweilen den Maulwürfen und Tausendfüßen, die ihnen im Innern der Erde nachstellen, und den äußeren Feinden, die sie von der Mündung ihrer Löcher aus bedrohen. Gegen Gerüche scheinen sie, ausgenommen natürlich gegen diejenigen, welche auf ihre nackte und feuchte Haut ätzend wirken mögen, wie Essig- und Salmiakgeist, wenig empfindlich zu sein, doch wußten sie unter der Oberfläche der Topferde vergrabene Stückchen von allerlei Blättern, rohem und gekochtem Fleisch bald zu finden. Im Geschmacke scheinen sie dagegen wählerischer zu sein, und Stückchen von Mohrrüben- oder Zwiebelblättern wurden stets früher verzehrt als solche von Kohl- und Rübenblättern. Einige Blätter, deren scharfes Aroma ihnen wahrscheinlich antipathisch ist, wie diejenigen von Thymian, Salbei, Beifuß u. dergl. m., blieben unangerührt.

Höchst merkwürdig sind nun die Beobachtungen, welche Darwin über die Behandlung der abgefallenen Blätter und anderer Gegenstände, welche die Regenwürmer in ihre Löcher ziehen, angestellt hat. Wenn wir an einem feuchten Spätherbstmorgen ein Gartenbeet betrachten, auf welchem abgefallenen Blätter lagen, so sehen wir eine Anzahl derselben sowie Blattstiele, Kiefernadeln, Strohhalme etc., noch halb aus den Löchern hervorschauen, in welche sie hinabgezogen wurden. Durch viele Hunderte von Einzelnbeobachtungen hat Darwin festgestellt, daß die Regenwürmer hierbei weitaus in der Mehrzahl der Fälle ganz so verfahren, wie ein Mensch verfahren würde, der solche Gegenstände in eine enge Röhre hineinziehen wollte. Ist nämlich das Blatt gegen das Stielende erheblich verschmälert, so ziehen sie dasselbe, indem sie den Mundtheil zu einer Ober- und Unterlippe gestalten, mit dem schmalen Stielende voran in die Oeffnung, ist dagegen das Stielende breit und das obere Ende, wie z. B. beim Lindenblatt, zugespitzt, so ziehen sie es in der Mehrzahl der Fälle an der Spitze herab. Die Nadeln verschiedener Kieferarten, welche zu Zweien in einer kleinen Scheide stecken, wurden ausnahmslos an dieser Scheide erfaßt und hinabgezogen, und diese im gegebenen Falle offenbar zweckmäßigste Methode wurde auch beibehalten, wenn die Spitzen der Nadeln vorher abgeschnitten oder mit einander verklebt worden waren. Rundliche Blätter, die gar keine Schmalseite darbieten, wurden, wenn sie von Natur oder durch das Absterben weich genug waren, um sich zusammenzufalten, mit dem Munde auf der Mitte der Fläche durch Anfangen ergriffen und so hinabgezogen.

Es gewinnt mit einem Worte den Anschein, als ob die Regenwürmer sich ihren mangelhaften Sinnesorganen und ihrer abgeschiedenen Lebensweise zum Trotze genug Intelligenz erworben hätten, um die Form der Gegenstände und die zweckmäßigste Behandlungsweise derselben beurtheilen zu können. Ganz ebenso wie die Blätter wurden Papierdreiecke behandelt, die, um ihr Aufweichen im Nachtthau zu verhüten, vorher mit Fett eingerieben worden waren. Die schmäleren wurden meist mit einer Spitze voran hinabgezogen, die breiteren meist in der Mitte erfaßt und durch Zusammenfalten in die Oeffnung gezwängt.

Die in die Oeffnungen hineingezogenen Gegenstände dienen den Würmern theils zur Nahrung, theils zum Ausfüttern und Verstopfen der Eingangsthore, um das Eindringen der Kälte und vielleicht auch des Regenwassers in die Gänge zu hindern. Zu demselben Zwecke häufen sie, wenn sie keine Blätter oder Stiele finden, auch kleine Steine, die sie ebenfalls durch Ansaugen herbeiziehen, über ihren Gangmündungen an, oder kleiden die Wandungen, namentlich in den erweiterten tieferen Theilen, wohin sie sich bei starkem Winterfroste, wie auch in der Sommerdürre, zurückziehen, mit denselben aus, wahrscheinlich um ihren Körper vor der unmittelbaren Berührung mit der naßkalten Erde zu schützen. Die Blätter, welche ihnen zur Nahrung dienen, pflegen sie in ihren Gängen mit einer alkalischen Flüssigkeit zu benetzen, welche, wenn sie noch grün sind, ihr Welken befördert und ihre Bestandtheile wahrscheinlich löslicher und verdaulicher macht. Den Regenwürmern fehlen die harte Kiefer, welche viele ihrer Verwandten besitzen; dafür erfreuen sie sich eines mit kräftigen Quermuskeln versehenen Kropfes, der vor dem eigentlichen Magen liegt und in welchem stets eine Anzahl kleinerer Steine enthalten ist, die zur weiteren Zerreibung des zum Theil aus Erde und härteren Substanzen bestehenden Speisebreis dienen. Da der Humus und die verwesenden Blätter, welche die Würmer verzehren, schon an sich sauer sind, so findet eine saure Verdauung, wie im Magen der höheren Thiere, bei den Würmern nicht statt, vielmehr ist ihr Verdauungssaft, wie derjenige der Mund- und Bauchspeicheldrüse bei den Wirbelthieren alkalisch und wird in seiner die Säure des Speisebreis abstumpfenden Eigenschaft nach durch ein paar Drüsen unterstützt, die reichliche Mengen van kohlensaurem Kalk in den Verdaungscanal absondern. In den Zeiten, wo keine Blätter von den Bäumen fallen, verschlingen die Würmer große Mengen von Dammerde, um derselben die in Form von Humusstoffen, Insecteneiern, Pilzsporen etc. in ihr enthaltene Nahrung zu entziehen; sie besorgen dabei die feinere Zerreibung und Vertheilung dieser Erde und befördern sie, mit ihren eigenen thierischen Ausscheidungen innig vermischt, in Form der bekannten, aus zerbrochenen fadenartigen Masse bestehenden Wurmhäuschen über die Mündung ihrer Löcher. Oftmals verschlingen sie aber die erdige Masse auch nur zu dem Zwecke, um sich durch sie hindurch den Weg in die Tiefe zu bahnen. Während sie sich nämlich in die Ackerkrume leicht und schnell hineinwühlen können, indem sie ihren Schlundkopf wie einen Keil wirken lassen, der die lockeren Massen bei Seite schiebt, müsse sie sich durch festeren Boden förmlich hindurchfressen, und dann bestehen, je nach der Bodenart, ihre sonst schwärzlichen Auswürfe fast aus reinem, weißem kohlensaurem Kalke, gelber oder rother Ziegelerde, die gleichwohl dabei fein zerrieben und, wenn auch in geringerem Maße, mit animalischen Flüssigkeiten durchtränkt werden.

Auf diese Weise verwandeln sie selbst einen unfruchtbaren Boden allmählich in einen fruchtbaren, sobald es ihnen nur möglich ist, Blätter hineinzuziehen und darin zu leben. Hensen sah, wie durch die Thätigkeit zweier Regenwürmer die Oberfläche einer Quantität weißen Sandes, die vorher mit Blättern bestreut und in einem Kessel von achtzehn Zoll Durchmesser enthalten war, in Verlauf von sechs Wochen mit einer centimeterdicken Schicht dunkler Ackererde bedeckt wurde. Außerdem führen sie eine Menge auf der Oberfläche verstreuter, abgestorbener, organischer Reste, wie Blätter, Insectenleichen, Schneckenschalen, Knochen etc., dem Boden zu, indem sie dieselben mit ihren Häufchen bedecken, und die Pflanzensamen, welche sonst frei an der Oberfläche verwittern würden werden durch diese Ueberschüttung in günstigere Bedingungen für die Keimung vesetzt. Die Wurzeln gleiten zum Theil in den alten Wurmgängen hernieder, deren Wände mit animalischen Ausscheidungen gedüngt sind, und rings umher finden sie einen von den Würmern wohlvorbereiteten und durchlüfteten Boden.

Die Leistungsfähigkeit der Würmer hinsichtlich der Erdmengen welche sie uns der Tiefe an die Oberfläche bringen, wurde meist unterschätzt, weil sich Niemand die Mühe genommen hatte, das Gewicht ihrer Auswürfe zu bestimmen und für ein gewisses Areal zu berechnen. Hensen schätzte die Anzahl der auf einem Hektar geeigneten Bodens lebende Regenwürmer ans 133,000 Stück, und die über einem einzigen Loche gefundenen Auswürfe wechseln in ihrem Gewichte von einer halben bis zu vier Unzen oder einem Viertelpfunde. Eine wahrscheinlich aus Ostindien stammende und an die Nordküste des mittelländischen Meeres verschleppte Art errichtet dort über ihren Löchern, indem sie das Hinterende hoch emporhebt, zwei bis drei Zoll hohe Thürmchen, die bei einem Zoll Durchmesser ganz aus diesen darmartig gewundenen erdigen Excrementen bestehen und einen merkwürdigen Anblick gewähre. Auf Ceylon giebt es eine zwei Fuß lange und einen halben Zoll dicke Art, deren Auswürfe natürlich reichlicher ausfallen werden. In England berechnet sich die von den Regenwürmern auf geeignetem [823] Terrain emporgebrachte Erdmasse auf im Durchschnitt zehn Tonnen (= 10,516 Kilogramm) für den Acre (=0,4 Hektar). Eine englische Dame, die sich für diese Frage interessirte, scheuete die Mühe nicht, diese Auswürfe von einer verhältnißmäßig wenig von Regenwürmern besuchten Terrasse einzusammeln und erhielt soviel, daß die Menge auf den Acre berechnet 7,56 Tonnen staubtrockener Masse ergeben würde. Aber Darwin beobachtete auch Terrains, bei denen sich dieses Quantum auf achtzehn Tonnen abschätzen ließ.

Für den Archäologen gewährt es ein nicht unbedeutendes Interesse, zu verfolgen, wie unter dieser gleichmäßigen Decke seiner Erde nicht nur die kleineren Steine, sondern auch allerlei verlorene Gegenstände: Münzen, Schmucksachen, Waffen. Werkzeuge aus Stein und Bronze, begraben und, sofern sie nicht zum Rosten neigen, auf diese Weise für die Nachwelt erhalten werden. In der That sind die Archäologen und prähistorischen Forscher in dieser Beziehung ebenso wie die Landwirthe den Würmern zu Dank verpflichtet und nicht weniger die Architekten, die ihnen die Erhaltung manches alten, mit Erde bedeckten Monumentes und namentlich vieler alten kunstvollen Steinfußböden verdanken. Die Regenwürmer durchbohren nicht nur die Erde, sondern selbst den Mörtel alter Bauten, wie wir zuweilen in unsern Kellern wahrnehmen können, und in verlassenen Bauten kommen sie allmählich aus allen Fugen der Böden empor und bedenken dieselben mehr und mehr mit ihren Auswürfen.

Von seinen Söhnen unterstützt, hat Darwin diesen Vorgang in vielen alten Abteien und an den wohlerhaltenen eleganten Steinfußböden neuentdeckter römischer Villen studirt. Die Regenwürmer bringen durch ihre Minirarbeit übrigens auch einzelne Mauern zum Sinken, wenn die Fundamente derselben nicht tief genug hinabgehen, wie man alle Tage an schlechtfundirten Gartenmauern sehen kann. Da die Regenwurmgänge in der Regel nicht über sechs, nur in seltenen Fällen bis auf acht Fuß hinabgehen, so sind gut fundamentirte Mauern vor ihrer Unterwühlung sicher, und darum zeigen Steinfußböden eine ungleiche, meist in der Mitte stärkere Senkung, weil die Regenwürmer den Boden in der Mitte am meisten, in der Nähe der Mauern weniger stark unterminirt haben. Da ihre Gänge meist fast senkrecht oder doch nur wenig schief hinabgehen, so sind größere Steinblöcke und Monumente einigermaßen vor ihrer unterminirenden und versenkenden Thätigkeit geschützt.

Zum Schluß müssen wir noch einen Blick aus die sehr wichtige geologische Wirksamkeit der Regenwürmer werfen, die sich in wenig von einander abweichenden Formen über alle Erdtheile verbreitet haben. Ihre losen Auswürfe bilden nämlich auf mit Vegetation bedeckten Flächen und unter feuchten Himmelsstrichen beinahe die einzige bewegliche Bodensubstanz, die zu kleinen Ballen zerkrümelt, von den herrschenden Winden verweht oder auf geneigten Flächen vom Regen beständig herniedergewaschen werden kann. Wenn auch nur ein kleiner Theil der eine Dicke von 0,2 Zoll erreichenden Schicht seiner Erde, die alljährlich in England diese Würmer an die Oberfläche bringen, von den Winden verweht und vom Regen abwärts gespult wird, so sieht man doch leicht ein, daß diese beständig dem Thale und durch die Wasserläufe dem Meere zugeführten Erdmassen im Laufe der Jahrhunderte sehr beträchtlich anwachsen müssen, und es ist keineswegs übertrieben, wenn Darwin sagt, daß die unser Auge durch ihre Weichheit entzückenden, abgerundeten Formen, welche Berg und Thal in fruchtbaren Landstrecken zeigen, zum guten Theile das Werk der Regenwürmer seien. Zugleich verhüten sie, indem sie die oberste Schicht locker und beweglich erhalten, eine allzugroße Ansammlung von Ackererde über dem natürlichen Felsenboden, und das ist insofern wichtig, als dadurch die Felsoberfläche beständig der Einwirkung der Humussäuren und der Erdwürmer zugänglich erhalten wird. Dadurch werden immer neue Massen des Felsbodens abgenagt und der Ackererde von unten her zugeführt, sodaß der Gehalt derselben an mineralischen Bestandteilen, den die Würmer außerdem durch Zerreiben der Steinfragmente in ihren Kröpfen erhöhen, beständig erneuert wird. So erheben sich diese verachteten Thiere trotz ihrer Kleinheit vor den Blicken des englischen Forschers zum Range höchst nützlicher Geschöpfe.

Carus Sterne.




Blätter und Blüthen.


„Ein treuer Freund der Freiheit und der ‚Gartenlaube‘.“ So überschrieben wir den Artikel, mit welchem wir (in Nr. 27 des Jahrgangs 1865) den als politischen Märtyrer und anregenden Erzähler gleich hochgeachteten Jodocus (Donatus Hubertus) Temme unsern Lesern in Wort und Bild darstellten. Seit dem 14. November gehört er nun zu denjenigen Todten, die wir ewig verehren werden.

J. D. H. Temme ist bis zu seinem letzten Hauche geblieben, was er durch dreiunddreißig Jahre im Dienst der preußischen Justiz, auch fast dreißig Jahre im Dienst seiner Wissenschaft in der Schweiz und mehr als sechszig Jahre im freien Dienst für Recht und Freiheit, Geistes- und Herzensbildung des deutschen Volkes war: ein unerschütterlich fester Mann, ein unantastbarer Charakter.

Da schon sechszehn Jahre verflossen sind, seit die „Gartenlaube“ Temme’s Lebensbild gebracht, so müssen wir wohl mit einigen Andeutungen heute an die Schicksale dieses angezeichneten Mannes erinnern.

In dem politischen Strafverfahren gegen Temme geschah es, daß der stolze altpreußische Spruch: „Es giebt noch Richter in Berlin“, schmählich zu Grunde ging. Temme war selbst ein so ausgezeichneter Jurist, daß man ihn, seit er nach seiner dritten juridischen Prüfung 1832 sein Beamten-Wanderleben begann, beinahe regelmäßig von zwei zu zwei Jahren in immer schwierigere Aemter beförderte, die jedes Mal, wie der Justizminister Mühler selbst bemerkte, besondere Rechtskenntniß, Energie, Fleiß und Eifer erforderten, bis man ihn 1848 als Staatsanwalt an das Criminalgericht nach Berlin berief. In dieser Stellung mußte er es erleben, daß preußische Richter ihn wegen seiner politischen Gesinnung verurtheilten, weil er es gewagt hatte, neben seiner Amtspflicht auch seine Bürgerpflicht zu wahren.

Die einst so hoch in der Volksachtung stehenden Richter mußten sich in den Dienst des herrschenden Systems fügen; preußische Justizcollegien denuncirten ihre eigenen freisinnigen Präsidenten, und so wurde auch Temme, den man zum Director des Oberlandsgerichts in Münster ernannt hatte, von diesem, seinem eigenen Gericht des Hochverraths angeklagt und in eine Zuchthauszelle gefangen gesetzt, die vor ihm fünf gemeine Verbrecher beherbergt hatte. Noch dreimal traf ihn, in Folge seiner parlamentarischen Thätigkeit. dasselbe Loos, bis das Obertribunal zu Berlin das Ungeheuerliche vermochte, durch Rückanwendung eines späteren Strafgesetzes auf Temme den verhaßten Mann für immer und ohne Pensionsansprüche aus dem Staatsdienst zu entfernen. Das gehört zu den schwärzesten Reactionsblättern der preußischen Justizgeschichte. Und als nun Temme durch die Redaction der neuen „Oderzeitung“ seine Familie in Breslau zu erhalten suchte, verbitterte ihm die Polizei das Leben derart, daß er den Ruf als Professor des Criminal- und Civilprocesses nach Zürich mit Freuden begrüßte. Dort gründete er 1852 seine zweite Heimath.

Temme war an Geist und Körper eine hohe, edle, vornehme Erscheinung und vereinigte in sich die Tapferkeit des Helden mit dem feinfühlenden Herzen für Alles, was sich seiner Liebe würdig zeigte. Er war das würdigste, treueste Haupt seiner Familie, dessen Himmel vor drei Jahren nur durch den Tod der Gattin Temme’s getrübt wurde, und gleiche Liebe hegte er für sein deutsches Volk: er verfocht nicht nur als Demokrat im Geiste Uhland’s des Volkes Recht und Freiheit, er sammelte zugleich auf seinen vielen Wanderungen die schönsten Schätze des Volksherzens in den Sagen und Geschichten Westfalens, Preußens und Litthauens, Pommerns, der Altmark und der Insel Rügen und wurde dadurch hingeleitet, neben seinen zahlreichen ernsten juristischen Werken jene Reihe von Erzählungen zu schaffen, deren viele auch unsere „Gartenlaube“ schmückten. Das Volk wird stets sich dieser Gaben mit Dankbarkeit erinnern; denn – so schließen wir mit Temme’s Lebensbild von 1865 – es fühlt dabei, daß aus diesen Einer spricht, der mit ihm gelitten und gestritten hat.




Mutterfreuden. (Abbildung S. 813.) Robert Beyschlag’s heute von uns reproducirtes hübsches Bild erklärt sich selbst. Wir beschränken uns deshalb darauf. aus dem Leben des Künstlers Folgendes mitzutheilen: Beyschlag gehört zu den hervorragendsten Genremalern Münchens und hat sich namentlich durch seine anmuthigen Darstellungen weiblicher Gestalten wohlverdienten Ruf erworben. Er ist 1838 in Nördlingen geboren und machte seine Studien in München und Paris. Kinderbilder gelingen ihm vortrefflich. Unsere Leser werden sich gern seiner Bilder „Zwei Hasen“ (1871, S. 549), „Im Walde“ (1874, S. 439), und „Mutterfreude“ (1878, S. 812) erinnern, von seinen übrigen Leistungen zu schweigen.




Allgemeine Geschichte der Literatur von Johannes Scherr. Das geistvolle Werk unseres verehrten Mitarbeiters ist längst ein Eigenthum der Nation, denn fünf starke Auflagen desselben sind in den Händen der deutschen und außerdeutschen Lesewelt. Wenn wir entgegen unserer Gewohnheit, nur neue Erscheinungen des wissenschaftlichen Büchermarktes in den Bereich der Betrachtung zu ziehen, heute trotzdem auf diese jüngsthin in sechster Auflage erschienene Literaturgeschichte hinweisen. so geschieht es in Anbetracht ihres außergewöhnlichen Werthes und der Seltenheit ihres Genres. Es ist in der That eine staunenswerthe Summe des Fleißes und Wissens, des Sammelns und Sichtens, des Gruppirens und Gestaltens, vor Allem aber des allseitig geschulten Urtheils in Gesinnung und Geschmack, die hier niedergelegt ist. In zwei mittelstarken Bänden eine erschöpfende, durchaus nicht lückenhafte Geschichte der Literaturen aller Völker von den ältesten Zeiten an bis auf unsere Tage zu geben – man [824] weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die Menge des hier gebotenen Stoffes oder die künstlerische Oekonomie seiner stets auf das Gründliche und doch auf das Knappe gerichteten Anordnung. Dieses Handbuch ist vermöge seiner Vollständigkeit und lichtvollen Composition ein äußerst lehrreiches, vermöge des Geistes echter Idealität, der es durchweht, aber auch ein in höherem Sinne ungemein nützliches Buch. Mit gleichem Feuer tritt es ein für die idealen Güter des literarischen Schaffens der Völker, wie es den falschen Idealismus, alles sentimentale und unkräftige Wesen in Schriftthum und Leben, bekämpft. Was dieser „Allgemeinen Literaturgeschichte“ aber noch einen besonderen Reiz verleiht, das ist die überall hervorleuchtende tüchtige und eigenartige Ursprünglichkeit der Persönlichkeit des Verfassers. Hierin liegt der Schlüssel zu dem Geheimniß, daß man über der Lectüre des Scherr'schen Buches, wie nüchtern und antiquarisch auch der Stoff dieses und jenes Capitels sein mag, stets das Gefühl wohlthuender Frische hat; diese Frische ist hier, wie bei allen Scherr'schen Schriften, der Ausfluß eines gewissen eigenartigen, subjectiven Stilgepräges, das die Kathedergelehrten so sehr hassen, das aber trotzalledem das wahre Merkmal selbständigen Denkens und Urtheilens und zugleich der richtige Becher ist, in dem man dem Volke den Wein literarischen Genießens credenzen soll, wenn anders man es dauernd fesseln will. Wir laden Jedermann ein, den Wein Scherr'schen Geistes zu kosten, der in dieser „Geschichte der Literatur“ stießt.




Im Herrenstübchen. (Abbildung Seite 821.) Genrebilder aus dem Gewohnheitsleben der Menschen, wie das unsres „Herrenstübchens“ von E. Schulze-Briesen, erwecken unser Wohlgefallen um so mehr, je häufiger wir den Originalen derselben an bestimmten Orten begegnen und je verlockender sie die Vergleiche mit Gestalten unserer Erinnerung hervorrufen. Man verlangt also Portrait-Aehnlichkeiten, und je mehr derselben von dem einzelnen Beschauer aufgefunden werden können, um so höher steigt die Lust am Bilde und die Schätzung desselben. In der vorliegenden Composition hat der Künstler hierin ein Meisterstück geliefert; er stellt uns vor eine Sammlung von Charakterköpfen, in welchen Jedermann alte Bekannte finden wird; zudem ist die Gruppirung eine so gelungene, so sprechende, daß sogar die soeben in Gang befindlichen Gesprächsstoffe, je nach der allgemeinen Geisterbewegung der Zeit, herausgerathen werden können. Eine liebliche Zugabe ist die horchende Kellnerin am Ofen, die offenbar Gelegenheit hat, über die Unterhaltung am Herrentische ihr eigenes Theil zu denken.




Kleiner Briefkasten.

Alte Abonnentin. Für Ihren Zweck ganz geeignet.

Z. Z. Sie erhalten die gewünschte Auskunft auf dem Standesamte.

Concertgeige I. Wir müssen Ihr Gesuch der Consequenzen wegen leider ablehnen.

G. S. in Berlin. Rückgabe und Honorar.




Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Von dem beliebten Verfasser dieses „Literaturbriefes“ erschien soeben ein Roman in drei Büchern „Die Erbschaft des Blutes“ (Breslau, Ed. Trewendt), auf den wir bei dieser Gelegenheit hinzuweisen nicht verfehlen wollen. Rudolf von Gottschall bewährt in diesem neuesten Producte seiner epischen Muse die bekannten glänzenden Vorzüge seines reichen Talentes: Eigenartige Erfindung der Handlung und der Charaktere, geschickte Schürzung und geistvolle Lösung der Intrigue, sowie Glanz und Farbe in Schilderung und Dialog. Möge das höchst beachtenswerthe, interessante Buch zahlreiche Freunde finden!
    D. Red.
  2. Die deutsche Ausgabe dieses Werkes, welches den Titel führt: „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer“, erscheint, von Professor Carus in Leipzig bearbeitet, binnen wenigen Wochen im Verlage von E. Koch in Stuttgart.